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Dieses Werk ist Band fünf von sechs der Kolportagenroman-Serie "Deutsche Herzen - Deutsche Helden" von Karl May, erschienen zwischen zwischen 1885 und 1888.
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Seitenzahl: 669
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Der Engel der Verbannten (Deutsche Herzen – Deutsche Helden, Band 5)
Karl May
Inhalt:
Karl May – Biografie und Bibliografie
Der Engel der Verbannten
I. Unter den Zobeljägern.
Fortsetzung 66
67
68
69
70
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72
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Der Engel der Verbannten, Karl May
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849610036
Am 25. Februar 1842 wird Karl May wird als fünftes Kind des Webers Heinrich May und dessen Ehefrau Wilhelmine (geb. Weise) in Ernstthal (Sachsen) geboren. Obwohl er kurz nach seiner Geburt erblindet wird er im Alter von 5 Jahren von der Krankheit geheilt. Bereits mit 14 Jahren beginnt er eine Ausbildung zum Volksschullehrer, die er 1861 besteht. Noch im gleichen Jahr verliert May seinen Arbeitsplatz als Lehrer wegen wiederholten Diebstahls. Ab 1863 wird es ihm verboten zu unterrichten.
Von 1865 bis 1869 wird May immer wieder straffällig und muss von 1870 bis 1874 ins Gefängnis. Danach beginnt May zu schreiben und in "Der Deutsche Hausschatz" erscheinen erste Erzählungen: "Reiseabenteuer in Kurdistan", "Die Todeskaravane" oder "Stambul". Seine Romane erfahren immer mehr Zuspruch und 1893 erscheint die Winnetou-Reihe. Bis 1898 veröffentlicht May über 30 Bände mit immer steigender Auflage.
Erst 1899 unternimmt May erstmals eine Reise in den Orient, 1908 sieht er zum ersten Mal die Vereinigten Staaten. Alles was er geschrieben hatte war pure Fiktion! Er stirbt am 30. März 1912 an einem Herzschlag.
Zu seinen wichtigsten Werken zählen Durch die Wüste und Harem (1892) ,Durchs wilde Kurdistan (1892), Von Bagdad nach Stambul (1892), In den Schluchten des Balkan (1892), Durch das Land der Skipetaren (1892), Der Schut (1892), Winnetou I (1893), Winnetou II (1893), Winnetou III (1893), Orangen und Datteln (1893), Am Stillen Ozean (1894), Am Rio de la Plata (1894), In den Cordilleren (1894), Old Surehand I (1894), Old Surehand II (1895), Im Lande des Mahdi I (1896), Im Lande des Mahdi II (1896), Im Lande des Mahdi III (1896), Old Surehand III (1897), Satan und Ischariot I (1896) ,Satan und Ischariot II (1897), Satan und Ischariot III (1897), Auf fremden Pfaden (1897), „Weihnacht!“ (1897), Im Reiche des silbernen Löwen I (1898), Im Reiche des silbernen Löwen II (1898), Am Jenseits (1899), Der Sohn des Bärenjägers (1887), Der Geist des Llano estakato (1888), Der blaurote Methusalem (1888), Die Sklavenkarawane (1889/90), Der Schatz im Silbersee (1890/91), Das Vermächtnis des Inka (1891/92), Der Ölprinz (1893/94) und Der schwarze Mustang (1896/97).
In der ostsibirischen Kreisstadt Platowa war der Tag des Herbstjahrmarktes.
Platowa hat zwei berühmte Jahrmärkte. Der eine fällt in die Zeit des Frühjahres. Da kommen die Jäger, um ihre Felle, welche sie im Winter in den schneebedeckten Wäldern oder in den öden, einsamen Tundrasümpfen erjagt haben, zum Verkauf zu bringen. Zum Herbstmarkte aber versehen sie sich mit den Vorräthen, deren sie während der winterlichen Pelzjagd bedürfen.
In jenen unendlichen Ebenen, welche mit dem Namen Tundra bezeichnet werden, kann nur im Winter gejagt werden, weil man sie nur beschreiten kann, wenn sie zugefroren sind. Im Frühjahr tauen sie auf, und ein Jeder, der es wagen wollte, den Fuß auf sie zu setzen, würde sofort in ihren unergründlichen, bodenlosen Sümpfen untersinken und verschwinden.
Aber wenn der Winter eine feste Decke gefroren hat, dann thun sich die Zobel- und auch andere Jäger zusammen, um in Gesellschaften von zehn bis zwanzig Mann dem Fange derjenigen Thiere obzuliegen, deren kostbarer Pelz auf den russischen und chinesischen Märkten so sehr gesucht ist.
Diese Jäger sind entweder Eingeborene, welche jagen müssen, da sie dem russischen Herrscher ihren Tribut und ihre Abgaben nur in Pelzwerk bringen dürfen, oder sie sind Deportirte, Verbannte, welche gezwungen sind, jährlich eine gewisse Menge dieser köstlichen Felle zu bringen, wenn sie nicht schwere Strafe erleiden wollen.
Sie thun sich zu Gesellschaften zusammen, weil ein Einzelner in jenen Gegenden verloren sein würde. In der Tundra sind fünfundvierzig bis fünfzig Grad Kälte nach Réaumur gar keine Seltenheit; fürchterliche Schneestürme sausen über Sibirien dahin und belasten die Bäume mit Schneemassen, welche den Wald meilenweit niederbrechen und zusammendrücken. In milden Tagen steigen Nebel auf, durch deren dicke, greifbare Massen man kaum zwei Schritte weit zu sehen vermag, und bleiben wochenlang auf der Ebene liegen, es dem Jäger geradezu unmöglich machend, seiner schwierigen Beschäftigung obzuliegen. Darum müssen sich die Zobelnick (Zobeljäger) zu Gesellschaften vereinigen, damit bei hereinbrechender Gefahr Einer dem Andern zu helfen vermag. Hört man, daß einmal Einer eine Woche oder gar vierzehn Tage lang allein in den Urwald oder auf die Tundra gegangen ist, so schütteln selbst kühne Männer den Kopf und sagen:
»On esstj szalony– er ist wahnsinnig!«
Und sie haben Recht. Wenigstens gehört eine sehr gute Portion Verwegenheit dazu, so etwas zu unternehmen.
Freilich fragt es sich, ob ein amerikanischer Trapper sich fürchten würde, in grimmigster Kalte ebenso gut im sibirischen Urwalde herum zu spazieren wie in den Wäldern des Missisippi und Missouri. Der Trapper ist ja aus einem ganz andern Zeuge gemacht, als der russische Verbannte oder gar der Ostjacke, Tunguse und Buräte.
Heute nun waren diese soeben genannten und noch andere sibirische Völker auf dem Jahrmarkte zu Platowa vertreten.
Da gab es Russen, Kossaken, Kirgisen, Chinesen, sogar einige Japaner, ferner Wogulen, Samojeden, Sojoten, Kalmücken, Tataren, Karakirchisen, Kirgis-Kaisaken, Bucharen, Jakuten, Tschuktschen, Korjäken, Kamtschadalen, Ainos, Giljaken, Jukahiren und Jenissei-Ostjaken.
Das ist gewiß ein richtiges Völkerragout, bei dem es selbst dem Kenner aller dieser Elemente angst und bange werden kann. Aber es ist nicht so schlimm, wie es den Anschein hat.« Es giebt unter all' diesen Leuten wohl einzelne Individuen, vor deren Berührung man sich hüten muß; im Ganzen genommen aber zeichnen sich diese sibirischen Völkerschaften mehr durch ihren friedlichen Sinn als durch gefährliche Eigenschaften aus.
Platowa ist keine Stadt nach unseren landläufigen Begriffen. Eine Anzahl bretterne Häuser bilden den Grundstock derselben, um welchen sich mehr oder weniger Filz- oder Felljurten lagern, je nach der Anzahl der halbnomadischen Bewohner, welche grade anwesend sind. Eine ebenso aus Balken und Brettern gebaute Kirche liegt auf der kleinen Erhöhung, welche stolzer Weise »der Stadtberg« genannt wird. Nach ihr ist das bedeutendste Haus dasjenige, welches dem Kreishauptmann zur Wohnung dient. Es hat nur die Parterreräumlichkeiten, über welche das Dach gelegt ist, und besteht aus zahlreichen Wohnlocalen, mehreren Arrestlocalen, einigen Vorrathskammern und den in der Nähe liegenden Hütten und Ställen, in denen die hier stationirenden Kossaken und deren Pferde untergebracht sind.
Gewöhnlich lag in Platowa nur ein geringes Kommando Militair. Gegenwärtig aber war eine ganze Ssotnie her verlegt worden. Ssotnie heißt bei den Kossaken eine Schwadron.
Es waren nämlich aus den fiskalischen Bergwerken in Nertschinsk, wo fast lauter Verbannte unter der Erde arbeiten, eine Anzahl dieser Unglücklichen entwichen. Man hatte erfahren, daß sie sich nach der Gegend von Platowa gewendet hatten, und aus diesem Grunde waren die Kossaken hierher commandirt worden, um die ganze Umgegend abzusuchen und die Flüchtigen zu ergreifen und zu verschärfter Strafe abzuliefern. Der Rittmeister dieser Ssotnie war zufälliger Weise der Sohn des Kreishauptmannes von Platowa. Vielleicht war dies auch nicht ganz allein Zufall, sondern man hatte ihn dazu gewählt, weil er Platowa genau kannte und also wohl mehr als ein Anderer geeignet war, die Verfolgung der Deportirten zu leiten.
Er war als ein strenger, unfreundlicher Offizier bekannt und gefürchtet, und es gab in seiner ganzen Schwadron keinen einzigen Mann, dessen Zuneigung er besessen hätte.
Außer dem Gebäude des Kreishauptmannes gab es noch ein zweites, welches sich durch seine Größe auszeichnete. Es war das Domzajezdny (Wirthshaus), dessen Besitzer, der Gospodarz (Gastwirth) zu den wohlhabendsten Leuten der Stadt gerechnet werden mußte.
Dieses Wirthshaus bestand aus drei Theilen. Rechts lag der Gastraum und das Wohnzimmer des Wirthes, links die große, geräumige Stallung, für viele Pferde berechnet, und dazwischen ein langer, breiter aber niedriger Raum, welcher Miejsce do tanza geschimpft wurde. Das ist russisch und heißt auf deutsch Tanzplatz oder Tanzsaal. Von einer Diele war da keine Rede. Der Fußboden bestand aus hart geschlagenem Lehm, doch hatte derselbe durch den fleißigen Gebrauch eine Glätte erhalten, welche eine Vergleichung mit dem besten Parquetboden aushalten konnte. Erleuchtet wurde dieser Tanzsaal des Abends durch einige Oellampen, welche von der Decke herunterhingen. Die Tagesbeleuchtung besorgte die Sonne, welcher man den Eingang durch die geöffneten Läden verschaffen konnte. Der Saal und überhaupt das ganze Gebäude hatte zwar Fenster, welche mit Läden verschlossen werden konnten, aber nur ein einziges dieser Fenster war mit Glastafeln versehen.
Hier in Ostsibirien ist Fensterglas eine große Seltenheit. Es giebt da zum Beispiel eingeborene Fürsten, deren Heerden nach Zehntausenden zählen, in deren Wohnung aber nicht ein einziges Glasfenster ist. Die sehr Reichen befestigen vor den Fensteröffnungen ein Stück Glimmerschiefer, was schon für vornehm, für Luxus gilt. Die Armen begnügen sich mit einem Stück Rinderblase, welche sie vor ein kleines Loch spannen. Das nennen sie auch Fenster und sind stolz darauf, durch dasselbe ein Stück Dämmerung hereinfallen zu sehen, welches sie Sonnenlicht benamsen.
Natürlich ging es heute in dem erwähnten Wirthshause hoch her. Die Russen haben die eingeborenen Völkerschaften Sibiriens natürlich vor allen Dingen mit dem Branntwein bekannt gemacht. Der Sibirier aber kann nicht viel vertragen. Er wird sehr schnell betrunken. Und eigenthümlicher Weise ist seine Betrunkenheit nicht eine schwere, aber eine dafür desto längere. Von einem kleinen Glase Wodka wird er für zwei Tage lang betrunken, ohne jedoch den Verstand so zu verlieren, wie es bei der Betrunkenheit eines Anderen der Fall ist. Er springt und reitet dann doppelt selig allüberall herum und trinkt, wenn er nüchtern geworden ist – gleich wieder ein Gläschen.
In der Wirthsstube gab es weder Tische noch Stühle. Rund um die Wände lagen Schilfmatten und auf diesen saßen mit untergeschlagenen Beinen die schlitzäugigen Gäste mit ihren weit hervorstehenden Backenknochen. Sie tranken alles Mögliche, was vorhanden war – saure Milch, Wodka, Mehlwasser oder auch einen Topf voll Ziegelthee. Und dabei standen ihre Zungen nimmer still.
Wer sie schreien hörte, der hätte denken mögen, daß es hier sogleich Mord und Todschlag geben werde, und doch war es nur eine höchst freundliche und nach ihren Begriffen auch höchst anständige und noble Unterhaltung, welche sie führten.
Plötzlich standen alle Zungen still. Es war ein ›Herr‹ eingetreten. Unter ›Herr‹ versteht der Eingeborene jeden Mann, welcher kaukasische Gesichtszüge zeigt und eine gute Kleidung trägt.
Der Eingetretene war von nicht zu hoher und nicht zu breiter Gestalt. Er hatte weite, blaue Pumphosen an, welche in den Schäften der hohen Stiefeln verliefen. Ueber den Hosen trug er einen langschößeligen Schnurenrock und darüber einen leichten Ziegenpelz. Auf dem Kopfe saß eine Lammfellmütze, wie sie gern in Persien und den Kaukasusländern getragen wird.
Sein Gesicht war unter einem dichten, schwarzen Vollbarte fast ganz versteckt. Nur die Augen konnte man deutlich sehen. Aber ihr Blick war stechend und unruhig; er machte keinen Vertrauen erweckenden Eindruck. Ein russisches Gesicht hatte dieser Mann nicht. Seinen Zügen nach mußte man ihn eher für einen Franzosen oder Mittelasiaten halten.
Er grüßte vornehm und überflog die Anwesenden mit einem stolzen, verächtlichen Blicke.
Der Gospodarz kam eilig herbeigerannt, stieß mehrere der Gäste über den Haufen, verbeugte sich beinahe bis zur Erde und sagte:
»Willkommen, Herr, willkommen in meinem armen Hause! Was befiehlst Was wünschest Du? Was ist Dir recht?«
»Kann ich bei Dir wohnen?«
»Ja, jawohl, Herr! Aber doch nicht etwa nur Du allein?«
»Nein. Ich habe meinen Diener mit.«
»Wo befindet er sich?«
»Draußen bei der Kibitka.«
»O heiliger Gott von Astrolenka! Du hast eine Kibitka? Du bist mit einem Wagen gekommen? Und ich habe es nicht bemerkt? Verzeihe, Herr! Ich werde meinem Hauspatron, dem heiligen Nicodemus, ein neues Bilderbuch schenken, damit er mir diese Nachlässigkeit nicht nach meinem Tode anrechnet. Ich werde gleich nach Deinem Fuhrwerke sehen.«
»So komm!«
Sie gingen Beide hinaus. Dort stand eines jener leichten, zweispännigen Fuhrwerke, welche man mit dem Namen Kibitka bezeichnet. Mehrere Koffer waren aufgeladen. Der bärtige Kutscher stand bei den Pferden. Auch er machte mit seinem finsteren Gesichte keinen sehr guten Eindruck und musterte den Wirth mit einer Miene, wie zum Beispiel ein Bandit einen Menschen darauf hin geprüft hätte, ob derselbe genügend Geld bei sich habe, daß ein Raubanfall lohnend sei.
»Ich werde sofort Alles hereinschaffen lassen,« sagte der Wirth. »Wie lange willst Du hier bei mir wohnen?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich von meinen Geschäften hier festgehalten werde. Ich habe gehört, daß Jahrmarkt hier ist?«
»Ja, Herr, ja.«
»Ich sehe doch nichts davon! Wo ist der Markt?«
»O, einen Marktplatz giebt es hier in Platowa nicht. Der Markt wird draußen vor der Stadt im Freien abgehalten. Darf ich erfahren, woher Du kommst?«
»Aus Irkutsk.«
»Also aus Westen. Da konntest Du freilich nichts von dem Jahrmarkte sehen. Er wird im Osten vor der Stadt abgehalten.«
»Kommen da auch Zobeljäger her?«
»Viele, Herr, sehr viele.«
»Ich möchte mir eine Anzahl derselben engagiren.«
»Du willst Zobeljäger in Deinen Dienst nehmen? Hm, Herr, das ist gefährlich, aber auch lohnend. Du kannst da eine sehr große Summe Geldes gewinnen und auch verlieren.«
»Wer gewinnen will, muß auch wagen.«
»Es fragt sich auch, welche Männer Du engagiren willst.«
»Nun, Zobeljäger! Ich habe es ja gesagt!«
»Sehr wohl. Aber es giebt da verschiedene Leute. Man hat freie Männer, welche meist Alles schießen, was ihnen begegnet. Die sind wohl mehr oder weniger Sonntagsjäger. Sodann giebt es Verbannte, welche an jedem Frühjahre gezwungen sind, eine bestimmte Anzahl Felle abzuliefern. Die haben in Folge dieses Zwanges ihr Handwerk gelernt und wissen ihr Wild zu treffen und in ihren Besitz zu bringen.«
»Solche will ich haben.«
»Ich rathe Dir auch dazu, wenn Du einmal den Jagdherrn machen willst. Freilich riskirst Du einen bedeutenden Verlust.«
»Aber ich kann auch gewinnen.«
»Es kommt darauf an, welche Art Leute Du bekommst. Du hast für ihre ganze, vollständige Ausrüstung zu sorgen, sie zu commandiren und, wenn Ihr eine schlechte Jagd macht, an die Regierung den Werth der Felle zu bezahlen, welche sie eigentlich in Natura abliefern müssen.«
»Ich werde nur Leute engagiren, welche ihr Fach gut verstehen.«
»Da mußt Du auch mehr zahlen.«
»Das versieht sich ganz von selbst. Kannst Du mir vielleicht einige gute Jäger nennen? Ich würde mir aus ihnen meine Gesellschaft bilden.«
»Das würdest Du nicht fertig bringen, Herr.«
»Warum nicht?«
»Diese Leute suchen sich ihren Umgang selbst. Keiner von ihnen würde sich von Dir einen Kameraden geben lassen, den er sich nicht selbst gewählt hat. Du mußt Dir einen tüchtigen Jäger suchen, mit ihm abschließen und es ihm selbst überlassen, sich die nöthige Anzahl von Gefährten zu suchen.«
»Ich werde diesen Rath befolgen. Vielleicht kannst Du mir nun einen solchen Jäger nennen.«
»O, mehrere, Herr. Der Allerberühmteste ist – ja, Herr, wenn Du den bekommen könntest!«
»Wen denn?«
»Nummer Fünf.«
»Nummer Fünf? Wie ist sein Name?«
»Das weiß Niemand, als nur seine Vorgesetzten, welche ihn verurtheilt haben. Nicht einmal die hiesige Behörde kennt seinen Namen. Jeder Verbrecher bekommt eine Nummer. Der, den ich meine, ist Nummer Fünf.«
»Läßt er sich denn bei dieser Nummer anreden?«
»Natürlich. Sie ist ja sein gegenwärtiger Name. Er ist der beste Jäger weit und breit. Er spricht nicht viel. Jeder will ihn zum Gefährten haben. Er wählt sich seine Leute stets selbst und bringt mit seiner Gesellschaft immer die reichste Beute heim.«
»Ist er noch jung?«
»Nein; er mag wohl fünfzig Jahre zählen. Er ist auch nicht groß und stark, wie man von einem solchen Jäger denken sollte, sondern klein. Sein Gesicht ist fein und weißgelb. Ich habe einmal zufälliger Weise gehört, daß der Kreishauptmann sagte, Nummer Fünf habe ein Gesicht wie ein vornehmer Indier.«
»Vielleicht ist er ein Indier?«
»Wohl kaum. Wie könnte ein vornehmer Mann aus Indien von den Zaaren nach Sibirien deportirt werden? Und wie könnte Einer, der aus dem heißen Indien stammt, das sibirische Klima so gut vertragen, wie Nummer Fünf es verträgt?«
»Das ist wahr? Ist er schon hier?«
»Ich habe ihn noch nicht gesehen. Gehe hinaus und frage nach ihm. Jeder kennt ihn und Jeder wird Dir ihn zeigen. Vorher aber mußt Du dem Kreishauptmanne einen Besuch machen.«
»Vorher? Hat das solche Eile?«
»Ja. Erstens darfst Du ohne seine Erlaubniß keine Stunde lang in meinem Hause oder überhaupt in Platowa verweilen. Sodann darfst Du ohne seine Genehmigung nicht den Jahrmarktsplatz besuchen, und drittens kannst Du keinen Menschen engagiren oder überhaupt mit irgend Einem einen Vertrag abschließen, ohne daß der Kreishauptmann ihn unterzeichnet und besiegelt.«
»Und eine Abgabe dafür empfängt?«
»Natürlich! Und diese Abgabe wird zur Strafe desto höher bemessen, je länger Du, nachdem Du hier angekommen bist, zögerst, Dich ihm pflichtschuldigst vorzustellen. Ich kann Dir wirklich keinen besseren Rath geben, als augenblicklich zu ihm zu gehen.«
»Ich muß mich doch wenigstens erst umziehen!«
*
Der Wirth schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:
»Warum?«
»Weil er es mir übel nehmen wird, wenn ich in Reisekleidern zu ihm komme.«
»O nein; Du irrst. Deine Kleider sind bereits vornehm. Du mußt bedenken, je besser Dein Anzug ist, desto mehr Geld wird er fordern.«
»Desto mehr? Es muß doch eine Taxe geben!«
»Die giebt es. Aber der Kreishauptmann macht sie selbst.«
»Aha! Der Himmel ist hoch und Zaar ist weit!«
»Um Gotteswillen, Herr, sage das nicht so, daß Jemand es hört! Du könntest sehr streng bestraft werden. Der Zaar ist weit, aber das Gefängniß ist nahe!«
»Verdammtes Ruß–«
Er sprach das Wort nicht aus, murmelte einen Fluch in den Bart und fuhr dann laut fort:
»Gut, so werde ich gehen. Bis ich zurückkehre, werdet Ihr wohl mein Zimmer in Ordnung gebracht haben.«
Er brauchte gar nicht zu fragen, wohin er sich wenden solle. Der Wirth hatte, als er vorhin den Kreishauptmann nannte, mit der Hand auf das große Gebäude gezeigt, in welchem der Genannte residirte. Der Fremde schritt auf dasselbe zu und trat durch die Hauptthür ein. Da war über einer Stubenthür das wunderliche Wort»Prissutstwije«zu lesen. Das heißt auf deutsch so viel wie »Amtsstube«.
Er mußte natürlich glauben, daß er sich in dieses Zimmer zu wenden habe. Er klopfte an und trat ein. Auf einem alten Sopha saß ein langer, dürrer Mann mit einer ebenso langen, dürren Frau. Der Mann musterte den Eingetretenen, erwiderte dessen Gruß nur mürrisch und fragte:
»Zu wem willst Du?«
»Zum Kreishauptmann.«
»Schön! Was ist Dein Wunsch?«
»Meinen Paß vorzeigen.«
»Gieb ihn her!«
Der Fremde gab den Paß. Der Dürre öffnete und las denselben, faltete ihn wieder zu, streckte die Hand aus und sagte:
»Kostet fünf Rubel.«
Der Fremde zog den Beutel, zahlte das Geld und erhielt den Paß zurück. Dann erkundigte er sich:
»Darf ich im Gasthause wohnen?«
»Kostet zwei Rubel.«
Dieses Mal aber streckte die Frau die Hand aus und erhielt das Geld von dem Fremden, welcher dabei die Frage aussprach:
»Darf ich mir eine Gesellschaft Zobeljäger engagiren?«
»Kostet vier Rubel,« sagte die Frau, indem sie schnell die Hand wieder ausstreckte. Der Fremde gab ihr die vier Rubel. Ihr Mann aber entriß ihr rasch einen davon und sagte:
»Ich habe erst fünf und Du nun sechs. Ich bin der Zasjedatel, Du aber nur die Zasjedatela. Der Mann muß mehr haben als die Frau.«
Zasjedatel heißt so viel wie Beisitzer. Also war dieser Mann gar nicht der Kreishauptmann. Der Fremde schluckte seinen Aerger hinab und sagte im Tone leichten Vorwurfes:
»Du könntest mir eher sagen, daß Du nur der Beisitzer bist!«
»Warum? Auch ich habe meinen Zoll von Dir und Jedem zu verlangen. Gehe da hinein!«
Er zeigte auf eine zweite Thür, über welcher dasselbe famose Wort»Prissutstwije«zu lesen war. Der Fremde folgte diesem Gebote und trat dort ein. Als er grüßte, wendete der Herr, welcher schreibend an einem Tische saß, ihm das Gesicht zu und fragte kurz und streng:
»Zu wem?«
»Zum Isprawnik (Kreishauptmann).«
»Gut. Was willst Du?«
»Hier mein Paß!«
Er gab ihn hin. Der Beamte las und sagte:
»Zehn Rubel!«
»Herr, ich habe bereits im Vorderzimmer fünf gegeben!«
»Geht mich nichts an. Zehn Rubel, oder der Paß bleibt hier liegen!«
Wohl oder übel zählte der Fremde das Geld hin und fragte dabei:
»Ich kann doch im Gasthofe logiren?«
»Vier Rubel!«
»Ich habe da vorn schon zwei bezahlt!«
»Vier Rubel!«
Das wurde in einem so drohenden Tone gesagt, daß der Supplicant sofort zahlte, dann aber sich weiter erkundigte:
»Ich beabsichtige, eine Gesellschaft von Zobeljägern zu engagiren, um mit ihnen in –«
»Acht Rubel!« unterbrach ihn der Beamte sehr schnell.
Der Andere wollte eine zornige Bemerkung machen, erhielt aber einen solchen Blick zugeschleudert, daß ihm das Wort stecken blieb. Er bezahlte. Der Beamte gab ihm jetzt seinen Paß zurück, zeigte auf eine andere Thür und sagte:
»Geh da hinein!«
Ueber dieser Thür stand das Wort»Perednjaja«. Das heißt nämlich Vorzimmer. Jetzt konnte der Fremde sich nicht enthalten, zu fragen:
»Das ist erst das Vorzimmer? Bist Du denn nicht der Isprawnik?« »Nein,« antwortete der Gefragte in jetzt sehr freundlichem Tone. »Ich bin nur der Obschtschestnik von Platowa, und Der, bei dem Du erst warst, ist mein Beisitzer.«
»Aber, zum Teufel, ich will ja nicht zu Euch, sondern zu ihm!«
»Mein Söhnchen, zu ihm kannst Du nur, wenn Du bei uns gewesen bist. Sei ruhig und ärgere Dich nicht! Es ist Jahrmarkt, an welchem ein Jeder sein Geschäft machen will. Du und ich und alle Anderen auch.«
»So werde ich auch noch bei dem Isprawnik zu bezahlen haben?«
»Ja, und zwar mehr als bei uns.«
»Höre, ist das recht von Euch?«
»Sehr recht! Niemand kann auf Erden Etwas umsonst erhalten. Und nun frage nicht weiter, sonst lasse ich Dich nicht hinein zu dem Kreishauptmanne, und Du wirst ganz im Gegentheile nach Irkutsk zurückgeschickt.«
Der Fremde hielt es für gut, diesem Rathe Folge zu leisten. Er ging durch die bezeichnete Thür. Dort stand ein junger Mann in der Uniform eines gewöhnlichen Kosaken. Er schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit und fragte nur:
»Wo finde ich den Isprawnik?«
Er erhielt nicht gleich eine Antwort. Der Kosak hielt das Auge wie erschrocken auf ihn gerichtet, trat zurück, fixirte ihn abermals und sagte dann:
»Florin! Ist das möglich! Du in Sibirien!«
Als der Angeredete diesen Namen hörte, erbleichte er. Das sah man sogar trotz seines Vollbartes ganz deutlich. Vor Schreck fuhr er um einige Schritte zurück, faßte sich aber sehr schnell wieder und sagte in dem gleichgiltigsten Tone, welcher ihm jetzt möglich war:
»Du verkennst mich!«
»O nein!«
»O doch! Ich kenne Dich nicht.«
»Das ist möglich. Aber desto besser kenne ich Dich. Es sind zwar Jahre vergangen, seit wir uns gesehen haben, und es mag sein, daß mein Gesicht sich verändert hat, aber Deine Züge sind so, daß man sie nie vergessen kann, wenn man sie einmal gesehen hat.«
»So, so! Wer soll ich denn sein?«
»Der Kammerdiener Florin.«
»Kammerdiener? Bei wem denn?«
»Bei dem Baron Alban von Adlerhorst.«
»Diesen Namen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!«
»Verstelle Dich nicht!«
»Warum sollte ich mich verstellen!«
»Vielleicht hast Du Ursache, Deine frühere Existenz zu verleugnen.«
»Höre, ich will nicht hoffen, daß Du die Absicht hast, mich zu beleidigen!«
»Das kann mir nicht einfallen.«
»Ich würde es mir auch auf das Strengste verbitten. Du trägst das Abzeichen eines Deportirten, bist also zur Strafe in ein sibirisches Regiment gesteckt worden. Es würde mich nur ein einziges Wort kosten, Deine Strafe verschärfen zu lassen. Du könntest leicht aus der zweiten Classe in die fünfte versetzt werden!«
Die russischen Verbannten sind nämlich in fünf Classen vertheilt. Diese folgen auf einander: Aufenthalt unter Aufsicht in einer Stadt, Dienst in einem sibirischen Regiments, Colonisation, öffentliche Arbeiten, namentlich in den Bergwerken, und endlich Einstellung in eine Straf- oder Arrestantencompagnie. Die erstere Strafe ist die leichteste, die letztere aber die härteste.
Als der Fremde diese Drohung aussprach, blieb der Kosak dennoch nicht ruhig. Er antwortete:
»Und trotzdem möchte ich wetten, daß ich mich nicht irre. Es können unmöglich zwei Menschen eine solche Aehnlichkeit besitzen.«
»Was soll es anders sein, als eine Aehnlichkeit! Ich habe nicht nöthig, mit einem Strafkosaken eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber Du bist, so zu sagen, doch auch ein Mensch, und darum will ich Dir beweisen, daß Du Dich irrst. Hier ist mein Paß. Lies ihn!«
Er zog den Paß hervor und reichte ihn dem Kosaken hin, welcher ihn öffnete, ohne auf die Beleidigung, welche die soeben ausgesprochenen Worte enthielten, zu antworten. Der Paß lautete auf den Namen Peter Lomonow, Kaufmann aus Orenburg, und war von der dortigen Behörde ausgestellt und außerdem von dem militärischen Gouverneur contrasignirt. Es konnte keinen Zweifel geben. Dennoch begann der Kosak das Signalement mit der vor ihm stehenden Person zu vergleichen.
»Hier steht ›zwei Vorderzähne fehlen‹, und Du hast keine Zahnlücke,« sagte er. »Wie stimmt das?«
Der angebliche Kaufmann, welcher wirklich kein Anderer als der ehemalige Derwisch war, riß ihm den Paß aus der Hand und antwortete:
»Weil ich sie mir habe einsetzen lassen. Sie sind natürlich falsch. Uebrigens bist Du nicht der Kreishauptmann und hast den Paß nicht zu beurtheilen. Ich bin mit Dir fertig und frage Dich nur, ob der Isprawnik zu sprechen ist.«
»Er ist da drin. Gehe hinein!«
Das Vorzimmer hatte drei Thüren. Eine, durch welche der Kaufmann gekommen war, eine, durch welche er jetzt eintrat, und eine dritte, welche direkt in das Freie führte.
»Und er ist es dennoch! Er ist es!« sagte der Kosak für sich hin. »Was will er hier? Wo hat er sich während dieser Jahre befunden und warum verleugnet er sich?«
Er hatte keine Zeit, weiter über diesen Gegenstand nachzudenken, denn die eben erwähnte dritte Thür wurde geöffnet und es traten drei Personen ein, welche eine Beschreibung verdienen.
Voran kam ein kleiner, dicker Kerl mit schief geschlitzten Augen, hervortretenden Backenknochen und einer riesigen Bärenmütze auf dem Kopfe. Er hatte Pelzstiefel an, das Haar nach Außen gekehrt, Hosen auch aus Pelz und einen langen Rock ebenso aus Pelz. Ueber diesen hatte er einen schweren Sarras geschnallt und in der rechten Hand hielt er eine gewaltige Reitpeitsche. Diese Peitsche aber schien bei ihm nicht sehr gefährlich zu sein, denn sein kleines Näschen zuckte außerordentlich naiv in die Welt und um seinen breiten Mund lag ein Lächeln, welches gar nicht gutmüthiger hätte sein können.
Hinter ihm trat eine Frau ein, welche ganz genau ebenso gekleidet war wie er. Auch sie hatte eine Peitsche in der Hand. Nur die Bärenmütze fehlte. Sie trug das schlichte Haar in zwei dünnen Zöpfen über den Rücken hinab, in den Ohren zwei seht große goldene Ringe und über der Brust eine schwere, silberne Kette. Ihr Gesicht war womöglich noch gutmüthiger als dasjenige ihres Mannes. Auch war sie noch dicker als er, so daß sie sich nur mit Mühe zur Thüröffnung hereinzwängen konnte.
Hinter diesen Beiden kam oder vielmehr leuchtete und glänzte, blitzte und flimmerte es herein, so rein, so zart, so schön und herrlich wie die Morgenröthe, wenn sie mit Gold und Purpur das jungfräuliche Weiß eines Gletschers bestrahlt.
Ein Mädchen war es hoch und stolz gewachsen, wie es unmöglich unter den eingeborenen Völkern und Stämmen Sibiriens ein weibliches Wesen geben kann.
Diese wunderbar schöne, schlanke und doch so üppig volle Gestalt trug eine ganz eigenartige Kleidung. Die kleinen Füßchen staken in langen, feingearbeiteten Schnürstiefeletten aus rothgegerbtem Leder vom Bauche des Elennthieres. Blendend weiße Strümpfe umschlossen die drallen Waden, welche man sehen konnte, weil das Röckchen nur wenige Zolle über die Kniee herabreichte. Dieses Röckchen aber bestand aus dem kostbarsten Zobel, jener seltenen und darum so theuren Art, deren glänzend schwarzes Fell sich nach jeder Richtung streichen läßt, ohne struppig zu werden, mit silberweiß glänzenden Grannenspitzen. Dieses silbernen Glanzes wegen werden die Thierchen Silberzobel genannt.
Ueber diesem Röckchen, dessen enger Schnitt die herrlichen, voll gerundeten Hüften deutlich erkennen ließ, umschloß ein Mieder von demselben Pelzwerk die seine Taille, vorn geöffnet und oben so weit ausgeschnitten, daß die Fülle des Busens, vom feinsten, schneeweißen Linnen bedeckt, zur verführerischen Geltung kam. Die langen Aermel dieses Mieders waren, nach orientalischer Art, nach den Händen zu immer weiter gehalten und bis oben in die Nähe der Achsel aufgeschnitten. Goldene Spangen hielten den Aufschnitt so weit zusammen, daß der weiße, verführerisch gerundete Arm wie Schnee aus dem glänzenden Dunkel des Pelzwerkes hervorleuchtete.
Um den nackten, schlank und doch kräftig auf die üppigen Schultern gesetzten Hals flimmerte ein Schmuck von viereckigen Goldplatten. Das schwarze, lange, schwere Haar war mit eben solchen Goldplatten und silbernen Ketten durchflochten, sonst aber unbedeckt. Die kleinen, rosig angehauchten Ohren waren ohne Schmuck. Dafür aber lagen um die hohe, schön gewölbte Stirn mehrere Lagen von Goldmünzen, von silbernen Kugeln zusammen gehalten, auf deren jeder ein Diamant funkelte.
Doch über das Alles blickte man gern hinweg, um das Gesicht zu schauen, ein Gesicht, wie die schaffende Natur es einem Menschenkinde nur unter der allerglücklichsten Constellation der Sterne einmal verleiht.
Das waren Augen, schwarz und groß, von einem mächtigen und doch dabei so milden Blicke! Es glänzte so kindlich rein aus denselben hervor, als habe noch nie ein Hauch des Zornes und des Hasses die Seele dieses außerordentlichen Mädchens getrübt. Und doch machten diese Augen auf den Beschauer den Eindruck, als ob sie so zornig und gewaltig aufleuchten könnten, daß selbst die personificirte Kühnheit von ihrem Blitze vernichtet werden müsse.
Die Wangen waren voll und doch nicht so sehr fleischig, daß dem herrlichen Profile dadurch ein Eintrag geschehen wäre. Es war, als sähe man es ihnen an, daß noch kein fremder Mund sie geküßt, nicht einmal die Spitze eines fremden Fingers sie nur leicht liebkosend berührt hätte.
Das Kinn, so zart gezeichnet, war doch kräftig geformt, auf einen kräftigen Character schließen lassend. Dazu paßte das leicht gebogene, aber nicht etwa zu scharfe, energische Näschen, welches in kein anderes, als nur in dieses Gesicht zu passen schien.
Ueber den Mund hätte selbst Correggio nichts zu sagen gewußt, aber er hätte es als ein Glück angesehen, ihn immer und immer wieder studiren zu dürfen. Es schienen Götter und Menschen zu gleicher Zeit an demselben gezeichnet und geformt zu haben, so himmlisch und so irdisch schön schlossen die vollen, ganz eigenartig gebogenen Lippen die kleinen, prächtigen Zähnchen als köstliche Kleinode ein. Wer diesen Mund sah, dem kam ganz unwillkürlich die Ueberzeugung, daß wohl der würzigste Athem demselben entströmen, nie aber ein absichtlich böses Wort ihm entfliehen könne.
Die kleine und dabei doch kräftige Hand hielt auch eine Reitpeitsche. Diese und die beiden kleinen Sporen, welche an den Stiefelchen klirrten, konnte man einem Mädchen nicht übel nehmen, welches gewöhnt ist, nur zu Pferde den heimathlichen Heerd zu verlassen.
Der Schmuck, welchen dieses entzückende Wesen trug, ließ auf einen außerordentlichen Reichthum schließen. In Sibirien circulirt fast nur papierenes Geld und noch dazu ist ein bedeutender Theil desselben gefälscht. Selbst kleinere Silberstücke sind im gewöhnlichen Verkehre selten. Man kann mit einer Silbermünze, die einen Werth von nur wenigen Kopeken hat, bei den Eingeborenen schon ziemlich viel bezahlen. Diese Leute nehmen niemals Papiergeld. Sie können meist nicht lesen, weshalb sie sehr leicht betrogen werden könnten. Darum ziehen sie lieber den Tauschhandel vor, Waare gegen Waare, dann sind sie sicher, nicht übervortheilt zu werden.
Aus diesem Grunde repräsentirte der Schmuck des Mädchen ein Capital, welches auf einen ganz bedeutenden Reichthum schließen ließ.
Aber nun vor allen Dingen die Frage: War dieses Mädchen mit den beiden dicken Leuten verwandt? Jeder hätte sofort mit einem schnellen »Unmöglich!« geantwortet, und doch –
Der kleine Mann wälzte sich lächelnd auf den Kosaken zu und sagte:
»Hast Du hier die Wache, mein Söhnchen?«
»Ja, mein Väterchen.«
Es muß hier erwähnt werden, daß alle Völker, welche sich der russischen Sprache bedienen, gern den höflichen, freundlichen Diminutiv gebrauchen, also Väterchen, Mütterchen, Brüderchen, Schwesterchen, anstatt dem kälteren Vater, Mutter, Bruder und Schwester. Zuweilen wird diese Ausdrucksweise zu oft angewendet, wobei oft sehr spaßhafte Ausdrücke zum Vorschein kommen.
»Kennst Du mich?« fragte der Dicke weiter.
»Nein, doch werde ich wohl die Freude haben, zu erfahren, wer Du bist.«
Das Gesicht des Dicken glänzte noch freundlicher, als er bereitwillig antwortete:
»Ja, mein liebes Söhnchen, diese große Freude werde ich Dir gern machen. Ich bin nämlich Bula, der Tejsch der Tungusen. Kennst Du mich nun, mein Herzchen?«
Tejsch heißt so viel wie Fürst.
»Ja, Väterchen, jetzt kenne ich Dich.«
»Und nun, mein Liebling, will ich Dir auch mein Frauchen zeigen, die Fürstin. Sie heißt Kalyna. Findest Du nicht, daß dieser Name sehr richtig ist?«
Kalyna heißt ›die Dicke‹. Darum antwortete der Kosak:
»O, er ist sehr richtig, mein liebes Väterchen. Darf ich dem Mütterchen die Hand küssen?«
Da erglänzte das Gesicht der Fürstin vor heller Wonne. Sie wälzte sich näher, streckte ihm die Finger entgegen, welche so fett waren, daß sie dieselben gar nicht mehr zusammen bringen konnte, und flötete mit ihrem lieblichsten Tone:
»Ja, hier, mein Söhnchen, hast Du meine Hand. Drücke immerhin ein Küßchen darauf. Oder möchtest Du lieber alle Beide küssen?«
»Ja, gönne mir dieses Vergnügen!«
»Warum denn nicht, wenn man einem so netten Bürschchen so ein kleines Vergnügen machen kann, so soll man es ihm auch machen. So, mein Kindlein! Und nun wird Dir der Fürst, mein gutes Männchen, eine Frage vorlegen.«
Der Kosak hatte beide Hände der Dicken geküßt und dabei gar nicht gethan, als ob er auch die dritte Person gesehen habe. Jetzt fragte ihn der Anführer der Tungusen:
»Weißt Du vielleicht, ob das gute Kreisamtmännchen zu Hause ist?«
»Ja, Väterchen. Er ist drinnen in seinem Zimmer.«
»So werden wir einmal hineingehen. Wir sind nämlich gekommen, ihm ein Visitchen zu machen.«
»Ich muß Dich bitten, noch einen Augenblick zu warten, gutes Väterchen.«
»Warum?«
»Weil Jemand bei ihm ist.«
»Wer?«
»Ein fremder Kaufmann, welcher seinen Paß vorzeigen will.«
»Nun gut, so warten wir. Doch hoffe ich, daß sich der Kreishauptmann nicht allzu lange mit dem Päßchen des Kaufmännchens beschäftigen werde. Ich bin zum Jahrmarkt gekommen und habe viel einzukaufen.«
»Der Isprawnik wird sich beeilen. Soll ich Dich vielleicht anmelden?«
»O nein. Stören will ich ihn nicht. Gar so eilig habe ich es nicht. Und damit uns die Zeit nicht so lang wird, werde ich Dir einmal hier mein Töchterchen zeigen, mein Herzchen, mein Juwelchen, mein weißes Lämmchen. Siehe sie Dir einmal an! Sie heißt Karparla. Ist das recht?«
Die Tungusen haben von allen Turk-Völkern die Sprache am reinsten erhalten. Kar heißt der Schnee, und parlamak heißt leuchten, glänzen. Der Name Karparla also bedeutet: wie Schnee leuchten.
Die Naturvölker geben die Namen sehr oft nach in die Augen fallenden Eigenschaften der betreffenden Person. Der Fürst hätte für seine Tochter keinen bezeichnenderen Namen finden können als Karparla.
Jetzt war der Kosak gezwungen, seine Augen voll auf sie zu richten. Seine kräftige, wohlgegliederte Gestalt schien sich in die Höhe zu richten, sein Auge glänzte und seine Wangen rötheten sich. Er antwortete:
»Ja, dieser Name ist bezeichnend wie kein anderer. Du hast ihn sehr gut gewählt, Väterchen.«
Der Fürst war über dieses Lob so sehr erfreut, daß er, auf seine Tochter deutend, sagte:
»Hast Du nicht Lust, auch ihr die Händchen zu küssen?«
»Du bist voller Güte, mein Väterchen; aber was Du mir da erlaubst, das darf ich doch nicht wagen.«
»Warum nicht?«
»Das kann ich Dir nicht erklären. Ich würde die Worte nicht finden, welche nöthig wären, Dir zu sagen, warum ich es nicht darf.«
Da trat Karparla schnell auf ihn zu, reichte ihm die Rechte entgegen und sagte mit einer Stimme, deren reiner, sonorer, kräftiger Klang ihm in die tiefste Seele drang:
»Du darfst es. Aber nicht küssen sollst Du meine Hand. Das würde wie eine Unterwürfigkeit erscheinen. Sondern reichen wollen wir uns die Hände wie Bekannte, welche einander nicht vergessen haben.«
Sie ergriff seine Hand und drückte sie herzlich. Vater und Mutter blickten erstaunt auf die Tochter. Der Erstere sagte:
»Wie Bekannte? Habt Ihr Euch denn schon einmal gesehen?«
»Ja, ja,« antwortete sie, bedeutungsvoll mit dem Kopfe nickend.
»Nun, was thut das, mein Seelchen! Er kann Dir trotzdem die Hand küssen, wenn es auch wie eine Unterwürfigkeit aussieht. Er ist ein gemeiner Kosak, ein Deportirter, und Du bist eine reiche, vornehme Fürstentochter. Er muß Dir also unterthänig sein, und es ist eine sehr große Ehre und Gnade für ihn, daß ich ihm erlaube, Dir das Händchen zu küssen.«
Diese Worte hätten aus jedem andern Munde eine Beleidigung enthalten; er aber sagte das so unbefangen, so freundlich und lächelnd, und dabei blickte er so wohlwollend zu dem Kosaken hinüber, daß dieser, welcher übrigens diese unbeleckten Naturmenschen bereits kennen gelernt hatte, ihm gar nicht bös sein konnte.
Prinzessin Karparla aber sagte in einem sehr ernstem Tone:
»Er mir unterthan? Nein. Er steht mir gleich. Er ist mein Bruder.«
»Dein Bruder? Machst Du vielleicht ein kleines Scherzchen, mein Engel?«
»Nein. Ich habe mich lange, lange darnach gesehnt, ihn wieder zu sehen. Ihn heut hier zu treffen, konnte ich nicht ahnen. Höre es, Väterchen, und höre es, Mütterchen! Er ist mein Retter!«
Da stemmten Beide ihre Hände in die Seiten und riefen zu gleicher Zeit:
»Dein Retter?«
»Ja.«
Da schlugen sie zu gleicher Zeit die Hände vor Verwunderung zusammen, daß beide Peitschen auf den Boden fielen.
»Der Dich aus dem Eise gezogen hat?« fragte der Fürst im Tone des größten Erstaunens.
»Ja, er,« antwortete sie.
»Ist das nicht ein kleines Irrthumchen?«
»Nein. Ich habe ihn sogleich erkannt, als ich hier eintrat und ihn erblickte.«
»Es war doch ein Arbeiter, welcher Dich errettete, nicht aber ein Kosak!«
»So ist er indessen Kosak geworden.«
»Welch ein Wunder. Ist es denn wahr, daß Du ihr Retter bist, mein liebes Kosakchen?«
»Ja, ich bin es,« antwortete der Gefragte.
»So ist es also keine Täuschung! Du bist es! Laß Dich umarmen!«
Er zog den Kosaken an sich und schob ihn dann der Fürstin zu, mit den Worten:
»Mütterchen, drücke ihn auch an Dein Herzchen! Er hat es verdient, daß Du Dich bedankst!«
»Ja,« antwortet« sie. »Komm in meine Arme mein Söhnchen, mein Retterchen! Ich bin bereit.«
Sie öffnete die dicken Arme. Der Kosak trat hinzu und duldete es, daß sie ihm die Hände auf die Arme legte. Sie wollte ihn im überquellenden Gefühl umarmen, brachte aber die Hände nicht weiter; sie war eben zu corpulent dazu. Sie hatte sogar die Absicht, ihn auf die Wange zu küssen, da aber ihre Gestalt einen zu großen Durchmesser hatte, so konnte sie ihn mit ihren Lippen nicht erreichen und der schallende Schmatz explodirte wie eine Wurfgranate in der Luft.
Der Fürst war mit großem Vergnügen Augenzeuge dieser außergewöhnlichen Zärtlichkeit seiner Gattin, meinte aber jetzt in verwahrendem Tone:
»Nun darfst Du aber nicht denken, daß auch mein Töchterchen Dich umarmen und küssen soll. Das ist verboten. Sie ist ein Mädchen und eine Prinzessin. Und dazu ist sie die Verlobte des Rittmeisters, welcher der Sohn meines Freundes, des Kreishauptmännchens ist. Beide würden es nicht dulden, daß sie Dich umarmt. Sage uns lieber, wie Du so plötzlich Kosak geworden bist!«
Bei der letzteren Eröffnung hatte Karparla sich unwillkürlich abgewendet, und die Wangen des Kosaken waren blaß geworden.
»Ach! Also darum!« sagte er halblaut.
»Was?«
»Ich hatte einen Fehler begangen,« fügte er schnell und lauter hinzu. »Zur Strafe dafür wurde ich in die Sotnie gesteckt.«
»Du Armer! Aber da bist Du selber schuld. Ich werde indeß Fürbitte für Dich einlegen. Meinst Du nicht?«
»Nein. Thue es nicht.«
»Warum nicht?«
»Es würde mir nichts nützen sondern nur schaden, mein Väterchen.«
»Glaube das nicht, mein Söhnchen. Ich gelte sehr viel bei dem Rittmeister.«
Da trat Karparla auf den Kosaken zu, gab ihm die Hand und sagte:
»Willst Du auch mir nicht erlauben, für Dich zu bitten.«
»Nein.«
»Meinst Du, daß er mir, seiner Braut, die erste Bitte abschlagen werde?«
Da zog er rasch seine Hand aus der ihrigen und antwortete in beinahe schroffem Tone:
»Auf diese Weise nun gar nicht! Ich mag von ihm keine Gnade haben!«
»Das ist mir sehr unlieb. Aber vielleicht kann ich Dir eine andere Liebe erweisen, welche Du von mir annimmst. Jetzt erlaube mir, Dir einstweilen das hier zum Andenken zu geben!«
Sie zog einen Ring vom Finger und ergriff seine Hand, um ihm denselben anzustecken.
In diesem Augenblicke trat der einstige Derwisch aus dem Nebenzimmer. Er öffnete dabei die Thür so weit, daß man sehen konnte, wer sich in dem Letzteren befand, nämlich der Kreishauptmann, sein Sohn der Rittmeister, und außer ihnen noch ein Kosakenlieutenant.
Alle Drei erblickten die Gruppe.
»Bula, der Fürst!« rief der Kreishauptmann.
Während der Derwisch sich schnell entfernte, trat der Rittmeister ebenso schnell heraus und fragte:
»Was geht hier vor?«
»Ich habe meinen Retter gefunden,« antwortete das schöne Mädchen.
»Ja, ihr Retterchen!« fiel der Fürst ein. »Freust Du Dich nicht auch darüber, Rittmeisterchen?«
Der Genannte fragte, anstatt zu antworten:
»Und was ist da geschehen? Was ists mit diesem Ringe?«
»Ich habe ihm denselben geschenkt.«
»Wie? Ihm, einem Deportirten einen Brillant geschenkt? Das muß ich mir denn doch verbitten. Komm, Bursche!«
Er ergriff die Hand des Kosaken, zog ihm den Ring vom Finger, steckte denselben sich selbst an und sagte, zu Vater, Mutter und Tochter gewandt:
»Kommt herein! Hier ist kein Ort für Euch!«
Der Kosak stand vollständig regungslos da, ein Bild eiserner Disciplin, aber auch eiserner Selbstbeherrschung. Keins seiner Glieder bewegte sich. Nur um dem Schnurrbart zuckte es kaum bemerkbar, und die Lider senkten sich nieder, damit der Blick seines Auges nicht verrathen möge, was in seinem Herzen vorging.
Im Vorübergehen flüsterte Karparla ihm zu:
»Gräme Dich nicht! Ich sehe Dich wieder.«
Die Thür schloß sich hinter ihr.
Jetzt kam Bewegung in den Kosaken. Er ballte die Faust und erhob sie drohend.
»Meine Stunde wird auch schlagen!« knirrschte er. »Die Ketten werden fallen, und dann – – –! Welch ein Tag! Zuerst dieser Diener der Adlerhorst! Er war es. Ich schwöre darauf! Und nun Karparla – die Verlobte des Rittmeisters! Das habe ich nicht geahnt! Welch eine Schönheit! Wie erhaben, wie rein, wie stolz und doch wie mädchenhaft! Schon glaubte ich, ihr Bild sei aus meiner Seele gewichen, und nun – nun – – o Zykyma, arme Zykyma! Wartest Du vielleicht immer noch auf den Hauptmann Orzeltschasta, welcher seinen guten deutschen Namen Adlerhorst in dieses russische Wort verwandeln mußte? Vielleicht wartest Du vergebens.
Ich glaube, die Wellen verschlingenAm Ende Schiffer und Kahn.Und das hat mit ihrem SingenDie – – Karparla gethan!
Als der Fürst mit seiner Frau und Tochter bei dem Isprawnik eingetreten war, hatte der Letztere die Drei sehr freundlich begrüßt. Aber der Menschenkenner hätte sofort bemerkt, daß diese Freundlichkeit keine wirklich aus dem Herzen kommende sei.
Er war ein ächter Russe, lang, breitschulterig, mit niedriger Stirn, stumpfer Nase, dicken Lippen und struppigem Vollbarte. Sein Sohn war ihm sehr ähnlich. Der Rittmeister mußte seiner Hünengestalt nach eine ungemeine Körperkraft besitzen.
Der Lieutenant hatte Miene gemacht, sich zurückzuziehen, war aber durch einen Wink des Rittmeisters bedeutet worden, zu bleiben.
»Du störst gar nicht,« flüsterte ihm der Letztere zu. »Sollst sogar Zeuge sein, wie ich diesem dicken Fürsten meinen Standpunkt klar mache.«
Und sich zu dem Fürsten wendend, fuhr er laut fort:
»Höre, Väterchen, wie kannst Du denn eigentlich Karparla erlauben, einem Verbrecher ihren Ring zu schenken?«
»Er ist ja ihr Retter!« antwortete der Gefragte erstaunt.
»Du bist wohl sehr froh, ihn gefunden zu haben?«
»Sehr! Und das Mütterchen auch. Wir haben ihn vor Freude umarmt.«
»Umarmt? Auch das Mütterchen?«
»Natürlich!«
»Und Karparla wohl auch?«
»Nein, das habe ich ihr verboten.«
»So war dieses Verbot wohl nothwendig? Ohne dasselbe hätte auch sie ihn umarmt?«
Er sagte das in einem so höhnischen Tone, daß er sogar diesen kindlichen Gemüthern auffallen mußte. Der Fürst wollte antworten, doch Karparla that es rasch an seiner Stelle:
»Hättest Du Etwas dagegen gehabt?«
Sie stand stolz und hoch aufgerichtet vor ihm. Er verschlang ihre Schönheit förmlich mit seinem Blicke, ließ sich aber durch dieselbe doch nicht besiegen.
»Sehr viel sogar!«
»Mit welchem Rechte?«
»Du bist meine Braut!«
»Ich wußte kein Wort davon und habe es erst heut erfahren.«
»Es ist so zwischen uns und Deinen Eltern ausgemacht worden. Dein Väterchen hat dem Schamanen seinen Schwur gegeben und darf ihn nun nicht brechen.«
Die Schamanen sind die Priester der Tungusen und haben mehr Einfluß auf die Gewissen der Laien und selbst der Fürsten als unsere christlichen Priester auf die Glieder ihrer Gemeinden.
Das Mädchen wendete den Blick auf den Fürsten und fragte mit leiser, stockender Stimme:
»Ist das wahr, Väterchen?«
»Ja, meine Seele, mein Liebchen.«
»Warum hast Du das gethan?«
»Ich werde Dir den Grund sagen, wenn Du das Weib Deines Männchens geworden bist.«
»Und nun kann es nicht anders sein?«
»Nein. Du mußt! Du weißt, daß es ganz unmöglich ist, einen solchen Schwur zu brechen.«
»Ich weiß es und werde gehorchen.«
Ihre Wimpern sanken nieder, als ob eine Thräne zu verbergen sei, und sie selbst auch sank auf einen Stuhl. Sie fühlte sich plötzlich so schwach und fuhr mit beiden Händen nach dem Herzen, als ob sie dort einen großen Schmerz empfinde.
Der Rittmeister trat einen Schritt näher herbei und sagte in zärtlich sein sollendem Tone:
»Du siehst also, Schätzchen, daß Du mir gehörst und daß schon der Blick eines solchen Hundes, wenn er ihn auf Dich richtet, ein Verbrechen ist.«
Da blickte sie schnell und zornig zu ihm auf.
»Du nennst meinen Retter einen Hund?«
»Er ist noch schlimmer als ein Hund; er ist ein Verbrecher, welcher bestraft ist.«
»Was hat er begangen?«
»Das weiß ich nicht. Niemand erfährt die That, wegen deren Einer nach Sibirien verbannt wird. Aber er ist auch bereits hier wieder in Strafe gefallen.«
»Weshalb?«
»Wegen einer Frechheit, welche ihres Gleichen sucht: Er hat Dich geküßt.«
Sie erglühte über und über.
»Mich – geküßt.«
»Ja. Schau, wie zornesroth Du wirst!«
»So ist er unschuldig bestraft worden!«
»Nein.«
»Ich weiß nichts davon, daß er mich geküßt hat.«
»Er hat es gethan. Es war ein Zeuge da.«
»Wer?«
»Ich selbst.«
Er blickte sie triumphirend an, erreichte aber grad das Gegentheil. Sie erhob sich langsam von ihrem Sitze, trat einen Schritt näher zu ihm heran und sagte:
»Du warst Zeuge, daß er mich küßte. So warst Du wohl auch in der Nähe?«
»Natürlich.«
»Als ich über den Fluß ritt und das Eis unter mir und dem Pferde brach?«
»Ja.«
»Ich hatte die Besinnung verloren. Als ich wieder zu mir kam, lag ich hier bei Euch.«
»Ich habe Dich hergetragen.«
»Wer aber hat mich aus dem Flusse, unter dem Eise hervor geholt.«
»Dieser Nummer Zehn.«
»Du kanntest ihn?«
»Genau.«
Er hatte ihre schnellen Fragen ebenso rasch beantwortet, ohne zu fragen, was nun darauf folgen werde. Jetzt richtete sie sich höher vor ihm empor.
»Er rettete mich und Du sahst zu?«
»Nun, er war ja da. Ich rief ihn herbei.«
»Ah, Du riefst ihn erst herbei; er hatte mich gar nicht gesehen. Und weil Du keinen Muth hattest, weil Du für Dein Leben fürchtetest, mußte er das seinige wagen?«
»Pah! Ein Deportirter!«
»Und als ich mich dann nach meinem Retter erkundigte, verleugnetest Du ihn. Du sagtest, Du hättest ihn nicht gekannt?«
»Was konnte es Dir nützen ihn kennen zu lernen! Du hattest, als er Dich an das Ufer brachte, die Augen aufgeschlagen und ihn angesehen. Damit konnte er sich begnügen.«
»Mit diesem einzigen Blick! Ich wußte nicht, daß ich ihn angesehen hatte, aber sein Bild blieb doch in meiner Seele. Ich kannte meinen Retter. Ich gab Euch Auftrag, nach ihm zu forschen. Ihr aber habt, anstatt das zu thun, ihn von mir fern gehalten. War das recht von Euch?«
»Es war ganz richtig gehandelt. Der Hund wagte es, Dich zu berühren. Er hatte Dich an das Ufer gerettet. Dort saß er im starren Schilfe. Er mochte glauben, daß er unbeobachtet sei. Er hatte Dein Mieder geöffnet, der freche Schuft – –!«
»Damit ich Athem finden möge!«
»Nein, sondern um sein verdammtes Auge an Deinem Körper zu weiden. Lieber hätte er Dich sterben lassen sollen. Es ist besser für Dich, todt zu sein, als von einem solchen Vieh begafft zu werden!«
»Nun, ich ziehe es doch vor, am Leben geblieben zu sein.«
»Das aber war noch nicht Alles. Grad als ich hinzutrat, ohne daß er es hörte, hatte er Dich auf dem Schooße und küßte Dich auf die Lippen. Ich habe ihm die Peitsche über sein Gesicht gezogen, daß sofort die Haut aufsprang. Er schnellte sich empor und sah mich einen Augenblick lang an, als ob er mich verschlingen wolle. Dann aber wendete er sich um und entfloh.«
»Er entfloh?« fragte sie. »Er, der sich zwischen die thürmenden Eisschollen stürzte, um ein unbekanntes Mädchen zu retten, welche zu retten Du zu feig warst, obgleich Du bereits damals wußtest, daß sie Deine Braut sei?«
Sie hatte das mit sehr erhobenem Tone gesagt. Sein Gesicht röthete sich, und die Adern seiner Stirn schwollen an.
»Hüte Dich, mich feig zu nennen!«
»Bist Du es etwa nicht gewesen?«
Sie standen einander gegenüber, sie mit einem Blicke voll deutlich ausgesprochener Verachtung, er mit wuthblitzenden Augen. Der Kreishauptmann wollte sie trennen; sein Sohn aber wies ihn mit einer heftigen Armbewegung zurück. Der Fürst hatte Angst bekommen. Er bat:
»Kinderchens, vertragt Euch! Noch seid Ihr nicht Männchen und Weibchen. Warum wollt Ihr also jetzt bereits zanken! Das kommt später ganz von selbst!«
Und seine dicke Frau schob sich zu der Tochter heran und sagte:
»Komm zu mir, mein Liebchen! Sei doch nicht zornig. Er liebt Dich ja!«
»Er mag mir antworten!« bestand Karparta auf ihrem Willen.
»Ja, ich werde antworten,« meinte der Rittmeister zornig. »Ich soll feig gewesen sein! Ich hätte Dich gerettet, hatte es aber doch gar nicht nöthig. Dir konnte es ganz egal sein, wer Dich herauszog. Jener Mensch war da. Er konnte sich an meiner Stelle naß machen!«
»So kann er auch an Deiner Stelle auf die Belohnung Anspruch erheben!«
»Beim heiligen Andreas, meinem Schutzpatron, welche Belohnung meinst Du?«
»Hierauf brauche ich Dir nicht zu antworten.«
»Oho! Ich befehle es Dir!«
»Mir? Einer fürstlichen Prinzessin?«
»Ja, Dir! Und Du wirst mir gehorchen!^
»Nie!«
»So werde ich Dich zwingen!«
Der rohe Mensch erhob den Arm.
»Willst Du mich etwa schlagen!« rief sie, keinen Zoll breit zurückweichend.
Sie blickte ihm furchtlos in die Augen. Er besann sich, ließ den Arm wieder sinken und antwortete in höhnischem Tone:
»Nein, Dich nicht. Es giebt ja einen Prügeljungen. Vielleicht thun Dir die Hiebe weh, wenn er sie bekommt.«
Er ergriff die Glocke, läutete und rief zugleich:
»Nummer Zehn!«
Der Kosak trat ein. Er zog die Thür hinter sich zu, blieb in demüthiger Haltung stehen, und kein Zug seines Gesichtes zeigte, was er dachte oder fühlte.
»Die Prinzessin hat Dir einen Ring schenken wollen?« fragte der Rittmeister.
»Ja, Herr.«
»Du hast ihn nicht zurückgewiesen?«
»Nein, Herr.«
»Hund! Kennst Du Deine Pflicht nicht besser! Da hast Du den Lohn!«
Er nahm die Peitsche vom Tische und schlug auf den Armen los. Dieser zuckte nicht mit der Wimper; nur drehte er sich seitwärts und hielt den Arm empor, damit die Hiebe nicht sein Gesicht treffen möchten.
Die Andern standen da, ohne sich zu rühren.
Dem Kreishauptmann fiel es gar nicht ein, das Verhalten seines Sohnes vor den Ohren des Kosaken zu tadeln. Der Fürst und die Fürstin getrauten sich nicht, ein Wort fallen zu lassen. Dem Lieutenant war es sehr gleichgiltig, ob ein Kosak Prügel bekam oder nicht, und Karparla – sie hatte die Arme über die Brust gekreuzt und sah ebenso zu wie die Andern. Was in ihrem Innern vorging, ließ sie nicht merken.
Jetzt war der Arm des Rittmeisters müde geworden. Er warf die Peitsche von sich und schrie:
»So! Jetzt hast Du den Lohn, und nun packe Dich hinab in den Stall!«
»Zu Befehl, Herr!« antwortete der Geschlagene demüthig und ging.
Der Rittmeister drehte sich zu Karparla um und fragte sie voller Hohn:
»Nun, wie hat es gethan?«
»Wehe nicht,« antwortete sie, ihm kalt in die Augen blickend.
»Ah! Wirklich?«
»Nein. Nur Du warst der Theil, dem es in meinen Augen schaden konnte. Sollte mir das wehe thun, so müßtest Du mir nicht so verächtlich sein, wie Du es bist. Er aber ist der Held.«
»Alle Teufel! Ein Held!«
»Ja, ein Held und ein Märtyrer. Ein Held, weil er nicht nur die Schmerzen verbiß sondern weil er sich trotz der tödlichen Beleidigung beherrschte und sein Herz zur Ruhe zwang. Ein Märtyrer aber, weil er unschuldig für mich litt.«
Der Rittmeister stampfte mit dem Fuße auf, daß Alles erdröhnte.
»Eine tödtliche Beleidigung! Als ob ein Offizier einen Verbrecher beleidigen könnte! Und unschuldig für Dich gelitten! Er muß froh sein, daß er für Dich leiden darf. Das nächste Mal schlage ich ihn todt! Und Du sollst mich nicht daran hindern!«
»Ich hindere Dich an nichts. Was Du thust, ist mir so gleichgiltig, daß ich sogar jetzt gehe, obgleich ich weiß, daß jetzt über den Kalym verhandelt werden soll. Macht was Ihr wollt. Ich bin nicht nöthig dabei. Der einzige Kalym (Aussteuer), welchen ich ihm mitbringen sollte, ist eine Peitsche, um sie ihm alle Tage kräftig fühlen zu lassen!«
Sie hieb mit ihrer Peitsche dem Rittmeister am Gesicht vorüber und ging, ohne von Jemand zurückgehalten zu werden. Vor dem Hause standen die drei Pferde, auf denen sie mit ihren Eltern gekommen war. Sie stieg auf das ihrige, gab ihm die Sporen und jagte davon.
Als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, sagte der Kreishauptmann zu seinem Sohne:
»Iwan, Du hast Dich zu sehr von Deinem Zorne hinreißen lassen. Du brauchtest den Kerl nicht zu peitschen.«
»Pah! Er hat es verdient!«
»Meinetwegen! Aber so Etwas tut man nicht in Gegenwart einer Dame. Sie lernt Dich hassen anstatt lieben!«
»Ich werde schon dafür sorgen, daß sie Liebe zu mir findet!«
»Wie nun, wenn sie zurücktritt!«
»Zurücktreten? Das ist unmöglich.«
»Weiber sind unberechenbar!«
»Denke an den Schwur, welchen der Fürst vor dem Schamanen abgelegt hat!«
»Er hat geschworen, sie aber nicht!«
»Und dennoch ist dieser Eid auch bindend für sie. Sie muß dem Vater gehorchen. Oder meinst Du, Väterchen, daß sie Dir den Gehorsam aufsagen werde?«
Diese Frage war an den Fürsten gerichtet. Er antwortete:
»Karparla ist eine gehorsame Tochter. Sie wird thun, was ich geschworen habe. Freilich ist es mein Wunsch, daß sie nicht nur Deine Strenge sondern auch Deine Milde kennen lernt.«
»Das soll sie, denn ich hoffe, daß sie einsieht, wem das Weib Gehorsam zu leisten hat. Jetzt ist sie fort, und ich bin unnütz hier. Ihr könnt Euch besprechen auch ohne mich. Komm, Lieutenant, wir wollen einen Ritt machen!«
Die beiden Offiziere entfernten sich. Als sie draußen vor dem Hause angekommen waren, sagte der Rittmeister:
»Sie hegt ein solches Interesse für den Schuft, daß man meinen möchte, er könne einem gar gefährlich werden.«
»Du meinst doch nicht etwa in Beziehung auf Dein Leben!«
»Fällt mir gar nicht ein. Dazu hat dieser Mensch den Muth gar nicht. Ich sage Dir, wenn ich geschlagen würde wie er, ich – – ah!«
»Nun, was würdest Du machen?«
»Ich würde den Betreffenden erschießen oder auch niederstechen, ganz wie es eben paßte.«
»Auch wenn er Dein Offizier wäre?«
»Auch dann.«
»Das wäre Dein sicherer Tod!«
»Natürlich. Aber lieber todt als eine solche Schande auf mir ruhen lassen!«
Der Lieutenant blickte ihn ungläubig von der Seite an. Er mochte seinen Rittmeister besser kennen als dieser sich selbst und sagte:
»Wenn Du an seiner Stelle wärst, so würdest Du diese Beleidigung eben gar nicht als Beleidigung empfinden. Also wenn nicht in Beziehung auf Dein Leben, in welcher Weise soll er Dir dann gefährlich werden?«
»In Beziehung auf Karparla.«
»Sapperment! Du denkst – –?«
»Daß sie im Stande sei, sich in ihn zu verlieben.«
»Sie, eine Prinzessin!«
»Eine Prinzessin ist eben auch nur ein Weib. Und was hat überhaupt der Titel einer Prinzessin der Tungusen zu bedeuten!«
»Du solltest nicht so von Deiner Braut sprechen.«
»Nun ja. Ich sage es auch nur gegen Dich. Sie ist außerordentlich reich. Ich würde sie schon um dessenwillen heirathen, selbst wenn sie häßlich wäre. Aber sie ist außerdem eine vollendete Schönheit, eine Schönheit, mit welcher man selbst den kaiserlichen Hof in Entzücken versetzen könnte.«
»Hm! Du hast also wirklich Feuer gefangen?«
»Ich brenne; ich glühe!«
»Davon zeigt Dein Verhalten gegen sie gar nichts.«
»Ich gehöre nicht zu denjenigen Männern, welche aus Liebe in einen kleinen, hübschen Pantoffel kriechen. Ich kann lieben und doch dabei herrschen. Ich halte es, wie gesagt, für möglich, daß sie sich für diesen Nummer Zehn zu interessiren beginnt. Ich werde da gleich vorbeugen. Ich muß mir ihn aus dem Wege schaffen.«
»Auf welche Weise? Etwa durch – – –?«
Er deutete dabei auf seinen Säbel.
»Mord? Nein. Dieser Kerl ist kein Mensch mehr sondern nur noch eine Nummer. Dennoch könnte eine solche Gewaltthätigkeit mir von großem Nachtheile sein.«
»Also ihn irgendwo anders hin versetzen?«
»Auch nicht. Das dauert zu lange; das bedarf der Genehmigung des Obersten, und ehe die Berichte hin und her gegangen sind, kann mir der Kukuk längst das Ei in das Nest gelegt haben.«
»So weiß ich nicht, wie Du es anfangen willst.«
»Hm! Es giebt so kleine Zufälligkeiten, kleine Unfälle, an denen eigentlich kein Mensch schuld ist, obgleich sie sich doch ereignen. Da habe ich zum Beispiel den neu eingefangenen Hengst aus dem Tabun. Er hat noch niemals einen Menschen getragen. Was meinst Du?«
»Nicht übel!« lachte der Lieutenant.
»Wollen wir einen Spazierritt machen?«
»Um Gotteswillen! Soll ich mich etwa auf die Bestie setzen? Ich danke sehr!«
»Du natürlich nicht, aber er!«
»Schön! Setze darauf, wen Du willst, aber nur mich nicht. Ich reite mit. Es giebt das ein ganz famoses Vergnügen.«
»So komm!«
Sie schritten dem Stalle zu. Dort hatten Beide ihre Pferde. Der Kosak befand sich bei denselben. Er war zur persönlichen Bedienung des Rittmeisters kommandirt. Dieser fuhr ihn an:
»Wir reiten spazieren. Sattle Dir den neuen Tabunhengst!«
Unter einem Tabun versteht man eine Heerde halb wilder Pferde. Ein solches Pferd zu reiten, welches noch niemals eine Last auf dem Rücken gefühlt hat, ist lebensgefährlich. Der Kosak verzog keine Miene, spitzte aber die Lippen leicht und ließ einen leichten Pfiff hören.«
»Warum pfeifst Du!« donnerte der Rittmeister.
Er stellte sich in ehrfurchtsvolle Positur und antwortete in demüthigem Tone:
»Weil ich begreife.«
»Was begreifst Du denn?«
»Warum die Herren spazieren reiten.«
»Nun, warum?«
»Weil so gutes Wetter ist. Ich glaube, es wird trotz des Hengstes nicht schlimmer werden.«
Er wollte dem Pferde seines Herrn den Sattel auflegen; dieser aber gebot ihm:
»Ich thue das selbst. Mach schnell, daß wir nicht zu warten brauchen!«
Als der Kosak fort war, lachte der Lieutenant:
»Er merkt den Braten!«
»Und ist frech genug, es uns wissen zu lassen. Ich werde so reiten, daß er den Hals bricht.«
»Pah, er wird ihn brechen, noch ehe wir die Stadt verlassen haben. Ich bin neugierig, wie er den Sattel auf das Thier bringt. Schon das allein ist lebensgefährlich.«
Und der Kosak meinte unter einem stillen Lächeln vor sich hin:
»Sollen sich verrechnet haben. Wie gut, daß mir jener alte Schamane das Kraut entdeckt hat, mit dessen Geruch man selbst das wildeste Pferd sofort gefügig macht! Und wie gut, daß ich es bereits bei diesem Hengste versucht habe und schon dreimal des Nachts mit ihm ausgeritten bin, ohne daß es Jemand bemerkte. Der Rittmeister will mich umbringen! Nun wohl er oder ich!«
Drüben saßen die Kosaken vor ihren Hütten. Als sie sahen, daß er nach dem Stalle ging, in welchem sich das wilde Pferd befand, kamen sie eiligst herbei.
»Willst Du füttern, Brüderchen?« fragte Einer.
»Nein, sondern mit dem Rittmeister ausreiten.«
»Auf diesem Hengste?«
»Ja. Er hat es befohlen.«
»So ist er – oh oh, er ist der Herr und man muß ihm gehorchen. Aber, Brüderchen, ich glaube, wir werden zwar Dich wiedersehen, Du aber uns nicht.«
Das hieß natürlich, daß man ihn todt zurückbringen werde. Er aber antwortete lächelnd:
»Man muß gehorchen. Du selbst hast es gesagt.«
Er öffnete den Stall und trat hinein. Keiner folgte. In einer Ecke zwischen zwei Brettern steckte ein kleines Büschelchen derjenigen Moosart, welche von den Tungusen Lepta genannt wird. Der Kosak nahm ein Wenig davon in den Mund, kaute es, trat zu dem Pferde, welches angebunden und an allen vier Beinen gefesselt war und blies ihm den Odem in die Nüstern. Die Augen des Thieres, welche zuvor wild gefunkelt hatten, wurden sofort sanfter. Es schnaubte wohlgefällig durch die Nüstern. Jetzt nahm er den Sattel und trug ihn hinaus vor den Stall.
»Du sattelst nicht drin?« wurde er gefragt.
»Nein. Wer von Euch hat den Muth, hinein zu gehen und das Thier loszubinden?«
Sie blickten einander zögernd an. Endlich erklärten sich Zwei bereit dazu und gingen hinein.
Eben nahm der Kosak die Nogaika, welche an der Außenwand des Stalles hing, vom Nagel, als auch bereits die beiden Offiziere herbeikamen. Sie saßen auf ihren Pferden.
Die Nogaika ist die schwere, aus starken Riemen zusammengeflochtene und mit kurzem Stiele versehene Peitsche der Tabuntschiks (Hirten wilder Pferdeheerden). Ein gewandter Tabuntschik schlägt mit dieser Peitsche den stärksten Wolf mit einem einzigen wohlgezielten Hiebe todt.