Der Falke im Sturm - Peter Nathschläger - E-Book

Der Falke im Sturm E-Book

Peter Nathschläger

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Beschreibung

Der französische Student Lucas Reno qualifiziert sich mit einem Aufsatz dazu, einen zweiwöchigen Studienaufenthalt auf Kuba zu verbringen um mit eigenen Worten die Ereignisse, die vor einigen Jahren zur zweiten Revolution geführt haben, nachzuerzählen. Er wird dabei von einem Studenten der Universität Havanna begleitet und zu den Orten gebracht, die historisch bedeutsam sind. Während des Aufenthalts auf Kuba kommen Lucas immer häufiger Zweifel an der Richtigkeit der bislang publizierten Geschichte der 'sanften' Revolution und fühlt sich dazu gedrängt, eine bestimmte Art von Geschichte zu verfassen, die immer mehr konträr zu seinen Überzeugungen steht. Als die Personen, die ihn überwachen, entdecken, dass er insgeheim mit seiner Schwester in Frankreich in Kontakt steht, wird die Situation für Lucas brenzlig und er flüchtet Hals über Kopf, und gerät dadurch in Lebensgefahr. Ist das ein schwuler Roman? Ich weiß nicht; waren meine letzten Romane schwule Romane? Ja, ich hab noch immer den Fokus, sehe die Geschichte, die ich erzähle, aus der schwulen Perspektive. Es gibt Sex, ja, es gibt gegenseitige Attraktion, Schwärmerei und diesmal sogar so etwas wie tuntigen Humor, den ich mit der Buffo-Rolle namens Joaquin (genannt Jaja) einpflege, und es gibt sogar eine recht deftige Sexszene, in der es kunterbunt drunter und drüber geht. Aber der Kern der Geschichte ist wohl doch das Gefühl der Fassungslosigkeit, der Hilflosigkeit, mit der ich versuche, deutlich zu machen, wie ein recht durchschnittlicher Typ von verschwörerischen Kräften aus seinem belanglosen Leben gerissen und zur Ikone einer neuen Revolution hochstilisiert wird.

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Peter Nathschläger

DER FALKE IM STURM

Roman

Bibliographie

„Mark singt“, Roman. Himmelstürmer Verlag,

„Die Legende vom heiligen Dimitrij“, Roman, Himmelstürmer Verlag

„Dunkle Flüsse“, Roman, Himmelstürmer Verlag,

„Es gibt keine Ufos über Montana“ Himmelstürmer Verlag,

„Patrick’s Landing“ Himmelstürmer Verlag,

„Geheime Elemente“Himmelstürmer VerlagISBN978-3-940818-02-7

„Im Palast des schönsten Schmetterlings“Himmelstürmer Verlag

ISBN 978-3-86361-157-6

Alle Bücher auch als E-books erhältlich.

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected], Mai 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto:Peter Nathschläger

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Printed in Dänemark

ISBN print 978-3-86361-290-0 ISBN epub978-3-86361-291-7

ISBN pdf: 978-3-86361-292-4

Widmung

Frank Montalvo gewidmet, der täglich mit dem Fahrrad von Cotorro nach Mi Cayito fährt, um da nach dem Rechten zu sehen.

Und wie immer:

für Richard

Ich bin es, der dir Kuss um Kuss

eine Revolution vorschlägt.

(Daina Chaviano

Eine fragile Zukunft I

Die Polizisten wichen zurück und machten dem jungen Mann Platz, der in ihre Mitte trat, auf den leblosen Körper blickte und fragte: „Warum? Warum habt ihr das getan? Wer gab den Befehl?“

Der Älteste von ihnen murmelte, mit einem Blick auf den zweiten anwesenden Zivilisten, der etwas abseits stand, die Hände vors Gesicht hielt und verzweifelt den Kopf schüttelte: „El Halcón, Verzeihung, bitte verzeih uns, aber ...“

„Nenn mich nicht so,nennmich nicht so, du kennst meinen Namen, also nenn mich beimNamen!“

Der Polizist zuckte zurück, als ob ihn der junge Mann heftig geohrfeigt hätte, und setzte zu einer Antwort an, aber der, den er Halcón genannt hatte, wandte sich brüsk ab und ging zu dem jungen Zivilisten: „Du bist Gerardo, ja?“

Der Angesprochene nickte und fuhr sich mit dem Unterarm übers Gesicht. Er flüsterte: „Franco, ich ... ich hab alles versucht, ihn zu schützen und alles so zu tun, wie es von mir erwartet wurde, aber ...“

Franco schrie wutentbrannt: „Es gibt keinaber! Das Wort gibt es nicht. Er ist tot! Verstehst du, was das für uns bedeutet? Was das für unser Land bedeutet? Sein Leben war in jedem Moment wertvoller als das eines jeden Einzelnen von uns, es war mehr wert als unser aller Leben hier; meins mit eingeschlossen! Er warkostbar! Und wie in Gottes Namen konnte Holguins Vater bis zu Lucas Zimmer vordringen? Sicherheitsmaßnahmen? Beobachtung? Weiß der Jefe schon Bescheid? Weiß Gabriel Ramirez, was hier geschehen ist? Es wird ihm das Herz brechen.“

Gerardo starrte zuerst auf den verkrüppelten Ringfinger des Mannes, der Franco hieß, und von fast allen Menschen des Landes nurEl Halcóngenannt wurde, und dann auf die wulstige, glänzende Narbe auf seinem Hals. Franco stieß Gerardo grob zur Seite und ging zu dem auf dem Bauch liegenden Mann. Er trug eine an den Knien abgeschnittene, ausgebleichte Jeans, ein weißes T-Shirt und schmutzige Converse Sportschuhe. Er hatte dichte, schwarze Haare, die ihm weit über den Kragen fielen. Er lag halb im Wasser des sanft dahin strömenden Flusses, die Arme waren weit ausgestreckt und zwischen seinen flach aufliegenden Händen lag ein modernes Smartphone. Franco stieg ins Wasser, packte den Leíchnam beim rechten Arm und am Gürtel und drehte ihn um, um sein Gesicht sehen zu können; es war bleich und traurig im Mondlicht. Franco wandte sich an Gerardo, der zögernd ein paar Schritte näher gekommen war, und sagtemit gepresster Stimme: „Nimm es und sag mir, was er zuletzt damitgetan hat.“

Gerardo wich mit entsetztem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück und murmelte: „Ich kann nicht, ich kann nicht dahin und ... Ichmochteihn! Er war ein guter Kerl und jetzt ist er tot. Er war nett, um Gottes willen, ich kann nicht ...“

Franco nahm das Smartphone, aktivierte das Display und gab es Gerardo, der es mit zitternden Fingern entgegennahm wie eine tickende Bombe. Er starrte ein paar Sekunden auf das Display, dann sagte er tonlos: „Er hat eine Nachricht verschickt.A la lumière de la lune n'est pas si mal que ça.”

Franco stand auf, sah Gerardo mit ernsthaftem Unbehagen an und fragte: „Was bedeutet das?“

Gerardo antwortete: „Im Licht des Mondes ist alles nicht so schlimm.“ Er sank neben Franco auf die Knie, strich sanft über die Haare des Leblosen, schüttelte langsam den Kopf und starrte mit brennenden Augen hinüber auf die andere Seite des Flusses, die in dichtem Nebel wie hinter wehender Seide verborgen lag. Franco flüsterte neben ihm: „Hier habe ich Eleggua für mich erwählt. Hier wurde ich getauft. An diesem Fluss sollte niemand sterben müssen.“

Gerardo legte seine rechte Hand auf die Brust des jungen Mannes. Sie war noch warm, zu warm, um wirklich leblos zu sein. Er spürte etwas unter seiner Hand, das nicht tot war und keuchte, plötzlich außer Atem: „Franco, hilf mir!“

Teil 1: Gabriels Traum

Von: Lucas Reno, Universite de Versailles [[email protected]]

An: Amelia Reno [[email protected]]

Gesendet: 16.10.2019; 10:10 CET

Betreff: Kann man es Paradigmenwechsel nennen?

Liebe Amelia!

Lass Dich drücken und herzen und küssen, ich bin ganz außer mir, ah! Das Internet im Flugzeug funktionierttadellos! Wir hatten vor zwanzig Minuten Essen (Es gab *würg*, keine Ahnung), inzwischen wurde abgeräumt und ich hab den Laptop auf der Ablage, schau zum Fenster raus und sehe einen dunkelblauen Himmel überall, und weiße Wolkenunter mir. Ich hab Dir ja schon beim Abschied am Flughafen gesagt,wie sehr es mich bedrückt, dass Du nicht mitkommen kannst; die Sache mit Deiner Sehnenzerrung ist wirklich Beschiss hoch drei! Andererseits muss ich mich jetzt nicht so zusammenreißen, denn Du würdest jaalles Mama erzählen - falls ich mich skandalös aufführe. Und ich werde mich skandalös benehmen, mir bleibt nichts anderes übrig! Die schönen Kubaner,ai!

Laut Reiseunterlagen werden wir zunächst im Hotel Nacional im Vedado untergebracht. Die neue Regierung scheut keine Kosten, um die Welt davon zu überzeugen, dass jetzt alles anders ist, was? Oh ja, ich hör Dich murren:Nimm Dich nicht so wichtig, Lucas, Du bist nur ein kleiner schwuler Student der Politikwissenschaften, der nach Kuba darf, um herumgereicht zu werden. Stimmt schon, aber trotzdem: Sie sind daran interessiert, der Welt zu zeigen, dass sie die Türen aufgemacht haben, und das beweisen sie seit fünf Jahren. Vielleicht nicht laut genug, aber propagandistische Lautstärke scheint nicht zum Instrumentarium der neuen Regierung zu gehören. Wenn ich Glück habe, werde ich Gabriel Ramirez treffen. Oder Alejo, oder beide, verdammt, Alejo siehtsogeil aus - und Franco, Du lachst ja immer wegen des Posters von ihm, das ich überm Schreibtisch habe, wie er zwischen den Leuten die Straße in Cidra langläuft ... Ich krieg die Gänsehaut ... Und nein, ich hol mir keinen auf ihn runter ... Nicht mehr *g*. Ich kann mir vorstellen, wie sich Journalisten gefühlt haben mussten, als sie nach der Revolution von 1960 Fidel Castro zum Interview trafen, oder wie es war, jemand zu sein, der in Frage kam, ihn zu treffen …

Nachher gehts weiter nach Matanzas, Cidra und Tarara. Ich werde mir sicher auf eigene Faust Mi Cayito ansehen - aber das weißt Du alles schon, wir haben hundertmal darüber gesprochen und uns ausgemalt, wie es sein wird ... Jetzt werde ich es bald wissen! Ich schieß Fotos für dich, bis ich Blasen an den Fingern kriege!

Jetzt möchte ich versuchen, ein wenig zu schlafen und hoffe, wenn ich wieder aufwache, sind wir halb über dem Atlantik. Lass mir die Gartenzwerge Deiner Uni grüßen :-)

Küsse,

Dein süßer Bruder Lucas

Von: Lucas Reno, Universite de Versailles [[email protected]]

An: Amelia Reno [[email protected]]

Gesendet: 16.10.2019; 21:10 EST

Betreff: AW: Kann man es Paradigmenwechsel nennen?

Es ist kurz nach neun Uhr abends, ich sitze im Hotelzimmer im fünften Stock und habe von der offenen Balkontür aus einen tollen Blick auf den Malecon, die Uferstraße von Havanna und die Straße von Florida. Es war beim Anflug etwas windig und ich dachte, mein Essen drückt die Retourtaste, als wir zur Landung ansetzten. Die Immigration erwies sich als ein reines Durchwinken, Pass zeigen, freundlich nicken und schon steht man beim Gepäckband. Das Zimmer ist mittelgroß, hat ein Doppelbett, ist altmodisch eingerichtet, passend zum Haus, Hotel Nacional halt. Das Hotel atmet Zeit ein und Geschichte aus, was da an Bildern von ehemals bedeutsamen Leuten herumhängt, ist schon fabelhaft!

Kurz: Wir wurden also abgeholt und ins Nacional gebracht. In der Empfangshalle gab es ein Glas Rum und ein paar nette Worte vom Dekan der Universität Havanna. Dann wurde mir (wie auch den anderen) ein Begleiter der Universität zugeteilt, und Schwester, ich sags Dir, der sieht zum Niederknien aus. Der ist sosüß, ich könnte ihn lecken, von oben bis unten, und überhaupt ... Er heißt Gerardo und studiert Agrarökonomie. Gerardo sei ein vorbildlicher Student, erzählte der Dekan, als er ihn mir vorstellte - was auch immer das heißen soll. Wahrscheinlich hat er sich bei irgendwelchen Ernte- oder Sozialeinsätzen hervorgetan, die es ja noch gibt.

Er war bei mir im Zimmer, blickte über meine Schulter; ich habe ja ein Foto von Franco Garcia Lopez als Hintergrund. Er lächelte, legte eine Hand auf meine Schulter (Scheiße, der Junge duftet nach Zitrone und Meer) und sagte: „Du magst Franco, was?“

Na, soll ich Nein sagen? Ich nickte, er lachte und sagte: „Ich auch. Immer wenn ich dieses Foto sehe, wie er durch die Menge läuft, hab ich das Gefühl, ich muss weinen. Weißt du, warum?“

Ich schüttelte den Kopf, drehte mich zu ihm um und sah ihn an. Er hockte sich vor mich hin, legte seine Hände auf meine Schenkel (die haben hier alle irgendwie keine Angst vor körperlicher Nähe und ich renn die ganze Zeit mit einer Latte herum) und sagte: „Weil es historisch gesehen eben erst geschah. Ich war dreizehn Jahre, als Franco fast ermordet wurde und im Angesicht des Todes die berühmten Sätze schrie. Ich musste deshalb fast weinen, weil ich so nahe war, ich war in Matanzas bei meinen Großeltern an diesem Tag, saß neben meiner Großmutter, als der Sturm über die Küste zog - und nur rund zwanzig Kilometer weiter südlich wurde Geschichte geschrieben. Ich war nicht dort. Und ich war nicht in Cidra, als er aus dem Krankenhaus zurückkam und zu Fuß in den Ort lief, also, als dieses Foto geschossen wurde, das jetzt alle Welt kennt. Ich war fast dabei, fast, verstehst du? Und jetzt bin ich stolz und glücklich, Teil dieser neuen Geschichte unseres Landes zu sein.“

Ich verstehe seinen Stolz.

Er sah mich so intensiv an ... Gut gut, genug geschwärmt. Gerardo schlug vor, wir sollten heute Abend das Haus besuchen, in dem Gabriel Ramirez lebte, bevor er den Auftrag bekam und nach Cidra übersiedelte. Morgen dann, am späten Nachmittag werden wir nach Cidra fahren.

Ich fahre dorthin, wo Geschichte geschrieben wurde! Gerardo ließ mir ein Kuvert da und sagte, ich solle es nach dem Abendessen öffnen. Darin seien ein paar private Worte des Dekans der Universität von Havanna und eine Liste mit Vorschlägen, was wir, also ich, in den nächsten sieben Tagen tun könnten.

Ich schreib Dir nach dem Essen noch mal. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht betrinke ich mich mit Gerardo und versuche, ihn rumzukriegen. Herrgott, wie kann man nur so aussehen, und so lächeln, ohne auf sich selbst dauergeil zu sein :-)

Küsse, Umarmungen und was sonst noch alles!

Lucas

PS: Funktioniert das mit den Mails über das Webformular? Ich trau der Sache nicht voll & ganz, das ist alles so ein bisschen wie freihängende Kabel, lose Ziegel und offene Sicherungskästen :-) Das Schreiben und Absenden klappt meiner Meinung nach hervorragend, nur solltest Du mir bitte kurz mal bestätigen, ob der Text und die Kopfdaten wirklich vom Formular in ein Text Dokument umgewandelt werden.

Unser schwuler Mann in Havanna^^

Von: Lucas Reno, Universite de Versailles [[email protected]]

An: Amelia Reno [[email protected]]

Gesendet: 16.10.2019; 23:45 EST

Betreff: AW: AW: Kann man es Paradigmenwechsel nennen?

Süße,

Die Katze ist aus dem Sack!

Teilweise zumindest. Und mir rinnt der Scheiß Rum aus der Nase, ah, bin ichsotralala! Gut, wir waren im Hotelrestaurant essen und nachher gingen wir ins Stadtzentrum, wo mich Gerardo auf typisch einheimische Hamburger und so eine merkwürdige Limonade einlud, die nur aus Sirup und Crash-Eis besteht. Ich werde Halsweh kriegen,aber so was von.

Es ist warm, die Balkontür ist offen, Gerardo ist nach Hause gefahren und wird mich morgen früh um acht Uhr abholen. Während der Studienzeit wohnt er auf dem Unikampus, das ist nicht sehr weit von hier.

Wir waren zuerst am Malecon, setzten uns auf die Mauer und tranken eine halbe Flasche Rum. Später gingen wir in die Altstadt. Ich hatte das Kuvert mit dem Schreiben des Dekans bei mir. Als ich neben Gerardo ging, wünschte ich - und das nach so kurzer Zeit - ich könnte für immer hier bleiben, weil ich ein dummer Romantiker bin und der lange Moment, während wir nebeneinander gingen, wie ein himmlischer Atemzug vollkommen perfekt, war.

Wir saßen auf der Malecon-Mauer, tranken Rum, als er sagte, ich solle das Kuvert aufmachen und das Schreiben lesen. Gut, ich holte den Umschlag raus, riss ihn auf, zog das Schreiben raus und faltete es auf, so, dass Gerardo mitlesen konnte. Da stand das übliche Blabla, willkommen, schön, dass Sie da sind, usw usf, blablabla und dann kams: Da stand, dass ich in den nächsten Tagen von Gerardo Herrera zu Schauplätzen der großen Änderungen begleitet würde, und dass man mich darum bitten möchte, meine persönlichen Eindrücke, wie sich die Veränderungen entwickelten, niederzuschreiben. Also wie Novellen oder Geschichten. Vielleicht sogar wie die Kapitel eines Romans:Gehen Sie mit Ihrem Begleiter von Ort zu Ort, reden Sie mit den Leuten, und schreiben Sie unsere Geschichte, so wie Sie sie gerne selbst lesen würden.Also keinen Bericht, keinen Abriss, sondern eine Geschichte, basierend auf den Fakten, die Sie kennen, und den Details, die Sie während Ihres Aufenthalts in Erfahrung bringen werden. Verstehst Du? Deswegen haben sie mich eingeladen: weil ich meine Arbeit zum ThemaDissidenten auf Kuba nach 2013in Form eines Prosatextes abgegeben habe.Ha, ich wusste, es zahlt sich aus, über einen zu schreiben, der Dissident sein möchte, aber nicht kann, weil die Regierung die Türen für jede Form der Kritik weit geöffnet hat! Du kannst Dich ja auch erinnern, dass mit der neuen Liberalität der Stern dieser überheblichen Bloggerin sank, die im Internet als Dissidentin gefeiert wurde. Nachdem der Nimbus erloschen war und sich zeigte, wie wenig Fleisch sich auf den Knochen ihrer Artikel befand, war es schlagartig vorbei mit dem Weltinteresse.

Wir gingen weiter stadteinwärts, über den Prado, bei dem sie nun auch die ehemals baumlosen letzten fünfhundert Meter mit Lorbeerbäumen und Ficus bepflanzt haben, zum Kapitol und weiter. Überall Menschen, überall Verkehr! Mit Katalysatoren haben die es hier nicht so, noch nicht, jedenfalls, und es stinkt überall nach Autoabgasen. Schöne Menschen, viele Menschen, so viel Leben. Und dann standen wir vor dem Haus, in dem der Jefe Gabriel Ramirez gelebt hatte, bevor er nach Cidra ging, um Geschichte zu schreiben.

Ich stand da und weinte ein bisschen, vermutlich, weil ich betrunken, übermüdet und ein wenig verliebt in Gerardo war, der sogar in einer dunklen Seitengasse strahlt wie mit radioaktivem Weichspüler gewaschen. Er nahm mich in die Arme, knuddelte mich lieb (aber nicht auf die Art, wie ich’s gerne hätte) und sagte: „Ramirez hatte nach dem Tod seiner Frau oft Albträume. Er sagte nie, um was es in den Träumen ging, aber er sagte, es seien so lebhafte Szenen gewesen, dass es ihm oft schwerfiel, sie nicht als Visionen oder Prophezeiungen zu sehen. Vielleicht beginnst du damit? Mit seinen Träumen? Seiner Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau? Und wie er von Mayor Condosa in seinem Büro angesprochen wurde?“

Die Idee gefiel mir, ich merkte aber auch, dass Gerardo versuchte, mich zu bewegen, eine bestimmte Art von Text zu schreiben, oder anders: die Geschichte auf eine bestimmte Art zu schreiben. Jetzt, wenn ich drüber nachdenke, wird es mir noch klarer: seine Anwesenheit, die Art, wie er mich für sich einnimmt ... Die müssen sich gedacht haben: Der Lucas ist schwul, dem geben wir einen hübschen Studenten, der ihn auf eine bestimmte Fährte setzt, und geht schon ...

Weißt Du was? Ich lass mich drauf ein. Ich versuch’s zumindest. Ich schicke Dir übermorgen meinen ersten Text,Jubel, Applaus!

Ich bin jetzt in weinerlicher Stimmung, ich bin todmüde und würde gerne schlafen, oder noch mal raus auf die Straße, über die Rampa (das ist die 23. Straße) hinunter zum Malecon, ich höre dort unten Leute singen ›Yo no se manana‹, ich hab die volle Ladung Melancholie, und die umgibt mich wie ein dichter Nebel. Aber das ist kein Nebel, das ist Kuba. Oder mehr noch. Das Leben, so intensiv, dass es in Nebelschwaden aus dem Erdreich aufsteigt, um mich zu verwirren.

Gute Nacht Süße,

Lucas, Brüderchen von Amelia

1

Anfang April stürzte Gabriel Ramirez mit einem kraftlosen Seufzen aus einem gespenstischen Traum zurück ins Leben und blinzelte verwirrt den Mond an, der sein milchiges Licht durch die offene Balkontür ins Schlafzimmer goss. Er setzte sich auf, zog das linke Bein an, legte das Kinn auf das Knie und tastete mit der linken Hand nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch. Er hörte noch immer das Rauschen großer Flügel, so, als ob ihm das Geräusch aus demunheimlichen Traum hinüber gefolgt wäre ins Leben, in die Verwirrung,in sein Hiersein.

Es ist nur das Blut in den Ohren, sagte er sich, nur das Blut in den Ohren. Kein nackter, bemalter Mann, der sich in einen großen Vogel verwandelt und in den Wolkenhimmel steigt, mit mächtigen Schwingen und entsetzlichem Kreischen.

Es ist nur das Blut in den Ohren.

2

Er stand auf, ging hinaus auf den Balkon, rauchte und sah auf die Dächer von La Habana Vieja, der Altstadt von Havanna. Antennen, frei fliegende Kabel, durchhängende Leitungen, dunkle Gassen wie Schluchten, die Kuppel des Kapitols, fast weiß im Mondlicht.

El Mayor, sein Vorgesetzter, trug ihm seit Jahren an, in eins der neuen, schönen Häuser im neuen Vedado zu ziehen, oder ins Grüne nach Miramar, ins Nobelviertel von Havanna. Er sagte, dass das ehemalige Enteignungsamt noch einige Perlen für gute, treue Leute hätte. Gabriel Ramirez weigerte sich beharrlich. Wäre seine Frau noch am Leben, und die Kinder unter seinem Dach, er würde ernsthaft darüber nachdenken. Aber sie war tot, hinweggetragen vom Lungenkrebs, die Kinder, gerade volljährig, hatten sich Richtung Osten verabschiedet. Die Tochter nach Santa Clara als Lehrerin, der Sohn nach Guantanamo als Busfahrer bei Viazul; ein klimatisierter Job, wie er zu scherzen pflegte – ohne dabei zu lächeln. Vermutlich hatte auch er sich das alles anders vorgestellt. Andere stellten sich jahrelang um Bewilligungen an, ihre Provinz verlassen zu dürfen, seine Kinder mussten keine fünf Minuten warten; eines der stillen Privilegien, wenn man bei der Kriminalpolizei arbeitete ...

Der Traum war noch da. Der wilde Tanz ums Feuer, die kühle Farbe auf der Haut: weiß, grün und blau wie das Meer, das wilde Leuchten seiner Augen, der junge Mann, nackt, ein in Raserei verfallener Tänzer, der zu Boden stürzte, seine Hände in das Feuer tauchte und sich die glühende Asche auf den Oberkörper strich, vor Schmerzen und Ekstase brüllend, kurz bevor er ...

3

„Du fliegst“, flüsterte Gabriel dem Mond zu, „du fliegst und alles wird sich ändern.“

Er schnippte die Zigarette in die Dunkelheit und sah ihremglühenden Trudeln nach. Niemand war auf der Straße. Die Nacht war jetzt am dunkelsten, einen Moment vor dem Morgengrauen. Der Mond lag in einem wuchtigen Wolkenbett. Irgendwo weiter weg hörte er Rufe und laufende Schritte, wieder Rufe, dann ein obszön-heiteres Lachen.

Er lehnte sich an das schmiedeeiserne Gitter, das bedenklich instabil war und dort, wo es sich in die Wand krallte, kratzend Schutt zu Boden rieseln ließ.

Er wollte hier nicht weg. Er gehörte zu diesem verrückten, alten Haus, hier, hinter dem Kapitol, so wie das verrückte Haus zu ihm gehörte. Die zwei alten Jungfern im ersten Stock, immer am Streiten, aber auch immer gut, um mit ihnen eine Flasche Rum zu trinken – im Vorbeigehen sozusagen, ein paar Worte über das Wetter, wie gehts, wie stehts ... Der traurige Witwer mit seinen Söhnen, die Gabriel schon einige Male vor Gefängnisstrafen und anderem Ungemach bewahrt hatte, Scheißkerle, Arschlöcher, alle beide. Der depressive Schriftsteller, mit dem Blick des ewig Leidenden, der einen Stock unter ihm in einer zur Bibliothek umgestalteten Wohnung lebte, in der es sagenhafte Schätze zu entdecken gab, und sein junger hübscher Freund, ein Student, der ihn pflegte, tröstete und von Zeit zu Zeit ganz prosaisch fickte. Die Malerin neben ihm. Sie war zwei Jahre jünger als er, gerade erst vierundfünfzig geworden. War das ein rauschendes Besäufnis gewesen! Er mochte sie, ihre Bilder, ihren derben Humor, ihre Trinkfestigkeit. Sooft es ging, sah er ihr beim Malen zu, mit einem Glas Rum in der Hand, auf ihrer wunderbar weichen, durchgesessenen Couch, während draußen der Abend mit roten Wasserfarben malte. Das Haus war so desolat wie seine Bewohner, oft fiel der Strom aus und das Wasser verkrampfte sich in den Leitungen, so hatte das der Schriftsteller einmal genannt: Es verkrampfte und spreizte sich in den Leitungen; das Treppenhaus war ein abenteuerliches Provisorium, der Keller voller Asseln und Ratten und ein paar Möbeln aus der vorrevolutionären Zeit, die vielleicht einmal ein Vermögen wert gewesen waren. Das Leben hier war sein Provisorium, seine wahnwitzige Welt im alten Herz Havannas, hier hatte sein Leben noch Seele, Rum und Zigarrenrauch.

Es gab einen weiteren Grund, warum er nicht auf das Angebot einging, und der war ihm noch wichtiger als seine emotionelle Verbundenheit mit dem alten Haus und seinen verrückten Bewohnern: Er war ein Mann, der sich nicht gerne für eine Gefälligkeit bedankte. Er war der festen Überzeugung, dass jede angenommene Gefälligkeit zu einer Verpflichtung führte. Und weiß der Himmel, zu welcher Verpflichtung er sich gezwungen sähe, wenn er ein Haus im Vedado oder ein Apartment in Miramar annehmen würde.

Es war ein Atemzug vor Sonnenaufgang, jetzt. Für ein paar Momente war die Stadt still wie ein Schläfer, der spürt, wie er aus seinem Traum ins Leben zurückkehrt und noch einen Augenblick verharren will. Sie schlief nicht, sie atmete nur durch. Einmal, zweimal, dann hörte er den ersten Bus, der zum Zentralpark fuhr. Dieselgedröhn und rostige Federungen, kratzbürstige Bremsen fauchten. Gabriel wich zurück ins Zimmer, setzte sich an den Tisch und klappte sein Notizbuch auf. Er beugte sich über die leere Seite und schrieb im warmen Licht der Tischlampe auf, was vom Traum übriggeblieben war.

Als er damit fertig war, warf er den Stift auf den Tisch und sah zu, wie er in die dunkelste Ecke rollte. Es waren nur zwei Seiten geworden, Traumfetzen, in wenige Worte gepackt, komische Gespenster. Seine Frau, halb tot im Spital, die lauthals nach einer weiteren Zigarette verlangte, ein beweglicher Schatten, der um ein Feuer tanzte, das Haus, in dem er wohnte, dem Beine wuchsen, damit es fortmarschieren konnte über das Meer nach Florida ... komische Gespenster? Verrückte Gespenster!

Es dämmerte. Er stand auf, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Bohnen, ein paar Tomaten, Reis und Rum. Er nahm die Flasche heraus, hielt sie sich an die Stirn und schloss die Augen. Nach einer Weile schraubte er den Verschluss ab und nahm einen Schluck.

4

Drei Stunden später stand er gekämmt und rasiert in seinem Büro im fünften Stock des Hauptkommissariats in der Obispo, in Steinwurfnähe zum Hotel Ambos Mundos, wo in anderen Zeiten, die für Gabriel sepiafarben waren, Ernest Hemingway sein Zimmer gehabt hatte. Die schmale Gasse war voller Menschen, die in beide Richtungen drängten, riefen, schubsten und schoben. Lieferwagen verstopften die Kreuzungen, Touristen bemühten sich, nicht wie Touristen auszusehen und waren doch so deutlich zu erkennen, als ob sie rot lackiert wären.

Mit dem Rücken zu ihm stand ein Mann, der die Hände hinten verschränkt hielt und eine Zigarre rauchte. Der Qualm stieg hoch und wurde vom langsam laufenden Deckenventilator umgerührt. Gabriel sagte leise: „Guten Morgen, Mayor Condosa. Im Stock geirrt?“ Er öffnete den obersten Knopf seines Hemds und krempelte die Ärmel hoch.

Der Chef, der von allen nur „El Mayor“ gerufen wurde, betrachtete die Bilder an den Wänden von Gabriel Ramirez´ Büro. Es warentypisch kubanische Szenen: Die Altstadt von Havanna, der Malecon,sepiafarbene Männer, die ein Boot aus der Brandung zogen, ein tanzendes Mädchen, dessen Lachen ansteckte, gemalt von seiner Nachbarin, über der Tür ein kleines Bild von Ernesto Che Guevara und Fidel Castro - unvermeidlich. Daneben, ein Foto der Jose Marti Statue im Zentralpark.

Der Kommandant drehte sich um, nahm die Zigarre aus dem Mund und antwortete auf Albertos Frage: „Nein, nicht geirrt. Aber ab und zu darf ich ja wohl den müdesten Kater in meinem Haus streicheln, oder?“ Gabriel grinste müde: „Der alte Kater ist ja auch am weitesten gelaufen. Was gibt’s? Was willst du von mir? Normalerweise weiß ich nur, dass du noch lebst, weil ich deine Dokumente jeden Morgen auf dem Tisch finde, hör mal. Wenn zwei Tage keine Anweisung kommt, bin ich jedes Mal knapp dran, deine Frau anzurufen und zu fragen, wo du ...“

„Bist du es nicht leid, hier im Büro zu versauern? Keinen Außendienst mehr zu machen? Juckt es dich nicht manchmal, na?“

Gabriel ließ sich in seinen Sessel fallen und knurrte: „Du weißt verdammt genau, warum ich hier sitze, tu nicht so. Das rechte Bein ist seit Haiti komplett im Arsch, ich sag’s dir!“

Der Kommandant setzte sich ihm gegenüber auf den Besuchersessel, ohne auf die Frechheit einzugehen, dass sich Gabriel zuerst gesetzt hatte. Sie kannten sich zu lange, um sich über derlei Höflichkeitsregeln zu definieren. Dann sagte der Mayor: „Ich habe zwei Kisten mit Montecristo Nummer Vier bekommen. Die magst du besonders, nicht so scharf, nicht solche Elendstorpedos.“

„Wen soll ich dafür umbringen?“

Sie lachten. Dann hob der Kommandant die Hand und sagte: „Niemand. Ich möchte, dass du verdeckt für mich ermittelst. Ich weiß nicht, ob es wirklich einen Fall gibt, aber es gibt eine verdammt hässliche Sache in Varadero, und ich traue nur dir das Fingerspitzengefühl zu, sorgfältig zu ermitteln.“

Gabriel konnte sein Interesse nicht verheimlichen. Der Kommandant sah das und lächelte still und zufrieden; Gabriel Ramirez hatte angebissen. Er wusste, dass sich sein „alter Kater“danach sehnte, auf die Straße zu gehen, um direkt am Puls Kubas zu ermitteln. Er war seit seinem Einsatz auf Haiti nach der Flutkatastrophe minder gehbehindert. Er war abkommandiert worden, um Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe und Verwendung von Medikamenten nachzuforschen. Es dauerte nur knapp drei Tage, bis er herausgefunden hatte, dass ein kleiner Ring kubanischer Ärzte das ganze medizinische Corps auf Haiti in Verruf brachte, indem sie einen schwungvollen Handel mit Medikamenten aufgezogen hatten. Mit Medikamenten, die für dieOpfer der Flutkatastrophe gedacht waren,bereitgestellt von der UNOund von Kuba. Bei der Verhaftung gelang es einem der Ärzte, einem sehr jungen und unerfahrenen Polizisten die Waffe aus dem Holster zu reißen und auf Gabriel zu schießen. Es war ein sinnloses Unterfangen, weil es absolut keine Fluchtmöglichkeit gab. Der Arzt wurde erschossen, und Gabriel als verletzter Held, als Kämpfer der revolutionären Ideale, nach Kuba geflogen. Sein Knie war vollkommen zersplittert. Er konnte gehen, er lernte sogar, seinem leichten Hinken eine elegante Note zu geben. Aber die Tage seiner Außeneinsätze waren damit gezählt. Man bot ihm zuerst an, weiter als Ermittler im Außendienst zu arbeiten, beschränkt auf Fälle, in denen es um Nachforschungen geht, aber Gabriels Frau drängte ihn zu der Entscheidung, Bürodienst zu schieben. Zu der Zeit wussten sie bereits von ihrem Lungenkrebs und hatten auch die Kinder informiert; sie alle wussten, dass ihr nicht mehr viel Zeit beschieden war. Dennoch ließ sich Gabriel breitschlagen und unterschrieb seine Versetzung in den Innendienst.

„Verdeckt ermitteln? Das kommt überraschend. Ich alter Krüppel? Wusstest du, dass ich beim Scheißen das kaputte Bein ausstrecken muss, und deshalb die Scheißhaustür nicht zumachen kann? Was soll ich bitte draußen anfangen? Willst du einen Schluck? Scheiße, klar willst du einen.“

Der Mayor unterdrückte ein Kichern und nickte ernst, Gabriel schraubte seine letzte Flasche auf und goss ihnen in alte, schwere Gläser ein. El Mayor brummte: „Scheiße, ich werde durch dich noch zum Alkoholiker, du Arsch! Noch nicht einmal neun Uhr morgens, und wir saufen schon Rum. Prost. Und jetzt halt die Fresse und lass dir erzählen, um was es geht. Es ist eine böse und bittere Geschichte, und es gibt hier einen Arsch voll Leute, die nicht einmal mit der Feuerzange an der Sache anstreifen möchten, weil sie politisch wie ein Tritt in die Eier ist.“

„Also? Gibst du mir jetzt eine Zigarre, oder soll ich an meinem verdammten Finger lutschen?“ fragte Gabriel und lehnte sich knurrend zurück. Der Bürostuhl krachte erschöpft.

Sie lachten. Als Gabriel seine Zigarre im Mund hatte, sie vorsichtig zwischen den Lippen drehte, und dann die Spitze zärtlich abbiss, holte der Kommandant tief Luft, sah an seinem langjährigen Freund und Kollegen vorbei, zum Fenster hinaus, wo sich die ersten schweren Regenwolken auftürmten. Das Licht setzte Rost an.

„Vor zwei Tagen wurde die Leiche einer jungen Frau an den Strand gespült. Und zwar am Badestrand der Hotelanlage Cuatro Palmas, Varadero. Das kommt öfters vor, nicht unbedingt bei diesem Hotel, und auch nicht unbedingt nur in Varadero, aber du weißt ja - die Leutetrinken Rum, stolpern besoffen durch die Gegend und kriegen einenSonnenstich, überschätzen sich, gehen ins Wasser und saufen ab. Hier liegt die Sache allerdings ein wenig anders. Die Frau wurde gefoltert, bevor sie ertrank. Man hat ihr die Kniescheiben und Schienbeine zertrümmert, die Fingernägel ausgerissen. Sie hatte Hämatome auf dem Rücken, am Hintern und innere Verletzungen. Und ihre Scheide war mit einem Schneidbrenner bearbeitet worden. Grausig, sag ich dir, grausig, echt. Sie starb an akutem Organversagen. In ihrer Lunge war kein Wasser. Sie war also schon tot, als sie, wie auch immer, ins Meer gebracht wurde. Und sie war keine Touristin, sie war aus der Provinz Matanzas, aus Guanabana.“

Gabriel pfiff durch die Zähne und wischte sich mit den Händen übers Gesicht: „Großer alter Herrgott. Das ist beschissen.“

Der Kommandant nickte: „Ja. Und es wird noch schlimmer. Man konnte bei der Obduktion feststellen, dass sie mit einer besonderen Droge gefügig gemacht worden war, die man vor wenigen Jahren noch bei Verhören der Ermittlungsbehörde benutzt hat. Ich habe keine Beweise, aber ich befürchte, dass der Täter in unseren Kreisen zu suchen ist. Die junge Frau hieß Yoana Alvarez Trujilo und lebte in Guanabana. Brave Familie, brave Sozialisten, einfache Bauern. Die Mutter sagte, ihre Tochter sei etwa ein halbes Jahr vor ihrem Tod eines Nachts nach Hause gekommen, hätte geweint und sei nie wieder so gewesen wie vor dieser Nacht. Ich möchte, dass du nach Cidra gehst. Das liegt günstig zwischen Guanabana, Matanzas und Varadero. Der ehemalige Chef des örtlichen Komitees zum Schutz der Revolution ist vor drei Tagen gestorben. Das bietet dir die ideale Tarnung. Du kannst mit Leuten reden, kommst rum, und wenn ich mich nicht irre, warst du doch über acht Jahre lang der Chef desCDR vom Bezirk Cotorro; das heißt, du kennst dich aus mit den Gepflogenheiten und Aufgaben. Es gibt in Cidra nur wenige junge Leute im Alter von Yoana. Einer von denen ist mit ihr in Guanabana zur Schule gegangen. Sein Name ist Franco Garcia Lopez. Vielleicht fängst du einfach bei dem an, dich umzuhören. Wie es der Zufall will, steht am Ortsrand von Cidra ein altes Landhaus leer. Es wird gerade renoviert. Es ist sehr schön.“ Er zwinkerte Gabriel zu: „Vielleicht magst du es ja behalten, wenn du deine Ermittlungen abgeschlossen hast?“

Gabriel sah seinen Chef durch halbgeschlossene Augen an und versuchte in dessen Blick abzulesen, wie giftig und unappetitlich die Sache war, in die er gerade gestoßen wurde. Er befand, dass sie ausgesprochen übel sein muss. Allein schon wegen der Droge, die derMayor vorhin erwähnt hatte. Kein Wunder, dass die Innenrevision inden letzten Wochen und Monaten in den Kommissariaten und Ämtern wütete. Dutzende hochrangige Beamte waren bereits entlassen worden, weil sie sich am Volksvermögen bereichert hatten. Leute, mit denen Gabriel zum Teil über fünfzehn Jahre Tag für Tag zusammengearbeitet hatte. Andere Beschuldigungen wiederum sahen für Gabriel verdächtig nach Gefälligkeiten aus; da wurde jemand aufgrund eines nebulösen Verdachts angeklagt, und allein der reichte aus, einen altgedienten Parteikameraden anzuschwärzen und aus dem Amt zu werfen. Dieselbe Scheiße wie mit Fidel Castros Leibwächter, General Jose Abrantes in den Siebzigern - ganz große Scheiße, die jeder riecht, über die aber niemand spricht.

Er gab einen Schuss ins Dunkel ab: „Das Mädchen, die junge Frau – sie ist die erste Tote, aber sie ist nicht das erste Opfer, richtig? Es gab schon mehrere Misshandlungen, ja? Wie habt ihr davon erfahren?“

Sie rauchten ihre Zigarren, nippten am Rum und Gabriel sah am missbilligenden Blick seines Vorgesetzten zweierlei: Er hatte ins Schwarze getroffen, und das Unwetter draußen räusperte sich auf eine dröhnende Arie ein. In dem Moment rollte der erste tiefe Donnerschlag über die Stadt. Der Kommandant nickte langsam:

„Stimmt genau. Wir haben nur einen Zeugen, und selbst von dem haben wir keinen Namen; wir haben auch keine Namen der Opfer, aber ich sag dir was: In und um Matanzas läuft da was ganz gehörig schief. Es gab anonyme Anrufe von einem Mann aus der Stadt, der die Verletzungen so genau beschreiben konnte, dass er einfach Arzt seinmuss. Vielleicht einer, der eine örtliche Praxis betreibt. Er rief vier Mal an in den letzten drei Monaten. Er berichtete von sieben Jugendlichen, die sich ihm anvertrauten. Manche waren nur verprügelt worden, andere hatten Verbrennungen durch Zigaretten und Lötkolben, den meisten waren Zehen- und Fingernägel ausgerissen worden. Die Art der Verletzungen, da gibt es ein Muster, verstehst du? Es passt nicht. Es sind keine kalten Folterungen, sondern sadistische. Aber es sieht auch so aus, als ob der Täter nie die Kontrolle über sich verloren hätte – bis jetzt. Das passt aber wieder alles nicht mit dem Serum zusammen. Ich lasse dir die Telefonprotokolle zukommen. Du kannst am Samstag in das Haus in Cidra einziehen. Nimm deine geliebten Bücher und Tonbandkassetten mit. Um fünf Uhr früh kommt ein Transporter und holt dich und deinen Krempel in Habana Vieja ab, los jetzt. Arbeite endlich etwas, verdammt!“

Sie grinsten sich müde an, und ihr Grinsen war nicht mehr, als ein alter Verständigungscode, mit dem sie sich ihre gegenseitige Wertschätzung bestätigten.

Dreißig Minuten später hatte er die Akten vor sich auf demSchreibtisch. Mit der Schreibmaschine abgetippte Telefonprotokolle, in denen jegliches Zögern, jede Änderung der Stimmlage, alle Ähs und Ohs, jedes Papiergeraschel und Hüsteln akribisch aufgeschrieben worden war.

Teil 2: Francos stilles Leben

Von: Lucas Reno, Universite de Versailles [[email protected]]

An: Amelia Reno [[email protected]]

Gesendet: 17.10.2019; 20:10 EST

Betreff: Francos stilles Leben

Hola mi amor :-)

Und? Hast Du mein erstes Manuskript bereits gelesen?

Was hältst Du davon?

Ich war gestern nicht mehr unterwegs. Nachdem ich die Mail an Dich geschrieben hatte, zog ich mich aus, duschte und ging ins Bett. Und das war gut so. Heute um 08:00 klopfte mich Gerardo aus den Federn, schob mich unter die Dusche und sagte grinsend: „Kalt duschen. Dann wirst du munter und dein kleiner Amigo hier geht schlafen.“ Gott war mir das peinlich. Aber irgendwie auch nicht. Ihm schien es auch nichts ausgemacht zu haben.

Gerardo hatte von der Universität einen Wagen zur Verfügung gestellt bekommen, mit dem er zwar charmant, aber völlig hilflos umgeht. Er ist kein geübter Fahrer, aber ich wollte ihm das Steuer überlassen, um mich auf all das zu konzentrieren, was das Tageslicht zeigte. Es war ein bewölkter Morgen, Du weißt schon, diese Wattebäuschenwolken, die oben schneeweiß, und unten schiefergrau sind, es wehte eine milde Brise, und es hatte fünfundzwanzig Grad. Im Hotel nahmen wir nur ein kleines Frühstück zu uns; er trank Kaffee und ich schaufelte ein Müsli mit frischer, kalter Milch in mich rein, was Gerardo zu der hinreißend verdorbenen Äußerung veranlasste, ich würde wohl Milch sehr gerne haben. Milch heißt auf Spanisch Leche, und Leche bedeutet zumindest hier auch Sperma. Ich sags Dir, der ist ein ganz ausgekochter Filou!

Die Fahrt nach Matanzas dauerte etwa zwei Stunden. Gerardo zeigte mir, wo die neue Regierung Geld investierte, wie sie das tat, undwarum. Überlandleitungen waren erneuert worden, die meistenÜberlandstraßen waren neu asphaltiert und gerichtet, und freifliegende Telefonleitungen bei diesen Arbeiten in Röhren neben den Fahrbahnen verlegt worden. Gebäuderuinen wurden geschliffen, Parks wurden aufgepeppt, Gebäude restauriert; es gibt Hunderte kleiner Läden. Es gibt noch keine Großmärkte, obwohl es europäische Handelsgruppen wie Carrefour und Tesco gibt, vor allem aus Spanien, Frankreich und Deutschland, die großes Interesse bekunden.

Manches geht schnell, sagte Gerardo zu mir, als wir am Rande einer kleinen Ortschaft Rast machten und unter dem Strohdach einer Bar Pina Colada tranken. Die Ölquelle im Golf von Mexiko pumpt Geld in die Kassen und rund achtzig Prozent des Reingewinns fließen in die Infrastruktur. Diese Regierung der besten Köpfe, die die alte Regierung abgelöst hatte, sei darauf bedacht, einen sanften Wechsel herbeizuführen. Es sei keineswegs das Ende des Sozialismus auf Kuba, aber jetzt sei der Sozialismus offen, sagte er, und vor allem sei er nun Dank der Ölplattform finanzierbar. Das kann ich sehen. Es fahren immer mehr neue und moderne Autos aus China und Nordkorea, Spanien, Frankreich und Deutschland herum, und trotz der wild wuchernden Üppigkeit der Landschaft wirkt alles gepflegt - wobei ... gepflegt ist das falsche Wort. Es ist zu schwach. Alles wirkt umsorgt. So, als ob man ganz allgemein sehr große Mühe darauf verwendet, zu kultivieren, und in Ordnung zu bringen, was jahrelang lieblos im Stich gelassen worden war.

Gegen elf Uhr vormittags erreichten wir Matanzas. Es gefällt mir hier. Die Kleinstadt an der Bucht ist von Wasserläufen und Kanälen durchzogen. Auch hier wird eifrig restauriert, gebaut, und in Ordnung gebracht. Wir fuhren durch die Stadt und dann zu einer kleinen Bucht. Hier stiegen wir aus und Gerardo sah mich erwartungsvoll an, fragte: „Was siehst du?“

Ich wusste nicht, welche Antwort er erwartete, also drehte ich mich im Kreis und sah mich um. Die Bucht war flach und sandig. Es gab einen Grünstreifen, der in eine Böschung überging, auf der die Schnellstraße Richtung Osten verlief. In der Böschung gab es einen schmalen Tunnel, einen Fußgängerweg, durch den man vermutlich auf die andere Seite der Böschung kam. Links von mir sah ich Einfamilienhäuser und flache Mietskasernen, die am Ufer entlang aufgefädelt waren, also zwischen Schnellstraße und Ufer. Gerardo gab mir einen Tipp:

„Franco schrieb in seinen Notizen, die in der Granma veröffentlicht wurden, dass er oft hierher kam, um zu schwimmen. Wenn er trainierte, fuhr er von Cidra nach Matanzas, kühlte sich hier abund fuhr wieder zurück. Es ist keine dramatische Fußnote in derGeschichte Kubas, aber das hier ist ein Ort, der für Franco wichtig war und den er oft besuchte. Du musst wissen, Franco war, als alles begann, also er war noch Jungfrau. Das lässt sich nicht so deutlich aus den Veröffentlichungen heraus lesen, aber es war so. Er war einundzwanzig Jahre alt, trainierte verbissen für den Radsport, war ein unglaublich schöner junger Mann und hatte höchstens mit sich selbst Sex.“

Ich sah Gerardo ungläubig an: „Willst du mir damit sagen, dass Franco ...?“

„Natürlich wichste er! Glaubst du, er schwitzte es raus? Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, dass ich dir das erzähle, aber pass mal auf: Vor etwa drei Jahren traf ich Joaquin Marino, genau, Jaja. Er ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten und arbeitet als praktischer Arzt in Matanzas. Sein Vater Jose ist ja jetzt der Chef des Gesundheitsamts. Jaja, also Joaquin erzählte mir jedenfalls, Franco hätte ihm gestanden, dass er, also dass er ...“

Gerardo wurde tatsächlich etwas rot unter seiner kaffeebraunen Haut, als er mir ins Ohr flüsterte, was Franco gerne tat, wenn ihm vom Radfahren die Eier zu platzen drohten. Und dann wurde mir auch etwas heiß, weil ich mir das bildlich vorstellen konnte. Nein, nein, ich schreib das jetzt nicht in das Email. Aber ich werde es im nächsten Teil des Manuskripts verwenden!

Wir gingen durch den Tunnel auf die andere Seite. Da befindet sich ein Eisenbahnfriedhof, auf dem rostige Waggons auf rostigen Gleisen in der Sonne glühen. Zwischen den Schwellen wuchert Unkraut, kunterbunt, stachelig. Drei oder vier kleine Jungs liefen lachend herum und kletterten auf die Waggons. Gerardo nahm mich am Arm und sagte:

„Hier trafen sich Franco und Joaquin zum ersten Mal. Eine Ironie des Schicksals: Zuerst rettete Franco den sturzbetrunkenen Joaquin davor, von den Polizisten mitgenommen zu werden, und später half Joaquin Franco, als der ... aber davon später, ok?“

Ich nickte. Was blieb mir anderes übrig? Ich wollte ihn nicht löchern. Ich hatte so eine Ahnung, dass er es mir schon erzählen würde. Jedenfalls gingen wir zurück zum Auto und fuhren nach Cidra. Gerardo erzählte mir auf der Fahrt, dass nur wenig darüber bekannt sei, wie der Alltag von Francos Leben mit seinem Bruder Alejo verlaufen sei. Was bekannt ist, zumindest hier auf der Insel: Francos Lebensinhalt war das Training auf dem Fahrrad. Und Alejo fuhr, so oft er konnte, nach Varadero, und brachte von dort immer wieder Geld mit.“

Dreißig Minuten später erreichten wir Cidra. Es ist ein kleines,flaches Nest mit breiten Straßen. Die Häuser haben allesamt buntbemalte Vorbauten aus Holz, überdachte Veranden, in den Gärten blühen Orchideen, Lorbeerbäume, weißer Holunder, Affenbrotbäume ... es ist sehr idyllisch und still. Und überall sieht man Francos Gesicht auf Plakaten. Interessant ist, dass es keine Fotos von ihm gibt, die ihn nach dem Attentat zeigen, also mit der Narbe am Hals. Alle Fotos von ihm sind aus dem Jahr 2013 und früher, keines jedoch von später. Mein Lieblingsfoto stammt übrigens von diesem Tourist aus Österreich, ich glaube, er hieß Robert, der Franco damals am Strand fotografierte, als er den roten Radfahrerdress anhatte, Du kennst das Bild, wo auf der rechten Brust CUBA steht, im Hintergrund sieht man einen verwaschenen Sonnenschirm und die Brandung – da lächelt er so ur-süß! Ich weiß auch warum, ich bin ja nicht dumm. Er hatte Schmerzen, weil er da gerade die erste Begegnung mit den Polizisten von Matanzas hatte. Es ist ein irgendwie trauriges Lächeln, vielleicht triffts mich deswegen so mitten ins Herz … Das schönste Lächeln haben oft Menschen, die einen Schmerz begraben, indem sie lächeln.

Also gut, geliebte und ans Herz gedrückte Schwester, ich beende jetzt diesen Brief und werde anfangen, über Francos stilles Leben in Cidra zu schreiben.

Ich sitze hier auf der Veranda, trinke Eistee, und wenn ich über den Bildschirm schaue, sehe ich ein im Abendlicht überbeleuchtetes, dreidimensionales Bild voller Stille. Die Landschaft ist satt und üppig, rechts rascheln Palmblätter, sonst höre ich nichts, außer dem Surren des Laptops. Ich hänge noch ein paar Fotos dran, hoffentlich gefallen sie Dir! Nur eine Notiz am Rande: Als wir die Ortsgrenze von Cidra erreichten, stand da ein alter Mann mit weißen Haaren und weißem Bart, er sah distinguiert aus. Er blickte traurig drein und ich bilde mir ein, dass er, als wir vorbeifuhren, die Hand heben wollte, um mir zu winken, es aber dann doch bleiben ließ.

Gerardo erzählte mir, dass Franco sich um ihre Großmutter kümmerte, als sie hier lebte. Er brachte ihr Essen und unterhielt sich mit ihr. Vielleicht fange ich damit an - ich glaube sogar, das ist eine nette Idee.

Küsschen,

Lucas

PS: Mir ist aufgefallen, dass fast überall dort, wo Gerardo und ich hingehen, also dort, wo er mir geschichtsträchtige Orte zeigt, wie zufälligerweise ein Kamerateam herumhängt und in die Gegend filmt. Du weißt, ich war zwei Jahre bei Pierre Blau in der Filmklasse und wirwaren oft unterwegs um irgendein artifizielles, halluzinogenes Zeug zu filmen; ich weiß, wie es aussieht, wenn Teams an etwas arbeiten. Und die hier tun das nicht. Alles unkoordiniert. Ich meine, es klingt nach Scheißparanoia, aber mir kommt vor, die beobachten uns *grusel*. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur eine hysterische Tunte. Kann ja sein, dass das lokale Fernsehen so eine Art Doku über den Besuch der Franzosen dreht. Andererseits kann ich mir auch vorstellen, dass die Typen gar nichts drehen, sondern einfach schauen, was wir machen, uns beobachten, weiß der Himmel, warum.

1

Als die Wolken den Himmel verdunkelten, legte sich Franco auf die Bastmatte und lauschte dem Wind. Er hatte Polster und Jacken unter dem Kopf aufgeschichtet und blickte durch die offene Tür hinaus. Die Windböen ließen die Palmen rauschen und flappen, weiter entfernt klapperte etwas, das vom Wind losgerissen, über die nahe Schotter–straße kollerte. Es roch nach Regen, doch der warme Wind hechelte trocken über die üppige, wild durchwachsene Landschaft. Franco drehte sich um und zog unter dem Wäschebündel sein Notizbuch hervor - ein kleinformatiges Schulheft, dessen dünner Umschlag abgewetzt und vollgekritzelt war. Er blätterte auf dem Bauch liegend bis zur letzten beschriebenen Seite, nahm den Kugelschreiber (auf dem die Aufforderung stand, eine bestimmte Partei in Belize zu wählen) und machte einen waagrechten Strich. Darunter notierte er seine Trainingszeiten und die Strecke, die er beim heutigen Training zurückgelegt hatte.Es wird besser, notierte unter die Zeiten,aber die rechte Wade wird zu schnell müde, krampft.

Er starrte ein paar Sekunden auf die schwarze Plastikuhr, die ihm sein Bruder Alejo geschenkt hatte. Er verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen, bis die matt schimmernden Zeiger erkennbar wurden. Es war Viertel vor acht Uhr abends. Es wurde Zeit, der Pflicht nachzukommen. Er strich sich mit den Fingern über die millimeterkurz geschnittenen gekrausten Haare und gähnte mit knackenden Kiefern.

Dann streckte er sich, sprang auf und dehnte sich im Stehen. Er blinzelte in die Dunkelheit, sah hinüber zu Alejos Bett, über dem bedrohlich schief ein Bücherregal montiert war, auf dem ungefähr zweihundert Bücher gestapelt lagen. Spanische und lateinamerikanische Autoren wie Pablo Neruda, Leonardo Padura, Julio Cortázar, Fernando Pessoa, Mario Vargas Llosa, um nur einige zu nennen. Franco wusste, dass Alejo diese Bücher allesamt aus den Leihschränken der diversen Hotels in Varadero geklaut und mehrmals gelesen hatte. Draußen zogdas Unwetter über die Südküste, und jeder Donnerknall klang näher, dröhnte nachdrücklicher. Das Gewitter taumelte auf seinen Blitzen Richtung Florida. Er ging zur Küchennische und nahm den alten Emailletopf, der zur Hälfte mit gelbem Reis und schwarzen Bohnen gefüllt war, und stellte ihn auf die elektrische Herdplatte. Er drehte den Regler nach rechts, hob den Deckel vom kleineren Topf daneben ab und gab etwas gebratenes, weißes Hühnerfleisch in den Reistopf. Dann nahm er einen Plastiklöffel und rührte um, starrte dabei das Bild von Che Guevara an, das über der Arbeitsfläche an der Wand hing. Der Sehnsuchtsblick, eingefangen bei der Gedenkveranstaltung einen Tag nach der Explosion des belgischen Schiffs am vierten März 1960. Franco senkte den Blick, als er die Erregung spürte, die ihn als Kind jedes mal ergriffen hatte, wenn er Ches Blick auf sich spürte. Draußen hatte der Wind eine Röhre gefunden und ließ sie heulen wie ein verängstigtes Kind. Als er das Geschirrtuch nahm und um den Topf wickelte, um sich nicht die Finger zu verbrennen, spürte er einen kleinen Stich von Verzagtheit und Gier. Er streckte sich und sang fast tonlos:

cuentame, como te va,

yo por aqui muy bien

y tu por alla que bola

Franco ging aus dem Haus und stemmte sich gegen die angriffslustigen Sturmböen, nur mit einer ausgewaschenen und viel zu großen Bermudashort bekleidet. Der Himmel war voller Zorn und Donner. Niemand war unterwegs. Er spürte ein schreckliches, verwildertes Lachen in sich aufsteigen wie einen Schwarm schwarzer Vögel. Rechts im stürmischen Dunkel flatterten und gackerten Hühner in höchster Aufregung, ihm war, als könnte er sich in den Wind legen, sich in ihm verspreizen und tragen lassen.

Das kleine, unverputzte Haus, in dem er und sein Bruder Alejo lebten, befand sich einen halben Kilometer außerhalb der Ortschaft Cidra, die selbst nur aus ein paar in die üppige, tiefgrüne Landschaft geworfenen Häusern bestand, einem staatlichen Laden, dem Büro des Komitees zum Schutz der Revolution und einem dunklen Lokal. Es gab auch eine Kirche, aber die war nur hohles Gemäuer, dunkel und leer.

Das Haus, auf das er zustrebte, war das nächste auf der rechten Straßenseite, eingebettet zwischen rauschenden, hohen Palmen, Tamarinden und wilden, dunkelgrünen und orangefarbenen Flamboyants.

Er hörte Gesang und lächelte. Es ließ ihn für einen Augenblick vergessen, dass er nagenden Hunger hatte und gerade dabei war, einenTeil seines Abendessens abzugeben.

Er trat durch die offene Tür in stilles Halbdunkel: „Großmutter“, rief er, „ich bin’s, Franco. Dein Enkel!“

Ihre Stimme war leise, wie fernes Sturmgeraschel: „Welches Luder, verdammt?“ Er lachte hell: „Nur der Hunger ist ein Luder, Großmama, nur der Hunger!“

Ihr Lachen klang wie das Reiben zweier trockener Steine, sie rief ihn ins Haus und schaltete die kleine Leselampe auf der Anrichte ein. Franco sah seine Großmutter im breiten Lehnstuhl sitzen, bis unter die Brust in eine alte Decke gewickelt. Er hockte sich vor ihr auf den Boden. Sie kicherte: „Was tun wir gegen das alte Luder?“

Franco hob den Topf auf ihren Schoss, nahm den Deckel ab und sagte: „Gelben Reis, schwarze Bohnen und gegrilltes Huhn, keine Knochen. Lass es dir schmecken, Großmama, ich leiste dir Gesellschaft.“

Im Kofferradio, das neben ihr auf der morschen Anrichte stand, lief gerade ein Bericht über die Wassernot im Osten des Landes. Es hatte dort für die Jahreszeit viel zu wenig geregnet und der Wasserpegel in den Stauseen fiel auf einen dramatischen Wert. Die Stimme des Sprechers wurde ausgeblendet und ein altes Lied gespielt.

Sie drehte das Radio leiser, neigte den Kopf und hörte Franco zu, der ihr von seiner morgendlichen Radtour erzählte. Nur einmal unterbrach sie ihn und fragte, ob er wieder bei dem kranken Jungen gewesen sei.

„Dimitrij? Nein, heute nicht. Hatte Gelenktraining. Das tut ihm scheußlich weh, hat er mir erzählt, aber er muss es machen.“

„Armer Junge!“

„Iss, Großmutter, iss.“

Er setzte sich im Schneidersitz vor ihr auf den Boden, umschlang die Knie und lauschte ihrem Geflüster, das sich selbst genügte, und dem Wind. Er sah sich im Wohnraum um. Alles war vollgestopft mit altem Mobiliar, und alle freien Flächen waren angefüllt mit Püppchen und Holzschnitzereien, unzähligen gerahmten Bildern. Franco schlug die Augen nieder und rieb mit der Wange über sein Knie. Sie beugte sich vor und scherzte, dass sie nicht mehr könne, auf ihre Linie achten müsse, weil sie bald nicht mehr tanzen könne, wenn sie so weiter Essen in sich hineinschaufeln würde. Er kicherte. Sie war gertenschlank, und sie hörte nur auf zu essen, um ihm mindestens die Hälfte ihrer Mahlzeit zu überlassen.

Franco sprang auf, ohne Schwung zu holen, und ließ sich auf den Holzschemel gleiten. Seine Großmutter mühte sich hoch, und stellte das Essen vor ihn auf den Tisch. Und noch bevor der Topf dieTischplatte berührte, griff Franco hinein, sein Magen knurrte, und er schlang lauwarmen Reis mit schwarzen Bohnen hinunter. Er griff sich ein besonders schönes Stück Hühnerfleisch, grinste und schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, mit welch kindlicher Begeisterung er sich das Essen in den Mund stopfte.

Sie war wieder in den Lehnstuhl gesunken und bewegte sich zaghaft vor und zurück. Sie sah ihm beim Essen zu, seufzte: „Im Radio sagen sie komische Sachen.“

Franco erwiderte mit vollem Mund, dass sie im Radio immer komische Sachen sagen würden, und fragte: „Hab ich etwa eine seiner Reflexionen verpasst?“

„Franco Garcia Lopez!“ Das klang nach unterdrücktem Gelächter.

Ein paar Minuten saßen sie schweigend beisammen. Es war kurz vor halb neun Uhr abends, als er aufstand und sich streckte. Sie blinzelte ihm übertrieben verschwörerisch zu, als er zu ihr hinunter sah, und fragte ihn nach Mädchen: „Gibt es eine Freundin? Hat sie hübsche Brüste, anständige Eltern?“

Er schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem Lächeln und gab seine Standardantwort, dass ihm das Training und seine Aufgabe, sich um den kranken Jungen zu kümmern, keine Zeit ließe, sich nach einem Mädchen umzusehen. Das würde ihn auch davon abhalten, sich anderen sozialistischen Aufgaben zu widmen, wo man Frauen kennenlernen könnte, Volksernten und so ...

Sie stampfte mit einem Fuß auf und gab trocken zurück: „So, und Fahrräder kann man nicht schwängern, oder! Das ist nicht gesund, Franco, das ist nicht gesund, wie du lebst. Du bist einundzwanzig Jahre alt und hast noch keine Freundin ...“

„Ich hatte Yolanda und ...“

„Liebschaften, Liebschaften, ich rede von einer Frau an deiner Seite, die das Leben mit dir teilt und dir ordentlich die Eier massiert. Die einzige Frau in deinem Leben bin ich, und ich werde auch nicht mehr sehr lange da sein ...“

„Sag das nicht, Oma, sag so was nicht!“

„Ach hör du mir doch auf, du dummer Junge! Du brauchst eine schöne Frau in deinem Alter, die dich aus deinem verrückten Leben mit deinem Bruder aus der elenden Hütte rausholt. Alejo ist nicht gut für dich. Ich weiß, was er da tut, glaub mir, ich weiß es“, sagte sie mit Nachdruck. Dann fuhr sie etwas sanfter fort: „Hat er für das Vortanzen trainiert, für die Tanzschule im Tropicana?“

Franco schüttelte müde den Kopf: „Oma, das war doch schon Anfang Mai. Sie haben ihn nicht genommen, schon zum zweiten Mal. Er kann tanzen, aber er ist undiszipliniert und hört auf niemand, auf niemand hört der. Die haben gesagt, er wäre perfekt, wenn er nicht soein sturer Hund wäre.“

Sie lachte trocken: „So ein Hund? Dein Bruder ist ein verdammter Bastard. Wahrscheinlich der hübscheste Bastard hier auf der Insel, der für alles Talent hat, aber nichts wirklich kann, außer sich selbst zu verkaufen.“

Der Donner grollte und kitzelte den Boden, und Franco hörte, dass er sich nach Westen, Richtung Havanna verzog. Er tänzelte auf den Zehenballen, um ihr seine Ungeduld zu zeigen. Sie verabschiedete ihn mit einer wedelnden Handbewegung, als ob sie Fliegen verscheuchte: „Geh jetzt zu deinem Fahrrad. Dreh deine Runden. Pass auf den Wind auf. Und vielleicht siehst du ein nettes Mädchen, dass du ... wie oft hab ich das schon gesagt?“

Er lächelte matt und schüttelte den Kopf: „Jeden Abend, Oma, jedes Mal, wenn ich dir Essen bringe.“

Sie ließ den Kopf sinken, bis ihr Kinn fast ihre Brust berührte. Sie murmelte: „Verschwinde, Junge, Du machst mich traurig. Die im Osten, die in Nordafrika, Fidel und du.“

Franco fühlte sich erschöpft und wütend, als er den Topf packte und in die zerrende, tosende Dämmerung flüchtete.

2

Nachdem er das Radfahrertrikot angezogen hatte, rollte er Richtung Cidra und bog, ohne zu bremsen, auf die Bundesstraße 72 ab und fuhr schneller werdend in der späten Dämmerung Richtung Matanzas.

Der schönste Teil der Strecke war eine sechs Kilometer lange gerade Straße, die durch einen tiefen und dunkelgrünen Wald führte. Der Rest bis zur Stadt Matanzas war ein gemütliches Dahinrollen ohne bemerkenswerte Steigungen oder Gefälle. Er wollte zum Strand der Stadt, um schwimmen zu gehen und, mit viel Glück, einen Bekannten seines Bruders zu treffen, der ihn auf ein Sprite und ein Sandwich einlud.

Als er die letzten, weit verstreuten Häuser von Cidra hinter sich ließ, beugte er sich vor, schaltete zuerst das batteriebetriebene Licht an und dann in den siebten Gang. Sein Atem war tief und fest, sein Gesicht so entspannt, dass er lächelte, ohne es zu bemerken, seine Oberschenkel pumpten. Er rutschte auf dem schmalen Sattel vor und beschleunigte über einen Hügel hinweg. Die Straße teilte wildes und ungenutztes Land, das gesprenkelt war mit Sträuchern, Palmen, einsamen Hütten und Gebüschen, die in der zunehmenden Dunkelheit zu Scherenschnitten wurden. Die Vögel am Himmel waren verkohlte Papierfetzen. Bergab beschleunigte er noch mehr, sodass er mit rundsechzig Stundenkilometer die Waldgrenze erreichte und in die Finsternis eintauchte. Es war gespenstisch und es war gut, Franco behielt den Lichtkegel des Scheinwerfers im Auge und ließ sich nicht vom Maunzen und Schnattern aus dem Wald links und rechts ablenken. Von den Königspalmen schrien sich Schleiereulen gegenseitig an. Jetzt fuhr er so schnell, dass er meinte, die Dunkelheit auf sich zu spüren wie das sanfte Ziehen von Seide auf erhitzter Haut.

Er sang:

A donde vas...

Que no te pueda acompanar

Huir no es el mejor camino

No te puedes marchar

A donde vas

Dejando a un lado tu lugar

Si todo lo que hemos vivido

No lo puedes borrar

Er wiederholte mit hoher und heiserer Stimme:

A donde vas, que no te pueda acompanar!

Wie die meisten Landsleute kannte er die Texte seiner Lieblingslieder auswendig und konnte sie perfekt intonieren, bis hin zum sanftesten Vibrato. Er wusste, wie man phrasierte, und wann man sich beim Singen mit der flachen Hand im Takt auf die Brust schlug, um sie auch von außen als Stimmkörper zu nutzen.

Der Radscheinwerfer beleuchtete die aus dem Dunkel aufscheinenden Propagandaplakate der Regierung und vermittelte den Eindruck, sie würden sich in Luft auflösen, sobald sie hinter ihm ins Dunkel zurücksanken:

PATRIA O MUERTE

war oft zu sehen;

DE ESTOS HOMBRES SE HACE UN PUEBLO

fast ebenso oft.

Häufiger waren in den letzten Jahren auch die Plakate geworden, auf denen man lesen konnte, dass zum Beispiel fünf Stunden Embargo so viel kosten, wie alle Dialysegeräte für alle Patienten Kubas in einem Jahr. Auf einem der Plakate, auf denen man Julio Antonio Mella, Che Guevara und Camilo Cienfuegos als Ikonen abgebildet sah, klebte eineNotiz. Und das war so unerhört, dass Franco bremste, auf der Straße umkehrte und zurückradelte. Bei der Plakatwand blieb er stehen, stellte das Rad ab, ließ die Nackenwirbel knacken und sah das kleine Plakat im fahlen Mondlicht an. Er stemmte die Hände in die Hüften. Die Überschrift lautete:

CHARANGA HABANERA PRESENTE: FIESTA DE LUNA LLENA

Aha. Charanga Habanera präsentieren das Vollmondfest. Als Termin wurde der Samstagabend der nächsten Woche angegeben, und die Party fand entlang des Malecon auf dem Platz des Antiimperialismus statt.

Darunter ein Aufruf:

VOLLMOND, MUSIK UND EINE REVOLUTION; DIE NIE ENDET. KOMMT UND PRÄSENTIERT KUBA! FIESTA O MUERTE! Und unser Gesang soll über den Golf von Mexiko schallen und die Amerikaner aus den Betten werfenREPRESENT REPRESENT CUBA!

Darunter standen Namen von Bands und Musiker wie Charanga Habanera, Los Van Van, Orishas und Leoni Torres. Franco grinste breit, als er sich auf sein Rad schwang und weiter fuhr. Er flüsterte grinsend: „Die Revolution, die Revolution, meinArsch!“

3

Franco erreichte die Stadt Matanzas gegen zehn Uhr nachts. Er rollte freihändig und langsamer werdend über weite Kreuzungen, umrundete tiefe Schlaglöcher, zog vorbei an flachen, geisterhaften Gebäuden, in denen sich Wohnungen, Lebensmittelgeschäfte, Brennereien, Touristenshops und staatliche Ausgabestellen befanden. Er begegnete immer wieder Polizisten, die zu zweit durch die Stadt schlenderten, immer die Hand am Kolben des Revolvers oder am Knauf des Gummiknüppels. Er winkte ihnen mit einem schiefen Lächeln, einem Ausdruck duldsamer Lässigkeit. Manche winkten zurück, andere blickten hochmütig über ihn hinweg, wieder andere riefen ein heiteres „Hola, que bola!“. Einige erkannten ihn, den meisten war er egal. Die älteren Leute saßen auf den brüchigen Veranden, hatten die Ventilatoren aus den Tiefen ihrer Wohnungen geholt und ließen sie