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FLUCHTGEMÄLDE ist der dritte Teil von Peter Nathschlägers Kuba-Trilogie - in diesem Roman gibt es drei weitere Handlungsorte: Paris, die Stadt Mashad im Iran und Agaete auf Gran Canaria. Peter Nathschläger über seinen neuesten Roman: Das Buch ist in jedem Sinne voluminös; es beinhaltet so ziemlich alles, was ich jemals über Liebe, Homosexualität, Mitmenschlichkeit, Hoffnung, über Glanz und Wahn der Menschheit sagen wollte. Es ist ein berauschendes Buch, mit ineinander verschlungenen Handlungen und einem mystischen Überbau. Und es ist selbstverständlich ein Buch über die Liebe ... ... Der Liebe zwischen zwei kubanischen Jungs, die durch falsch angewandte Magie zerrissen wird und in wilden Hass umschlägt. ... Der Liebe zwischen zwei iranischen Jungs, die ein beinahe tragisches Ende findet. ... Der Liebe zwischen einem älteren persischen Antiquar und einem jungen Kubaner, die nur kurz anzudauern scheint - und die am Ende des Buches siegt. ... Der Liebe des Antiquars Koroush in Paris zum israelischen Studenten Rafael, der reife Männer liebt, sadomasochistische Neigungen hat und - für die Handlung wichtig - Passagierflugzeuge steuern kann. Es ist ein Roman für Romantiker und Abenteurer, für Träumer und Realisten, für schwule Reisende, für Fantasten und Literaten.
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Seitenzahl: 674
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von Peter Nathschläger
Alle Bücher im Himmelstürmer Verlag:
„Mark singt“, Roman.
„Die Legende vom heiligen Dimitrij“, Roman,
„Dunkle Flüsse“, Roman,
„Es gibt keine Ufos über Montana“ISBN 978-3-934825-50-5
„Patrick’s Landing“ISBN 978-3-934825-66-6
„Geheime Elemente“ISBN978-3-940818-02-7
„Im Palast des schönsten Schmetterlings“ ISBN 978-3-86361-157-6
„Der Falke im Sturm“ ISBN 978-3-86361-290-0
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected] Originalausgabe, März 2014
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Coverfoto:Peter Nathschläger
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
Printed in Dänemark
ISBN print 978-3-86361-370-9 ISBN epub978-3-86361-371-6
ISBN pdf: 978-3-86361-372-3
Der vorliegende Roman entstand in mehreren Etappen. Der Kern der Geschichte sitzt in der Mitte. Im ersten Teil,Angewandte Fluchtmalerei, geht es um einen halbwüchsigen Kubaner, der bei einem trinkfreudigen Schamanen lernt, wie man Bilder malt, in die man migrieren kann. Entweder ganz oder nur spirituell. Er lernt eine schmerzhafte Lektion, bevor es ihm gelingt, ein für sich perfekt passendes Bild zu malen: Jeder Mensch, der sich aus dem Kanon der Realität stiehlt, betrügt die Realität damit um die ihr zustehende Bereicherung. Das kann üble Folgen haben. Ganz Üble.
InDie Passage der durstigen Engelgeht es um das Leben und den Tod von zwei iranischen Teenagern, die im Juli 2005 öffentlich hingerichtet wurden. Offiziell, weil sie angeblich einen dreizehnjährigen Jungen vergewaltigt haben sollen, in Wirklichkeit aber, weil sie ein Liebespaar waren. Nebenher gab es noch Klagen wegen Vandalismus und Alkoholkonsum – ganz allgemein wegen ihrer Vergehen gegen die Moral, um sich den für die Hinrichtung nötigen Volkszorn zu sichern. Das Schicksal von Mahmoud Asgari und Ayaz Marhoni wird auf Wikipedia (http://goo.gl/C3iM8P) und vor allem im ausführlichen Dokument von Simon Forbes behandelt:http://goo.gl/WHQQBr.Forbes beruft sich in seinem Dokument hauptsächlich auf den iranischen Journalisten Afdhere Jama.
Es war herausfordernd, Unterstützung zu finden, Quellen und Hinweise, um das Leben der beiden Jungs so realistisch wie möglich nachzuerzählen. Meine Versuche, mit iranischen Journalisten (auch Afdhere) Kontakt aufzunehmen, kamen entweder gar nicht zustande oder verliefen im Sand. Wenn sie zustande kamen, waren sie kurz und unverbindlich. Hilfreich waren die Unterhaltungen im Sommer 2012, die ich mit einem Arbeitskollegen führen konnte, der aus dem Iran stammt.
Da über das Leben von Mahmoud und Ayaz wenig bekannt ist, habe ich mir einige literarische und dramaturgische Freiheiten genommen; der Roman handelt zumindest in diesem Teil auf einer rein fiktivenRealitätsebene. Es gibt einen Verweis auf die persische Liebesgeschichte von König Mahmoud und seinen Waffensklaven. DieHandlung dieser persischen Liebesgeschichte kann hier nachgelesen werde: http://bit.ly/1i95LWU.
Ich hoffe, dass ich, im Rahmen meiner Möglichkeiten und im Rahmen einer fiktiven Geschichte, die auf eineranderenRealitätsebene spielt, so wahrhaftig wie möglich war, und das Leben schwuler Teenager im Iran Anfang des 21. Jahrhunderts so realistisch wie möglich beschreiben.
Mir persönlich jedenfalls war es ein großer Trost, als ich am Ende des dritten Teils eine Szene schreiben konnte, in der ich ihr tragisches Schicksal maßgeblich änderte, ohne die bittere Wirklichkeit indieserWelt zu manipulieren. Die Namen der Verwandten und Freunde der beiden sind in diesem Zusammenhang frei erfunden, ebenso die Verwandschaftsverhältnisse zu den erfundenen Personen. Die im Roman erwähnten, privat organisierten Partys mag es geben, aber gewiss nicht unter den Decknamen, die ich verwendete. Wenn doch, habe ich siewirklichgut erfunden.
Im dritten Teil des RomansLiebe in Zeiten des Untergangs geht es unter anderem um die Inbetriebnahme und den Start eines Airbus A-340-600 (http://goo.gl/jOOFg3). Die zwei Protagonisten fliehen aus dem im Chaos versinkenden Paris Richtung Kuba. Der jüngere von ihnen studierte Raumfahrt- und Flugzeugtechnik in Paris, bis alles zusammenbrach, und ist begeisterter Avioniker. Die Prozedur, ein Flugzeug aus demcold & darkZustand betriebsbereit zu machen, ist, nach bestem Wissen & Gewissen folgerichtig beschrieben, allerdings habe ich aus dramaturgischen Gründen auf zu große Detailtiefe verzichtet. Hier gilt, wie immer, wenn ich mich von Fachleuten undSpezialisten beraten lasse: Alles, was stimmt, ist auf die genauen und umfangreichen Informationen zurückzuführen, die man mir zusammengestellt und verfügbar gemacht hat, die Ungenauigkeiten sind auf meinem Mist gewachsen.
Die Verbindungen im Roman zu der Realitätsebene, auf welcher der RomanDer Falke im Sturmspielt, ist voll und ganz beabsichtigt; irgendwohin müssen die Helden ja fliehen, wenn sie durch die Fluchtgemälde gehen.
Die Orte Cidra und Siboney auf Kuba gibt es wirklich; dort hat sich aber nichts von all dem ereignet, was in diesen Romanen erzählt wird.
Auf der Facebook-Seite des Romans gibt es eine Liste der Quellen, die mir bei
der Recherche behilflich waren: https://www.facebook.com/fluchtgemaelde.
Danksagung
Ich danke meinem Ehemann Ryszard für seine Liebe und den großen Raum in seinem Herzen, den er mir gibt, um zu schreiben. Es ist großartig, dass es Dich gibt!
Ich danke Philip Bauer für seine umfangreichen Informationen über Flugzeugtechnik, Avionik, und wie man ein Flugzeug „kickstartet“.
Sehr dankbar bin ich auch Bijan Sharifi, der sich die Geschichte von Mahmoud und Ayaz vorgenommen hat und mich auf einige Fehler und Irrtümer aufmerksam machte.
Und natürlich danke ich all den unbekannten Malerinnen und Malern, die jeden Samstag am Paseo de Prado in Havanna ihre Werke ausstellen und verkaufen. Manche ihrer Werke sind magisch.
Wirklich.
Begegnung im Yumuri-Tal
Geliebter,
Dies sollte ein Brief sein, aber da ich kein Papier bei mir habe und unbedingt jetzt diese Zeilen verfassen muss, weil sich die Eindrücke sonst verflüchtigen, schreibe ich in mein kleines, schwarzes Notizbuch.
Du bist also mit Alexis und den verrückten Österreichern an den Strand gefahren, an die Playa del Este, während ich zuerst nach Matanzas fuhr, und von dort, auf einem Umweg, zurück nach Havanna unterwegs bin. Du wirst mich eigenhändig erwürgen, weil ich ungefähr erst gegen zehn Uhr nachts im Vedado sein werde, wo wir uns hoffentlich am Malecon treffen, und uns bei einer Flasche Rum und ein paar Küssen unter dem halben Mond versöhnen. Ich entschuldige mich jetzt schon - und freue mich.
Der Reihe nach …
Es ist kurz vor neunzehn Uhr, die Sonne steht tief und das Licht im Tal ist in Gold getaucht. Ich sitze auf einer Holzbank unter dem Dach der Station und warte auf den Zug, der mich gegen acht Uhr abends nach Havanna bringen wird. Um mich herum hat die Stille zu jener seltenen Vollkommenheit gefunden, von der Schriftsteller undDichter so gerne schreiben, und die Maler manchmal einzufangen versuchen. Die Möglichkeit eines Klangs ist in diesem Goldlicht gefangen wie eine Mücke im Bernstein.
Von Matanzas nahm ich einen dieser Volksbusse; auf die Ladefläche waren vom Wetter ausgebleichte Sofas geschraubt worden. Ich zahlte einen konvertiblen Peso und fuhr in brausendem Geschunkel auf den staubigen Nebenstraßen zu den kleinen Dörfern, wo die Linienbusse nicht hinfahren. So jedenfalls gelangte ich nach Cidra, wo ich unbedingt hin wollte, um endlich einmal das Dorf zu sehen, das in den Büchern als verblichene Künstlerkommune gepriesen wird.
Ich habe von der Fahrt auf dem Esel einen Sonnenbrand im Nacken - du wirst mit deinem Besserwissergrinsen sicher eifrig nicken und auf die 30er-Sonnenmilch aufmerksam machen, die auf der Kommode im Zimmer steht, jaja.
In Cidra fühlte ich mich verloren und einsam, ich hätte dich gerne an meiner Seite gehabt, aber ich war allein, und als ich dann durch die Straßen und Gassen schlenderte, waren sie mir fremd und unangenehm. Cidra ist eine staubige und stille Ortschaft, die im Tageslicht vor sich hin dunstet, sie hat keinen Anfang und kein Ende, kein Stadtzentrum, nichts. Ich verließ den Ort gegen Mittag auf einer Landstraße, auf der ich Richtung Südwesten ging. Ich machte mir keine Sorgen, ich hatte sowohl Konvertible mit als auch kubanische Pesos, meinen Ausweis, und im Rucksack hatte ich einen Liter gefrorenes Wasser, das gerade auftaute. Ich ging etwa eine halbe Stunde, da blieb ein kleiner Lieferwagen stehen und eine Frau fragte mich, wohin ich unterwegs sei. Ich sagte: „Havanna.“ Sie lachte und antwortete: „Loco Yuma“, und „spring rein, ich bring dich zur Hershey-Bahn. Es gibt im Yumuri-Tal eine Station, da kannst du einsteigen.“ Sie schüttelte den Kopf noch immer, als ich schon auf dem Beifahrersitz saß, sie den Wagen zurück auf die Straße lenkte und an der Spitze einer Staubwolke losraste. Yumuri-Tal, das kam mir gerade gelegen, wollte ich mir doch endlich einmal dieses wunderschöne Tal ansehen, das ich nur von jenem Gemälde kannte, das Alejo gemalt hatte.
Sie fragte mich die üblichen Sachen und ich gab ihr die üblichen Antworten, wir waren uns sympathisch und etwa eine Stunde später, inmitten eines wundervollen, weiten Tals, blieb sie auf einer Kreuzung im Nirgendwo stehen. Sie zeigte auf die Straße, die von der Kreuzung links wegführte und sagte: „Ich muss geradeaus weiter, meinen Mann abholen. Du gehst einen knappen Kilometer auf dieser Straße da entlang, dann siehst du schon das Stationsgebäude. Ist nicht zu übersehen, sieht aus wie in einem Yankee-Film, wo Leute mit geladenen Colts und Mundharmonikas auf einsam heulende Züge warten, hahaha!“
Wir lachten, küssten uns auf die Wange, sie fuhr los und ich blieb stehen, bis sich der Staub senkte, wartete noch ein paar Atemzüge und genoss die Stille. Die Straße befindet sich auf der nördlichen Anhöhe des flachen und weitläufigen Yumuri-Tals. Es war früher Nachmittag und die Vorläufer eines heranziehenden Gewitters machten die Luft silbrig und die Landschaft unscharf.
Etwa eineinhalb Kilometer von meiner Position aus konnte ich eine Art Damm sehen und war mir sofort sicher, dass das die Trasse der Hershey-Bahn sein musste. Ich rückte die Träger des Rucksacks zurecht und machte mich auf den Weg, folgte der staubigen Straße, die in weiten Kurven hinunterführte. Das Yumuri-Tal kam mir vor wie ein Gemälde - sanft und einladend, aber auch irgendwie sexy.
Und als ich müßig über derlei nachdachte, sah ich im rechten Augenwinkel ein metallisches, hartes Gefunkel.
Ich blieb irritiert stehen.
Von der Straße aus konnte ich tatsächlich schon das Stationsgebäude sehen, das auch wirklich aussah wie aus einem Sergio-Leone-Western. Rechts von mir funkelte es dünn und hartnäckig. Der Zug kam erst kurz nach acht Uhr abends, jetzt war es gerade einmal Viertel nach vier Uhr, ich hatte also Zeit genug, meiner Neugierde nachzugeben. Wahrscheinlich war es nur eine Flasche, in der sich das zunehmend dunstigere Sonnenlicht spiegelte. Der Geruch von aufziehendem Regen lag über der Landschaft und die Luft geriet in Bewegung. Also warf ich noch einen kurzen Blick auf das einsame Stationsgebäude und ging dann querfeldein, den sanften Hang hinauf, um nachzusehen, was dort glitzerte, und ich kam mir vor wie eine gottverdammte, scheißdumme Elster.
Nach fünf Schritten den nördlichen Hang hinauf sah ich, dass es sich um ein verchromtes Gestänge handelte, in dem sich das silberne Nachmittagslicht verhedderte, und ein paar Schritte weiter erkannte ich, dass es ein Rollstuhl war, wie man ihn in Krankenhäusern verwendet. Er stand nach rechts in den Boden eingesunken auf einer kleinen, fast geraden Fläche aus gestampfter, roter Erde und nahm sich wirklich ... kapriziös aus. Ich verstand nicht, warum mich der Anblick des Rollstuhls so erschütterte, so überraschte. Wir wissen doch aus seinem Brief, dass er hier, am nördlichen Hang des Tals, steht. Es ist der Rollstuhl von Alejo.
Mir kam vor, dass von der gestampften Stelle, wo der Rollstuhl im Boden eingesunken stand, ein übler Geruch ausging. Es roch nach unbehandelten Wunden, nach Eiter und Kot. Ging ich jedoch ein paar Schritte von der Stelle weg, roch es nach Gewürzen, nach Regen, der noch nicht gefallen war, und ... etwas anderem. Kein spezieller Duft, sondern ein Multiplikator, der die Wirkung der guten Gerüche verstärkte.
Der Rollstuhl also, wie der auf dem Gemälde. Fast neu, hier halb im Boden versunken, das ideale Bild unter dem Satz:Fehl am Platz! Hatte sich Alejo, auf einmal hier, aus ihm erhoben? Vor allem diese Frage beschäftigte mich, denn ich war sicher, dass hier, vor ganz kurzer Zeit, jemand aus dem Rollstuhl aufgestanden und davon gegangen war; mein Gott, darauf würde ich schwören! Ich drehte mich zweimal im Kreis und sah, dass rund um mich herum nur Wildnis war. Etwas weiter unterhalb war die Kreuzung, wo ich aus dem Wagen gestiegen war, und noch etwas weiter südlich war die Trasse der Bahn. Ich kniff die Augen zusammen und sah zum Dach des Stationsgebäudes. Mir war furchtbar heiß und ich dachte, es wäre wohl besser, dort im Schatten die Zeit zu versitzen und das Wasser zu trinken, solange es noch kalt war, bis die Bahn kam. Soweit ich mich erinnern kann, steht in dem Reiseführer, dass es nur einen einzigen Zug gibt, der auf der Hershey-Strecke fährt. Er zuckelt zuerst von Havanna nach Matanzas und fährt dann zurück, drei Mal am Tag. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es inzwischen fast siebzehn Uhr war. Ich ließ den Rollstuhl und all die Fragen, die er aufwarf, einfach sein, und machte mich auf den Weg, den Hang hinab zur Straße. Die Hitze war massiv wie Stein, und als ich mitten auf der Straße ging, stellte ich fest, dass es um mich herum vollkommen still geworden war. Das Tal hielt die Luft an und ich tat es ihm gleich. Ich stieß Luft aus und keuchte. Mir war, als ob etwas Großes und Mächtiges mein Haar mit seinen Schwingen gestreift hatte, und zurück in den Himmel gekehrt war, bevor ich es sehen konnte.
In der Ferne rechts hörte ich das auf Echos gleitende Heulen einer Zugsirene. Ich ging schneller. Ich wusste, dass dies der Zug nach Matanzas war, und es gab für mich keinen Grund zur Eile. Er wird erst in knapp drei Stunden wieder hier ankommen, auf dem Weg nach Havanna.
Ich erreichte das Stationsgebäude, trat auf das graue, ausgewaschene Holz des Bahnsteigs, der nicht viel mehr war, als eine etwas größere Veranda. Der größte Teil davon war mit Schindeln überdacht, auch die Stützen waren aus wettergrauem Holz. Tief im Schatten unter dem Dach befand sich rechter Hand die Bude des Stationswarts, der hier nichts zu tun hatte, als einfach da zu sein. Der Traumberuf für alle leidenschaftlichen Leser und Tagediebe! Der alte Mann saß hinter einem Buch versunken, sah über den Rand des Umschlags und nickte mir zu. Links neben dem Häuschen waren mehrere Holzbänke - man hatte vielleicht vor vielen, vielen Jahren einmal angenommen, dass es hier mehr als nur ein oder zwei wartende Fahrgäste geben würde. Auf einer dieser Bänke saß ein junger Mann. Ein Mulatte mit chinesischer Abstammung, das konnte ich gleich an seinen Augen und den schnurgeraden Augenbrauen erkennen, als er aufsah und mich anlächelte. Er ist schön, weißt Du? Wirklich schön, so, als ob er allen Schmerz und alles Leid, das ihm je widerfahren war, abgeschüttelt hatte, so als ob er, in dem Moment, als ich ihn sah, zu seiner ganzen Würde, zu seiner Vollendung gefunden hatte. Er sah mich an, ich meine, er sah michwirklich, er nahm mich wahr, so wie vielleicht nur Du das kannst, und sonst niemand. Seine Augen hatten die Farbe von Regentropfen, die sich gerade von der Unterseite einer Wolke lösen. Er hatte diesen unschuldig-naiven Blick, wie ich ihn von vielen jungen Kubanern kenne, der blitzartig in den funkelnden: Ach-auf-diese-Scheiße-fährst-du-also-ab Blick umschlagen kann. Er trug eine blassgraue Leinenhose und ein sehr weites, flatterndes Leinenhemd, dessen Ärmel schlampig nach oben gekrempelt waren.
Der Zug fuhr ein, wurde keuchend und rüttelnd langsamer, bis er zum Stillstand kam. Der junge Mann bückte sich, hob den Strohhut auf, der auf der Bank lag, und setzte ihn mit eleganter Beiläufigkeit auf. Niemand stieg aus, und aus dem Inneren eines Waggons drang Musik und Gelächter. Ich kannte das Lied und summte zwei Takte mit. Etwas Magisches lag über diesem Moment und durchdrang ihn, ich wusste, ich hatte nicht viel Zeit, und mir war, dass ich vielleicht die Welt und das Leben enträtseln würde, wenn ich diesen Moment und seinen Zauber verstehe.
Er ging auf den Waggon zu. Der Zugschaffner stieß von innen die Tür auf und Musik und Gelächter wurden lauter. Ich fühlte mich auf einmal den Tränen nahe, weil mir so war, als ginge etwas unvorstellbar Schönes und Erhabenes an mir vorüber, ohne mich wahrzunehmen.
Ich rief: „Hallo, du!“
Er blieb auf der untersten Stufe des Einstiegs stehen und sah mich fragend lächelnd an.
Ich rief: „Kenne ich dich? Werbistdu?“
Er antwortete: „Du kennst mich. Ich bin Alejandro Paramo. Wie gefällt dirdiesesGemälde? Ich komme zwei-, drei Mal im Jahr hier vorbei, um nach der Farbe des Himmels zu sehen. Und nach dem Rollstuhl. Damit ich nicht vergesse, woher ich komme.“
Wie meine Augenbrannten!
Ich rief krächzend: „Wohin fährst du?“
Er lachte, schwang sich in den Waggon, der Zug rollte knirschend und krachend los, das Horn dröhnte durchs Tal.
„Zurück nach Siboney,mindestenseine Flasche Rum mit meinem Meister trinken. Scheiß drauf, unter zwei machen wir’s nicht,ha! Weißt du was? Wenn der Mond auf die Küste scheint, werden wir so betrunken sein, dass wir über unsere eigenen Schatten stolpern!“
Ich holte Luft, um etwas Bedeutsames zu rufen, ich wollte ihm in Erinnerung bleiben, ein Teil seines Lebens sein, weil wir doch in seinem Traum Platz gefunden hatten. Und er, der schon ins Abteil zurückgewichen war, sah noch einmal aus dem Fenster, winkte mit dem Strohhut und rief etwas. Etwas Gewaltiges, von unglaublicher Erhabenheit. Er ließ mich verwirrt und trunken vor Glück auf diesem Bahnsteig zurück. Ich taumelte von der Bahnsteigkante zurück in den Schatten des Holzdachs.
Der Zug eierte davon wie in einem Zeichentrickfilm.
Ich hatte noch ungefähr eine Million Fragen, aber mir fiel keine Einzige ein. Ich setzte mich in den Schatten auf die Bank, wo er gesessen hatte, und schloss die Augen. Später nahm ich mein Notizbuch heraus und fing an, diesen Brief zu schreiben. Ich werde Dir meine Zeilen vorlesen, wenn ich zurück bin in Havanna.
Ich lächle jetzt und fühle mich sehr entspannt und glücklich. Es ist gut, dass wir hier sind und dass man uns Asyl gewährt hat. Ich freue mich darauf, Dich zu umarmen, wenn wir uns sehen, Deinen goldenen Duft zu riechen, Deine Hände auf mir zu spüren.
Es ist zehn vor acht Uhr abends. Ich beende meine Notizen, diesen Brief. Ich höre den Zug kommen.
Wieder wird mir bewusst, dass das Yumuri-Tal aussieht wie gemalt. Der Gedanke gefällt mir, ich lache und stehe auf. Es war sein innigstes Ziel, sein Traum. Und ich weiß nun mit aller Gewissheit, dass wir hier sind, auf dieser Seite des Gemäldes.
Auf derrichtigenSeite.
Das Yumuri-Tal sieht aus wie das vollendete Fluchtgemälde.
Mit all meiner Liebe,
Koroush
Cidra 1961
Als Teenager verzehrte ich mich nach Liebe und Grausamkeit. In jedem wachen Moment suchte ich den sinnlichen, verträumten Blick eines Mädchens oder den eines Jungen, und in jedem Moment verzehrte ich mich danach, Räume zu zerstören, Möbel umzustoßen, Menschen zu kränken und zu quälen. Bis ich eines Tages im Schatten meiner Eltern, demonstrativ gelangweilt und mit all meiner halbwüchsigen Verzweiflung aus mir heraustrat, weil mein Vater sagte: „Sehteuch nur das Bildan! Es ist wirklicher als das Leben.“ Damit fing es an. Mit diesem Gemälde im Haus der schönen Künste in Havanna.
Es war Sommer 1961. Ich war fünfzehn Jahre alt, und niemand kümmerte sich um mich. Jetzt, in den Ferien, trieb ich mich bis spätnachts herum, und ganz Cidra wusste, dass ich nur Unsinn im Kopf hatte. Ich war überall, weil ich nicht stillhalten konnte, weil es heiß war und weil es stürmte. Kuba wurde in diesem Sommer nach der Revolution von mehreren Unwettern umtost. Die politischen Stürme tobten am fernen Horizont meiner Wahrnehmung, und ich mochte sie nicht, weil sie so massiv wie Stein waren, sich selbst genug in ihrer Totalität. Die Sommerstürme genoss ich. Ich zog mich nackt aus, hockte im strömenden Regen, reckte dem tobenden, trommelnden Himmel mein geblecktes Gebiss entgegen und wichste mit aufgerissenen Augen, ließ den Kopf sinken, und wenn der Rausch seine Flügel spreizte und mich verließ, sah ich zu, wie mein Samen mit Regen und Schlamm vermischt davonschlierte. Ich kraulte in den vom strömenden Regen aufgewühlten Flüssen und ging mit meinen Freunden Jorge und Solangel Federvieh stehlen. Wir wussten, dass das in den empfindlichen Tagen nach dem Umsturz dazu führen konnte, dass man uns fasste, schlug und einsperrte. Oder, dass man uns die Hände abhackte, wie man das neuerdings bei Dieben angeblich machte - zickzack Hand ab. Ich hatte zwar nie jemanden kennengelernt, dem dieses schreckliche Schicksal widerfahren war, aber man erzählte sich überall davon. Wir wussten, dass alle jungen Männer zum Militär mussten, und dass wir Kinder und Jugendlichen neue Lehrer bekamen. Manche sogar aus Russland. Die stellten sich in der Klasse vor die Tafel oder lehnten am Fenster, redeten eine Stunde lang auf Russisch und gingen wieder. Wir kicherten und zogen uns dabei die Hemden über den Kopf, kamen uns wie Mädchen vor. Wir spotteten, weil keiner von uns auch nur ein Wort von dem verstand, was die Russen redeten. Dann kam der Sommer, es kamen die Ferien, manche aus unserer Klasse gingen nach Pinar del Rio zur Tabakernte, andere halfen auf den Zuckerrohrfeldern. Wie man hörte, kippten dort die jungen Kameraden um wie Vogelscheuchen im Wind, manche hackten sich mit der Machete beim Zuckerrohrschneiden in die Füße oder schlugen sich Finger ab, stürzten, bluteten und schrien vor Schmerz und Hitze. Nur wenige von uns blieben im Ort. Die wenigen, die blieben, hatten so wie ich, Eltern oder nahe Verwandte, die in der neuen Revolutionsregierung hohe Ämter bekleideten. Man nahm von uns an, dass wir allein durch unsere Blutsverwandtschaft zum besonders vertrauenswürdigen Kader gehörten, und man hofierte uns, weil wir vorbildlich waren, ohne etwas zu tun, das vorbildlich war.
Die Leute im Dorf wussten wirklich nicht, was wir taten, wenn uns keiner zusah. Wir fingen Feldratten und stachen ihnen die Augenaus, schnitten ihnen die Bäuche auf und zogen mit angespannten Gesichtern und fiebrigen Augen die Eingeweide heraus. Wir fingen Hühner und schlugen ihnen die Köpfe ab, weil wir ihr kopfloses, blutverspritzendes Geflatter so lustig fanden. Wir tranken billigen Rum, lachten, weil wir unseren Gefühlen kein bisschen über den Weg trauten und errichteten in all dem Ungehorsam, den wir uns leisteten, ein Versteck gegen die felsenartige Macht, die sich anschickte, unser aller Leben zu kontrollieren.
Ein Freund meines Vaters war in der ersten Juliwoche zum neuen Kurator des Instituts der schönen Künste in Havanna geworden. Der hagere, unfreundliche Mann nahm seine Aufgabe sehr ernst und war deshalb zerrissen zwischen Kadergehorsam und Kunstverstand. Er klagte meinem Vater sein Leid bei einer Flasche Wein, die er von einem Russen bekommen hatte. Andere hungerten und soffen übles Wasser und konnten gar nicht mehr aufhören, wässrige Scheiße abzudrücken; und hier saßen Männer, die nichts weiter taten als die richtigen Worte zur rechten Zeit zu sagen, und tranken Wein von weither. Ich wusste das und ich verachtete meinen Vater und seinen Freund dafür selbstgerecht wütend. Ich wusste Geschichten von Jungs in meinem Alter, die bei den Arbeiten auf den Tabakfeldern einfach umkippten, mit Schaum vor dem Mund. Ich kannte Geschichten von jungen Soldaten, die wegen Nichtigkeiten zu jahrelangen Haftstrafen in El Morro verdammt, und dort von wirklichen Verbrechern jede Nacht niedergefickt wurden, bis sie Blut schissen und vor lauter Weinen wahnsinnig wurden. Und ich kannte Berichte über Kadetten, die den Schmerz nicht mehr ertrugen, und den Freitod wählten, so schnell es nur ging, um den verrückten Schändern zu entgehen. Natürlich waren das, meinem Vater zufolge, alles bösartige Lügen der Imperialisten, die die zarte Pflanze der Revolution unter ihren herrschsüchtigen Stiefeln zertreten wollten, es war hysterischer Hyperkritizismus, der den Revolutionswillen der guten, sozialistischen Kubaner aufweichen sollte.
Aber hier saßen sie: mein Vater, der stellvertretende Generalmajor des neu gegründeten Komitees zum Schutz der Revolution, und sein Freund, Alberto Rangel, der früher nichts gewesen war, ein Habenichts mit dreckiger Unterwäsche, und der jetzt über die Kunstwerke Kubas befand, weil er vor zig Jahren mal ein paar Bilder gemalt, einige verkauft und über andere Gemälde Kataloge verfasst hatte, der jetzt laut und vernehmlich die Lieder der Revolution sang, der falsche Hund! Ein Freund von mir, dessen Vater Polizist war, sagte einmal, Alberto Rangelsei so tief in Batistas Arsch drin gesteckt, dass sie ihn an den Füßen erst herausziehen und kalt abspritzen mussten, damit der Scheißegestank von ihm wich - bevor sie ihn in sein neues Büro setzten, wo er neue Ärsche fand, in die er kriechen konnte. Er war für mich der beste Beweis, dass die Meister der Lippenbekenntnisse in den besten Häusern lebten und den besten Wein tranken.
Am Samstagmittag gingen meine Freunde zum nahen Strom um zu angeln, eine gestohlene Flasche Rum zu trinken und eine gewaltige Zigarre zu rauchen und ich weinte fast vor Wut, als ich eine dunkle lange Hose und ein strahlend weißes Hemd mit langen Ärmeln anziehen musste. Meinem Vater war ein amerikanischer Wagen zugeteilt worden, in dessen Nähe ich mich nicht aufhalten durfte, wenn ich mir nicht zuvor die Hände gewaschen hatte; heute war es mir erlaubt, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, und das gefiel mir schon ziemlich gut - was ich natürlich nicht zugab. Mein Vater öffnete meiner Mutter mit einer angedeuteten Verbeugung die Beifahrertür und klappte sie leise zu, als sie sich gesetzt hatte. Ich erinnere mich, wie sich mein selbstzufriedenes und arrogantes Lächeln im Gesicht angefühlt hatte, als wir einen Hauch schneller als Schritttempo aus Cidra rollten, in diesem metallischen Funkeln und Röhren und Brummen. Weil ich es mochte, wie uns die Leute nachblickten, mit dieser Mischung aus Einfalt, Bewunderung und weißglühendem Neid.
Ich wollte über das finstere Meer staken und taumeln wie ein besoffener Hurrikan, ich fieberte vor Sehnsucht nach Liebe und Grausamkeit, als wir das Museum betraten, denn nichts anderes war das Institut. Es war ein Museum. Ich schleppte mich verzweifelt hinter meinen stolzen Eltern her, man nickte einander in größter Eintracht zu und sagte Sachen wie: „Ach was für eine Freude, Sie wiederzusehen, nach so langer Zeit!“, oder „Der Regen, der Regen, ja, es hört nicht auf, zu regnen. Darf es noch ein Sandwich sein?“, oder „Wie wundervoll die Blumen arrangiert sind, und wie fein das alles passt, es ist ein Ort der Harmonie und des Innehaltens inmitten all dieser Änderungen, nicht wahr?“
Mir war zum Brüllen und in Gedanken suchte ich den Weg zur nächsten verschließbaren Toilette, um die frisch geweißten Wände mit meinem Samen zu markieren, als Vater das mit dem Bild und seiner Wirklichkeit sagte, und mich damit für einen Moment aus meinem Selbstmitleid holte. Ich trat hinter ihm hervor, schob mich zwischen meine Eltern und spürte, wie mir Mama das Haar rubbelte. Ich hasste das. Bevor ich es deutlich genug hassen konnte, um meinen Kopf widerwillig zur Seite zur drehen und einen Laut des Unwillens auszustoßen, fühlte ich, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Es war ein intimerMoment vollkommener Erkenntnis. Er war so groß, dass ich ihn nicht in seiner Gesamtheit erfassen konnte. Ich war irre erregt, so bewegt, dass mir zum Schreien und Weinen zumute war. Aber all das schien mirschwach und dumm, als ich das Bild sah, das an der Wand hing, und ewige Zeiten auf seinem Rahmen trug, um mich an einem Tag, der mir so furchtbar zuwider war, voll und ganz zu verändern.
Das Gemälde war da, um von mir wahrgenommen zu werden und um mein Leben zu ändern.
Das war mein erster großer Gedanke, nachdem die lautlose Explosion in meinem Kopf vergangen war: Es war kein Ölbild, auf dem irgendetwas, das irgendwo existierte, nachgebildet war. Es war ein Fenster. Und das, was sich hinter der Scheibe befand, war real. So wie mein Atem in dieser stickigen Luft, das Parfum meiner Mutter, das Rasierwasser meines Vaters und all das Stimmengebrumm um uns. Das Gemälde zeigte eine Szene mit vielen Menschen. Es dauerte eine Weile, bis sich mir erschloss, dass es eine Hochzeit war. Die Gesellschaft befand sich an einem Strand. Das Bild zeigte die Szene in einer Längsperspektive; man sah das graue und blaue Meer, das an den Strand rollte, man sah den Strand und die Leute dort, die sich in Gruppen zusammenfanden. Das Brautpaar in der Mitte, vom Maler so platziert, dass klar war, wer im Mittelpunkt des Interesses stand. Der Himmel war teils blau und hell, inder Tiefe schattig und von schweren, metallischen Wolken bedeckt. Ein paar Vögel mit weiten Schwingen stiegen in den Himmel - Falken vielleicht. Ein Teil der Hochzeitsgäste saß in Gruppen an quadratischen Tischen und aß und trank. Ohne es zu merken, hatte ich mich aus dem Schatten meiner Eltern gelöst und war ein paar Schritte näher auf das Bild zugegangen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Nicht nur, weil ich Hunger hatte, ich hatte eigentlich immer Hunger nach irgendwas, nein, es war, weil ich riechen konnte, was sie dort zu essen hatten. Ich roch die knusprige Haut von gebratenen Hühnern und ich roch Salat, der mit viel Knoblauch angerichtet war. Ich roch frisch geschnittene Zwiebel und warmes Brot. Ich hörte, wie ein Mann einen Knochen aus einem gebratenen Huhn drehte, und ich glaube, dass dieses saftige, so sehr nach Essen klingende Geräusch, in mir den Wunsch weckte, nicht vor, sondernindiesem Wandgemälde zu sein, über die mit grasbewachsene Uferböschung zum Strand hinunter zu laufen und bei ihnen zu sein, egal, ob sie mich kannten oder willkommen hießen. Ich hatte das Gefühl, dass der in diesem Bild gefangene Moment jeden Menschenwillkommen hieß. Manche spürten es mehr, so wie mein Vater und ich, manche gingen unbeeindruckt daran vorbei, und ich verstand nicht, wie das möglich war. Wie konnte man sich in einem Raum mit diesem Bild befinden, ohne davon verhext zu werden? Meine Eltern wollten schonzum nächsten Bild weitergehen, da sagte ich: „Wartet noch bitte.“
Meine Eltern erstarrten. Nicht nur, weil ich ganz augenscheinlich Interesse an etwas zeigte, das mir bis vor wenigen Minuten vollkommen scheißegal gewesen war, sondern auch, weil ichBittegesagt hatte. Das war neu für sie - und für mich. Mein ganzer Körper, meine Seele, mein Herz, alles war in höchster Alarmbereitschaft. Ich war bis zur Hysterie aufgeregt, und hätte mich jemand mit Gewalt vom Bild wegschieben wollen, hätte ich ihn vermutlich umgebracht. Mit Zähnen und bloßen Händen. Ich glaube, man sah mir an, dass ich brannte. Das tat ich wirklich: Ich brannte lichterloh. Die Sehnsucht, alles hinter mir zu lassen und in das Gemälde zu klettern, machte mich verrückt.
Vater kam zu mir, legte mir den Arm auf die Schulter und las von einem kleinen Schildchen, das rechts neben dem Gemälde an der Wand befestigt war: „Aha. Das ist von Giordano Gardella. Italienischer Maler aus der Toskana. Er verbrachte sieben Jahre hier auf Kuba und perfektionierte sein Künstlerhandwerk bei Christiano Pereira in Holguin.Zwei Jahre, nachdem er nach Italien zurückgekehrt war, verschwand er spurlos. Geboren im Juli 1925 in Italien, spurlos verschwunden im Oktober des Jahres 1958.“
Die Stimme meines Vaters war fern. Der Maler war verschwunden - warum wunderte mich das nicht? Weil er doch da war? Weil ich ihn sehen konnte, wie ihn die anderen nicht sehen konnten? Weil ich noch den Blick eines wilden Jungen hatte, der nicht vor absurden Perspektiven und verstiegenen Ideen zurückwich? Weil ich den Blick eines Malers hatte, der noch nicht wusste, dass er einer war?
Giordano Gardella war da, im Bild. Er saß etwas abseits der Hochzeitsgesellschaft, das heranrollende Meer im Rücken, die Staffelei vor sich, die Gäste zum Teil auf der angedeuteten Leinwand. Er drehte sich auf dem Schemel herum und winkte in Richtung der Leute, die das Bild betrachteten, so als ob dort der Maler stünde, der ihn dabei malte, wie er die Hochzeitsgesellschaft ... Mir wurde schwindlig. Gardella war ein bärtiger, langhaariger Mann, dem ich wilde Augen andichtete, einer, der vom Trinken, Lachen und Weinen wusste, von Gewittern, Zorn und funkelnder Liebe. Ich lächelte und fühlte mich sanft, so, als ob ich endlich zur Ruhe gekommen war. Ich nahm die Hand meiner Mutter und küsste sie. Ich glaube, sie war den Tränen nahe.
Als wir etwa eine halbe Stunde später das Institut der schönen Künste verließen, lud uns mein Vater auf eine Limonade ein. Wir saßen im Garten eines kleinen Lokals auf der Rampa im titanischen Schatten des Havana Libre. Ich fragte Vater, ob er ein paar Bögen Papier besorgen könnte.
„Du willst zeichnen?“
Ich wollte mehr. Ich wollte die Farben dieser Welt, die Meere, die
Am Montagabend brachte er mir einen Packen dickes Papier; es hatte beinahe Kartonstärke. Tagsüber war ich mit meinen Freunden am Fluss gewesen, um zu schwimmen, ein paar Fische zu angeln und, wie sooft, um darüber zu reden, wie wir gekämpft, gebrüllt und getötet hätten, wären wir bei den Guerillas dabei gewesen. Das war eines unserer Lieblingsthemen: bis an die Zähne bewaffnet wären wir Fidel und Che in der Sierra Maestra gefolgt und hätten die blutrünstigen Hurensöhne von Batistas Armee nicht nur einfach ermordet - wir hätten sie abgeschlachtet und niedergemetzelt. Unsere Gewaltfantasien waren ebenso unausgegoren wie erschreckend. Gleichzeitig empfanden wir füreinander eine zärtliche Zuneigung, die sich in sanften Berührungen und tiefen Blicken äußerte, und nur ganz selten das sichere Terrain jugendlicher Freundschaft verließ, um sich in das Tal aufkeimender, sexueller Unsicherheit zu verirren.
An diesem Montag befasste ich mich mit noch etwas ganz anderem. Obwohl ich die Landschaft kannte und mich in ihr blind, bei Nacht und Nebel zurechtfand, tastete ich sie mit neuem Interesse ab. Ich sah die scharfen, harten Gräser im hellen, grauen Licht des bewölkten Tages, ich sah, wie sie die Luft schnitten, und das Blut der Luft an ihren Halmen herablief, klares Wasser, in dem sich die Farblosigkeit der frühen Nachmittagsstunde spiegelte. Ich sah die Hügel und Senken und bemaß ihre Höhe und Tiefe, ihre Form und Weite mit prüfenden Blicken. Nicht wie ein Soldat, der das Terrain erkundigt, das er bäuchlings durchqueren muss, sondern wie ein Liebhaber, der den Körper, den er erobern möchte, mit Blicken abtastet - zuerst mit Blicken, und später mit heißen, übersensiblen Fingerspitzen - zuletzt mit dem ganzen Körper, weil, so war ich sicher, ab einem gewissen Grad der Erregung alle Sinne im Spüren der Haut zusammenflossen, sich zu einem gewaltigen Strom der Leidenschaft vereinten, Besitz ergriffen, wie ein im Wolkenbruch angeschwollener, reißender Fluss. Als meine Freunde gegangen waren, blieb ich noch eine kurze Weile, dachte an Blut und Hitze, an bewaffnete Männer und bloße Mädchenbrüste, stellte mich ins hüfttiefe Wasser des sanft an mir ziehenden Stroms und drehte mich langsam im Kreis, sah jede einzelne Welle, wie sie kam und verging, registrierte jede Schattierung des Himmels, der sich im Fluss silbern spiegelte, jede Wolke, die verkehrt herum auf dem Wasser glitt. Ich strich mit meinen Fingerspitzen über die Wasseroberfläche und zog meine Spuren, und als ich es satt hatte, ging ich zurück an Land, zog mich an und machte mich auf den Heimweg.
Als ich nach Hause kam, fand ich auf meinem Bett den Packen Papier, und ich tat, was ich schon lange nicht mehr getan hatte: Ich stürmte aus dem Zimmer in den Wohnsalon, wo mein Vater saß und die Zeitung las, während Mutter in der Küche stand und das Abendbrot bereitete. Ich galoppierte wie ein junges Pferd durch den Wohnraum, umarmte ihn stürmisch und küsste ihn auf die Wange. Mehr vielleicht noch als er, und meine sanft aus der Küche lächelnde Mutter, empfand ich tiefste Dankbarkeit dafür, so lieben zu können, in dieser Familie zu sein und nun etwas gefunden zu haben, auf das ich all meine Kraft lenken wollte. Mein Vater sagte, mit roten Wangen und glänzenden Augen: „Aberaber, mein Sohn, ist ja schon gut.“ Und ich sagte: „Ich liebe dich, Vater, ich danke dir!“, und jedes Wort davon war so wahr, dass ich mir dafür mit einem Messer in den Hals stechen ließe.
Ich weiß noch, ich hatte sogar auf dem Kopf eine Gänsehaut, als ich aus dem Haus lief, einen Bogen Papier unter dem Arm, und ohne langsamer zu werden, über Feldwege und Landstraßen im staubigen Licht der Abenddämmerung zur Schule lief. Ich hatte nicht vor, einzubrechen, aber ich hätte es getan, wenn es nötig gewesen wäre. Aber der Schulmeister war da, und er lachte, als er mich um die Ecke stauben sah, ich, außer Atem, verschwitzt, die bloßen Waden staubbedeckt.
„Was willst du?“, grinste er und haute mir mit der flachen Hand auf den Rücken. Er mochte mich und ich mochte ihn. Er erzählte gute Witze, hatte manchmal Zigaretten übrig und teilte auch mal im Schatten seiner Bude ein paar Schlucke Bier. Die Art, wie er mich manchmal ansah, auf meinen Schoß starrte, störte mich nicht. Eigentlich fand ich es sogar recht aufregend, einem Erwachsenen gut zu gefallen. Aber wenn er mich berühren wollte, entzog ich mich ihm, immer nett, kichernd und unverbindlich.
Ich antwortete: „Ich brauche Kohlestifte.“
Er: „Um was zu tun?“
Ich: „Will zeichnen, malen. Ich habe ein Bild im Museum in Havanna gesehen und das war toll, und ich will lernen, wie das geht und hinauslaufen zum Fluss und alle Wellen will ich malen und mich selbst, wie ich bis zu den Hüften im Wasser stehe und alles will ich zeichnen, und wie man perspektisch, ah, per-spek-tivisch zeichnet und Bildern Tiefe gibt und alles ...“
„Ist ja schon gut,rednicht so viel, du erstickst ja noch.“ Er legte seine Hand in meinen Nacken und führte mich mit ein paar Ermahnungen bezüglich der Kohlestifte, die er mir geben wollte, in den Raum, in dem die Lehrer saßen und rauchten, und wo sie ihre Lehrmittelbehelfe aufbewahrten. Es war ein kleiner, dunkler und stickiger Raum, in dem es nach Zigarrenrauch stank, nach altem Holz und Luft, die sich nicht bewegte.
Er hatte gern die Hand in meinem Nacken, und mir kam vor, dass er sie nur widerwillig wegnahm, um die große Lade der schweren Anrichte aufzuziehen, in der die Kohlestifte in länglichen, schwarzen Schachteln schliefen. Ich dachte verrückt: Euch erweck ich zum Leben, ihr Hunde werdet tanzen lernen!, und schlug mir die Hand vor den kichernden Mund. Der Schulmeister nahm eine Handvoll Stifte aus einer Schachtel (als ich später über die Felder zum Fluss lief, zählte ich nach: Es waren sieben Stück), und drückte sie mir in die Hand. Er senkte den Kopf und sah mich über den oberen Rand seiner Brille an: „Malen willst du also lernen? Teufel auch, du kannst ja nicht einmal lang genug ruhig sitzen, um dir die Schuhe zu binden, du Wahnsinniger.“
Wir lachten beide. Dann verabschiedete ich mich flapsig mit einem aus dem Handgelenk geschüttelten Winken und hastete den Staubweg entlang zum Fluss, um die tiefstehenden Sonnenstrahlen zu nutzen, solange es noch ging.
Ich ging am Ufer entlang zu unserer Lichtung, wo Jorge, Solangel und ich völlig rücksichtslos Zeit vertrödelten. Jorge war mein bester Freund, man könnte auch sagen, dass ich ihn liebte. Er machte mich verrückt und ich ihn, er folgte mir auf all meinen verrückten Wegen, kicherte in einer Tour und brannte vielleicht sogar noch heller als ich. Er war ein hübscher Mulatte, etwas dunkler als ich und hatte untypischerweise vollkommen glatte, glänzend schwarze Haare. Solangel, die wir beide nur Sola riefen, stürmte vor einem Jahr in unsere Zweisamkeit. Wir mochten sie auf Anhieb, weil sie burschikos und zugleich auf reizhafte Weise Mädchen war. Sie war wie wir, wild und schnell, sie war frech und konnte wirklich hundsordinär fluchen; damit begeisterte sie uns ganz besonders. Sie stand auf uns. Weder Jorge noch ich hatten mit ihr geschlafen, also gefickt und so, aber sie hatte uns schon ein paar Mal einen runtergeholt. Sie mochte das. Und ich glaube, sie mochte das nicht nur auf eine fürsorglich-kameradschaftliche Art, nein nein, sieleckte sich nachher immer unsere Milch von den Fingern und sah Jorge oder mich, wer auch immer gerade in ihrer Hand gestorben war, an, wie ein Kätzchen, das so richtig verwöhnt worden war. Angefangen hatte dieses nur wenig erotische und dafür reichlich grobmotorische Techtelmechtel ungefähr ein Vierteljahr nachdem wir uns bei einem Schulausflug nach Pinar del Rio besser kennengelernt und angefreundet hatten. Wir hatten alle drei etwas übrig für heimlich gerauchte Zigaretten, schimpften gerne auf die Russen, die immer öfter in den Schulen auftauchten und ihre Sicht der Welt zu unserer machen wollten, wir waren besessen vom Laufen, frei sein und schwimmen und wir waren ständig sexuell unter Strom. Als die anderen Mädchen feststellten, dass Jorge und ich gut aussahen und zögerlich die ersten interessierten Blicke aussandten, griff uns Sola, während wir heimlich im Schatten alter Lorbeerbäume rauchten, besitzergreifend zwischen die Beine und grinste siegessicher, wenn sie spürte, dass wir hart wurden. Uns gefiel das, es war herrlich entspannt und unkompliziert. Lehnten wir bis vor wenige Wochen noch die Anwesenheit von Mädchen rundweg ab, gehörte Sola bald zu uns, als wäre es nie anders gewesen.
Wenn wir auf unserer Lichtung am Strom waren, lagen wir in der Sonne, gingen ab und zu ins Wasser und träumten von unserem zukünftigen Leben. Das war aufregend, weil wir jedes Mal einen anderen Traum vom Leben hatten. Wir wollten zum Militär oder uns einer Guerillaeinheit anschließen, die das Pack von Castro aufrieb - wir waren uns einig, dass die Revolution wichtig gewesen war und alles, aber wir lehnten, ohne es wirklich in Worte fassen zu können, das Ergebnis der Revolution ab. Wir mochten das enge sittliche, moralische und lebenseinengende Konzept nicht, das wie ein Gespenst hinter allem stand, was zurzeit geschah, gesagt und geschrieben wurde.
Für uns war die Revolution eine Geburt, und das Geborene war schlicht monströs.
Heute Abend war ich allein hier. Sola half ihrer Mutter an der Zuckerrohrpresse, die sie ohne Erlaubnis in einem Anbau versteckt betrieb, und Jorge war mit seinen Eltern in Varadero, weil sie dort Häuser ansehen wollten. Jorges Vater war Polizist und hatte in der Partei ein paar sehr dicke Steine im Brett, und man stellte ihm und seiner Familie einen tollen Posten in Varadero in Aussicht, wo man daran dachte, die bereits existierenden Hotels zu Erholungsoasen für Russen, Parteifreunde und brave Bürger umzumodeln. Er hätte dort ein privilegiertes und ruhiges Leben. Mich beunruhigte diese Aussicht, weil ich wirklich in Jorge verliebt war. Schwer zu sagen. Sola lockerte das auf, klar, aber auch wenn wir zu dritt unterwegs waren, ging es eigentlich immer um Jorge undmich. Und ganz ehrlich: in Wirklichkeit gings um mich. Jorge machte, was ich wollte, aber ich war kein Arschloch und nutzte das nicht aus, ich meine, nur ganz selten. Sola stand auf uns, weil wir irgendetwas unanständig Lebendiges verströmten - wir waren in jenen Tagen wirklich ziemlich hysterisch vor lauter Leben und Lust und Wahnsinn. Wir unterschieden uns dadurch ganz erheblich von den anderen Jungs in unserem Alter, die dem Beispiel der Russen folgten und sorgsam antrainierte Starre und Unnachgiebigkeit zu vermitteln suchten. Freudlose Funktionäre, da um zu funktionieren. Ich setzte mich ans Ufer und schautedem Flusslauf Richtung Süden nach. Über dem Ufer gegenüber hing die Sonne fett und rot und schwitzte Flammen, die Büsche und Bäume am ruhigen Ufer brannten lichterloh. Ich zog ein Blatt aus dem Packen. Ich nahm einen Kohlestift. Und dann begann ich zu zeichnen, ohne den Blick von der Landschaft zu nehmen. Ich machte Striche, befeuchtete meinen Zeigefinger und wischte über die Striche, radierte mit dem Nagelbett des kleinen Fingers, tat noch mehr Linien und Kurven und Striche aufs Papier und atmete tief und fest. Ich weiß noch, dass ich mir ständig in fiebriger Erregung die Lippen leckte, als hätte ich irgendeinen Tick, einen Wahn; ich war allein und brauchte mich vor niemanden zu schämen. Als sich die Dämmerung auf die Büsche und Bäume um mich herum niederließ und Vögel lärmend in den dunklen Himmel stiegen, stand ich auf, verharrte noch einen Moment wie versteinert, prall vor Schreck, den mir meine besessene Leidenschaft versetzt hatte, dann packte ich meinen Krempel zusammen und hastete nach Hause. Und erst dort, auf meinem Zimmer, im Schein der nackten Glühbirne,wagte ich einen Blick auf die Zeichnung, die ich angefertigt hatte, ohne hinzusehen.
Ich starrte das Bild an, ohne zu blinzeln und wagte nicht zu atmen. Es war mehr drauf, als ich mir erträumte, denn es war mehr als die unbeholfenen Striche, Linien und Fingerwische eines Jungen, der dem Wahn verfallen war, malen zu können. Es war eine Uferlandschaft, hingeworfen auf Papier, unglaublich entspannt und friedlich. Ich hatte zu viele Vögel in den Himmel gemalt, und die Perspektive des Stroms passte auch nicht genau, dafür waren die Lorbeerbüsche und Flamboyants, der Affenbrotbaum und die drei Königspalmen am anderen Ufer gut getroffen. Fand ich jedenfalls. Es war zu dunkel geraten, und das Schwarzsilber des Bildes traf nicht das Abbild, das ich von der Flusslandschaft im Kopf hatte. Es war mehr eine lässige Skizze als ein gewissenhaftes Gemälde, aber es zeigte mir eindeutig, dass ich meine Hand bewegen konnte und in der Lage war, mich lange genug auf etwas zu konzentrieren. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der seinen ersten Salto vom Ufer ins Wasser versucht, nach dem Sprung auftaucht und weiß, dass es ihm an Eleganz und Übung fehlt, dass dies aber nicht außer Reichweite war. Ich hatte mich so gefühlt, als ich das erste Mal einen Salto versuchte: Er war nicht toll und nicht schön und ich konnte damit niemand beeindrucken, aber ich wusste, dass ich es in mir hatte, irgendwann einmal wirklich tolle Saltos zu springen. Inzwischen brauchte ich kein Wasser mehr, um Saltos zu springen, ich machte das einfach beim Spazierengehen aus dem Stand.
Eine halbe Stunde später saß ich gewaschen am Tisch und aß Brot und Käse und Tomaten mit Salz. Ich trank Wasser zum Abendessen, meineEltern tranken Wein.
Mein Vater fragte, ob es denn etwas würde, aus dieser Sache mit dem Zeichnen. Ich kaute und nickte, bis ich alles runtergeschluckt hatte, und sagte dann: „Ja. Es ist noch nicht toll, aber es wird ganz fantastisch!“
Sie lachten beide. Es war kein böses Lachen, so wie es manche Leute tun, wenn sie jemanden in seine eigene Hoffnung fallen sehen, aber es war ein deutliches Zeichen, dass sie mich nicht furchtbar ernst nahmen, mit der Sache. Gut, dachte ich, gut gut. Ich lächelte fröhlich zurück, biss vom Käse ab und war froh, dass wir privilegiert waren. Das wusste ich sowieso zu schätzen. Ich verstand nicht, warum es so war, aber die Früchte hingen nun mal tief und ich griff selbstverständlich zu.
Eine Woche später kam meine Mutter zu mir nach draußen auf den Hof vor unserem Haus. Sie setzte sich neben mich und sah mir eine Weile zu, wie ich mit den Kohlestiften hantierte, den Finger befeuchtete und wischte. Ich malte den feuerroten Flamboyant, in dessen Schatten zwei Tische und ein paar alte Lehnstühle standen. Sie sagte leise und ohne besondere Betonung: „Du bist gut. Und du wirst mit jedem Bild besser. Ich glaube, was dir fehlt, ist Farbe. Die ganze Welt ist in Farbe, und da dachte ich ...“
Sie zog einen Malkasten aus Blech unter ihrer Schürze hervor und hielt ihn mir hin. Ich glaube, ich war fast dran, loszuheulen. Jedenfalls brannten meine Augen und Mama sah mich so glücklich an, dass ich den Kohlestift fallen ließ, den Malkasten nahm und sie umarmte.
Das erste Bild, das ich mit den Wasserfarben malte, zeigte unser Haus im Morgenlicht. Ich malte es um kurz vor fünf Uhr früh an einem Mittwoch. Die Sonne stand hinter dem Haus, brachte die Fenster zum Leuchten, weil im Inneren die Zimmertüren offenstanden. Das Haus und die Bäume waren vom rosafarbenen Licht des Morgens scharf umrissen. Ich stand mit dem Rücken zu den Nachbarhäusern über den Tisch gebeugt, den ich unter dem Flamboyant hervorgeholt hatte, undmalte. Ich mischte die Farben, drehte den Pinsel in einem alten Wasserglas, das mir Mama geschenkt hatte, ich hörte das Schreien der Vogelschwärme, die nach Westen flogen, das sanfteste Silbersingen der Gräser im Morgenwind, ich hörte einen Hund bellen. Das war Pinga, der alte Mischling, um den sich jeder hier kümmerte, und der durch unser Dorf trottete, als wäre er der Bürgermeister. Ich wollte alles malen, den perfekten Strich ziehen, in der perfekten Farbe. Ich wollte dem Bild Licht und Tiefe geben, ich wollte alle Gerüche und Geräusche hineinmalen, sogar meine Erinnerungen an alles, was mit dem Haus zu tunhatte. Die Geborgenheit, die es mir vermittelte, die Angst, die ich in manchen Nächten davor hatte, wenn der Wind über das Dach wieselte und alles knarrte und das Haus Geräusche machte, die ich nicht kannte, mein Hass auf die Tür, die mich mein Vater zwang anzustarren, während er mich mit dem Gürtel verdrosch, weil ich Geld aus seiner Börse gestohlen hatte, das Gefühl, im Zentrum des Lebens zu sein, dort, wo alles ist, was Bedeutung und Gewicht hat, all das und noch viel mehr wollte ich in das Bild hineinpacken, aber ich wusste nicht, wie. Mir wurde beim Malen bewusst, dass ich beim Anblick der Gebäudefront mehr als nur das Jetzt sah. Ich sah, was sich im Moment ereignete, ein fallendes Blatt, ein gemächlich summendes Insekt, wie sich das Licht der aufsteigenden Sonne hinter dem Haus änderte, und ich sah, was schon lange vergangen, hörte, was in der Zeit zurückgeblieben war. Jorge und ich in meinem Zimmer, brüllend vor Lachen, weil wir nicht mehr aufhören konnten, uns irgendwelchen Unsinn auszudenken, Mama, die ruhig neben mir saß und mich aufklärte, mich dazu ermunterte, mich zu erforschen - ich spürte noch die Hitze auf meinen dunklen Wangen, als sie das sagte, und ich spürte den Trost und die Freude, weil sie mir ihr Erwachsenenwissen nicht aufdrängte, sondern nur anbot. Die allerleisesten Echos der Gespräche mit meinem Vater über die Felder rings um, wenn wir auf dem Rücken der Pferde dahinritten, über die Jahreszeiten Kubas, die Untaten Batistas und die goldene Zukunft, die uns Fidel Castro vor die Füße gelegt hatte. Ich urteilte anders über die Revolution und das, was sie uns bringen mochte, aber auch die Stille der nichtgesagten Worte gehörte zu dem, an was ich mich erinnerte, während ich mein Elternhaus malte. Irgendwann stellte ich fest, dass ich weinte. Ich weinte Rotz und Wasser, schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte und wusste zuerst nicht, wieso. Ich war nahe am Wasser gebaut, und das lag nicht daran, dass ich eine Heulsuse war, sondern daran, dass ich all meinen Gefühlen gleich viel Raum gab. Ich lebte Gier aus und Zorn, Hass und Eifersucht, aber auch, so gut es mein stets losgaloppierendes Herz ermöglichte, Großzügigkeit und Freundschaft, Leidenschaft fürs Leben, die Körper, den Regen und die Sonne, den Lufthauch um mich, die Liebe und das Glück. Jetzt, als ich am Tisch stand und das Bild vom Haus malte, weinte ich vor Glück, weil mir bewusst wurde, dass ich nicht in der Lage war, all das, was ich fühlte und woran ich mich erinnerte, in das Bild zu stecken; noch nicht. Ich ahnte, dass ich es eines Tages vielleicht kann. Dann werden Menschen meine Bilder ansehen und von einer unstillbaren Sehnsucht gepackt werden, in das Bild zu gehen, um in und bei mir zu sein.
Auf einmal stand Mama neben mir, legte mir den Arm um die Hüfte und schaute mit mir auf das Bild. Ich wischte mir die Tränen mit demHandrücken vom Gesicht, als sie sagte: „Das letzte Mal, als ich das Haus so sah, zogen wir gerade ein. Vor siebzehn Jahren war das. Und ich war die glücklichste Frau der Welt. Naja, also zumindest von Kuba. Ich liebte deinen Vater vom ersten Tag an, als ich ihn sah, aber meine Liebe wurde noch größer, als er dieses Haus für uns besorgte und wir hierherzogen, aus Matanzas weg, hierher aufs Land, nach Cidra.“
Sie küsste mich auf die Wange und ich sah sie überrascht an, weil sie das schon lange nicht mehr getan hatte. Sie entließ mich aus ihrer
Umarmung und ging um den Tisch herum aufs Haus zu. Auf
halben Weg blieb sie stehen, drehte sich um und sagte leise und nachdenklich: „Es ist nicht nur Talent, was du hast, Alejo. Was wirst du erst malen können, wenn man dir die nötigen Techniken beibringt?“
Ich stand hölzern vor dem Tisch mit dem Bild unseres Hauses, sah ihr nach, wie sie ins Haus ging, und sich ihren Angelegenheiten widmete. Ich dachte an den vorigen Sommer, als ein Junge aus der Nachbarortschaft Guanabana in Cidra auf Besuch war und uns beim Fußballspielen zusah. Ich merkte sehr bald, dass er vor allem mir zusah. Irgendwann in einer Spielpause lief ich zu ihm, wischte mir den Schweiß von der Stirn und prustete, fragte: „Ist irgendwas?“
Er war nervös und sagte mit heller Stimme, die ich seinem massigen Körper nicht zugetraut hätte: „Du läufst so gut, ich meine, besser als alle anderen.“
Das Kompliment verstörte mich etwas, schmeichelte aber auch meiner Eitelkeit. Ich antwortete herablassend: „Kein Wunder, ich tu’s ja auch jeden Tag.“
Training. Das war’s - aber nicht nur. Wir hatten einen ausgezeichneten Sportlehrer, bis er sich aus dem Staub machte, bevor man ihm aus seiner verstockten Treue zum Batista-Regime einen Strick drehen konnte. Er hatte uns beigebracht, wie man laufen musste, wie man atmete, er erklärte uns die unterschiedlichen Bewegungsabläufe von Gehen und Rennen.
Zu der Zeit, als unser Sportlehrer verschwand, lernte ich zweierlei: InZeiten großer Änderungen konnte man einem Menschen leicht erheblichen Schaden zufügen, indem man ihm Nähe zu diesem oder jenem nachsagte, je nachdem, zu wem die unterstellte Nähe größeren Schaden anzurichten vermochte. Und ich lernte, dass das Beherrschen einer Fertigkeit nicht allein auf jugendlichem Willen beruhte, sondern Technik und Training verlangte. Mit Training konnte ich mich arrangieren, vor allem, wenn es körperlicher Natur war. Ich war süchtig nach Bewegung, nach Rennen, Schwimmen und völlig idiotischen Grenzerfahrungen. Aber Technik? Das knabberte an mir und meiner Arroganz. Technik war einem nicht gegeben, so wie mir beispielsweise ein Körperzum Rennen gegeben war. Technik musste man lernen. Und lernen war einfach Scheiße. Andererseits: wenn mir Yemoya, die Orisha, zu der ich mich hingezogen fühle, weil sie die Menschenmutter ist, weil sie die Göttin des Wassers ist, einen Körper gegeben hat, der wie geschaffen ist, zu rennen, vielleicht hat sie mir dann auch das Übermaß an Leidenschaft zum Malen gegeben, die aus der Pflicht, die Technik zu lernen, eine Facette meiner ungezügelten Leidenschaft macht?
Ich verließ mein Elternhaus und lernte malen. Zwei Jahre lang war ich ständig unterwegs, um mir Sonne und Hitze, Regen und Sturm entgegenwerfen zu lassen. Ich stemmte mich gegen wütende Wellen und badete in sanften Flüssen, brüllte den Donner an und zog herum. Ich entkam dem Militärdienst mit knapper Not und einigem an Überzeugungskraft meines Vaters. Ich ging auf die Universität und ließ mich für Arbeitseinsätze nach Pinar del Rio zu den Tabakfeldern einteilen, weil ich dort durchs Tal Vinales wandern wollte, um die Berge zu zeichnen. Ich fand Freunde unterwegs, mit denen ich trank und lachte, Karten spielte und von Zeit zu Zeit das Bett teilte, und stets war in mir die Unruhe eines Getriebenen. Überall, wo ich hinkam, hielt ich Ausschau nach Gemälden und Fotos. Ich studierte sie, fütterte meine Überheblichkeit und spürte zugleich, dass ich mir selbst damit keinen Dienst erwies. Ich zog von Haus zu Haus, warb Söhne und Töchter für den Einsatz auf den Tabakfeldern und wurde sooft, dass es mir peinlich wurde, eingeladen zu bleiben, mich zu erfrischen, zu essen. Und wieder betrachtete ich die Bilder in fremden Häusern und Wohnungen, in Gaststätten und staubigen Magazinen. In dieser Zeit begriff ich sehr verschwommen, was den Unterschied machte zwischen einem guten und einem schlechten Gemälde. Es war nicht das Motiv und auch nicht die im Bild innewohnende Moral oder Gesinnung, sondern die Wahrhaftigkeit, mit der der Maler zum Ausdruck brachte, was er sah. Ich fand Gemälde von Blumen, die für mich eindringlicher und echter waren, als großformatige Ölbilder von Schiffen in donnernden Gewittern. Viele Kunstdrucke strahlten einen groben Charme aus, der mich lächeln ließ, andere Gemälde zwangen mich, stillzustehen und zu atmen.
Im August 1963 reiste ich mit einer Sondererlaubnis nach Santiago de Cuba und von dort für vier Wochen nach Granma und weiter nach Guantanamo, wo ich auf dem Dachboden einer Gastfamilie, die sich freundlich um mich sorgte, ein Bild fand, das mich zum Weinen brachte. Ich war nicht traurig, nein, ich war dankbar, vor einem solchen Bild in Tränen ausbrechen zu können. Ich entdeckte das Gemälde an einem Am frühen Freitagabend, als ich dem Hausherrn half, Gartenmöbel auf den Dachboden zu bringen. Wir duzten uns seit diesem Tag, weil wir gemeinsam gearbeitet, Bier getrunken und gelacht hatten. Ich arbeitete gerne körperlich, weil es mich erschöpfte und mir das Gefühl gab, mit den Dingen verbunden zu sein - egal, um was es sich handelte. Wir betraten den heißen, staubigen und dunklen Dachboden und der Hausherr, Felipe Rosario Pereira war sein Name, öffnete die Dachluke, um Luft hereinzulassen. Es war kurz vor einem Sturm, die Stille der letzten paar Stunden war bedrohlich und anregend für mich, Felipe sagte, erwürde hinuntergehen und weitere Sessel nach oben bringen, ich solle doch bitte schon mal anfangen, die Möbel an der Wand hinten rechts aufzustapeln. Ich deutete mit dem Kinn auf den Bilderrahmen, der dort mit einem Leintuch verhängt an der Wand lehnte: „Und das da?“
„Stell’s weg, hau’s weg, was weiß ich. Ich weiß gar nicht mehr, was das ist und wem’s gehört ...“
Er polterte die Treppe hinunter, ebenso wie ich, vom Rum und der Stille vor dem Donnerwetter in eine konfuse Weltuntergangsstimmung versetzt, und ich stieg über die Dachsparren zu der leeren Fläche rechts, blieb kurz vor dem verhüllten Rahmen stehen, dann zog ich das Leintuch weg und hockte mich hin. Das schmutzig gelbe Tuch rutschte zu Boden und wirbelte Staub auf, ich hustete und dachte an einen Schluck Rum. Mein Blick schärfte sich und ich sah vor mir ein etwa achtzig Zentimeter breites und sechzig Zentimeter hohes Gemälde. Es zeigte im Vordergrund eine sehr junge Ballerina, die mit dem Rücken, seitlich zum Betrachter auf dem Boden saß und sich den rechten Ballettschuh anzog. Ihr Kopf war in den Nacken gelegt, so als würde sie träumen, in Gedanken noch einmal die Schrittabfolgen durchgehen, oder an jemand denken. Weiter hinten stand ein etwa fünfzehnjähriger Balletteleve, hielt sich mit einer Hand an der Kante einer Dekorationswand in Balance, während er das rechte Bein gestreckt hob und in einem fast unmöglichen Winkel hielt. Sein Blick war auf das sitzende Mädchen gerichtet. Die beiden Personen wurden von einem nicht im Bild befindlichen Scheinwerfer beleuchtet, der das Haar des Mädchens golden und silbern brennen ließ, und der die flache, agile Muskulatur des Eleven in weichen Schatten zur Geltung brachte. Hinter ihm sah man geraffte Vorhänge und Seile, auf der Hinterbühne gelagerte Dekorationsteile.
Von dem Bild ging ein zutiefst berührender Anspruch auf Wirk