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Der Literaturkritiker Uwe Wittstock zeichnet die öffentlichen und juristischen Vorgänge um das Verbot des Romans "Esra" von Maxim Biller nach, die in einer historischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2007 gipfelten. Darüber hinaus analysiert der Autor die bedrohlichen Auswirkungen des Verbots für die Freiheit der Literatur in der Bundesrepublik Deutschland.Das eBook kann bei Bedarf auch als "print on demand" ausgeliefert werden.
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2011
Inhalt
CoverTitelVon dem Unsinn, Romane vor Gericht zu stellenDas Buch hinter dem VerbotErste Runde: Landgericht MünchenZweite und dritte Runde: Oberlandesgericht und BundesgerichtshofVierte Runde: BundesverfassungsgerichtNoch einmal Bundesgerichtshof und die GeldentschädigungsklageResümee: Aus dem Leben Literatur machenNachbemerkungANHANGMaxim Biller – Stellungnahme zu dem Prozeß um »Esra« vom 21.3.03Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007Abweichende Meinung der Richterin Hohmann-Dennhardt und des Richters Gaier zum Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007Abweichende Meinung des Richters Hoffmann-Riem zum Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007BuchAutorImpressum[Menü]
Der Roman Esra hat Rechtsgeschichte geschrieben. Diese Feststellung gilt unabhängig von literarischen Vorlieben oder Abneigungen. Ob einem das Buch ge- oder mißfällt, spielt in diesem Zusammenhang ebensowenig eine Rolle wie die Frage, ob man den Schriftsteller Maxim Biller schätzt oder nicht. Esra ist, nach Klaus Manns Mephisto, der zweite Roman in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, der zum Gegenstand einer höchstrichterlichen Abwägung zwischen der grundgesetzlich zugesicherten Kunstfreiheit und dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrecht wurde. Dabei sind die Spielräume und Grenzen dessen neu definiert worden, was der Literatur hierzulande erlaubt und was ihr verboten ist. Auch wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts knapp ausfiel und sie keineswegs alle Kritiker überzeugen konnte, gehört sie seither zu den festen Orientierungsgrößen der deutschen Rechtsprechung. Und sie wird es auf unabsehbare Zeit bleiben.
Um in einem Punkt gleich Klarheit zu schaffen: Auch der Autor dieses Buches hat zum Fall Esra seine Ansichten. Ich zähle mich zu den Gegnern der Entscheidung des Verfassungsgerichtes, denn in meinen Augen schränkt sie die Rechte der Literatur in unzulässiger Weise ein. Diese Überzeugung soll im Folgenden weder verschwiegen noch verleugnet werden. Objektivität ist in den hier verhandelten Angelegenheiten ohnehin nicht zu haben, weder bei der Beurteilung von Literatur noch bei der Bewertung von Rechtspositionen. Doch Meinungen und Gegenmeinungen zum Fall Esra gibt es im Überfluß, sie sind letztlich von eingeschränkter Bedeutung – zumal nachdem das Verfahren abgeschlossen ist. Viel wichtiger sind die Auswirkungen der neuen Rechtslage, die durch das Verfassungsgericht geschaffen wurde.
Folglich versteht sich dieser Essay zur Affäre um Esra nicht als ein nachgereichter Einspruch gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Es geht vielmehr darum, das Verfahren gegen den Roman in den Grundzügen offenzulegen und seine Folgen für die deutsche Literatur der Gegenwart anzuzeigen. Es ist ausdrücklich nicht beabsichtigt, die immer etwas mühselige und rechthaberische Form der Urteilsschelte auf den Umfang eines Buches auszudehnen. Vielmehr möchte ich einen in vielfacher Hinsicht lehrreichen Literaturstreit nachzeichnen, der im Gegensatz zu den gelegentlichen Debatten über ästhetische Fragen zu einem definitiven Ergebnis kam – zu einem Ergebnis, das für alle Schriftsteller im Geltungsbereich deutscher Gesetze verbindlich ist, sobald sie mit ihrer Arbeit in Konkurrenz zum Persönlichkeitsschutz geraten.
Diese Konkurrenz sollte in ihren Konsequenzen nicht unterschätzt werden. Esra ist kein Einzelfall. Im Jahr 2003, in dem Maxim Billers Roman erschien, verbot das Berliner Landgericht den Roman Meere von Alban Nicolai Herbst – ebenfalls wegen Verletzung des Persönlichkeitsschutzes. Dazu wurden aus den gleichen Gründen Klagen gegen die Romane Liebeserklärung von Michael Lentz und Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein zumindest erwogen. Gstrein reagierte 2004 auf die Vorwürfe gegen sein Buch mit dem Essay Wem gehört eine Geschichte? Darin verteidigt er das Recht des Schriftstellers, sich in seinen Fiktionen durch reale existierende Figuren und deren Biographie anregen zu lassen, und er verwahrt sich gegen den Begriff »Schlüsselroman«, da die so bezeichneten Bücher oft genug »keine sind und erst durch die vermeintliche Entschlüsselung dazu werden.«Hinweis Eine Überlegung, die auch bei den Diskussionen um Billers Esraeine zentrale Rolle spielen muß: Inwieweit hat die Klage gegen den Roman die Wahrnehmung des Romans unwiederbringlich verschoben und damit überhaupt erst die Grundlage für den Erfolg der Klage geschaffen?
Heute, vier Jahre nach dem Esra – Urteil des Bundesverfassungsgerichts, beginnt sich abzuzeichnen, wie sehr diese Entscheidung die Situation der Schriftsteller hierzulande verändert hat. Allein im Jahr 2011 wurde gegen drei deutsche Romane der Vorwurf angeblicher Verletzungen des Persönlichkeitsrechts erhoben, nämlich gegen Last Exit Volksdorf von Tina Uebel, Christoph Maria Herbsts Ein Traum von einem Schiff und Das Da-Da-Da-Sein von Maik Brüggemeyer. Wie immer man zur literarischen Qualität dieser sehr unterschiedlichen Bücher steht – schon die Häufung der Fälle belegt, in welchem Maße die Bereitschaft von Privatpersonen zugenommen hat, gegen literarische Werke vorzugehen. Daneben aber wird eine weitere für die Rechte der Literatur bedenkliche Entwicklung erkennbar: Nur der Scherz Verlag, in dem der Roman von Christoph Maria Herbst erschien, stellte sich schützend vor das Buch, brachte es mit Schwärzungen wieder auf den Markt und scheute vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung um seine Freigabe in der ursprünglichen Fassung nicht zurück. Die beiden anderen Bücher wurden von den Verlagen zurückgezogen, durch die Autoren überarbeitet und dann in einer Form wieder vorgelegt, die den Wünschen ihrer juristischen Gegenspieler weitgehend entsprach.
Mit anderen Worten: In diesen beiden Fällen brauchten gerichtliche Schritte gegen die Romane nur angedroht, aber nicht verwirklicht zu werden. Ob sie tatsächlich die Literaturfreiheit überdehnt und Persönlichkeitsrechte tangiert haben, ist nie von Richtern geprüft oder gar festgestellt worden. Es reichte aus, eine mögliche Klage in Aussicht zu stellen, um Verlag und Autoren einzuschüchtern und zu einschneidenden Veränderungen der angegriffenen Bücher zu bewegen. Die Gründe dafür lassen sich naturgemäß nur im Einzelfall klären. Bemerkenswert ist allerdings, wie viele Verlage von ihren Autoren bei Vertragsabschluß die Zusicherung verlangen, daß ihr Buch keine Persönlichkeitsrechte verletzt bzw. die entsprechende Vertragsklausel seit dem Esra – Urteil präzisiert und verschärft haben. Mit dieser Klausel verlagert sich das Prozeßrisiko letztlich auf die Schriftsteller. Denn sollte tatsächlich irgendwann gegen das Buch geklagt werden und die Richter dem Kläger schließlich recht geben, hätte der Autor die Bedingungen seines Vertrages nicht erfüllt und der Verlag damit eine Handhabe, ihn für entstandene Rechtskosten zur Verantwortung zu ziehen.
Überhaupt: die Kosten. In den hochgemuten Debatten um Literaturfreiheit einerseits und Persönlichkeitsschutz andererseits wird dieser elementare Punkt viel zu oft übergangen: Verlage haben nur selten die finanziellen Mittel, einen Rechtsstreit über den ganzen windungsreichen Instanzenweg hinweg durchzufechten. Selbst für große Verlage ist ein solcher Prozeß, schon weil er in erheblichem Maße Arbeitskraft bindet, eine beträchtliche Belastung. Mit großer Sicherheit aber ist der Schriftsteller, dem durch die gegenwärtig üblichen Verlagsverträge die juristische Hauptverantwortung zufällt, das wirtschaftlich schwächste Glied in der Kette. Kein Wunder also, wenn die Bereitschaft unter Autoren wächst, im Zweifelsfall sorgsam erwogene ästhetische Intentionen zurückzustellen und ein Buch umgehend zu entschärfen, sobald es angegriffen wird. Was das für die Freiheit einer Literatur bedeutet, die eine ihrer Hauptaufgaben darin sieht, Gegenwartsphänomene und – charaktere in zugespitzter Form zu beschreiben, liegt auf der Hand.
Aber selbst wenn Verlage nicht gleich juristischen Drohungen nachgeben und für die ihnen anvertrauten Bücher vor Gericht ziehen, sind sie häufig genug außerstande, den Kampf nach dem ersten, oft genug zweifelhaften Urteil fortzusetzen. Das Verbot gegen den Roman Meere von Alban Nicolai Herbst zum Beispiel wurde nie höchstrichterlich überprüft, und nur weil der Autor sich mit der Klägerin privat einigte, konnte das Buch Jahre später – ebenfalls in veränderter Form – wieder erscheinen. Einige weitere Literaturprozesse, die länger zurückliegen, werden in den folgenden Kapitel kurz beschrieben.
Um so wichtiger war der Fall Esra. Das Verfahren ging sowohl in der Frage des Buchverbots wie in der Frage nach einer Geldentschädigung für die Klägerinnen durch alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshof und zwang schließlich die Verfassungsrichter zu einer klärenden Entscheidung. Sie konnten sich zwar nicht zur Freigabe des Romans durchringen, ließen aber nur die Ansprüche einer der beiden Klägerinnen gegen Esra gelten und wiesen die Klage der zweiten zurück. Wodurch die Richter nicht nur genauer definierten, was ihrer Ansicht nach der Literatur nunmehr verboten, sondern auch was der Literatur erlaubt sein soll und welche Rechte ihr von Klägern schwerlich bestritten werden können.
Damit wurde ein Terrain vermessen und neu abgesteckt, das für die Literatur mittlerweile von erheblicher Bedeutung ist. Denn seit die politische Zensur hierzulande praktisch keine Rolle mehr spielt und Kunstwerke auch wegen angeblicher Blasphemie oder Pornografie kaum mehr mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, ist es in erster Linie das Persönlichkeitsrecht, das Entfaltungsmöglichkeiten der Kunst auf juristischem Wege beschneidet. Kommt hinzu, daß die deutsche Rechtsprechung den Persönlichkeitsschutz in den vergangenen Jahrzehnten massiv ausgebaut hat. Sie reagiert damit auf die wachsende Verbreitung und Zudringlichkeit mancher Medien, die vom Paparazzo-Journalismus bis hin zum Reality-TV zuvor ungeahnte Formen öffentlicher Bloßstellungen ausgeformt haben. Die Richter verfolgen dabei die verdienstvolle Absicht, die Privat- und Intimsphäre des einzelnen gegen denunziatorische Übergriffe oder kommerzielle Ausbeutung zu verteidigen. Die Zahl der Klagen von Privatpersonen, die sich gegen ihren Willen öffentlicher Neugier ausgeliefert sehen, nimmt entsprechend zu.
Allerdings richten sich diese Verfahren eben nicht allein gegen journalistische Medien, die ihrem Wesen nach der Berichterstattung über Fakten verpflichtet sind, sondern auch gegen Werke der Literatur, gegen Theaterstücke oder Spielfilme, also gegen Medien, die Fiktionen entwerfen und denen das Grundgesetz in Artikel 5, Absatz 3 zusichert, von allen rechtlichen Einschränkung frei zu sein. Die einzigen Grenzen, die diese Freiheit der Kunst findet, werden ihr durch die anderen Grundrechte gesetzt. Da sich der Schutz der Persönlichkeitsrechte ebenfalls aus dem Grundgesetz ableitet, nämlich aus Artikel 1, Absatz 1, der die Würde der Persönlichkeit für unantastbar erklärt, in Verbindung mit Artikel 2, Absatz 1, der jedem das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zuspricht, kann der Kunst und ihren Fiktionen der Prozeß gemacht werden. Ob und inwieweit reale Personen zu Recht behaupten können, sich in fiktiven Figuren wiederzuerkennen, ob und inwieweit Schriftsteller das Recht haben, reale Personen in ihren Fiktionen wiedererkennbar zu schildern, ob und inwieweit es möglich ist, mit der Schilderung einer fiktiven Figur die Rechte einer realen Person zu verletzten – all dies wird daraufhin Gegenstand juristischer Argumentation. Im Verfahren gegen Maxim Billers Roman sind diese Fragen von den Richtern und den beteiligten Parteien mit großer Entschiedenheit und sehr grundsätzlich diskutiert worden. Das macht den Fall auch über den Roman Esra hinaus so instruktiv.
Der Fall wird hier nicht einer systematischen rechtswissenschaftlichen Analyse unterzogen, das bleibt Aufgabe einer juristischen Fachdebatte. Dieser Essay möchte die Affäre vielmehr als ein Kapitel der jüngsten Literaturgeschichte mitsamt ihren publizistischen Weiterungen und Folgen für die Arbeit der Schriftsteller schildern.
Ein Gerichtssaal ist ein denkbar ungünstiger Ort, um Klarheit über beabsichtigte, vermutete, mögliche, unterstellte oder angeblich beweisbare Aussagen von Kunstwerken zu gewinnen. Die Terminologie der Juristen zählt nicht zu den hilfreichen Instrumenten, will man dem vertrackten Verhältnis zwischen Realität und Fiktion gerecht werden. Aber all das ändert nichts an der Rechtslage. Die Möglichkeit zu Prozessen dieser Art besteht und folglich wird sie genutzt, zumal in jüngster Zeit. Obwohl ein Rechtsstreit offenkundig ein wenig geeignetes Mittel ist für den Umgang mit Literatur oder Kunst. Obwohl die Unwägbarkeiten eines solchen Konflikts für beide Seiten hoch sind. Obwohl durch eine Klage erst recht in die Öffentlichkeit gebracht wird, was der Klagende den Augen der Öffentlichkeit entziehen will und seine Aussichten auf einen zweckdienlichen Ausgang des Verfahrens schon deshalb minimal sind. Das Beste, zu dem dieses Buch beitragen könnte, wäre also, das Empfinden dafür zu stärken, wie unangemessen und letztlich widersinnig alle Versuche sind, Fiktionen aus der Welt schaffen zu wollen, indem man sie vor Gericht stellt.
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Maxim Billers Roman Esra ist verboten, aber keine Geheimsache. Wer will, kann sich das Buch ohne unzumutbar großen Aufwand verschaffen. Welche Vorschriften hierzulande auch immer für den Umgang mit verbotenen Büchern in öffentlichen Bibliotheken gelten mögen – mir hat man noch jedes Mal, wenn ich mich der kleinen Anstrengung unterzog, einen Ausleihzettel auszufüllen, ein Exemplar von Esra überreicht. Hilfreich sind auch die üblichen Suchmaschinen im Internet: Tippt man Autorennamen und Titel ein, hat man schnell entsprechende antiquarische Angebote auf dem Schirm. Allerdings hängen die Verkäufer extravaganten Preisvorstellungen nach. Die Richter haben Esra mit ihren Urteilen nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern zur kostspieligen Handelsware gemacht, zum buchhändlerischen Spekulationsobjekt. Daneben gibt es im Netz natürlich auch obskure und illegale Download-Offerten, doch auf die sollte wohl besser nur derjenige zurückgreifen, der keine Furcht vor Computer-Viren hat.
Schwierig wird es erst, sobald das Buch vor einem liegt. Nur wer nie von dem Fall Esra gehört hätte, könnte Esra auch heute noch unbefangen lesen. Bei jedem anderen schiebt sich die Behauptung, der Roman sei gar kein Roman, sondern ein autobiographischer Bericht, wie ein merkwürdiger Filter vor die Augen. Man sieht, sobald man das Buch aufschlägt, nicht mehr literarische Figuren vor sich, nicht mehr den Schriftsteller Adam, seine Freundin Esra und deren Mutter Lale, sondern einen nur notdürftig maskierten Maxim Biller, eingerahmt von jenen zwei Klägerinnen, die den Roman gut sechseinhalb Jahre lang mit allen verfügbaren juristischen Mitteln bekämpften. Man macht sich kaum noch Gedanken darüber, ob die hier erzählte Geschichte eines in Deutschland lebenden Paares sehr unterschiedlicher Herkunft – er ist Jude und in Osteuropa geboren, sie hat türkische Wurzeln – unseren Blick auf die Welt schärft und bereichert, wie das Literatur im Idealfall tun kann. Sondern man wird beherrscht von der Frage, bis zu welchem Grad die Helden des Buches realen Personen ähneln oder bis zu welchem Grad sie ihnen ähneln dürfen.
In dieser Situation möchte ich auf eine Passage aus meiner Rezension zu Esra zurückgreifen, die am 1. März 2003 in der Welt erschien. Das wirkt zwar wie eitle Selbstbespiegelung, doch im Dienst der guten Sache bin ich bereit, mich derart finsteren Verdächtigungen auszusetzen. Denn als ich den Artikel im Februar 2003 schrieb, gab es noch kein Buchverbot, und ich kam keine Sekunde auf die Idee, hinter den Romanhelden irgendwelche realen Personen ausmachen zu wollen. Als weitgehend unbefangener Leser, der definitiv nicht zu den Freunden oder publizistischen Verteidigern Maxim Billers gehörteHinweis, weckte das Buch bei mir nicht den Wunsch herauszufinden, ob dem Autor irgendwelche Zeitgenossen für seine Figuren Modell gestanden haben könnten. Ich borge mir von der alten Rezension also für einen Moment den damals noch von allen rechtlichen Überlegungen unbelasteten Blick auf das Buch, um in Erinnerung zu rufen, wie er als Roman und nicht als corpus delicti auf einen Leser wirken konnte. In der Rezension hieß es:
»Esra gehört zu den Frauen, in die man sich besser nicht verlieben sollte. Ihre Mutter ist herrschsüchtig wie Stalin, ihr Ex-Mann ein Kontroll-Freak und allgegenwärtig, ihre Karriere als Schauspielerin bereits frühzeitig verpfuscht und ihre kleine Tochter möglicherweise todkrank. Jeder einzelne dieser Schicksalsschläge kann einem Menschen die seelische Balance rauben. Alle vier zusammen haben Esra in ein Gefühlschaos ohnegleichen gestürzt. Das Zusammenleben mit ihr kann man nicht mehr als schwierig bezeichnen, es ist ein permanentes emotionales Katastrophenmanagement.
Auch wer sich in Adam verliebt, braucht eine Menge Mut. Adam hat eine Tochter, die er abgöttisch liebt, mit einer Frau, die, seit sie von ihm schwanger wurde, einen anderen Mann liebt. Adam ist zudem Schriftsteller, und ihn egozentrisch zu nennen wäre eine handfeste Untertreibung. Jenseits der eigenen Person und der eigenen Arbeit gibt es nur ein einziges Thema, für das er sich zuverlässig interessiert: Seine herablassende Abgrenzung der Umwelt gegenüber. Doch da er fast alle anderen Menschen verachtet, erwartet er nach einem tiefsitzenden Mechanismus ausgleichender psychologischer Gerechtigkeit, von diesen anderen Menschen ebenfalls verachtet und bekämpft zu werden. So hat er eine fabelhafte Paranoia herausgebildet, die ihn, wohin er auch blickt, immer nur Feinde entdecken läßt.
Adam und Esra sind also nicht eben das, was man sich unter einem Traumpaar vorstellt. Aber dennoch, oder besser: gerade deshalb sind sie exzellente Romanhelden. An diesen vom Schicksal schwer geschlagenen Figuren kann Maxim Biller deutlicher und mit leichterer Hand vorführen, was ihm mit zwei Durchschnitts-Charakteren nicht oder nur schwerlich hätte gelingen können: Wie zwei Liebende bis an den Rand ihrer Kräfte und ihrer Selbstaufgabe umeinander kämpfen und sich schließlich doch verlieren. Die Intensität, mit der Biller dabei die Seelen seiner Figuren bis in ihre verborgensten Winkel auskratzt und vor den Lesern offenlegt, macht aus Esra einen herausragenden, einen ungewöhnlich bewegenden Roman.«Hinweis
Bemerkenswert scheint mir an diesem Artikelausschnitt vor allem, daß der von juristischen Erwägungen freie Leser, der ich damals war, nicht nur Esra und ihre Mutter Lale als recht anstrengende Persönlichkeiten, sondern auch Adam als einen Neurotiker von beachtlichem Kaliber beschrieb. Seit das langwierige Gerichtsverfahren die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet hat, ob Biller den Klägerinnen durch eine unvorteilhafte Charakterzeichnung von Esra und Lale einen Tort antat oder nicht, werden die ebenso unangenehmen Züge Adams leicht übersehen. Doch wie immer man den Roman beurteilt, man wird ihm nicht gerecht, solange man diesen Punkt ausblendet. Wer in dem Buch allein eine Abrechnung mit zwei Frauen sehen will, läßt außer acht, daß Biller seinen Ich-Erzähler zu einem narzißtisch gestörten Widerling mit unverkennbar hysterischen und stark egozentrischen Zügen stilisiert. Das hat in erster Linie literarische Konsequenzen, sollte aber bei nüchterner Betrachtung auch juristische Konsequenzen haben.
In der Romanwelt, die Esra vor dem Leser entfaltet, herrscht in emotionalen Fragen das Überlebensgesetz des Dschungels. Hier gibt es keine Guten oder Bösen, sondern nur Starke und Schwache. Wer sich seiner Haut nicht wehrt, wird von den anderen mit beeindruckender Rücksichtslosigkeit ausgebeutet. Zumeist ist Esra das Opfer, Adam nennt sie deshalb gern Lales oder seine eigene »Sklavin«. Und in stillen Momenten der Selbstprüfung gesteht er sich ein, daß er im Zusammenleben mit ihr oft genug »genauso ein unerträgliches Arschloch wie ihre Mutter«Hinweis ist. Aber niemand sollte Esra deshalb für ein Unschuldslamm halten. Immer wenn sie sich Adams Zuneigung sicher sein kann, nimmt sie besonders wenig Rücksicht auf ihn und wird kapriziös bis zur Unerträglichkeit. Und als ihre Mutter einmal mit einem Nervenzusammenbruch wehrlos im Krankenhaus liegt, sieht sie ihre Chance gekommen und rechnet derart gründlich mit ihr ab, daß die jahrelang nicht mehr mit ihr sprichtHinweis.
Aber das ist längst nicht alles. Es führte zu weit, wollte ich an dieser Stelle eine komplette Liste sämtlicher seelischer Grausamkeiten oder sonstiger innerfamiliärer Brutalitäten zusammenzustellen, die in diesem Buch geschildert werden. Biller breitet in Esra ein umfassendes Panorama menschlicher Schwäche und Niedertracht aus. Der literarische Zweck dieser Übung scheint mir offensichtlich. Je düsterer Biller seine Romanwelt malt, desto lichter und anrührender wirken vor diesem Hintergrund die Liebesversuche der beiden Hauptfiguren. Neu ist dieser dramaturgische Kniff nicht, er erinnert eher an altmeisterliche Erzählrezepte. Schon Tausende von Schriftstellern haben Geschichten nach diesem Muster gestrickt, bei manchen wurde tatsächlich Kunst daraus, bei anderen Kitsch. Doch solche literarischen Bewertungsfragen bleiben naturgemäß fast immer strittig und sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen. Denn hier geht es in erster Linie um die juristische Bewertung eines Buches und die Beurteilung literarischer Qualität kann nicht Aufgabe von Gerichten sein. Muß sie auch nicht, denn die Gesetze gelten für Genies und geniale Romane ebenso wie für gewöhnliche Autoren und eher dürftige Bücher. Entscheidend ist vielmehr, daß Billers Esra deutlich erkennbar einem ästhetischen Konzept folgt, das nicht auf einen denunziatorischen Racheakt an realen Personen zielt. Biller schildert die Welt als Haifischbecken, in der selbst unter Liebenden oder im trauten Familienkreis jeder nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Wenn er seine Helden zudem noch Adam und Esra tauft und damit gut hörbar die Namen des aus dem Paradies ins böse Diesseits vertriebenen Paares Adam und Eva anklingen läßt, scheint er seiner pessimistischen Diagnose des mitmenschlichen Zusammenlebens einen überzeitlichen, paradigmatischen Anspruch geben zu wollen. Dazu paßt, daß er seinem Buch auf dem Schutzumschlag die einigermaßen pathetische Frage »Ist Liebe die letzte Utopie?« mitgab.
Allerdings entwirft Biller in Esra nicht nur ein reichlich finsteres Weltbild, sondern er demontiert dieses Weltbild zugleich wieder mit formalen Mitteln – und diese literarische Selbstrelativierung mildert das Pathos des Buches und macht aus ihm in meinen Augen zudem einen bemerkenswerten Roman. Biller nutzt dazu drei erzähltechnische Kunstgriffe. Zunächst einmal präsentiert er die Geschichte nicht aus der Perspektive eines unbeteiligten oder eines scheinbar über den Dingen schwebenden, objektiven Erzählers, sondern aus der des Ich-Erzählers Adam, der noch dazu gelegentlich so tut, als würde er den Leser wie in einem persönlichen Gespräch mit einem höflichen »Sie«Hinweis direkt ansprechen. Für den Leser ist aber evident, daß diese Gesprächssituation nur vorgetäuscht wird, schließlich spricht der Ich-Erzähler ja nicht tatsächlich bei der Lektüre mit ihm – was den fiktiven, den künstlichen Charakter der Geschichte betont. Zweitens hat Biller aus seinem Ich-Erzähler eine ausgesprochen unangenehme Figur gemacht. Ein derart unsympathischer Erzähler wie Adam, der noch dazu leicht paranoide Züge zeigt und der mit dem, was er erzählt, offenkundig eigene Interessen verfolgt, kann jedoch nicht das schrankenlose Vertrauen der Leser gewinnen. Vielmehr werden die Leser vom Autor regelrecht dazu gedrängt, sich über den Ich-Erzähler ihr eigenes Bild und von seinen Behauptungen mächtige Abstriche zugunsten der anderen Figuren zu machen. Und schließlich, drittens, säen Adam und einige andere Figuren ganz ausdrücklich Zweifel an der Version der Geschichte, die Adam selbst den Lesern serviert: Adam betont mehrfach, daß er in seinen Berichten »übertreibt«Hinweis, daß er »zu viel Phantasie«Hinweis hat und den Lügen anderer aufsitztHinweis. Dazu erinnert Lale in einem der raren Momente, in denen sie als liebenswert und großherzig geschildert wird, an die notorische Unzuverlässigkeit, ja Unzurechnungsfähigkeit von Autoren: »Diese Schriftsteller haben«, sagt sie, »gar keine Kontrolle über sich. Meistens wissen sie überhaupt nicht, warum sie das schreiben, was sie schreiben.«Hinweis Und Esra stellt Adam und damit auch dem Leser gegenüber klar, daß man auf keinen Fall für bare Münze nehmen darf, was der erzählt: »Du weißt überhaupt nicht, wie es wirklich ist«, sagt sie ziemlich zu Anfang des Romans, »du denkst immer nur, du wüßtest es.«Hinweis
Wer also Billers Roman jenseits des Gerangels vor den Gerichten ohne Eifer und Zorn liest, erkennt schnell, daß er kein wüstes, ehrabschneiderisches Pamphlet ist. Das Buch erzählt eine zeitgenössische Romeo-und-Julia-Geschichte, unterminiert aber zugleich deren Glaubwürdigkeit. Es gibt vor, eine große Liebe exemplarisch an der Schlechtigkeit der Welt und der Unlösbarkeit alter Familienkonflikte scheitern zu lassen, hält aber zu dem enormen Pathos dieses Stoffes mit formalen Mitteln ironische Distanz. Oder um noch einmal auf ein paar Sätze aus meiner Rezension zurückzugreifen, die erschien, bevor von rechtlichen Einsprüchen gegen das Buch die Rede war:
»Immer wieder möchte sich Adam in seinen halb tragischen, halb hysterischen Berichten über die endlosen Konflikte mit Esra zu einer Art Märtyrer der wahren Liebe stilisieren. Aber Biller läßt den Leser gekonnt spüren, daß dieser selbsternannte Märtyrer vor allem an seiner schier grenzenlosen Egozentrik scheitert und eben erst in zweiter Linie an den äußeren Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellen. Er glaubt, sich ritterlich für Esra aufzuopfern, im Grunde aber nutzt er sie emotional oft ebenso aus.«Hinweis
Aus Sicht eines unvoreingenommenen Lesers gibt es also deutliche Indizien dafür, daß Billers Buch nicht auf die Bloßstellung realer Personen zielt. Zumindest wäre es für jeden Autor, der diese Absicht verfolgte, ein Leichtes, sehr viel wirkungsvollere Mittel dafür zu finden, Mittel vor allem, mit denen er seinen Ich-Erzähler in ein vorteilhafteres Licht rücken und ihm so eine höhere Glaubwürdigkeit verschaffen könnte. Wichtiger aber als diese Indizien ist die schlichte Tatsache, daß Biller seinem Buch explizit den Untertitel Roman mitgegeben hat, und den Lesern so signalisiert, daß es sich bei der Geschichte von Adam und Esra um eine Fiktion handelt. Zudem enthält das Buches auf der letzten Seite den ausdrücklichen Vermerk: »Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.«Hinweis
Diese Notiz wurde im späteren Verfahren gegen das Buch gern als eine Art Tarnbehauptung betrachtet. Dennoch war sie, ebenso wie der Untertitel Roman, für den unbefangenen Leser Esras ein unmißverständlicher Hinweis darauf, daß die Geschichte als eine Fiktion zu verstehen ist. Der Autor verständigt sich auf diese Weise mit dem Leser darüber, wie das Buch aufzufassen und zu lesen ist. Damit sorgte Biller für eine simple, aber entscheidende Differenz. Ein Roman ist eben kein Tatsachenbericht. Während Zeitungsartikel oder Sachbücher für sich in Anspruch nehmen, ihre Leser über Tatsachen zu informieren, weist ein Buch mit dem Untertitel Roman den Leser bereits auf der Titelseite darauf hin, das es keine realen Geschehnisse schildert, sondern Fiktionen entfaltet. Mit anderen Worten: Ein Roman beruft sich ausdrücklich nicht auf Fakten, sondern auf die Phantasie seines Autors. Sachbücher oder Zeitungsartikel lassen sich selbstverständlich an der Frage messen, ob sie Wahrheiten oder Unwahrheiten über reale Personen verbreiten. Mit der gleichen Frage an einen Roman heranzugehen, ist dagegen unsinnig, denn seine Handlung ist nicht wahr oder unwahr, sondern erfunden. Natürlich finden sich immer (und neuerdings immer häufiger) Leser, die in jeder Geschichte nur einen zum Text geronnenen Abklatsch dessen sehen können, was der Autor erlebt hat – und die damit die eigentlich literarische, das Erlebnismaterial künstlerisch formende Leistung des Autors übersehen. Dieses Mißverständnis ist so alt wie die Literatur selbst. Doch es ist nicht einzusehen, weshalb dieses Mißverständnis der Literatur zur Last gelegt werden sollte. Bei Vladimir Nabokov heißt es pointiert: »Wer eine Geschichte ›wahr‹ nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich«Hinweis.
Ein guter Beleg für die fiktive Natur von Esra – also für die Literarizität des Buches – ist eine auffällige Motivkette, die Biller in den Text eingearbeitet hat. Er macht das Spannungsverhältnis zwischen Literaturfreiheit und Persönlichkeitsrecht bereits im Roman selbst zum Thema. Gleich auf einer der ersten Seiten heißt es: »Esra hatte von Anfang an zu mir gesagt, ich dürfe nie etwas über sie schreiben.«Hinweis Adam widerspricht ihr fast sofort, es sei »wie Gefängnis«Hinweis für ihn, als Schriftsteller nicht frei in der Wahl seiner Themen zu sein: »Es war für mich nicht einfach, mit Esras Angst vor dem geschriebenen Wort zu leben. Ich versuchte, mich in sie hineinzuversetzen und zu verstehen, woher ihre Empfindlichkeit kam. Wahrscheinlich war sie wie die meisten Menschen: Sie wollte nicht sehen, wie ein anderer sie sah. Das respektierte ich – weil sie es war. Gleichzeitig fand ich ihre Panik fast unangenehm kleinbürgerlich. Ich mußte an den Skandal denken, den Thomas Manns erster Roman in seiner Heimatstadt Lübeck ausgelöst hatte, an die Wut der Lübecker auf ihn, die meinten, der Rest der Welt dürfe nicht wissen, wie es bei ihnen wirklich zuginge. Als ich während meines Studiums etwas darüber gelesen hatte, war ich natürlich auf der Seite Thomas Manns und der Freiheit der Literatur gewesen. Warum, dachte ich nun, sollte ich für Esras Engstirnigkeit Verständnis haben?«Hinweis
Auf die Frage nach dem Recht der Künstler, reale Personen in ihren Werken erkennbar zu schildern, beziehungsweise nach dem Recht der realen Personen von solchen Absichten der Künstler unbehelligt zu bleiben, wird dann in dem Roman wiederholt angespieltHinweis. Diese Motivkette mündet schließlich in einer Situation, in der sich die Verhältnisse zwischen Esra und Adam umkehren. Esra, die als Grafikerin arbeitet, macht das Verhältnis zwischen ihr und Adam zum Gegenstand einiger Zeichnungen. Adam ist schockiert, aber seinen literarischen Überzeugungen gemäß erträgt er, was sie ihm zeigt, ohne ein Publikationsverbot auszusprechen: »Bei den Bildern, die ich nun zu sehen bekam, stockte mir der Atem. Das Liebespaar, das sie gezeichnet hatte, sah uns sehr ähnlich. Es waren fünf, sechs Bilder, die die beiden fast immer in der gleichen Stellung zeigten: Er saß oder stand vor ihr – und sie holte ihm einen runter. Nur auf einem der Bilder lagen sie einfach nebeneinander im Bett, sie sah abwesend zum Fenster hinaus, und er blickte sie von der Seite an. Plötzlich konnte ich verstehen, warum Esra eine solche Angst davor hatte, in einer meiner Geschichten vorzukommen. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte, wie schön ich die Bilder fände.«Hinweis
Die Pointe dieser Motivkette ist nicht, daß Adam Esra das Recht einräumt, ihn zu malen, während Esra Adam verbieten möchte, sie in einer seiner Geschichten auftreten zu lassen. Bemerkenswert ist vielmehr, wie klar Biller hier mehrfach das Thema herausarbeitet, das den Roman schließlich zum öffentlichen Skandal werden ließ und es im Roman reflektiert. Derart sauber durchgeformte Motivketten sind ein Kennzeichen der Literatur, nicht des Lebens. Die Realität kennt keine Leitmotive, sie sind das Resultat künstlerischer Kompositionsanstrengungen. Wenn also der Verdacht aufkommt, Maxim Biller habe in Esra eine erlebte Liebesgeschichte schlicht nacherzählt, so ist auch jene Motivkette ein auffälliges Indiz für die Literarizität seines Buches: Sie zeigt, daß der Autor das erlebte Material nach ästhetischen Kriterien bearbeitet, durchstrukturiert, seinen erzählerischen Zielen unterworfen und so in ein Werk der Fiktion verwandelt hat.
Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen wird von Juristen in gerichtlichen Auseinandersetzungen gern beiseite geschoben, indem sie einen Roman als Schlüsselroman bezeichnen. Gibt es Übereinstimmungen zwischen realen Personen und literarischen Figuren, so bezeichnen sie die entsprechende Geschichte nicht mehr als Produkt der Phantasie, sondern als einen mehr oder minder verschleierten Tatsachenbericht. Sie gehen dabei von der Vorstellung eines heimlichen Einverständnisses zwischen Autor und Publikum aus: Der Untertitel Roman ist dann in ihren Augen nur vorgeschoben, um im Schutze der Kunstfreiheit ehrabschneidende Behauptungen über reale Personen in die Welt zu setzen. Tatsächlich wird dieses Verfahren nicht selten in der politischen Satire angewandt. Wenn von einer deutschen Kanzlerin mit dem spöttischen Kosenamen »Mutti« die Rede ist, weiß der informierte Zeitgenosse, daß Angela Merkel gemeint ist, und wenn ein ehemaliger Minister namens »Googleberg« erwähnt wird, begreift er, daß auf die wissenschaftlichen Leistungen Karl-Theodor zu Guttenbergs angespielt wird. Ebenso war wohl jedem Leser klar, in wessen psychische Verfolgungswunden Martin Walser lustvoll Salz rieb, als er in seinem Roman Tod eines Kritikers einen Mord an dem jüdischen Literaturshowmaster André Ehrl-König ausphantasierteHinweis. Doch das entkräftet letztlich nicht Nabokovs Bonmot, denn natürlich sind auch Schlüsselromane oder Satiren fiktive Gebilde einer eigenen autonomen Ordnung und lassen sich nicht auf Tatsachenberichte reduzieren. Zweitens setzt jenes verschlüsselnde Verfahren notwendig voraus, daß die gemeinten Personen weithin bekannt sind, damit das Publikum sie trotz aller literarischen Übertreibungen und Entstellungen identifizieren kann. Ein stillschweigendes, augenzwinkerndes Einverständnis zwischen Leser und Schriftsteller kann sich nur herstellen, wenn die Leser die Personen oder Zustände kennen, über die der Schriftsteller in satirischer oder sonstiger Entstellung schreibt.
Ebendieser Punkt wurde – bis zum Fall Esra – von den bundesdeutschen Gerichten zur unerlässlichen Voraussetzung für das Verbot eines angeblichen Schlüsselromans gemacht. Der berühmteste Prozeß dieser Art ging zurück auf die Klage des Adoptivsohns von Gustaf Gründgens gegen Klaus Manns Roman Mephisto. Das Verfahren beschäftigte von 1964 an acht Jahre lang Gerichte und Öffentlichkeit. Da Gründgens zweifellos eine weithin bekannte und deshalb nach Ansicht der Richter auch in camouflierter Form wiedererkennbare Persönlichkeit war, endete das Verfahren mit einer klaren Niederlage des Buches vor dem Bundesgerichtshof. Der sah in Mephisto eben keine Fiktion, sondern einen leicht entschlüsselbaren Bericht über Gründgens’ Karriere in Hitlers Deutschland. Die nachfolgende Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH wurde 1971 bei Stimmgleichheit der sechs entscheidenden Richter, also bei denkbar knappen Mehrheitsverhältnissen, abgelehnt. Für erheblichen Zorn sorgte das Urteil in der literarischen Öffentlichkeit nicht zuletzt, weil es den Emigranten Klaus Mann, der vor den Nazis hatte fliehen müssen, daran hinderte darzustellen, wie sich ein im Roman Hendrik Höfgen genannter Künstler an das Regime der Nazis anbiederte. Wenn das Buch heute dennoch in einer Millionenauflage vorliegt, dann ist das nicht wachsender Liberalität unserer Rechtsprechung zu verdanken, sondern dem Mut der Rowohlt Verlages. Denn der setzte sich 1980 kurzerhand über das Publikationsverbot hinweg – und nur weil kein Erbe von Gustaf Gründgens erneut Einspruch erhob, blieb dem Roman ein weiterer Prozeß erspart.
Ein für die Literatur ermutigendes Urteil fällte der Bundesgerichtshof 1982. Friedrich Christian Delius, der sich damals noch F. C. Delius nannte, hatte eine polemische Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende geschrieben. Darin schildert er die fiktive Todesstunde des Kaufhaus-Unternehmers Horten, den er unverschlüsselt beim Namen nennt und der in dem Gedicht an seiner, wie Delius schreibt, überzogenen Angst »vor Konkurrenz, vor seinesgleichen, vorm Schuft« stirbt. Horten fühlte sich von dieser Zeile als »Schuft« verleumdet und von zwei anderen Versen des Gedichts – in denen ein heißt, es »schwitzen die von ihm bezahlten Politiker über Gesetzen, / die ihm genehm sind und seine Gegner zerfetzen«Hinweis – fälschlich der aktiven Politiker-Bestechung beschuldigt. Doch konnte er sich mit diesen Einsprüchen bei den Richtern nicht durchsetzen, da die einer Moritat das Recht auf eine gewisse Drastik und auf überspitzende Formulierungen zugestanden. Allerdings gaben sie ihrem Urteil eine bemerkenswerte Einschränkung mit auf dem Weg. In den ›freigesprochenen‹ Zeilen verspotte Delius das Geschäftsgebaren Hortens – und das gehöre zu dessen öffentlichem Wirken. In diesem Bereich seines Lebens müsse sich Horten satirische Kritik gefallen lassen. Die Passagen der Moritat jedoch, die eine frei erfundene Todesstunde Hortens ausmalten, zielten auf die »Intimsphäre des Klägers«. Ob das gestattet sei, hieß es im Urteil lakonisch, habe der »Senat im gegenwärtigen Rechtsstreit nicht zu prüfen«Hinweis gehabt. Das klang fast wie eine Aufforderung der Richter, die Klage noch einmal in anderer Formulierung und mit anderer Stoßrichtung einzureichen. Doch Horten verzichtete auf ein zweites Verfahren.
Wie weit die Gerichte zu Ungunsten der Literatur zu gehen bereit sind, sobald sie glauben, die Intimsphäre eines Klägers schützen zu müssen, zeigt ein Urteil des Essener Landgerichts aus dem Jahr 2000. Die Schriftstellerin Birgit Kempker hatte in dem Buch Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag den Namen eines früheren Bekannten genannt, wogegen dieser juristisch vorging. Zwar bescheinigten vier literaturwissenschaftliche Gutachter dem »litaneihaften« und »forciert artifiziellen« Text vor Gericht seinen unzweifelhaft fiktionalen Charakter: Er sei »in keiner Phase auf Erkennbarkeit«Hinweis