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Der letzte Teil der fesselnden Fantasy-Trilogie "Der Zirkel der Phantanauten": 1798 finden die Brüder Jacko und Guy in ihrem Heimatort in Hessen einen geheimnisvollen Gegenstand, der zum Phatalabium gehört. Es stellt sich heraus, dass die beiden Jungen auserkoren wurden, bis Mittsommer einen bedrohlichen Riesen zurückzudrängen, der aus der Fantasiewelt durch einen Riss im Phantaversum in die reale Welt gelangt ist. Ein atemberaubender Wettlauf gegen die Zeit beginnt...-
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Seitenzahl: 336
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Ralf Isau
Mit Bildern von Helmut Poul Dohle
Saga
Der Feuerkristall
Der Feuerkristall – Volume 3 of Der Zirkel der Phantanauten Trilogie
Copyright © 2021 by Ralf Isau (www.isau.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 2009 by Thienemann Verlag, Germany
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2009, 2021 Ralf Isau und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726870138
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Der Blautopf ist der große runde Kessel
eines wundersamen Quells ...
Zuunterst auf dem Grund
saß ehemals eine Wasserfrau
mit langen fließenden Haaren.
Eduard Mörike (1804–1875)
Für Jérôme, Celine und Maurice
(aus dem »Kodex der Phantanauten«)
Nicht was einer ist, hat oder glaubt, macht ihn zum Phantanauten, zum »Weltenschöpfer«, sondern einzig seine Phantasie. Deren Zirkel bleibt stets auf ein doppeltes Dutzend begrenzt. Er verjüngt sich durchs Ausscheiden der Einundzwanzigjährigen und Nachrücken von Neophyten, die mindestens im zwölften Lebensjahr stehen. Diesen »neu Gepflanzten« ist zuvor ein Teil des Phantalabiums zugefallen, des Zirkels uraltes Erkennungszeichen.
Jährlich versammeln sich die Phantanauten zu einem Erzählreigen am Grauen See, wenn der Vollmond die Ophiuchiden trifft: In diesem Schauer von Sternschnuppen öffnet sich die Quelle der Erleuchtung bis zum Tag vor der Sommersonnenwende und versiegt wieder beim nächsten Vollmond. Während dieses Monats muss der Neophyt eine Nacht in der Kammer der Weltenschöpfer schlafen und dabei dem Meer der Träume Neuland abtrotzen. Wer diese Gabe besitzt, wird am Morgen danach durch das Untertauchen im Grauen See in das von ihm geschaffene Reich gelangen. Nach seiner Rückkehr erstattet er dem Zirkel Bericht und erbringt einen Beweis der Echtheit seiner Schöpfung. Überzeugt er die Mehrzahl der Phantanauten, gilt er als aufgenommen.
Fortan bedarf sein Neuland des täglichen Erinnerns, um nicht wieder unterzugehen. Der kluge Phantanaut soll seine Geschichte daher mindestens zwei anderen Menschen erzählen und sie überdies zur Weitergabe des Gehörten anspornen. So reift der Schöpfer zum lebenslangen Weltenmeister, und derweil sein Werk darüber wächst, wird es die »Welt der Sinne«, unser wirkliches Leben, bereichern.
Das Ungewitter
Bei Steinau an der Straße
Landgrafschaft Hessen-Kassel
6. Mai 1798
Es gab keinen vernünftigen Grund, warum ein Rindvieh in der Hölle schmoren sollte. Wilhelm war, obwohl der Wald um ihn herum zwitscherte und summte, ganz in seine Gedanken vertieft. Die Sonne blinzelte durch das sanft wiegende Blätterdach und warf ein verwirrendes Spiel aus Licht und Schatten auf den Pfad. Dabei konnte man sich den Zeh leicht an einer Wurzel anstoßen. Trotzdem wandte Wilhelm den Blick vom Weg, sah seinen Bruder von der Seite her an und schüttelte missfällig den Kopf. »Du spielst wieder den Baron Münchhausen und versuchst mir eine deiner Lügengeschichten aufzutischen. Den Zinnober kaufe ich dir nicht ab.«
Jacob grinste nur. »Vielleicht schätzt der Fürst der Finsternis ja einen guten Braten.«
»Darüber macht man keine Scherze.««
»Die Märchenfrauen tun`s aber. Erst neulich hat die alte Trude uns vom Teufel mit den drei goldenen Haaren erzählt.«
Wilhelm verzog das Gesicht. Er war zwölf, sein Bruder Jacob dreizehn. In diesen aufregenden Tagen, kurz vor dem Anbruch eines neuen Jahrhunderts, machten Männer vor allem als Entdecker oder Erfinder von sich reden, die mündliche Überlieferung der alten Volkssagen überließen sie dem sogenannten schwachen Geschlecht. »Du hast gesagt, an diesem Sonntag wollen wir ein Abenteuer erleben, das uns einmal berühmt machen kann. Wozu haben wir sonst den Strick und mein Jagdmesser mitgenommen? Doch wegen der Höhle, oder nicht?«
Jacob rückte die schweren, quer über der Brust hängenden Seilschlaufen zurecht. »Bis heute konnte niemand beweisen, ob unter diesem Wald eine Höhle liegt. Sicher ist nur, dass vor über zweihundert Jahren irgendwo da vorne die Kuh von Jox Mellmann vom Erdboden verschluckt wurde.« Er deutete den Trampelpfad entlang.
»Aber bestimmt nicht, um in die Hölle hinabzufahren.«
»Wer kann das schon wissen?« Jacob lächelte, was ihn seinem jüngeren Bruder noch ein bisschen ähnlicher machte. Beide waren klein, drahtig und ihre welligen, von der Sonne aufgehellten Haare von keinem Kamm zu bändigen. Sie teilten zudem die Begeisterung sowohl für die Natur als auch für phantasievolle Geschichten und Streiche – zum Leidwesen von Lehrer Zinkhan, dem Steinauer Stadtprääzeptor, der meinte, die zwei Galgenvögel hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Tatsächlich traf man selten einen ohne den anderen an. Trotzdem unterschieden sie sich auf mancherlei Weise. Der Ältere war schon immer der Pfiffigere und Unternehmungslustigere gewesen, während Wilhelm seine Nase lieber in Bücher steckte. Er besaß von beiden das sanftere Wesen und vermochte mit Worten zu jonglieren wie ein Gaukler mit brennenden Fackeln.
In diesem Moment fröstelte der Schöngeist. Etwa aus Angst vor dem Schauermärchen des Bruders? Oder lag es an dem kühlen Wind, der mit einem Mal zwischen den alten Stämmen hindurchstrich? Vor nicht einmal einer Stunde hatten sie im Bienengarten der Familie noch über den heißesten Mai seit Jahren geklagt. Die Sonne wollte ihnen schier den Grips im Kopf versengen, weshalb sie nur in ihren dünnen Leinenhemden und Kniebundhosen aufgebrochen waren. Sogar auf Strümpfe und Schuhe hatten sie verzichtet. Aber nun war es plötzlich empfindlich kühl geworden und das Zwielicht im Wald wurde rasch schwächer, als dämmere bereits die Nacht. Dabei war es erst früher Nachmittag.
Wilhelm wandte den Blick nach oben. »Hörst du das?« Die Wipfel rauschten und wisperten, als wollten sie die beiden Abenteurer auf eine Gefahr hinweisen.
»Vielleicht warnen uns die Elfen oder Trolle, weil wir an der Schwelle zu ihrem Reich stehen«, frotzelte Jacob.
»Witzbold.«
Ehe er etwas erwidern konnte, zuckte ein Blitz über den Himmel. Im grellen Licht zeichneten sich die Baumkronen wie Scherenschnitte ab. Gleich darauf ließ ein Donnerschlag den Waldboden erzittern. Die Brüder blieben wie auf ein geheimes Zeichen stehen und sahen sich mit eingezogenen Köpfen um.
»Hatten wir nicht eben einen strahlend blauen Himmel gehabt?«, wunderte sich der Ältere.
»Sieh mal da!«. Wilhelm deutete aufgeregt nach oben. »Das ist doch unmöglich.«
Durch das Blätterwerk fielen große, weiße Flocken.
»Nein«, murmelte Jacob verwirrt, »die Frau Holle macht ihr Bett.« So pflegten die Hessen zu sagen, wenn es schneite. Er zitterte.
»In einem heißen Mai wie diesen?«
»Irgendwie unheimlich.«
»Jetzt hör endlich auf mit deiner Unkerei, Jacob!«
»Ich mein`s ernst, Bruderherz. Im Biengarten hatten wir ein Wetter wie im Hochsommer. So etwas ist nicht normal.«
Aus den wirbelnden Flocken wurde ein dichtes Schneegestöber. Das Unwetter nahm mehr und mehr bedrohliche Ausmaße an. Heftige Böen peitschten den Wald. Ringsum knarrte und ächzte das Geäst. Blätter und ganze Zweige wurden abgerissen und sausten den Brüdern um die Ohren.
Plötzlich mischte sich ein anderes Geräusch unter das Knacken und Knarzen. Es kam schnell näher und klang, als sei das Himmelsgewölbe in Millionen Scherben zerborsten, die nun auf den Wald herabregneten. Jacob fiel ein hühnereigroßer Eisbrocken direkt vor die Füße.
»Das ist Hagel. Schnell unter den Baum da!«, schrie er und lief auch schon auf eine gedrungene Buche zu.
Wilhelm folgte ihm, wohl wissend, dass ein Blitz im Wald seltener vom Stamm auf den Schutzsuchenden übersprang als auf freiem Feld. Die Gefahr, vom Hagelschauer erschlagen zu werden, war hier wohl weitaus größer.
Während sie hastig auf die Buche zueilten, schlugen um sie herum die Eisgeschosse ein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen getroffen würde.
Unvermittelt hörte Wilhelm über sich ein lautes Krachen. Gerade noch rechtzeitig zog er den Kopf ein, um einem faustgroßen Eisbrocken auszuweichen. Hinter ihm fiel ein schwerer Ast zu Boden. Er kreischte vor Schreck und lief noch schneller. Sein Bruder stimmte ins Geschrei mit ein.
Als könnten sie den tödlichen Schauer damit irgendwie beeindrucken, brüllten sie im Spurt aus vollem Halse – und erreichten tatsächlich unverletzt den Schirm der Baumkrone. So als habe jemand seine schützende Hand über sie gehalten, hatten alle Hagelkörner sie verfehlt.
Wilhelm hielt seinen Bruder am Kletterseil fest. »Bleib vom Stamm weg, Jacob!«
»Wieso? Da sind die Äste dicker und ...«
»Wenn in den Baum ein Wetterstrahl einschlägt, könnte er auf uns überspringen! Wir sollten besser fünfzehn bis zwanzig Fuß Abstand halten.«
Jacob verdrehte die Augen. »Lass mich raten: Das hast du in der Oekonomischen Encyclopädie vom alten Krünitz gelesen.«
»Du etwa nicht?«
»Manchmal könnte ich dich würgen für deine neunmalkluge Art.«
»Und ich dich für deine Gedankenlosigkeit. Wer hat uns den Schlamassel denn eingebrockt ...?«
Ein Blitz und ein ohrenbetäubender Knall brachten Wilhelm zum Schweigen. Der gleißende Strahl bohrte sich kaum zehn Schritte von den Jungen entfernt in den Boden. Sand und Eiskristalle wurden hochgeschleudert. Aus der Einschlagstelle schossen blaue Flammenbänder hervor, wie Feuerschlangen auf der Suche nach Beute.
Die Jungen wichen entsetzt zurück. Wilhelms Haut prickelte und es stach am ganzen Körper, als sei ein Heer von Ameisen über ihn hergefallen. Erschrocken drehte er sich zu Jacob um, dem sämtliche Haare zu Berge standen. Obwohl auch ihm der Schreck in den Gliedern steckte, fing er plötzlich an zu lachen.
»Findest du es lustig, dass wir fast erschlagen worden wären?«, fragte Wilhelm erbost.
Die Heiterkeit trieb Jacob das Wasser in die Augen, während er sich krümmte, den Kopf schüttelte und auf Wilhelm zeigte. »Entschuldige, Guy, aber ich mache mir gleich in die Hosen. Du siehst zum Piepen aus.« Füür die Brüder war es eine Art Spiel, wie eine Geheimsprache, Namen auf Französisch auszusprechen. Aus Jacob war so Jacques und aus Wilhelm Guillaume geworden. Nicht zuletzt aus Bequemlichkeit hatten sie diese schließlich auf die Kosenamen Jacko und Guy zusammengestutzt – das Versenden »geheimer« Nachrichten wäre sonst zu mühselig geworden.
»Wart`s ab, bis du in den Spiegel blickst«, erwiderte Letzterer. Auch seine Mundwinkel zuckten jetzt vom unterdrückten Lachen.
Jacob atmete ein paarmal tief durch. »Der Hagel hat aufgehört. Das Ungewitter scheint weiterzuziehen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Es schneit immer noch.« Mit einer raumgreifenden Geste deutete Wilhelm auf den weiß bepuderten Waldboden, wobei er den Blick seines Bruders auf die Einschlagstelle des Blitzes lenkte.
Dessen Kopf ruckte ein Stück vor. Seine Augen verengten sich, ein sicheres Zeichen, dass er irgendetwas entdeckt hatte – er war ziemlich kurzsichtig. »In dem Loch glitzert etwas.«
»Warte lieber noch ein bisschen. Die Gefahr, vom Wetterstrahl getroffen zu werden, ist noch nicht vorüber.«
Anstatt auf seinen Bruder zu hören, lief Jacob unter dem Schirm der Buche hervor zu dem Krater, den der Blitz hinterlassen hatte. Einen Moment lang stand er wie zu Eis erstarrt mit vorgebeugtem Oberkörper da, umwirbelt vom Schneegestööber, und spähte ins Loch.
»Das musst du sehen!«, rief er.
»Ich bleibe lieber hier, wo ich nicht erschlagen werde.«
»Dann entgeht dir aber was.«
»Wieso? Hast du Jox Mellmanns Kuh gefunden?
»Jetzt sei nicht albern, Guy. Das hier ist viel besser. Außerdem brauche ich deine Hilfe, wenn ich da runterklettere.«
»Was willst du ...?« Wilhelm schnappte nach Luft. Dann aber war seine Neugier stärker als die Furcht. Er stapfte durch den Schnee zu seinem Bruder. Als er das Funkeln im Krater sah, vergaß er vor lauter Staunen die Käälte an den nackten Füßen.
In ungefähr zehn Fuß Tiefe ragte etwas Metallenes aus dem aufgerissenen Erdreich. Ein goldener Glanz lag darauf, als reflektiere es die Sonnenstrahlen, was angesichts der schiefergrauen Schneewolken aber undenkbar erschien.
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Wie hast du das von der Buche aus sehen können? Es liegt ziemlich tief unten.«
»Keine Ahnung. Ich habe etwas Blitzen gesehen. Vielleicht hat es mir ein Lichtzeichen gegeben.«
»Kannst du nicht ein einziges Mal ernst sein?«
»Das bin ich, Bruderherz. Irgendeine Ahnung, was das ist?«
»Vielleicht ... ein Amulett?«
»Ich habe noch nie ein Schmuckstück gesehen, das im Dunkeln so strahlt. Man sieht in dem Schneegestöber ja kaum die Hand vor Augen.«
Jacob nickte. »Möglicherweise liegt da unten ein Schatz. Stell dir vor: Wir wären mit einem Schlag alle unsere Sorgen los. Nie mehr Armenhaus, nie mehr hungern, Mutter könnte endlich wieder lachen.«
»Geld kann ihr auch nicht den Mann wiedergeben«, sagte Wilhelm traurig. Ihr Vater, der Amtmann von Steinau, war im vorletzten Jahr an einer Lungenentzündung gestorben und hatte die Frau und sechs Kinder so gut wie mittellos zurückgelassen.
»Jetzt hör schon auf, Trübsal zu blasen, Guy. Wir wollten unser Abenteuer – jetzt haben wir`s. Hilf mir mal mit dem Strick.« Jacob zog sich das zu großen Schlaufen zusammengelegte Seil über den Kopf und reichte seinem Bruder ein Ende. »Am besten, du bindest es da drüben an dem Bäumchen fest.«
Während Wilhelm mürrisch zu der schlanken Fichte oberhalb der Fundstelle stapfte, schlang sich Jacob die aus Hanffasern gedrehte Leine um den Leib. Nachdem er seinen Bruder angewiesen hatte, sie gespannt zu halten, begann er mit dem Abstieg.
Vorsichtig kletterte er über den Rand des Kraters. Das Loch war ungefähr fünf oder sechs Schritte tief. Möglicherweise hatte sich unter dem Waldboden ein Hohlraum befunden, der durch den Blitzeinschlag eingestürzt war. Als Jacob nur noch mit Mühe über den Rand hinwegblicken konnte, sackte sein Kopf plötzlich nach unten.
Wilhelm erschrak. Er spürte das Gewicht seines Bruders am Seil und stemmte sich dagegen. »Was ist passiert?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
»Alles in Butter. Der Grund hat nur nachgegeben«, drang von unten Jacobs Stimme herauf.
»Du kommst besser wieder heraus, sonst wirst du noch verschüttet.«
»Wer nicht wagt«, antwortete es mit angestrengter Stimme, »der nicht gewinnt. Ich hab`s! Meine Güte, was ist denn das?«
»Könntest du bitte später staunen? Mir ist das Loch nicht geheuer und außerdem frieren gleich meine Füße fest. Ich ziehe dich jetzt hoch ...«
»Warte noch! Vielleicht liegen noch mehr von den Dingern hier herum.«
Wilhelm stöhnte.
»Nein«, drang kurz darauf Jacobs enttäuschte Stimme zu ihm herauf. »Scheint das einzige Kleinod zu sein.«
Getrieben von Sorge um den Bruder, aber auch von wachsender Neugier zerrte Wilhelm am Seil. Diesmal leistete der Kletterer keinen Widerstand, sondern half sogar nach Kräften mit. Wenig später tauchte sein Kopf wieder über dem Kraterrand auf. Er sah aus, als sei er in dem Loch um fünfzig Jahre gealtert.
Erschrocken vergaß Wilhelm das Seil, sein Griff lockerte sich und es schnurrte ein gutes Stück zwischen seinen Fingern hindurch, ehe er wieder fest zupackte.
Jacobs Kopf war erneut verschwunden, aber seine Stimme scholl dafür umso lauter herauf. »Um Himmels Willen, lass mich nicht los!«, schrie er aus Leibeskräften.
»Was ist passiert?«, keuchte Wilhelm vor Anstrengung.
»Unter mir hat sich der Höllenschlund aufgetan.«
»Wenn du weiter solchen Zinnober erzählst, dann lasse ich dich ...«
»Ich lüge nicht«, schnitt ihm Jacob das Wort ab. »Da klafft ein bodenloses Loch unter mir.«
»Und? Kannst du schon die feurige Glut sehen? Winkt dir jemand mit seiner Forke zu?« Den beißenden Spott konnte sich Wilhelm nicht verkneifen, weil er die Schilderungen seines Bruders immer noch für einen seiner phantasievollen Scherze hielt. Gleichwohl schwang in dessen Stimme etwas Panisches, das ihm Anlass zur Sorge gab. Vielleicht schwebte Jacob tatsächlich in Gefahr.
Wilhelm legte sich ins Zeug. Stück für Stück zog er das Seil herauf und bald konnte auch sein Bruder von unten wieder mithelfen. Diesmal erschien zuerst dessen Hand über dem Kraterrand. Sie tastete sich durch den Schnee, fand eine Wurzelschlinge und ließ sie nicht mehr los. Bald darauf kam auch wieder sein Kopf zum Vorschein. Mit vereinten Kräften gelangte er in Sicherheit.
Erschöpft drehte Jacob sich auf den Rücken und schloss die Augen.
Der Fremde
Bei Steinau an der Straße
Landgrafschaft Hessen-Kassel
6. Mai 1798
Jacobs Mund spieh Atemwölkchen aus wie ein kleiner Vulkan. Während er, immer noch am Boden liegend, blind den Knoten der Rettungsleine öffnete, rieselten weiße Flocken auf ihn herab. Sie schmolzen sofort auf seinem rot glühenden Gesicht. Das Knirschen von Schritten im Schnee ließ ihn die Augen öffnen. Sein Bruder war neben ihn getreten und musterte ihn besorgt.
»Warum hast du mich bloß losgelassen, Guy?«, fragte Jacob.
»Du sahst aus wie ein alter Mann. Dein Haar war plötzlich schneeweiß.«
»Ist ja wohl logisch, wenn es schneit.«
»Ich finde, heute ist überhaupt nichts logisch. Wenn im Mai der Frühling wie ein Sommer ist und es plötzlich schneit wie im Winter – wann hat es das jemals gegeben?« Wilhelm half seinem Bruder auf die Beine.
Dessen Rechte schob sich in die Hosentasche und kam mit dem geheimnisvollen Gegenstand wieder zum Vorschein. Er wischte ihn an seinem Hemd ab und hielt ihn hiernach dicht unter Wilhelms Nase. »Vielleicht haben die Wetterkapriolen etwas damit zu tun.«
Solche Äußerungen war der Jüngere von seinem großen Bruder nicht gewohnt. Sie mochten zwar beide die alten Volkssagen, in denen allenthalben Wundersames geschah, aber in Wahrheit glaubten sie nicht an die magische Kraft von Amuletten oder verzauberten Gegenständen. Im Stammbaum der Grimms gab es nicht wenige Prediger und Pfarrer, weshalb der Aberglauben in der Familie nie hatte Blüten treiben können. Entsprechend argwöhnisch musterte Wilhelm das Metallstück.
Es war gewölbt und schmiegte sich so perfekt in Jacobs Handteller, als sei es dafür gemacht. Die Hohlseite glänzte wie poliertes Messing. Wilhelm schnappte sich das Teil, bevor es sein Bruder verhindern konnte, und drehte es um.
Die bauchige Außenseite war matt, abgesehen von einigen geheimnisvollen Markierungen. Im Schnittpunkt zweier ins Metall gegrabener Bogenlinien blitzte ein winziger rubinroter Kristall. Weitere Striche und daneben angebrachte Runen ließen die Gravur wie die Maßeinteilung eines fremdartigen Geräts aussehen. Was damit gemessen werden sollte, war Wilhelm allerdings ein Rätsel.
»Sieht aus wie die Scherbe einer zerbrochenen Bronzekugel«, murmelte er, wobei er auf die großen Zacken an den Rändern deutete.
»Vielleicht von einer Art Astrolabium, wie es früher für die Navigation auf See benutzt wurde«, mutmaßte Jacob.
»Ich würde die Scherbe zu Hause gerne genauer untersuchen«, sagte Wilhelm und wollte gerade die Finger darum schließen, um sie einzustecken, doch sein Bruder war schneller. Flink wie die Zunge eines Frosches zuckte seine Hand vor und holte sich das Teil zurück.
»Ich hab`s gefunden, also darf ich es auch behalten. Du kannst mein Assistent sein, wenn ich es erforsche.«
Wilhelm fühlte sich mit einem Mal betrogen, spürte sogar brennenden Zorn, was ihn ziemlich beunruhigte. Gier war dem sanften Jungen normalerweise fremd. Er teilte fast alles mit seinen Geschwistern, vor allem mit dem großen Bruder, dem er immer nachgeeifert hatte. Woher kam das plötzliche Verlangen, den geheimnisvollen Gegenstand unbedingt besitzen zu wollen?
Weil er sich mit Jacob nicht streiten mochte, trat er nun selbst an die Einschlagstelle des Blitzes heran. Vielleicht hatte der Erdrutsch ja noch weitere Preziosen freigelegt.
Wilhelm erschauderte. Dort, wo zuvor der Grund des Kraters gewesen war, klaffte jetzt ein schwarzes Loch. Wie tief dieses ins Erdreich hinabreichte, war im Zwielicht des Schneegestöbers nicht zu sehen.
»Du hast recht«, flüsterte er bang. »Es sieht tatsächlich wie das Tor zur Hölle aus.«
Jacob trat neben ihn und nickte. »Zumindest zu einer großen Höhle. Das würde erklären, warum hier 1584 Jox Mellmanns Kuh vom Erdboden verschluckt ...«
»Warte mal!«, fiel ihm Wilhelm ins Wort und deutete auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Kraterwand. »Siehst du das Blitzen dort?«
»Ja, jetzt, wo du`s sagst. Da scheint noch eine Scherbe zu liegen. Ich steig noch einmal runter und ...«
»Nichts dergleichen wirst du tun. Diesmal bin ich an der Reihe.« Er bückte sich nach dem Ende des Stricks und band ihn sich um die Brust.
»Hat mein kleiner Hasenfuß Guy plötzlich Mut bekommen?«, spöttelte Jacob.
»Ich bin kein Feigling, sondern nur besonnen. Im Gegensatz zu dir. Wehe, du lässt mich fallen!«
Während der Ältere das Seil um eine junge Linde auf der anderen Seite des Kraters band, kontrollierte Wilhelm noch einmal den Knoten. Er saß fest. Anschließend tastete er nach dem Hirschfänger am Gürtel. Das Erbstück des Vaters war fast eine Elle lang, also beinahe schon ein Schwert. Obwohl kaum zu befürchten stand, sich da unten gegen Erdelfen oder Trolle verteidigen zu müssen, verlieh ihm das Jagdmesser doch ein Gefühl der Sicherheit.
»Wegen mir kann`s losgehen«, rief Jacob. Er hatte sich das Seil um den rechten Unterarm geschlungen und hielt es mit beiden Händen fest umklammert.
Wilhelm stieg etwas versetzt zu der Fundstelle über den Kraterrand. Sollte das Erdreich unter seinen Fußsohlen abrutschen, würde es das Kleinod nicht sofort verschütten. Doch diesmal ging alles gut. Ohne Schwierigkeiten gelangte er neben das Glitzerstück. Erst als er die Hand danach ausstreckte, erwies sich sein Arm als zu kurz.
Er stemmte die Füße ins weiche Erdreich, lehnte sich weit über das schwarze Loch zurück und lief so einen Schritt nach links. Wieder reckte er den Arm. Seine Fingerspitzen berührten das golden schimmernde Metall.
Plötzlich rutschte er ab und sackte nach unten.
Reflexhaft griff er ins Erdreich, um irgendwo Halt zu finden. Dann straffte sich auch schon das Seil und hielt ihn fest.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte er in den finsteren Schlund, der ihn zu verschlingen drohte. Als er den Blick an der Kraterwand emporwandern ließ, durchfuhr ihn ein Schauder.
Das funkelnde Metallstück war nicht mehr da!
Er wollte gerade seine Wut über den Verlust des schon sicher geglaubten Kleinods herausschreien, als er merkte, dass er ihm beim Griff ins Erdreich zusammen mit viel Sand und kleinen Steinen, auch das begehrte Teil zwischen die Finger geraten war.
»Tut mir leid«, hörte er von oben seinen Bruder rufen, »aber der Schnee hat den Boden aufgeweicht. Deshalb ist der Kraterrand unter dem Seil weggebrochen.«
»Mir geht es gut«, rief Wilhelm und er meinte es auch so. Selten hatte er eine solche Hochstimmung gefühlt wie gerade jetzt, wo er seinen glitzernden Schatz in der Hosentasche verstaute.
»Hast du die Scherbe?«
»Ja.«
»Sieh dich mal um, ob du noch mehr Bruchstücke findest.«
»Bist du von Sinnen! Hilf mir herauf. Oder soll es mir so ergehen wie Jox Mellmanns Kuh?«
Mit großen Augen bestaunten die Brüder ihre Beute. Wilhelms Scherbe ähnelte der von Jacob, wenngleich ihr Zackenrand ganz anders geformt war. Beide zierten je ein funkelndes rotes Juwel und ein Geflecht aus golden schimmernden Linien.
»Darf ich mal was ausprobieren?«, fragte Jacob und hatte seinem Bruder das Metallstück schon aus der Hand genommen.
»Das ist meins!«, protestierte der.
»Keine Sorge. Du bekommst es wieder. Ich will nur sehen, ob die Scherben zusammenpassen.«
»Dazu sind die Zacken und Kerben viel zu verschieden. Sie müssen ...« Wilhelm verstummte, weil die Metallstücke in den Händen seines Bruders förmlich miteinander verschmolzen. Schneller als das Auge sich hatte Gewissheit verschaffen können, schienen die Ränder der Teile hierzu ihre Form verändert zu haben.
»... erst zueinander finden«, sagte Jacob lächelnd.
Obwohl sich Wilhelm innerlich dagegen sträubte, fühlte er sich erneut betrogen. Es kam ihm so vor, als wolle sein Bruder mit dem Taschenspielertrick auch das zweite Kleinod ergaunern? »Gib mir meine Scherbe zurück«, zischte er.
»Tät ich ja gerne, aber sie wollen nicht mehr auseinandergehen.«
»Lügner!« Wilhelm riss ihm die beiden Teile wütend aus der Hand und versuchte, sie voneinander zu lösen. Es gelang ihm nicht.
»Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel«, murmelte Jacob.
Als Wilhelm die Worte vernahm, die der Lehrer Zinkhan sonst immer auf sie, die unzertrennlichen Brüder Grimm, angewendet hatte, hielt er jäh inne. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, zu welchen Gefühlen er sich hatte hinreißen lassen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre Jacob an die Gurgel gegangen. Dabei war er ihm immer das Liebste auf der Welt gewesen, ein noch kostbarerer Freund sogar, als es der Vater gewesen war. Unvermittelt spürte Wilhelm brennende Scham. Er schlug die Augen nieder und hielt dem Bruder die verschmolzenen Teile hin.
»Behalt du sie.«
Jacob nahm ihm die Scherben aus der Hand, betrachte sie argwöhnisch und streckte sie Wilhelm wieder hin. »Nein, besser du verwahrst sie für uns.«
»Für uns?«
Er lächelte. »»Sie sind wie wir: einander ähnlich und zugleich sehr verschieden, aber doch unzertrennlich.«
»Dann sollten wir sie vielleicht beide in den Schlund zurückwerfen. Ich habe das Gefühl, ihnen wohnt etwas inne, das uns verändern könnte. Und zwar nicht zum Besseren.«
»Auf keinen Fall!«, rief plötzlich eine dumpfe Stimme aus unmittelbarer Nähe.
Die beiden Jungen fuhren herum und erschraken sich fast zu Tode. Wilhelm zuckte ein aberwitziger Gedanke durchs Hirn: Werde ich jetzt den kennenlernen, der die Kuh von Jox Mellmann geholt hat?
Eine dunkle Gestalt kam auf sie zu. Während sie über den verschneiten Waldpfad eilte, stoben die Flocken nur so um ihre weit ausschreitenden Füße. Zunächst war im nebelhaften Schneegestöber nur ein Dreispitz und ein wallendes Cape wahrzunehmen – beides in Schwarz. Dann aber schälte sich ein blasses Gesicht aus den Schatten des Huts, besser gesagt, nur die obere Hälfte davon, denn die untere hatte der Fremde bis zur Nasenspitze mit dem Umhang bedeckt.
Er blieb vor den zitternden Jungen stehen. Seine dunklen Augen fixierten den Gegenstand in Jacobs Hand, während er unter Umgehung der förmlichen Vorstellung sofort zu einer bedrohlich klingenden Warnung anhob. »Wollt ihr den Fluch noch verschlimmern, indem ihr das Phantalabium derart missachtet?«
Die Brüder wechselten beklommene Blicke.
»Wer seid ihr überhaupt?«, fragte der Mann barsch. Seine Stimme klang ziemlich jung.
»Mein Name ist Jacob Grimm«, antwortete ebendieser und deutete auf den zitternden Bruder. »Das ist Wilhelm.«
Der Fremde ließ endlich die Hand sinken und lüftete damit den »Schleier«. Dem Gesicht nach konnte er kaum älter als zwanzig sein. Es sah bei Weitem nicht so schroff aus, wie die Worte klangen, die aus seinem volllippigen kleinen Mund kamen. Oval geformt, die Wangen üppig, der Blick von einer sehnsüchtigen Traurigkeit erfüllt, weckte es den Anschein, einem Mann zu gehören, dem es im Leben an nichts fehlte, der aber trotzdem von einer unstillbaren Sehnsucht getrieben war.
Wilhelm nahm seinem Bruder die zusammengefügten Scherben ab und reichte sie dem Fremden. »Gehört das Ihnen? Sie sind böse auf uns, weil Sie glaubten, wir wollten es für uns behalten, Herr ...?«
»Brentano«, murmelte der junge Mann abwesend. In seinen Augen funkelte es begehrlich, während er die Rechte zitternd nach den dargebotenen Bruchstücken ausstreckte. »Mein Name ist Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche.« Kurz bevor seine Fingerspitzen das Metall berührten, zog er den Arm wieder zurück. Stattdessen griff er nach Jacobs Hand, führte sie wie ein Puppenspieler an die des Bruders heran und sagte leise: »Nimm dir dein Teil.«
»Das geht nicht. Sie haben sich miteinander ...«
»Widersprich mir nicht!«, fuhr ihm Brentano über den Mund, wurde aber sogleich wieder sanft. »Tu einfach, was ich dir sage.«
Jacobs Finger schlossen sich wie eine Zange um die obere Scherbe. Mit einem leisen Klick! löste sie sich von ihrem Gegenstück. Überrascht sah er den Fremden an.
»Wie haben Sie das gemacht?«, wunderte sich Wilhelm.
»Nicht ich war es, sondern ihr. Es kommt sehr selten und nie ohne tieferen Sinn vor, dass zwei Teile des Phantalabiums auf diese Weise ihre neuen Besitzer erwählen. Ich schlage vor, wir verlassen diesen ungemütlichen Ort, ehe noch Schlimmeres uns ereilt als Hagel und Schneegestöber.« Sein Blick senkte sich auf die nackten Füße der Jungen. »Außerdem seid ihr für diese Witterung ziemlich unpassend gekleidet.«
Brentano deutete einladend auf den Weg und ging voraus. Die Brüder schlossen sich ihm an.
Eine Weile liefen die drei schweigend nebeneinander her. Die Miene des jungen Mannes wirkte verschlossen. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Bald wurde es heller um sie herum, und dann tauchte vor ihnen ein lichtdurchfluteter Vorhang auf: der Waldrand. Dahinter schwelgte der Frühling im warmen Sonnenschein, als habe es nie einen Wintereinbruch gegeben.
»Ich habe dieses Wort nie gehört. Was ist eigentlich ein Phantalabium?«, fragte Jacob unvermittelt. Er warf das so unverhofft zurückerhaltene Kleinod hoch und fing es wieder auf.
»Ich empfehle dir, es etwas respektvoller zu behandeln«, antwortete Brentano streng.
»Entschuldigung«, sagte Jacob kleinlaut.
Weil es nun mit jedem Schritt wärmer wurde, nahm Brentano Hut und Umhang ab; Letzteren legte er sich über den Arm. Darunter trug er einen engen braunen Gehrock, ein Rüschenhemd, braune Kniehosen, weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe mit großen Schnallen. Ein paar Schritte später erklärte er: »Es ist ein Findemittel.«
Die Brüder tauschten fragende Blicke. Mit der Erklärung konnten sie auch nicht mehr anfangen als mit dem merkwürdigen Namen.
»Es findet und verbindet Menschen, deren Phantasie neue Welten zu erschaffen vermag«, fügte Brentano daher hinzu. »Und gleichzeitig dient es zur Orientierung im Meer der Träume. Dazu wurde es einst erschaffen.««
Die Verwirrung der Geschwister nahm zu.
»Meine Aufgabe besteht lediglich darin, euch auf das Kommende vorzubereiten und den Schaden zu begrenzen, den ich mit meiner Achtlosigkeit angerichtet habe.« Er lächelte säuerlich. »Ihr versteht vermutlich kein Wort von dem, was ich da erzähle.«
»In Sachen Unbesonnenheit ist mein Bruder Experte«, bemerkte Wilhelm.
»Dann muss er besonders Acht geben, wenn er erst seine eigene Welt erschaffen hat, damit es ihm nicht so ergeht wie mir.«
Jacob schüttelte mürrisch den Kopf. Erkennbar gefiel ihm der Verlauf der Unterhaltung nicht. »Bei allem Respekt, Herr Brentano de La Roche ...«
»Clemens Brentano genügt völlig. Oder besser noch, wir reden uns mit Vornamen an. Den Grund werdet ihr bald erfahren. Ich bin also Clemens.«
Solche Vertraulichkeiten waren mehr als unüblich, und es fiel Jacob sichtlich schwer, sich darauf einzulassen. »Herr Clemens«, sagte er betont langsam. »Wer sind Sie? Was erzählen Sie uns da von Traumozeanen ...?«
»Das Meer der Träume«, stellte Clemens richtig. »Alle je von der Phantasie erschaffenen Reiche existieren darin als Inseln. Gemeinsam mit der Erde – unserer ›Welt der Sinne‹ – und den Gestirnen am Firmament bilden sie das Phantaversum. Und was meine Wenigkeit anbelangt: Ich bin neunzehn Jahre alt und Student der Medizin in Jena.« Er deutete auf die blitzende Scherbe in Wilhelms Hand. »Das Teil des Phantalabiums, das sich deinen Bruder erwählt hat, gehörte einmal mir. Leider habe ich meine Schöpfung sträflich vernachlässigt. Deshalb entzog es sich mir wieder. Erst vor ein paar Tagen schickte es mir einen Traum, der mich in diesen Wald führte, um euch nötigenfalls zu helfen.«
»Wollen Sie damit sagen, die Scherben haben den Schneesturm verursacht?«, fragte Wilhelm ungläubig.
»Du«, verbesserte ihn Brentano. »Sag einfach Clemens und du zu mir. – Die Antwort auf deine Frage lautet: Ich habe keine Ahnung. Es wäre möglich. Das Phantalabium greift manchmal zu solch drastischen Mitteln, allerdings nur, wenn es wirklich wichtig ist. Das Ungewitter könnte aber auch eine Folge meines Versagens sein. Es tut mir leid, euch in die Sache hineingezogen zu haben.««
»Was für eine Sache?« Wilhelm beschlich das Gefühl, dieser Clemens sei gar kein Medizinstudent, sondern ein aus dem Tollhaus entlaufener Irrer.
»Das alles wird euch jemand erklären, der sich in diesen Dingen besser auskennt als ich. Ich werde ihm heute noch eine Brieftaube schicken. Er lebt weit im Westen auf einer grünen Insel. Es kann deshalb ein paar Wochen dauern, bis er bei euch eintrifft. Zeigt in der Zwischenzeit niemandem eure Phantalabiumstücke. Habt ihr mich verstanden? Niemandem! Wartet damit bis ein Fremder bei euch anklopft, der sich der ›Erste Phantanaut‹ oder der ›Navigator‹ nennt und von selbst danach fragt.«
»Und wenn wir die Scherben dem Falschen zeigen?«, fragte Jacob.
Die Miene des jungen Mannes verfinsterte sich. »Dann könnte es unser aller Untergang sein.«
Der Navigator
Steinau an der Straße
Landgrafschaft Hessen-Kassel
5. Juni 1798
Das energische Pochen dröhnte durchs ganze Haus. Wenn jemand auf diese Weise an die Tür klopfte, bedeutete es gewöhnlich nichts Gutes. Vermutlich ein Schuldeneintreiber, dachte Dorothea Grimm. Die Mutter von Jacob und Wilhelm war gerade mit dem Entkernen von Sauerkirschen beschäftigt und wischte sich die rot gefleckten Hände an einem Leinentuch ab. Unterdessen scholl abermals das Hämmern durch die alte Kellerei. Seit dem unerfreulichen Zwischenspiel im Armenhaus nannten die Grimms das heruntergekommene Gebäude am Brückentor ihr Heim.
Dorothea verließ die Küche, um sich dem ungeduldigen Besucher zu stellen. Innerlich wappnete sie sich für eine Auseinandersetzung. Es gab immer jemanden, der ihr den letzten Kreuzer aus der Tasche ziehen wollte. Sie riss die schwere Haustür auf, stemmte kämpferisch die Fäuste in die Seiten und fauchte: »Bei mir gibt`s nichts zu holen.«
Auf der Straße standen zwei Fremde, die verdutzt aus der Wäsche schauten und nicht unbedingt wie Geldeintreiber aussahen. Der eine stützte sich auf einen Gehstock, war hoch betagt, seine kurze Statur untersetzt und das zum Zopf gebundene Haar grau, der andere ein Rotschopf, schlaksig und etwa vierzehn Jahre alt. Beide trugen staubige Kleidung, als kämen sie von weither. Die des Älteren war von den Schuhen, über die Culotte – die Kniehose – bis zum Rock in Dunkelblau gehalten; nur seine Strümpfe mochten einmal weiß gewesen sein. Der hagere Knabe hatte keine Jacke. Seine braune Hose war lang wie bei den Arbeitern und Kleinbürgern, das Hemd allerdings aus feinem Leinen gearbeitet.
Der kleine Alte räusperte sich. Sein Blick lag auf Dorotheas Händen. Ob er die Kirschflecken für Blut hielt? Er verneigte sich und sagte mit hörbar englisch gefärbtem Akzent: »Einen recht schönen guten Tag auch. Wir kommen in friedlicher Absicht. Unsere Heimat ist das schöne Irland. Ich bin Sir Condron D`Arcy aus Loughrea und der junge Edelmann an meiner Seite ist Master Alroy Alistair.«
Dorothea Grimm war eine durchaus sanftmütige Person, und da die hochwohlgeborenen Besucher es wohl nicht auf ihr Geld abgesehen hatten, wagte sie ein verhaltenes Lächeln. Sie entschuldigte sich für die »besudelten Hände« und fragte, was sie für die Herren tun könne.
»Eigentlich kommen wir nicht zu Ihnen«, antwortete Sir D`Arcy. Seine Stimme vibrierte wie die tiefste Saite eines Kontrabasses.
Die Witwe spürte wieder den Schmerz, den jede Erinnerung an Philipp Wilhelms Tod ihr zufügte. »Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, sagte sie traurig.
»Seien Sie unseres Mitgefühls versichert, Frau Grimm. Aber es ist auch nicht ihr Gemahl, um den es geht.«
»Dann kommen Sie wegen der Kinder?«
Der Ire nickte lächelnd.
»Hat die kleine Charlotte ...?«
»Charlotte?«, stutzte er. »Von einem Mädchen weiß ich nichts. Es handelt sich um ...«
»Ludwig!«, stieß sie verärgert hervor. »Natürlich! Der Schlingel frisst ständig etwas aus.«
»Aber nichts, das meiner Aufmerksamkeit bedürfte«, beschwichtigte der Besucher sie.
»Sagen Sie nichts! Dann war es Ferdinand.««
»Äh ... Nein. Ich glaube, da liegt ein Missverständnis ...«
»Etwa Carl? Das würde mich wundern.««
»Da kann ich Sie beruhigen. Mir wurde mitgeteilt ...«
»... dass wieder einmal Wilhelm und Jacob Unfug angestellt haben. Das habe ich mir gleich gedacht.«
Sir D`Arcys Miene hellte sich auf. »Jetzt haben wir die Richtigen! Der Himmel sei Dank. Ich dachte schon, wir würden sie nicht mehr finden oder kämen zu spät.«
Dorothea wirkte betroffen. »Ist es so schlimm?«
Der Alte nickte. »Ja.« Dann schüttelte er sofort wieder den Kopf. »Nein! Nicht, was Sie denken. Ihre Söhne haben nichts angestellt, Madame. Im Gegenteil, sie wurden wegen ihrer besonderen Begabungen ausgewählt.«
»Von wem? Von Ihnen?«
»Vom Phantalabium.«
»Kenne ich nicht.«
»Das macht nichts. Es möchte die besonderen Talente der Knaben fördern. In den deutschen Landen gehörten vor ihnen so berühmte Männer wie der Geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen zu den Auserwählten.«
»Sie meinen den Lügenbaron? Du lieber Himmel! Ich weiß nicht, ob meine Jungs in eine solche Gesellschaft passen.«
»Da kann ich Sie beruhigen. Der Freiherr ist letztes Jahr gestorben.«
»Ist vielleicht auch besser so. Sie müssen wissen, ich halte es bei der Erziehung meiner Kinder mit dem Grimm`schen Leitspruch: Tute si recte vixeres.«
»›Rechtschaffenheit sei deines Lebens Sicherheit‹«, übersetzte Sir D`Arcy. »Damit sprechen Sie mir aus dem Herzen. Gegen die Herren Goethe und Schiller haben Sie hoffentlich nichts einzuwenden.«
»Nein. Im Gegensatz zum Lügenbaron wird man sich an sie gewiss auch nach ihrem Tod noch gerne erinnern.«
Bei den irischen Besuchern stellte sich Erleichterung ein, und Sir D`Arcy wiederholte sein Ansinnen. »Dürften wir Ihre Söhne sprechen? Ich will nicht drängen, aber es ist wirklich sehr wichtig.«
Um die Sommerhitze draußen zu halten, waren sämtliche Fensterläden der alten Kellerei geschlossen. Nur durch ein paar Ritzen quoll der Sonnenschein herein. Im Wohnzimmer kämpften Kerzen gegen das Zwielicht an, und die Standuhr tickte tapfer ihren Takt, als wolle sie die angespannte Stille im Raum vertreiben.
Jacob traute den beiden Fremden nicht. Er saß beim Kamin auf einem Stuhl neben Wilhelm. Beide beäugten argwöhnisch die Besucher auf dem Kanapee. Dorothea hatte alle in die gute Stube geschickt, damit, wie sie sich ausdrückte, »sie ungestört über die Pläne des Phantalabiums plaudern könnten«.
Woher, fragte sich Jacob, wusste die Mutter von den Scherben, die Guy und er vor knapp einem Monat im Wald gefunden und seitdem versteckt gehalten hatten? Doch wohl von den Fremden. Aber wie hatten die zwei Iren davon erfahren? Die düstere Warnung von Clemens Brentano war nicht vergessen: Bekäme der Falsche die Scherben zu sehen, könnte dies ihrer aller Untergang bedeuten.
»Mir brennt die Zeit unter den Nägeln, junge Herren. Sagt mir doch wenigstens, ob ihr die Elemente des Phantalabiums noch habt?«, bohrte Sir Condron D`Arcy zum wiederholten Male nach. Seine Hände fingerten ungeduldig an dem silbernen Segelschiff herum, das als Knauf seinen Gehstock zierte.
Die Standuhr tickte, die Brüder schwiegen. Jacob wollte sich lieber foltern lassen, als das Geheimnis zu verraten.
Obwohl man das Misstrauen der beiden fast riechen konnte, schien der junge Alroy Alistair es nicht zu bemerken. Hingebungsvoll kaute er an dem Kirschmarmeladenbrot, dass die Witwe Grimm ihren Gästen angeboten hatte. Sein grauhaariger Begleiter indes sah ratlos aus. Mindestens zehn Minuten lang hatte er auf die Brüder eingeredet. Nun war sein Vorrat an guten Worten erschöpft.
»Dürfte ich Sie etwas fragen, Sir?«, brach Wilhelm überraschend das Schweigen. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber kennt man Sie noch unter einem anderen Namen?«
Master Alistair beugte sich zu dem Alten herüber und wisperte ihm etwas ins Ohr. Sir D`Arcy nickte verstehend, lächelte hierauf die Brüder Grimm an und antwortete: »Ich bin der Navigator. Oder der Erste Phantanaut, wenn euch das lieber ist.«
Jacob atmete hörbar aus. Jetzt hatte mit einem Mal auch er das Bedürfnis zu tuscheln. Die Köpfe der Brüder rückten zusammen. »Genau wie Clemens vorhergesagt hat. Ich glaube, wir können ihm vertrauen.«
Wilhelm nickte.
»Du meinst Clemens Brentano de La Roche?«, erkundigte sich Sir D`Arcy. Seine Ohren funktionierten offenkundig noch sehr gut.
»Er sagte uns, jemand von einer grünen Insel würde von sich aus nach unseren Phantalabiumteilen fragen und sich Erster Phantanaut oder Navigator nennen«, bestätigte Jacob.
»Clemens schickte mir die Brieftaube mit der Nachricht von eurer Erwählung nach Irland. Der Vogel kam völlig zerzaust auf Brendan Castle an. Es ist ihm – wohl nicht ganz zufällig – ein Donnerwetter in die Quere gekommen. Dummerweise war dabei der Brief nass geworden und die Tinte verlaufen. Deshalb konnten wir eure Adresse nur teilweise entziffern und hätten euch fast nicht gefunden.«
»Sie wohnen in einem richtigen Schloss?«
»Es ist mehr eine Burg. Normalerweise rufe ich dort jeden Sommer die Phantanauten zusammen. Das ist ein Kreis aus bis zu vierundzwanzig jungen Menschen, zu denen auch Master Alistair gehört. Sie erzählen sich einen Monat lang Geschichten und erschaffen mit ihrer Phantasie neue Welten. In diesem Jahr muss ich darauf verzichten, den Vorsitz einzunehmen.«
»Wegen uns?«, fragte Wilhelm.
»Eigentlich wegen Clemens«, sagte Alroy. Die Mutter des jungen Adligen stammte aus Hannover, weshalb sein Deutsch trotz des vollen Mundes mindestens so gut war wie das von Sir D`Arcy.
»Korrekterweise müsste man sagen, das eine bedinge das andere«, stellte der Navigator richtig. »Unser Freund Clemens gehörte bis zum letzten Jahr zum Zirkel der Phantanauten. Als er in eurem Alter war, hatte er das Traumreich Zyklodia erschaffen. Eigentlich hätte er seinen Sitz im Kreis der Weltenbaumeister erst mit Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres räumen müssen. Doch der liebe Clemens ist etwas sprunghaft. Zuerst studierte er in Halle Bergwissenschaften, jetzt in Jena Medizin, und über dem vielen Hin und Her hat er Zyklodia zunehmend vernachlässigt. Darauf trennte sich das Phantalabium von ihm.«
»Und dann ist das großes Unglück geschehen«, sagte Master Alistair kauend.
»Großes Unglück? Meint er den Schneesturm und Hagelschauer?«, wandte sich Jacob wieder an Sir D`Arcy.
»Indirekt schon. Diese Wetterphänomene sind typisch, wenn das Phantaversum einen Riss bekommen hat.«
Jacob glaubte sich verhört zu haben. »Eine Riss? Im Phantaversum? Clemens hat uns erklärt, es bestehe aus sämtlichen Phantasiereichen, der Erde und den Gestirnen am Himmel. Wie kann da eine Schrunde drin sein?«
»Offenbar haben sich Verwerfungen im Gefüge des Phantaversums gebildet. Die einzelnen Welten schwimmen darin wie Froscheier in einem Tümpel: jedes sein eigener Lebensraum, nur ein bisschen Haut trennt den einen vom anderen. Im jährlichen Zyklus wird die Grenzschicht dünn und durchlässig. Deshalb können die Phantanauten überhaupt zur Mittsommerzeit, wenn der sanfte Meteoritenschauer der Ophiuchiden unsere Erde benetzt, in die von ihnen geschaffenen Reiche reisen. Offenbar ist nun wegen der Gedankenlosigkeit unseres jungen Freundes aber genau der umgekehrte Fall eingetreten.«
Jacob verzog das Gesicht. »Sie meinen, ein Frosch ist aus seinem Ei in unsere Welt gehüpft?«
»Eine Kaulquappe«, verbesserte ihn Wilhelm und erntete dafür prompt einen zornigen Seitenblick.