Der Freund von früher - Wolfgang Mueller - E-Book

Der Freund von früher E-Book

Wolfgang Mueller

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Beschreibung

Jeder konnte schließlich zu jeder Zeit ein anderer
werden. Sich wandeln war ein Menschenrecht.


Ein irrsinniges, ein exaltiertes, ein ausuferndes Leben hat er geführt, der Schauspieler Albert Lasser. Beliebt und begehrt war er, die Nächte waren lang, die Partys wild und rauschend. Nun gut, zuletzt ist seine Karriere ins Stocken geraten, aber jetzt, jetzt steht er vor der größten Herausforderung seines Lebens. So erzählt er es seinem Freund Oscar, den er nach langen Jahren zufällig wieder trifft. Doch als der ihn einige Tage später in seiner Wohnung in Berlin-Mitte besuchen will, findet er Albert tot – und die Ereignisse überstürzen sich. Wie und warum ist Albert gestorben? Hat Oscar etwa selbst die Hand im Spiel?

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Zum Buch

Er sieht blendend aus, kein Zweifel, Frauen fliegen auf ihn, fast zwei Meter ist er groß und noch mit vollem Haar, er strahlt Selbstsicherheit aus und gleichzeitig etwas ewig Suchendes. Etwas Kultiviertes. Die Hände, die Sehnen an den Armen, die Muskeln. Durch und durch maskulin, ein Typ, wie ihn die Werbung liebt …

Ein irrsinniges, ein exaltiertes, ein ausuferndes Leben hat er geführt, der Schauspieler Albert Lasser. Beliebt und begehrt war er, die Nächte waren lang, die Partys wild und rauschend. Nun gut, zuletzt ist seine Karriere ins Stocken geraten, aber jetzt, jetzt steht er vor der größten Herausforderung seines Lebens. So erzählt er es seinem Freund Oscar, den er nach langen Jahren zufällig wieder trifft. Doch als der ihn einige Tage später in seiner Wohnung in Berlin-Mitte besuchen will, findet er Albert tot – und die Ereignisse überstürzen sich. Wie und warum ist Albert gestorben? Hat Oscar etwa selbst die Hand im Spiel?

Zum Autor

WOLFGANG MUELLER, geb. 1967 in Bensberg, ist ein deutscher Filmproduzent und Schriftsteller. Er produziert mit seiner Firma Barry Films, ansässig in Los Angeles und Berlin, international erfolgreiche und preisgekrönte Filme (u. a. Life, The Whistleblower, Das Schwein von Gaza). Zuvor praktizierte er als Rechtsanwalt für Musiker und Künstler. Unter dem Namen Oscar Heym hat er zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

WOLFGANG MUELLER

Der Freund von früher

Roman

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Copyright © 2016 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: semper smile Gemälde: »L’essentiel est finalement de ne pas dormir« courtesy Armin Boehm Foto: Jens Ziehe Autorenfoto: privat/Bild im Hintergrund: »Lunatics«, Öl auf Leinwand © Florian Pelka ISBN 978-3-641-17938-0 V004
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1.

Schon Wochen vor dem Dreh feilte Albert an seiner Rolle, überlegte sich Hunderte, Tausende Nuancen seines Charakters, verwarf alles, fahndete in Filmen und Büchern nach Vorbildern und erschuf schließlich einen workaholic, der abends erschöpft sein Penthouse betritt, aufs Sofa fällt und bei einem Glas Wein und guter Musik entspannen möchte, wäre da nicht dieser quälende Hunger, der ihm keine Ruhe lässt. Nach unten zu gehen in ein Restaurant, in einen Supermarkt, oder einen Imbiss zu nehmen, dafür ist er zu müde. Was also tun? Die Wohnung, erkennen wir, ist clean, gestylt und licht, aber nicht steril. Ein Korb schmutziger Wäsche versperrt den Eingang, bestimmt hat er ihn heute Morgen beim Verlassen der Wohnung vergessen. Viel ist geschehen an diesem Tag. Hat er ein tolles Geschäft abgeschlossen? Einen Erfolg zu feiern? Eine neue Liebe? Oder alles zusammen? Er sieht blendend aus, kein Zweifel, Frauen fliegen auf ihn, fast zwei Meter ist er groß und noch mit vollem Haar, er strahlt Selbstsicherheit aus und gleichzeitig etwas ewig Suchendes. Etwas Kultiviertes. Verbraucherinnen könnten ihn sich an der Seite eines Supermodels mit zwei kleinen fröhlichen Kindern vorstellen und sind froh, ihn hier als Single zu erleben. So, als wäre er noch zu haben. Auf einem Tischchen stehen gerahmte Fotos mit in die Kamera lachenden Freunden an sonnengefluteten Stränden. Kein Zweifel, er liebt the good life. Schöne Mädchen in knappen Bikinis. Er mittendrin. Eine Irritation flackert auf: Ist das vielleicht alles zu perfekt? Ist das hier nur seine Zweitwohnung? Führt er gar ein Doppelleben? Ist das nicht seine Stadt? Die Hände, die Sehnen an den Armen, die Muskeln. Er hat sich gut gehalten, und doch ist er unverkennbar Mitte Vierzig, cool, immer optimistisch, an den Augenrändern gezeichnet vom Leben, maskulin halt, ein Typ, wie ihn die Werbung liebt. Die Irritation verfliegt wieder, als seine Enttäuschung – ganz einfache, authentische, ungespielte Enttäuschung – angesichts des leeren Kühlschranks sichtbar wird. Zum Glück findet sich im Tiefkühlfach das neue Fertiggericht von Bel-Ami. Das gibt es jetzt in vielen Variationen: Chili con Carne! Risotto mit Steinpilzen! Poulet in Zitrone! Alle duften einzigartig, trotz des Eisschranks und der Eiszäpfchen an der Verpackung kann er es riechen. Einfach aufreißen, in der Mikrowelle auftauen, in einem Topf auf dem Herd ein paar Mal umrühren oder gleich in der Mikrowelle belassen, fertig! Voller Vorfreude atmet er ein, was angerichtet vor ihm auf dem Tisch steht. Wie ein Schleier umweht der Dampf seine Wangen. Der erste Bissen: Genuss pur! Etwas erfüllt ihn, kleine Nuancen der Gesichtsmuskeln: eine Transzendenz des Essens, der Aromen, des Geschmacks.

Der Dreh selbst brauchte kaum Überlegung und Development. Es blieb keine Zeit, die Figur zu entwickeln. Alles musste gleich bei der ersten Aufnahme präsent sein. Das Wichtigste für die Leute aus der Werbung war die Sichtbarmachung des Genusses. Genau einen Tag veranschlagten sie für den Film. Das Team arbeitete trotz einiger Kontroversen hochprofessionell, und am Ende lagen sich alle in den Armen. Der Kunde, die Hauptsache, gab sich hochzufrieden. Der Film wäre Alberts Auferstehung, er brachte ihn zurück in die Schauspielerei, sofort sprach es sich im Kiez herum, dass er in einer großen Werbekampagne mitwirkte. Jahrelang hatte er ja abseits gestanden, hatte nicht einmal mehr kleinste Rollen erhalten. Deutlich spürte er, dass es von nun an wieder bergauf ging. In zwei Wochen würde der Film on air sein. Nicht die jahrelange Ablehnung als Schauspieler sei schmerzhaft für ihn gewesen, gestand er mir an diesem Nachmittag, sondern das Übergehen, das Nicht-mehr-wahrgenommen-Werden, der verfaulte Geruch des Vergessenen. Seit dem achtzehnten Lebensjahr stand er auf Bühnen, vor Kameras, war in Kino und Fernsehen, doch irgendwann hatten ihn Casting-Agenten, die Kunden, die Schreiber, die Produzenten und Regisseure vergessen, und wie so viele in seiner Branche musste er sich von Job zu Job hangeln und sich durchschlagen. Der Trost der Absagenden blieb immer der Gleiche: Dein Gesicht wird jedes Jahr ausdrucksstärker! Warte ab! Halte durch! Gleichwohl: Mit Vierzig sah es mehr als düster aus. Etwa zu Beginn dieser einsetzenden Flaute hatten wir unsere intensivste Zeit, Alberts Leben schien eine Aneinanderreihung von Abenteuern, Partys, Kuriositäten. Die irrwitzigsten Sachen widerfuhren ihm, mit den verrücktesten Leuten durchzechte er Nächte, und irgendwann wurde mir klar, dass die Aufregung und der Exzess ihm nur dazu dienten, diese immer länger andauernde Leere im Beruf zu füllen. Er ging auf jeden Event, er umgarnte die, von denen er dachte, sie wären wichtig, trank, nahm Drogen, bis irgendwann die Depression so groß wurde, dass er an nichts mehr glaubte, jede Hoffnung sich als Trug erwies, bis er so weit unten war, dass selbst eine Rolle für ein Fertiggericht ihm wie der Durchbruch zu einer zweiten Karriere vorkam. Wie eine Verheißung. Die Werbekampagne, ganz sicher, würde das Größte werden, was im Fernsehen je gelaufen war. Und dann, ja dann, würde sich alles wieder um ihn drehen. Erfolg hat immer Recht.

Eine Ewigkeit hatten wir uns nicht gesehen, als sich an diesem Tag zufällig unsere Wege kreuzten. Lässig betrat er ein Café, bestellte einen CL (mit extra viel Milch) und flirtete mit der Kellnerin. Dann sah er mich an der Ausgabe warten. Sprachlos über unser Wiedersehen umarmten wir uns und fingen an zu reden. Immer wieder schlug er mir lachend mit der flachen Hand auf die Wange, als könne er nicht fassen, dass ich es wirklich war. Und wie so oft, wenn man mit Albert zusammensaß, stießen nach und nach unzählige Bekannte dazu, sagten Hallo, erzählten ihrerseits Geschichten und Neuigkeiten, bis sie von anderen abgelöst wurden. Berlin-Mitte floss dahin. Es war wie immer. Wir staunten über unsere Leben, unglaublich, was alles passiert war. Erst gegen Abend gingen wir auseinander.

– Es kann doch nicht sein, meinte er zum Abschied, – dass wir uns so lange nicht gesehen haben! Wir müssen uns unbedingt wiedersehen! Hab ich dir erzählt, dass ich vor der größten Herausforderung meines Lebens stehe?

– Hast du eine neue Rolle angeboten bekommen?

– Nein, nein!, nicht deswegen, lachte er laut. Auf einmal wurde er vertraulich: – Geht schon ziemlich lange platonisch. Komm Donnerstag vorbei, dann erzähl ich dir alles!

Er drückte mich an sich. Der Geruch seines Aftershaves hatte sich nicht verändert.

– Du hast den Schlüssel noch, oder? Die Klingel unten funktioniert nicht … du weißt schon, genau wie früher …

Albert, die Wohnung, der Kiez, waren aus meinem Kosmos verschwunden, seit ich vor fünf Jahren mit Clara nach Spandau gezogen war, doch unser Wiedersehen rüttelte etwas in mir wach. Es war, als müsste ich in meinem Verhältnis zu Albert noch etwas nachholen, etwas begreifen, das ich bisher übersehen hatte. Unsere unverhoffte Begegnung, dieses Wieder-miteinander-Sprechen rief unklare Gefühle in mir wach. Wie sehr hatte ich ihm früher nachgeeifert, wie sehr hatte ich ihn bewundert, doch irgendwann verwischten sich die Grenzen, und ich musste, aus Gründen, die mir selber nie ganz deutlich wurden, mein Leben ändern. Was cool war, sah irgendwann nur noch jämmerlich aus. Alberts Niedergang (aber war es überhaupt ein Niedergang?) hatte schon begonnen, als wir das Dachgeschoss teilten, und gerade weil ich spürte, dass es ihm zunehmend schlechter ging, verloren wir die Grundlage unserer Freundschaft. Er legte einen Panzer aus Feiersucht um sich. Er verprellte Freunde. Er wurde unerträglich. Ab und zu erfuhr ich über gemeinsame Bekannte von seinem Mitte-Leben, aber es waren wenig schmeichelhafte Dinge, und ich hatte kein Bedürfnis, ihn in Schutz zu nehmen. Clara reagierte allergisch, wenn sie nur seinen Namen hörte, zog die Augenbrauen hoch oder seufzte. Sie wollte nichts mehr mit ihm und der Vergangenheit zu tun haben. Vielleicht war der Preis unseres Zusammenseins das Ende meiner Freundschaft mit Albert. Zurück in dem Häuschen in Spandau – das der Makler uns vollmundig als Townhaus beschönigt hatte, während es in Wahrheit nichts anderes war als ein aufgefrischtes Reihenhaus – erwähnte ich mein Wiedersehen mit Albert nur am Rande. Ich wusste, dass es Clara nervös machen würde.

– Vielleicht treffe ich ihn diese Woche noch einmal, sagte ich vorsichtig. – Ich habe sowieso ein paar Termine in Mitte.

Sie stocherte lustlos im Gemüse herum, während ihr Blick konzentriert auf das Essen gerichtet blieb. Ein untrügliches Zeichen, dass sie alarmiert war. Ihre Haut, kam es mir vor, färbte sich leicht grünlich. Sie strich sich die langen rötlichen Strähnen aus dem Gesicht, kam auf mich zu und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn.

– Albert, ja? Wo bist du ihm begegnet? Du solltest dich nicht mehr mit ihm abgeben …

Mehr sprachen wir nicht darüber, und sie kam auch nicht darauf zurück. Donnerstags verbrachten wir den Vormittag am Schreibtisch. Sie in ihrem, ich in meinem Arbeitszimmer. Als ich mich am Nachmittag aufmachte, meinte sie nur, ich solle aufpassen. Ich roch ihren Pfefferminz-Atem, es war wie eine Warnung.

Die Dachgeschosswohnung, die ich damals angemietet hatte und in der er bis heute wohnte, lag inzwischen in einer der teuersten Gegenden der Stadt. Ringsherum war alles saniert und herausgeputzt. Niemand wäre damals eine Wette darauf eingegangen, welche Karriere die Straße nehmen würde, das Verwahrloste war uns nur recht gewesen, konnten wir so doch den alten, müden Verwalter überreden, die Miete niedrig zu halten, während wir vollmundig versprachen, Tausende in die Modernisierung der Wohnung zu stecken. Noch vor drei Jahren hatten Betrunkene und Obdachlose die Straßen und Eckkneipen bevölkert, während es jetzt nur so wimmelte vor Galerien, vor Cafés, schicken Boutiquen von Modemachern und überteuerten Restaurants. Die Frauen trugen Röcke und hochhackige Schuhe und balancierten auf den immer noch unebenen Bürgersteigen. Das Grölen der wenigen Betrunkenen war wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Das, schrieben die Zeitungen, mache ja gerade das Flair dieses Kiezes aus. Die Reichen, die Kreativen, die Aufstrebenden, kurz: die Elite war angekommen und würde nicht wieder fortziehen. Nur die beiden Eckhäuser am Ende der Straße blieben unsaniert, irgendjemand hatte behauptet, es läge daran, dass die Häuser noch zu DDR-Zeiten hätten abgerissen werden sollen und deshalb aus dem Grundbuch gelöscht worden waren. Das Haus, in dem ich früher gewohnt hatte, der Putz, der von den Wänden bröckelte, die baufällige Treppe mit den krummsten Stiegen der Welt, es kam mir vor wie die letzte Enklave. Ich stieg den Turm meiner Vergangenheit hinauf, und wie immer musste ich bereits im dritten Stock pausieren, weil mich das Treppensteigen so erschöpfte. Oben angekommen hämmerte ich gegen die Tür. Nichts. Ich wählte seine Nummer. Auf seinem Handy sprang der Anrufbeantworter an, durch die Wände hörte ich das Gerät vibrieren.

– Wo steckst du? Mach auf!, rief ich.

Wahrscheinlich war er ausgegangen und hatte sein Handy vergessen. Enttäuscht stieg ich die Treppe wieder hinunter. Auf der Straße kam mir Josefine entgegen, unsere ehemals engste Freundin und Alberts langjährige Geliebte, die das Restaurant gegenüber betrieb, in dem einzigen anderen verbliebenen Haus in der Straße, das noch nicht saniert war.

– Was machst du denn hier?, fragte sie erstaunt. – Ewigkeiten nicht gesehen!

– Ich wollte zu Albert. Wir waren verabredet.

– Was du nicht sagst! … Wie geht’s Clara? Seid ihr noch oft in Mitte?

– Eigentlich nicht, meinte ich. – Hast du eine Ahnung, wo er stecken könnte?

– Warte, lachte sie nur, – ich habe einen Schlüssel. Wahrscheinlich ist er auf der Couch eingeschlafen. Du kannst ihn überraschen!

Sie bedeutete mir, ihr zu folgen. Das Treppensteigen schien ihr nicht das Geringste auszumachen.

– Wann habt ihr beide euch denn zuletzt gesehen?

– Diese Woche. Zufällig. Albert schlug vor, wir sollten uns mal wieder treffen. Deshalb bin ich hier.

– Ach wirklich?, sagte sie erstaunt. – Davon hat er gar nichts gesagt.

Das Treppensteigen brachte mich um. Wahrscheinlich lag es am unterschiedlichen Abstand der einzelnen Stufen, jedenfalls gab es keine Treppe auf der ganzen Welt, in keinem Haus der Welt, die mich so erschöpfte. Das alte ausgetretene Holz bettete den Fuß förmlich ein, ließ ihn quasi festkleben und verlangte ihm ein Stück mehr Kraft ab, als es gewöhnliche Treppen taten. Erheitert schüttelte Josefine den Kopf, als ich oben ankam.

– Du scheinst ein wenig außer Form zu sein.

– Danke!, japste ich. – Ist einfach lange her, dass ich täglich diese Treppen gestiegen bin!

Nassgeschwitzt schnappte ich nach Luft. Sie grinste noch breiter. Dann öffnete sie kurzentschlossen die Tür.

Wie vertraut mir dieser Geruch vorkam. Noch bevor ich Josefine fragen konnte, wie sie – nach dem schrecklichen Streit, den sie und Albert damals gehabt hatten – heute zu ihm stand, sah ich ihn ausgestreckt auf dem Boden im Flur liegen, und während ich noch an einen Scherz glaubte und sagen wollte, Albert, steh doch auf, was soll denn das?, fing Josefine an zu kreischen, und dieses Kreischen oder Weinen oder Wehklagen oder alles zusammen war es, das unmissverständlich in das tiefste Innere meines Gehirns drang und mir klar machte, dass der Freund, den ich heute besuchen wollte, tot war.

2.

Die Ereignisse, die nun folgten, waren verstörend und schrecklich, aber um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man wissen, dass zu der Zeit, als die Beziehung von Albert und Josefine begann, es im Umkreis von einem Kilometer kein vernünftiges Restaurant in unserem Kiez gab. Selbst die Nobelrestaurants am Brandenburger Tor und Gendarmenmarkt taten sich schwer. Einige Sterneköche hatten sich nach Mitte gewagt, mussten aber bald feststellen, dass nicht genügend zahlungskräftige Gäste kamen. In unserer Straße wohnten noch viele Vor-Wende-Bewohner, Menschen, die im Leben nicht darauf gekommen wären, abends essen zu gehen. In den ersten Monaten rückte ständig die Polizei in Josefines Restaurant an. Nicht etwa, weil sich jemand über Ruhestörung beschwert hätte oder irgendeine Sperrstunde überschritten worden wäre, sondern aus purer Neugier. Um zu sehen, wie sich feine Leute in einem feinen Restaurant benehmen mochten. Wahrscheinlich vermuteten sie, etwas Verbotenes liefe hier ab: Wie konnten Menschen Stunden an einem Tisch ausharren, nur um etwas zu essen und schließlich Unsummen dafür auszugeben? Josefine wurde von den Alteingesessenen begafft wie eine Außerirdische. Sie vermieden es, mit ihr zu sprechen oder sie auf der Straße zu grüßen. Das alles änderte sich schlagartig, als Albert ihr Geliebter wurde und fortan seine ganzen Freunde Abend für Abend ins Restaurant einlud. Damals spielte er noch Theater, und nach jeder Aufführung fiel er mit seiner Horde ein, um zu essen, zu trinken und über Gott und die Welt zu philosophieren. Vor zwei Uhr morgens endete kein Abend. Die Schauspieler diskutierten, rezitierten Texte und zogen eine Show ab, die die übrigen Gäste begeisterte. Damals wähnte Albert sich bereits als neuer Theaterintendant, so imperial beherrschte er die Szene, er entschied, wann es genug war und alle nach Hause mussten, er diktierte die Gespräche und orderte die Getränke. Journalisten schrieben bald über Josefines Küche und lobten die besondere Atmosphäre des Restaurants. Danach musste jeder, der kein Stammgast oder Freund von Albert war, Wochen im Voraus reservieren, um einen Tisch zu ergattern. Albert nannte Josefine bloß Jo-seph, betonte es Amerikanisch, mit P-H, so dass die Zunge am Ende ausrollte. Leute, die das Restaurant nur vom Hörensagen kannten, wunderten sich oft, dass sie eine Frau war und Deutsch sprach. Und die hart arbeitende Jo-seph, die in Wahrheit oft am Morgen nicht wusste, wie sie die Einkäufe für den Abend bezahlen sollte, blühte auf. Ihr Mäusegesicht strahlte, sie herzte die Ankommenden, flirtete und gab die perfekte Gastgeberin. Irgendwann lief es von selbst, die Abläufe saßen, und sie konnte sich ganz ihren Gästen widmen. Und mit ihrem Restaurant änderte sich auch das Bild dieser Straße. Es wurde schick, herzuziehen. Investoren sanierten die Häuser und verkauften die Einheiten an die Wohlhabenden aus aller Welt. Immer mehr Künstler, Architekten, Webdesigner und Fotografen zogen her. Auf einmal flanierten schicke Frauen tagsüber mit ihren Hunden und packten wie selbstverständlich deren Kot in blaue Plastiktüten. Jetzt kamen Menschen ins Restaurant, die es sich leisten konnten, lange aufzubleiben und Geld auszugeben. Josefines Herzlichkeit riss alle mit. Ihre Begrüßungen waren Zelebrationen, sie tat, als würde sie einen seit Jahren kennen. Sie besaß etwas Mütterliches, Kumpelhaftes und Attraktives und setzte ihre Eigenschaften gezielt und instinktsicher ein. Albert und ich sahen sie fast jeden Abend, an Sonntagen unternahmen wir Ausflüge an die Seen oder in die Ferienhäuser von Freunden, wir sprachen über Filme, Theaterstücke, Kunstwerke, Stadtplanung, Architektur, Lokalpolitik, als wären wir in allem Experten. Wir waren anders als die Menschen aus den Orten, die wir verlassen hatten, und wir genossen es.

Albert wurde zu einer Art Kiezgröße, er kannte alle Prominenten, die hier wohnten, und sein Gesicht kannten irgendwie alle, die in Mitte unterwegs waren. Oft genug kam es zu absurden Begegnungen mit Touristen oder frisch Hergezogenen, die behaupteten, ihn in diesem oder jenem Film gesehen zu haben. Er ertrug solche Verwechslungen mit der Würde des Stars. Für alle bildeten sie das perfekte Paar, der Künstler und seine Muse, die wie nebenbei einen der hot spots der Stadt führte. Unendlich wurde spekuliert, ob sie heiraten, Kinder zeugen, aufs Land ziehen würden. Es ging ihnen gut. Das Restaurant warf einiges ab, Albert verdiente ausreichend beim Theater und bei kleineren Filmdrehs. Bei allen Ausschweifungen hatte man nie das Gefühl, dass den beiden je etwas Schlimmes widerfahren könnte. Sie besaßen eine Bodenständigkeit, eine Sicherheit, etwas, das ihnen immer anhaften würde. Ein Glücks-Gen, das sie vor Fehltritten bewahrte. Bis heute weiß ich nicht, was dann passierte. Was genau sie auseinandertrieb, warum sie auf einmal verächtlich übereinander sprachen, sich quälten und erniedrigten und alles nur noch Krampf wurde. Nachdem sie sich getrennt hatten, wechselten sie jahrelang kein Wort mehr miteinander. Dass ich Josefine an jenem Donnerstagnachmittag so unbeschwert und heiter antraf, hieß ja, dass sich die Wogen in der Zwischenzeit geglättet haben mussten, und wäre ich nicht so erschöpft vom Treppensteigen gewesen, hätte ich schon da gefragt, wann sich ihr Verhältnis wieder entspannt hatte.

Der Notarzt klopfte an der Tür, sein Gesicht war in Schweiß gebadet. Er hechelte:

– Haben Sie angerufen?

– Sieht hier sonst noch jemand tot aus?, blaffte ich zurück.

Er runzelte die Stirn, öffnete den Arztkoffer und machte sich über Albert her. Mit Hilfe von zwei Sanitätern drehte er den Körper auf den Rücken und versuchte sich an Notmaßnahmen. Josefine heulte und rauchte, bis einer der Sanitäter schrie, sie solle die Zigarette ausmachen oder das Küchenfenster öffnen, bei dem Gestank könne er nicht arbeiten. Als sie wieder und wieder auf Alberts Brust drückten, schöpfte ich einen Moment Hoffnung und glaubte, Zeichen von Leben in ihm zu entdecken. Da! Eine Reaktion. Die Augen öffneten sich, und auch wenn sie weiß und leblos schimmerten, sah es aus, als fände er zurück. Die Arme zuckten. In die Haut kehrte Farbe zurück.

– Albert, feuerte ich ihn an, – ja, ja, Albert, du schaffst es! Mach schon!

Ohne mir Beachtung zu schenken, schrien der Arzt und die Sanitäter auf einmal wild durcheinander. Ob er sie hören könne! Los! Los!, und nach jeder Anfeuerung hatte ich das Gefühl, er werde sich gleich aufrichten, ausatmen und sagen: Was zum Teufel macht ihr in meiner Wohnung? Dass er wie Lazarus auferstehen und sich wundern würde über das Theater um ihn herum. Die Sanitäter riefen, wir sollten Angehörige verständigen, sie müssten die Blutgruppe wissen, und ob uns Krankheiten bekannt seien. Unentwegt fiel ihnen jetzt etwas ein, um uns auf Trab zu halten. Zum Glück hatte ich die Nummer seiner Schwester Maike im Telefon gespeichert. Offensichtlich erwischte ich sie auf einem Spielplatz, das Kinderschreien übertönte alles.

– Albert ist etwas zugestoßen, schrie ich, so laut ich konnte. – Verstehst du mich?

Statt einer Antwort hörte ich nur Knarzen und Kindergeheul und nach einer Weile Maikes erschöpfte Stimme, die sagte, sie könne mich nicht verstehen, ich solle es später noch einmal versuchen.

Der Sanitäter fragte nach Alberts Geburtsurkunde.

– Woher soll ich das wissen?, schrie ich zurück, zutiefst beleidigt. So ein Unsinn.

Ich hechtete ins Arbeitszimmer (das früher mein Zimmer gewesen war) und riss die Schubladen auf. Zu meiner Überraschung lag die Geburtsurkunde fein säuberlich obenauf. Albert Hieronymus Latter, las ich als Eintrag.

– Er hat mir nie gesagt, stotterte ich, – dass er Hieronymus heißt.

– Wofür brauchen Sie denn jetzt seine Geburtsurkunde?, giftete Josefine.

Doch der Sanitäter schüttelte nur den Kopf, nahm das Papier an sich und nuschelte etwas in sein Funkgerät. In seinen Augen funkelte eine diffuse Furcht.

– Brauchen wir, um den Totenschein auszustellen, flüsterte er schließlich.

Den Totenschein? Hatte er wirklich Totenschein gesagt? Er brauchte die Geburtsurkunde für den Totenschein? Jetzt hämmerte es in meinem Kopf. Jetzt wurde mir klar, dass nichts mehr zu machen war, dass alle Rettungsversuche vergebens waren. Josefine ließ achtlos die Zigarette fallen und fiel mir um den Hals.

– O mein Gott, jemand wie Albert stirbt doch nicht so einfach, schluchzte sie. – Das kann alles nicht wahr sein. Das kann nicht sein! O mein Gott!

– Sieht nicht nach Fremdeinwirkung aus, stellte der Arzt lapidar fest. – Wir bringen ihn trotzdem erst einmal in die Pathologie.

In diesem Moment betraten zwei Polizisten die Wohnung. Der Arzt nahm sie beiseite und schilderte ihnen den Vorgang. Die Beamten äugten argwöhnisch zu mir hinüber, während sie ihm zuhörten. Ohne den Toten am Boden weiter zu beachten, verlangten sie meine und Josefines Personalien.

– Er war kerngesund, erklärte ich, – und dann finden wir ihn einfach hier …

Noch zwei Männer traten ein, in schwarzen Anzügen und Krawatten, mit einem Plastiksarg, den sie neben Albert stellten. Die Polizisten, der eine älter und dick, der andere jung und mit rosa Wangen, sahen sich um. Schließlich machte der ältere den Sargträgern ein Zeichen, dass sie den Toten einsargen konnten. Es sah aus, als würde er den Verkehr auf einer ampellosen Kreuzung lenken. Dann deutete er auf die Gemälde an der Wand.

– Sind die wertvoll?

– Arbeiten von Freunden. Momentan jedenfalls nicht, sagte ich.

– Am besten fotografieren Sie das Ganze, solange wir hier sind, empfahl er mir. – Sonst könnten Ihnen die Angehörigen später Vorwürfe machen. Man weiß nie, wer die Erben sind. Und wie sie reagieren.

– Erben?

– Ja, zu solchen Streitereien kommt es immer häufiger. Die Erben beschuldigen die Leute, die die Toten gefunden haben, etwas entwendet zu haben. Dass Inventar weggeschafft wurde oder so. Meist ist das blanker Unsinn, aber manche können eben nie genug kriegen.

Während ich ihm wie von fern zuhörte, begann Josefine mit ihrem Handy die Räume zu fotografieren. Ich wagte nicht, sie zu stoppen. Endlich verzogen sich der Arzt und die Sanitäter, die Polizisten und die Sargträger, und so etwas wie Ruhe kehrte ein.

– Ich möchte bleiben, sagte ich zu Josefine.

Sie streichelte mir über den Rücken und bat mich, danach noch ins Restaurant zu kommen, sie werde ein paar Freunde versammeln, um etwas für Albert zu veranstalten. Dann war ich allein, stand in dieser Wohnung, in der ich zwei Jahre mit Albert gelebt hatte. In der Küche hing Pfefferminzgeruch. Im Bad roch es nach den Putzmitteln der Putzfrau aus dem dritten Stock, die schon zu meiner Zeit einmal die Woche saubergemacht hatte. Eigentlich war es meine Wohnung gewesen. Albert aufzunehmen war bloß eine Geste der Freundschaft gewesen, aber schon bald war er der Herr im Haus, und als ich Clara kennenlernte, war uns allen klar, dass wir hier nicht zu dritt oder gar noch zusammen mit Josefine wohnen konnten. Als wir den gemeinsamen Haushalt auflösten, zog ich auf Alberts Bitten nachts aus, weil er fürchtete, der Vermieter könne etwas mitbekommen und die Wohnung kündigen …

Vorbei!, schoss es mir durch den Kopf. Das ist jetzt alles vorbei. Alles bloß noch Erinnerung. Ich wollte mich nicht dem Schmerz überlassen, nicht jetzt. Ich rief Clara an und erzählte ihr, was geschehen war. Fünf Minuten oder länger schwiegen und weinten wir. Dann sagte sie:

– Ihr wart gute Freunde, und dein Schmerz ist berechtigt. Aber denk auch an uns.

– Ich werde hier übernachten, murmelte ich nur.

Auf und ab, von einem Zimmer ins nächste, die Küche, das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer, tigerte ich durch die Wohnung, versuchte, mich an alles zu erinnern. Die Bilder: einige der Künstlerfreunde waren bereits tot. Die Küchengeräte. Die Möbel. Alles schien von unserer Freundschaft zu sprechen. Gegen ein Uhr in der Nacht ging ich nach unten. Ich hatte es Josefine versprochen. Weil ich den Türschlüssel nicht fand, lehnte ich die Tür bloß an. Das Restaurant war noch voll. Erst als ich die Türschwelle überschritt, nahm ich die andere Atmosphäre wahr. Alle waren wegen Albert gekommen. Eine dicke Frau umarmte mich und stammelte:

– Unglaublich. Es ist einfach unglaublich. Wie kann so etwas passieren?

Ich hatte keine Ahnung, wer sie war. Überhaupt sagten mir die wenigsten Gesichter etwas. Alle tranken, weinten, rauchten, schauten apathisch, jammerten, sprachen abgeklärt oder wehmütig über ihre letzte Begegnung mit Albert, Uralt-Bekannte behaupteten, sie hätten ihn erst letztens wieder getroffen und wären froh gewesen, ihn so glücklich zu sehen, desto tragischer sei sein Tod, gerade jetzt, wo er einen großen Werbespot abgedreht und seine Karriere neuen Schub erhalten habe. Wie niederträchtig das Leben spiele, wie brutal, jemanden einfach so aus unserer Mitte zu reißen. Er war so ein wunderbarer Mensch, hatte sogar mit Yoga angefangen, weil er spürte, dass er einen inneren Ausgleich zum Alltag brauchte, und ja, er wollte diesen Sommer nach Indien. Jemand flüsterte mir zu, er habe zuletzt eine Freundin gehabt, außerhalb Berlins, doch keiner konnte das bestätigen oder kannte ihren Namen. Ich solle es für mich behalten, er wolle nicht noch mehr Kummer stiften. Das alles klang für mich wie Verklärung, Legendenbildung, als bestünde bereits jetzt, so wenige Stunden nach seinem Tod, das Bedürfnis, ihn als Vergangenheit zu begreifen. Als endlich die Letzten aus dem Restaurant getorkelt waren, presste Josefine ihren Mund auf meinen und nuschelte, ob ich bei ihr übernachten wolle.

– Ich komme schon zurecht, sagte ich und drückte sie fest.

– Gut, meinte sie und blieb ruhig, ganz ohne Tränen. – Aber bitte, pass auf dich auf!

3.

Die Kälte an den Beinen, vor allem die Stelle um die Kniekehlen, weckte mich. Zu meiner Verwunderung lag ich nackt auf dem Boden neben dem Bett und fand mich auf dem Bauch wieder – genau so, wie ich Albert tags zuvor gefunden hatte. Im Schrankspiegel des Badezimmers suchte ich vergeblich nach Aspirin. Stapel von Pillen türmten sich auf den Brettern. Damals, in den schlimmsten Phasen, hatte Albert schon morgens mit irgendwelchen Tabletten angefangen. Es war diese Erinnerung, die mich weinen ließ. Wie um alles in der Welt hatte er sterben können? Einfach so aus der Welt treten? Von einem Moment auf den anderen in die Vergangenheit rücken? Auf meinem Handy fanden sich fünf verpasste Nachrichten, vier davon von Clara. Ich rief zurück. Wie furchtbar das alles sei, schluchzte sie, und wie leid es ihr tue, gestern so gefühllos gewesen zu sein. Ich versprach, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Die andere Nummer endete im Nichts, eine Ansage behauptete, der Angerufene sei nicht erreichbar. Dann piepte das Besetztzeichen. Es klingelte an der Tür. Der knarrende Ton der Hausschelle kam mir vertraut vor, es war das Klingeln aus alten Häusern, viel ehrlicher als das penetrante Summen in den Neubauten. Als ich öffnete, machten sich zwei Polizeibeamte, der ältere von gestern und der schmale jüngere, gerade daran, die Treppe wieder hinunterzusteigen.

– Ach, ist doch jemand da?, fragte der Ältere.

– Ich … ich habe noch geschlafen.

Skeptisch musterten mich die Beamten.

– Haben Sie etwas angefasst?

– Nein, eigentlich nicht, antwortete ich kleinlaut, – nur das Bett, in dem ich geschlafen habe.