Der Friedhof der Dinge - Florian Göttler - E-Book

Der Friedhof der Dinge E-Book

Florian Göttler

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Beschreibung

Humorvoll und wendungsreich. Ein heiteres Schelmenstück. Die schönste Love Story seit "Der weiße Hai". Wenn etwas für immer verschwinden muss, ist Ignaz Hallgrubers Schrottplatz die beste Adresse weit und breit. Ignaz nimmt es nicht so genau. Er nimmt einfach alles. Und er kann die Klappe halten. Er hält sie gern. Ignaz scheut die Menschen. Dabei hat er eigentlich nichts gegen sie. Vor allem, wenn sie ihn in Ruhe lassen. Aber wenn die Gemeindebücherei kein Geld mehr für neue Bücher bekommt, ist es Zeit zu handeln. Also raus aus der Komfortzone. Sich engagieren. Sich wehren. Außerdem ist da noch diese Katrin, eine Büchereimaus vor dem Herrn. Doch wenn man seit zwanzig Jahren allein auf einem Schrottplatz lebt und noch dazu ein Rattenproblem hat, ist man wirklich bereit für die Liebe? Und dann schleppt auch noch jemand etwas Hochbrisantes auf den Schrottplatz, das ganz dringend für immer weg muss. Für Ignaz ist das alles furchtbar anstrengend.

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Seitenzahl: 384

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Buch

Wenn etwas verschwinden muss, möglichst günstig und für immer, gibt es weit und breit keinen besseren Ort als Ignaz Hallgrubers Schrottplatz. Ignaz nimmt es nicht so genau. Er nimmt einfach alles. Der Schrottplatz floriert, und über die Kohle, die Ignaz und sein ewiger Praktikant Max Gold bei Haushaltsauflösungen abstauben, lässt sich auch nicht meckern. Also alles gut? Eigentlich schon. Wäre da nicht Ignaz’ Menschenscheu. Es ist ja nicht so, dass er seine Mitmenschen nicht mag. Er mag sie nur nicht um sich haben. Aber die Katrin von der Gemeindebücherei ist einfach verdammt süß und irgendwie anders. Also raus aus der Komfortzone und rein ins pralle Leben. Doch plötzlich ist jemand tot, der es echt nicht verdient hat, auf dem Schrottplatz gibt es ein Rattenproblem, und noch wichtiger: Wann gibt es endlich neue Sachbücher in der Bücherei?

Autor

Florian Göttler, 1977 in Dachau geboren, veröffentlichte 2018 sein Erstlingswerk Voll aufs Maul, eine Satire, die mehr als ein Geheimtipp ist. Mit Ein Heimatlied von Gier und Grausamkeit (2020) widmete er sich den brennenden Themen unserer Zeit: Umweltzerstörung, Wachstumsirrsinn, Geldgier, falsche Heimatliebe – und blickte tief hinein in die dunklen Abgründe des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Mit Der Friedhof der Dinge (2021) klettert er zurück ans Licht trotz trister Corona-Zeiten. „Ich wollte ein Gutelaunebuch schreiben. Es schien mir der richtige Zeitpunkt.“ Der Autor lebt zurückgezogen in Dachau bei München. Er findet das nicht schlecht. Sogar äußerst hervorragend.

Für Marie-Theres

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die Bürgerversammlung, der malade Trachtenzustand und das Artisten-Ansinnen

Der immer gleiche Ausleihvorgang

Das Geld anderer Leute

Der feine Unterschied zwischen Muffeln und Stinken

Die Nutzlosigkeit

Die Vergangenheit, die Hilfsbereitschaft und die Gier

Der Einfluss an der Stirn festgefrorenen Speiseeises auf die Weiterlebensbereitschaft anderer und die unerfreulichen Folgen des Schweinshaxenattentats

Der erste Pfannkuchen seit zwanzig Jahren

Die Kennenlernung und Verliebung von Katrin und Ignaz

Wissenswertes über die Bekämpfung von Ratten

Tom B. Stone, Gastmusikant

Die segensreichen Folgen des real existierenden Otterismus am konkreten Beispiel

Der Vater, die Mutter, die grobe Moni und die weithin unterschätzte Tätigkeit des Absaugers

Die Rückkehr, Skirennen und der Tod

Die Kindheit, die Audacher Ansichten und der wunderbare Max Gold

Der Landgang des Ignaz Hallgruber und der unerkannte Bazillus der Immertätigkeit

Wach sein

Das Gemeindejubiläum, Teil eins: Ansaufen

Das Gemeindejubiläum, Teil zwei: Weitersaufen

Das Gemeindejubiläum, Teil drei: Der Sturm, der Otter und der Grappa

Spreitzel im Hintern, die Tom B. Stonesche Unsüßwerdung und die ganze Schose kurz von oben aus betrachtet

Das Schweinswürstl-Desaster und die Tieferlegung des Tom B. Stone

Der in betrunkenem Zustand ausgesprochen hervorragend klingende Katrinrückeroberungsplan

Tracht und Macht, Geld und Gier

Die Wut, die Liebe und die Scheißegalität

Die Beichte

Der Betriebsausflug und die Alleswiedergutwerdung

Realität

Epilog

Prolog

Treffen sich ein betrunkener Bürgermeister und ein Singer-Songwriter in der Nacht auf der Straße. So könnte ein Witz beginnen. Einer, der entweder den Politiker auf die Schippe nimmt oder den Musiker. Wenn er gut ist, vielleicht beide. Aber Vorsicht, der Schein kann trügen, wie man spätestens seit Robert Rodriguez’ Dokumentarfilm From Dusk till Dawn weiß. Darin gondeln die Bankräuber George Clooney und Quentin Tarantino mordend und brandschatzend Richtung Mexiko, zunächst in einem 68er Mercury Cougar, dann tauschen sie den Mercury gegen einen Fleetwood Pace Arrow. Das muss man sich erst mal vorstellen, einen Mercury Cougar stehen lassen für einen hässlichen Kübel von Wohnwagen, das ist ja schon die erste dramatische Wendung in dem Film. In Mexiko landen sie schließlich im Titty Twister, wo ihnen eine junge Frau namens Santanico Pandemonium als begabte Tänzerin auffällt, und man ist als Zuschauer guter Hoffnung, dass sich das Bewegungstalent vielleicht dem kuriosen Roadtrip der Gangster anschließt, weil das allein schon aus ästhetischen Gründen ganz hübsch wäre für den weiteren Fortgang des Films. Vielleicht ist sie auch nett, womöglich sogar klug, und könnte etwas Lehrreiches für den Zuschauer beisteuern, aber nein: Baaaaam krabumm, das flotte Mädel verwandelt sich von einer Sekunde auf die andere in einen furchtbar hässlichen und übelgelaunten Vampir, ein Monstrum vor dem Herrn, was echt schade ist, und mit ihr verwandeln sich fast alle anderen Angestellten der Vergnügungsstätte, vielleicht sind sie gewerkschaftlich organisiert oder einfach unorganisiert solidarisch, das lässt der Film offen, und der Film ist auf einmal kein Killergangsterdokumentarfilm mehr, sondern wechselt Knall auf Fall ins Teuflische-Vampire-machen-sich-über-rechtschaffene-Clubgäste-her -aber-man-kann-ihnen-relativ-leicht-ein-Stuhlbein-in-die-Brusttreiben-Genre. Selten hat dieses einen besseren Film hervorgebracht.

Nehmen wir Rodjon Romanowitsch Raskolnikow, den rechtschaffenen und blitzgescheiten Jurastudenten in Dostojewskis Jahrhundertroman Schuld und Sühne, dem man als Leser beide Daumen drückt, dass er es zu einem glücklichen Leben und einer erfolgreichen Karriere bringt, er müht sich ja redlich und hat sicherlich das Talent dazu. Raskolnikow stattet der alten Pfandleiherin Aljona Iwanowna einen Besuch ab, als wohlgesonnenem Leser geht einem da das Herz auf, weil der junge Mann trotz des Stresses und Trubels, die ihm der Autor zumutet, sich die Zeit nimmt, eine alte Frau zu besuchen, aber oh Schreck, er hat ein Beil in der Hand, man hofft noch, dass er ihr beim Brennholzmachen helfen will. Rechnet doch keiner damit, dass er der Alten mit dem Beil den Schädel spaltet. Wie bitte, jeder rechnet damit? Na gut, schlechtes Beispiel. Als aufmerksamer Leser hätte man Raskolnikows Mordabsicht in Erwägung ziehen können.

Nehmen wir Jonathan Hart, den Selfmade-Millionär. Wer hätte je gedacht, dass dieser smarte Gentleman und seine wunderschöne Gattin Jennifer ein mörderisches Hobby haben und, soweit es die Geschäfte zulassen, in ihrer Freizeit auf Verbrecherjagd gehen? Wie bitte, der treue Chauffeur Max verrät das bereits im Vorspann der Sendung Hart aber herzlich? Er tut das jedes Mal, in allen 110 Episoden? Okay, vielleicht sind meine Erinnerungen an die Eheleute Hart und ihren Chauffeur Max über die Jahrzehnte ein wenig verblasst. Und seit ich Schuld und Sühne gelesen habe, sind auch schon ein paar Jahre vergangen, außerdem fehlte ein nicht unwesentlicher Teil des Romans in meinem Buchexemplar. Der Vorbesitzer hatte offenbar die wichtigsten Stellen herausgetrennt, bevor er es mir für zwei Mark fünfzig an seinem Bücherstand auf dem Bürgersteig vor dem Schweinchenbau der Ludwig-Maximilians-Universität verkaufte, aber den Schein habe ich trotzdem bekommen. Hoppla, wieder eine unerwartete Wendung. Kann man davon ausgehen, dass ein, vorsichtig ausgedrückt, literarisch unbeleckter Lotterstudent mit einem Buch, dessen entscheidende Seiten fehlen, von einer russischen, Dostojewski vergötternden Dozentin tatsächlich einen Schein ausgehändigt bekommt, sogar mit Note zwei? Und dass er dafür nicht mal eine Seminararbeit schreiben musste? Man denke jetzt bitte nicht, was man vielleicht denken will: Junger, langhaariger Student und russische Dozentin, da geht doch was. Nein, ich bekam den Schein einfach nur dafür, dass ich Woche für Woche im Seminar den weiteren Fortgang des Romans nacherzählte. „Herr Göttler, Florian, schildern Sie doch bitte, was vorgefallen ist auf den letzten fünfzig Seiten. Sie erzählen das immer so schön naiv.“ Und jedes R in Herrr, Göttlerrr, Florrian und schilderrn klang wie eine Salve aus einer Kalaschnikow, aber das O in Floorian und voorgefallen und das Ö in schööön klangen nach wohlmeinender, vielleicht auch mitleidender Milde. Ich bekam den Schein, aber insgesamt bringt uns das nicht weiter, was dieses Buch hier betrifft.

Nächster Versuch: Die Blechtrommel, der Kaschuben-Klassiker. Riesig ist die Vorfreude des Lesers, diesen kleinen fidelen Oskar Matzerath durch seine Kindheit zu begleiten, zu lesen, wie er wächst und gedeiht und zu einem stattlichen Mannsbild heranreift, wie ihn nur die Kaschubei mit ihrer eiweißaffinen Kulinarik hervorzubringen in der Lage ist. Aber nein, der kleine Trommler beschließt an seinem dritten Geburtstag trotzig, von diesem Tag an nicht mehr zu wachsen.

Ein aktuelleres Beispiel, an das ich mich besser erinnern kann: Babylon Berlin, dritte Staffel. Die ist freilich nicht mehr so faszinierend wie die Vorgängerinnen, nicht wirklich spannend, nur noch unterhaltend, ein netter und gelungener Zeitvertreib. Die wunderbare Kriminalassistentin Lotte Ritter baumelt fünf oder zehn oder zwanzig Meter hoch an einer Kette, die Höhe variiert je nach Kameraeinstellung, ihre Kräfte lassen allmählich nach, sie ist ja recht zart und filigran geraten, kein Kraftlackl, sie droht jeden Augenblick in den Abgrund zu stürzen, aber als Zuschauer ist man sich sicher: Sie wird vielleicht fallen, aber sie wird dabei verdammt nochmal nicht draufgehen. Nicht in Staffel drei. Und ihre Überlebenschancen stehen wohl auch in den folgenden Staffeln recht gut.

Genauso ergeht es dem bedauernswerten, weil kriegstraumatisierten, drogensüchtigen, von seiner Frau verlassenen und seinem Bruder tyrannisierten Gereon Rath. Die Bösewichte können ihn noch so eifrig durch die Kulissen prügeln, ihm die Rippen entzweibrechen wie Zündhölzer, sein Backenfleisch durchstoßen, bis ihm der stählerne Pfahl blutrot glänzend zum Mund herausragt, aber sterben wird er nicht. Wir sind ja nicht bei Game of Thrones. Da geht sowas, da werden die Protagonisten ohne Rücksicht auf Verluste zerfetzt, dass es eine wahre Freude ist. Aber doch nicht in Babylon und nicht in Berlin.

Wie handhaben wir das in Engelberg? Kennen Sie nicht? Macht nichts. Engelberg, ein Wort, zwei Lügen. Niemals ist ein Engel dort hingeflogen. Die Behauptung des Mönchs Anselm Musius, der Herr sei ihm gnädig oder brate ihn weiterhin eifrig im Fegefeuer, wer kann schon mit Sicherheit sagen, welche göttliche Strafe auf blühende Phantasie steht, jedenfalls erwies sich die Erzählung des Mönchs, ihm sei an Heiligabend des Jahres 1349 ein Engel in der Sakristei der örtlichen Kapelle erschienen und habe ihm aufgetragen, auch außerhalb der Fastenzeit jeden Tag mindestens fünf Liter Bier zu trinken, als plumpe Schummelei. Das ist verbrieft, es steht in einem noch erhaltenen Schriftstück des Vatikans aus dem Jahr 1353, von Papst Innozenz VI. höchstselbst signiert, und damit handelte es sich im übertragenen Sinn um einen Brief direkt von Gott, in dem dieser die Engelserscheinung auf den legendär übermäßigen Alkoholgenuss des Mönchs zurückführte. Anselm Musius habe nicht mal die Farbe der Engelsfedern konkret beschreiben können, heißt es in der päpstlichen Weisung, in der der Papst dem zuständigen Kardinal zu einer angemessenen Bestrafung des Irrgängigen riet, deren Härte er dem Ermessen, der Weisheit und Gnade des Kardinals anheimstellte, man rate zu einer Verbrennung oder Enthauptung, vorheriges Teeren und Federn sei nur angeraten, wenn ausreichend Teer zur Verfügung stehe. Die Engelserscheinung, auf deren Stattfindung Anselm Musius noch auf dem Scheiterhaufen lauthals bestand und behauptete, er habe die Farbe der Federn nicht beschreiben können, weil er farbenblind sei und alles nur schwarzweiß sehe, aber das sei ja jetzt wurscht, jetzt brenne er ja schon, die Engelserscheinung war trotz der aufrichtigen Beharrlichkeit des Verbrennenden alles in allem unwahrscheinlich. Warum sollte ein Engel diesem trostlosen Flecken Erde einen Besuch abstatten, wenn es doch so viele andere schöne Orte gab?

Auch das mit dem Berg im Namen Engelberg ist eine Lüge. Der Berg ist ein kleiner Hügel, ach was, eine Anhöhe. Wäre ja gelacht, dürfte sich jede Anhöhe Hügel nennen und jeder Hügel einen Berg.

Aber wie ist es, abgesehen von fehlenden Engeln und Bergen, um die Verhältnisse in Engelberg bestellt? Literarisch unentdeckt fristeten die Engelberger bisher ein unbeachtetes Dasein. Zeit, das zu ändern. Ich lebe seit mittlerweile 43 Jahren nur ein paar Kilometer entfernt von Engelberg. Bisher kam es mir wie allen anderen Menschen überhaupt nicht in den Sinn, über Engelberg zu schreiben, nicht einmal den Engelbergern selbst. Aber als mir jemand von Ignaz Hallgruber erzählte und seiner verrückten Lebens- und Liebesgeschichte, da kam es mir wie eine schriftstellerische Unterlassung vor, würde ich seine Geschichte und das ganze Drumherum nicht aufschreiben.

Ich muss, bevor ich Ihnen bald von Ignaz Hallgruber und einigen anderen Engelbergern berichte, vorausschicken: Ignaz Hallgruber hat an der Entstehung dieses Romans nicht mitgewirkt. Ich habe nie mit ihm gesprochen. Naja, einmal schon. Damals, als ich auf seinen Hof kam und ihm sagte, dass ich einen Roman über ihn schreiben will. Ignaz werkelte gerade an einem nahezu vollständig im Boden vergrabenen Plastikfass herum. Ich konnte nicht erkennen, was darin war, denn Ignaz Hallgruber griff nach einem Spaten und teilte mir mit, was er von mir und meinem Vorhaben hielt: „Verschwinde von meinem Hof und komm nie wieder, dreckiger Schmierfink. Oder komm erst wieder, wenn du keinen Roman, sondern ein Sachbuch schreiben willst.“

Seitdem habe ich nicht mehr versucht, mit ihm zu sprechen. Alles in diesem Roman über Ignaz Hallgruber und die anderen Engelberger ist also reine Fiktion. Denn auch alle anderen Engelberger, oder zumindest die meisten, erwiesen sich als nicht besonders gesprächig. Ich kann daher nicht behaupten, dass das alles tatsächlich so passiert ist. Aber das muss ja nicht heißen, dass es nicht genau so passiert ist.

Treffen sich also ein betrunkener Bürgermeister und ein Singer-Songwriter in der Nacht auf der Straße. Wird es ein guter Witz? Wird es überhaupt ein Witz? Spielt das wirklich eine Rolle? Wer weiß? Wird dieses Buch mittendrin Knall auf Fall ein Böse-Vampire-haben-es-auf-rechtschaffene-Bürger-abgesehen-Roman?

Unwahrscheinlich. Werden Menschen sterben? Ja mei, kann vorkommen. Wird es vorhersehbar wie Jonathan und Jennifer Harts hundertzehn Fünfundvierzig-Minuten-Abenteuer aus den Achtzigerjahren? Hoffentlich nicht. Wird es ein die Jahrhunderte überdauerndes, episches Meisterwerk wie Dostojewskis Schuld und Sühne?

Ach, was! Engelberg ist nicht Petersburg, und ich bin nicht Dostojewski. Und Ignaz Hallgruber kein Raskolnikow. Bei weitem nicht. Aber er ist auch kein Langweiler, obwohl man das am Anfang vielleicht zu denken geneigt ist. Geben wir ihm eine Chance, begleiten wir ihn ein wenig, schlurfen wir ihm hinterher. Wir müssen nicht hinter ihm her hetzen, wir können gemütlich schlendern. Er bewegt sich normalerweise nicht schnell. Wir müssen nicht atemlos spurten und ihm auf Schritt und Tritt auf den Fersen bleiben. Müssen ihn nicht stalken und ihm überall auflauern, um auf dem Laufenden zu bleiben, und wenn wir ihn mal aus den Augen verlieren, dann ist er gewiss nicht für immer verschwunden und entwischt wie ein Geheimagent, der seine Spuren hinter sich verwischt, eine neue Identität annimmt und auf Nimmerwiedersehen untertaucht.

Wenn er uns also tatsächlich einmal entwischt, dann können wir uns sicher sein, dass er wiederauftaucht, und zwar immer am selben Ort: Seinem Zuhause. Denn wenn er sich da nicht regelmäßig um die Ratten kümmert, dann wäre schnell die Kontrolle verloren.

Die Bürgerversammlung, der malade Trachtenzustand und das Artisten-Ansinnen

10. April 2018, ein Dienstag, 4 Grad Celsius (20:29 Uhr), Luftdruck 994 Hektopascal, Tendenz steigend

Ignaz schüttelte noch ein paar Tropfen ins Pissoir. Die Toilettentür sprang auf und schlug gegen die Wand. Im Putz war längst wieder eine tiefe Delle. Die Wirtin hatte irgendwann aufgehört, dort wo die Klinke immer wieder gegen die Wand schlug, die zerdepperte Fliese ersetzen zu lassen. Die meisten männlichen Toilettengänger im Mönchsbräu ignorierten geflissentlich das Schild an der Toilettentür: ‚Bitte mit Gefühl öffnen.’

Die Engelberger hatten es nicht so mit Gefühl, wenn es pressierte, und auch sonst nicht oft. Was nutzte Gefühl, wenn man Kraft hatte?

Schorsch Gutwein war ein Prachtexemplar von einem Engelberger. Viel Kraft, wenig Gefühl, aber das Herz war noch nicht vom rechten Fleck gerutscht. Schon im Türrahmen begann er hektisch an den Knöpfen seiner Hirschledernen zu zerren. Ein paar Sekunden später plätscherte der Urin aus seinem grobschlächtigen Körper ins Nachbarurinal. Er wischte sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn. Mit der anderen kratzte er sich am Hintern. „Jessas, grad noch rechtzeitig.“

Ignaz knöpfte sich die Hose zu. Das Waschbecken ignorierte er. „Schwadroniert der Klugscheißer immer noch?“

Gutwein räusperte sich, zog etwas aus der Tiefe seiner Kehle nach oben und spuckte es ins Pissoir. „Dauert sicher noch zehn Minuten. Macht die Arschgeige immer so. Clever ist er ja. Die Leute totreden bis kurz vor Anpfiff. Dann hat keiner mehr Lust, was zu fragen. Wollen dann alle schnell rüber ins Stüberl vor den Fernseher. Damit erspart sich der Otter kritische Fragen. Aber nicht mit mir.“

Ignaz schnäuzte sich ausführlich und wandte sich zur Tür.

„Aber nicht mit mir“, sagte Gutwein nochmal.

Ignaz ging raus auf den Gang.

„Geh weiter, Ignaz, rauchen wir eine“, rief ihm Gutwein hinterher.

Draußen vor dem Wirtshaus pfiff der Wind über den Dorfplatz, als beeilte er sich, rechtzeitig mit seinem Tagwerk fertig zu werden und nach Hause zu kommen, bevor in der Allianz Arena sein großer Bruder, der Sturm, losbrach. Bayern gegen Manchester United, spannende Konstellation. Hinspiel zweieins für die Tommys. Musste man sehen.

Endlich tat Ignaz Gutwein den Gefallen und fragte: „Was willst denn vom Bürgermeister?“

Gutwein zog heftig an seiner Zigarette und hustete den Rauch in den Wind. „Geld. Was sonst?“

„Warum sollte der Otter dir Geld geben?“

„Halt wegen dem Trachtenverein. Seit vier Jahren fordern wir einen Zuschuss für die Erneuerung der Trachten.“ Um die Dramatik der misslichen Situation zu verdeutlichen, streckte Gutwein fünf Finger in die Luft. „Seit geschlagenen vier Jahren. Und die Vereinsfahne ist auch nur noch ein trauriger Fetzen. Aber heute Abend nagle ich ihn fest, den feinen Herrn Bürgermeister. Heut kommt er mir nicht davon.“

„Dann drück ich mal die Daumen.“ Ignaz steckte seine Zigarette in den Sand des großen Aschenbechers und stieß die schwere Wirtshaustür auf.

Gutwein folgte ihm: „Wie läuft’s auf dem Hof?“

Ignaz blieb stehen. „Passt schon. Warum interessiert dich das?“

Der Trachtler wippte seinen fleischigen Kopf verlegen hin und her. „Naja, du weißt schon. Wegen der Muhs.“

Ignaz zuckte mit den Schultern. „Sind, wo sie immer sind. Wo sollten sie sonst sein?“ Er öffnete die schwere Eichentür zum Saal und setzte sich in die letzte Stuhlreihe.

Hinter dem Rednerpult auf der Bühne, einen Meter über den Zuhörern, stand Bürgermeister Robert Otter und forderte einen seiner Beamten auf, die nächste Folie zu zeigen. „Hier seht ihr, dass das, was ich euch heute in der gebotenen Kürze sagen wollte, kein Geschwätz ist, sondern auf harten Fakten beruht.“ Er deutete auf einen Wirrwarr von Zahlen, die ein surrender Beamer auf eine Leinwand projizierte. „Hier könnt ihr es mit eigenen Augen sehen. Uns ist es, wie von mir versprochen, tatsächlich gelungen, mit dem Verkauf des alten Schulhauses einen stattlichen Gewinn zu erwirtschaften, so dass die mageren Zeiten in Engelberg jetzt der Vergangenheit angehören. Es hat ja durchaus ein paar Gemeinderäte gegeben, die das bezweifelt haben. Die haben ja ordentlich Wirbel gemacht und Presse gekriegt, aber am Ende müssen sie sich schon sagen lassen, dass sie falsch gelegen sind mit ihrer Kampagne, aber ich finde, da schauen wir jetzt mal großzügig drüber weg, weil die haben mir inzwischen insgeheim gesagt, dass ich recht hatte und nicht sie, aber man muss irren können und man muss verzeihen können, und das tu ich natürlich gerne. Am Ende ziehen wir ja alle am selben Strang.“

Otters Parteigänger klatschten begeistert. Auch andere nickten anerkennend und applaudierten.

Der Bürgermeister sah auf die Uhr. „Ja hoppla, wie die Zeit verfliegt. Jetzt sind es nur noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Da hab ich eure Zeit mal wieder viel zu lang in Anspruch genommen, aber immerhin mit guten Nachrichten. Ich danke euch ganz herzlich für euer Interesse und wünsche uns allen noch einen schönen Fußballabend.“

„Jetzt pass auf, Ignaz. Jetzt zeig ich’s dem Wichtigtuer“, raunte Gutwein, der sich neben Ignaz gesetzt hatte. Gutwein rückte den Kragen seines Trachtenhemds zurecht und stand auf. „Herr Bürgermeister, das hier ist eine Bürgerversammlung und keine Bürgermeisterversammlung. Aber bisher hat keiner der Bürger die Gelegenheit gehabt, was zu sagen.“

Otter, der schon die Stufen der Bühne erreicht hatte, blieb stehen und blickte sich im Saal nach dem Rufer um.

„Hier hinten“, rief Gutwein und winkte.

Der Bürgermeister schenkte Gutwein ein breites Lächeln. „Ah, der gute alte Gutwein Schorsch. Grüß dich. Lass uns das doch morgen in meinem Büro besprechen.“ Otter deutete auf seine Uhr.

„Nein, Robert, das besprechen wir jetzt.“

Einige im Publikum murrten, andere gingen einfach, aber nicht wenige blieben gespannt sitzen. Dass jemand Otter ein Widerwort gab, kam nicht allzu oft vor. Der Bürgermeister ging zurück zum Pult. „Herr Gutwein, lieber Schorsch, du hast das Wort.“ Dann wandte er sich an einen Mitarbeiter: „Gleixner, bringen Sie Herrn Gutwein ein Mikrophon.“

Der Mitarbeiter zuckte mit den Schultern. „Haben keins dabei. Haben wir noch nie gebraucht.“

„Du wirst mich auch so verstehen“, rief Gutwein und streckte seinen Köper durch, als gelte es, eine zufällig durch den Saal des Mönchsbräu marschierende Militärparade abzunehmen. „Es geht um die Trachten. Seit sechs Jahren“, Gutwein hielt wieder fünf Finger hoch, „seit sechs oder sieben Jahren steht die Renovierung unserer wunderbaren Engelberger Trachten an. Die ist jetzt dringend notwendig, wenn nicht überfällig. Wir brauchen neue Hirschhornknöpfe, die Nähte gehen überall auf, und die Hüte sind seit dem Unwetter damals beim Gauschützenjubiläum völlig ruiniert. Als Engelberger Trachtler muss man sich mittlerweile regelrecht schämen. Die Audacher mit ihrer stolzen Tracht lachen uns seit Jahren aus. Wir brauchen endlich den Zuschuss für die Instandsetzung unserer Trachten. Oder wollt ihr“, jetzt wandte sich Gutwein nicht mehr an den Bürgermeister, sondern an die Leute im Saal, die ihn anstarrten, als wäre er ein großer Revolutionär, ein Lenin in Lederhosen, der Che Guevara der Trachtenerhaltung, „dass wir heuer vom Aufzug aufs Oktoberfest ausgeschlossen werden, weil wir daherkommen wie die letzten Haderlumpen. Das haben uns die Münchner nämlich schon angedroht.“

Ein Raunen ging durchs Publikum. Jemand rief: „Die Engelberger laufen seit hundert Jahren beim Oktoberfestaufzug mit. Eine Schande wäre das, wenn wir ausgeschlossen werden.“

Ein anderer Mann, er war der örtliche Fuhrunternehmer, ein bekannter und wohlangesehener Leistungsträger im Ort, dessen Wort so viel Gewicht hatte wie sein Körper, rief: „Für die Flüchtlinge haben wir Geld, aber nicht für die Tradition.“

Gutwein streckte seinen Körper jetzt noch mehr durch. Ignaz befürchtete, er würde jeden Moment in der Mitte auseinanderbrechen. Aber Gutwein brach nicht auseinander, noch nicht, sondern sagte: „Ich stelle einen Bürgerantrag und fordere eine Abstimmung. Das steht so in der Gemeindeordnung.“

„Abstimmen, abstimmen, abstimmen“, rief der Fuhrunternehmer, und auf einmal riefen das auch die meisten anderen im Saal, weil wenn der Fuhrunternehmer etwas rief, dann gewiss nichts Schlechtes.

Bürgermeister Otter hob beschwichtigend die Hände. „Liebe Leut, was ist denn heute in euch gefahren? Ich bitte um Ruhe. Kann ja wohl nicht sein, dass wir Engelberger uns hier auseinanderdividieren, auf so einer schönen Bürgerversammlung. Natürlich werden wir über den Antrag vom Schorsch abstimmen.“

Die Bürger beruhigten sich und überließen ihrem Bürgermeister wieder das Feld. Mehr als dreißig Sekunden Meinungsfreiheit erschien ihnen dann doch als zu revolutionär.

Bürgermeister Otter setzte wieder sein Lächeln auf, hob generös die Arme und sagte: „Dass wir Engelberger nicht beim Oktoberfest mitlaufen, das kommt überhaupt nicht in Frage. Da müssen wir handeln. Und lieber Schorsch, da marschiere ich mit dir Arm in Arm und Schulter an Schulter vorneweg. Wie viel Geld brauchst du, um diese Katastrophe zu verhindern?“

Gutwein war so überrascht von der Frage des Bürgermeisters, dass er vergaß, Haltung zu bewahren. Seine Schultern gehorchten endlich wieder der Schwerkraft und stürzten nach unten. Die Wirbelsäule bog sich zurück in ihre gewohnte leicht nach vorn gebeugte Haltung. „Fünfzehntausend“, murmelte Gutwein.

„Tschuldigung, Schorsch, ich hab dich nicht verstanden“, sagte Otter.

„Sag dreißigtausend“, nuschelte Ignaz.

Alle starrten Gutwein an. Gutwein verkümmerte zusehends zu einem Gnom, versuchte sich zu räuspern, aber selbst das gelang ihm nicht überzeugend.

Ignaz stand auf, legte Gutwein die Hand auf die Schulter und sagte laut: „Dreißigtausend braucht der Schorsch, damit er unseren wunderbaren Trachtenverein wieder auf Vordermann bringt. Das werden wir uns hier in Engelberg ja wohl leisten können.“

Gutwein nickte und ließ sich von Ignaz Hand sanft zurück auf seinen Stuhl drücken, als bestünde er aus Knetmasse.

„Ich möchte Schorschs Antrag mit einem weiteren Antrag verbinden“, sagte Ignaz.

Der Bürgermeister sah Ignaz argwöhnisch an. „Moment mal, wer sind Sie denn überhaupt?“

Jetzt starrten alle auf Ignaz. Wieder Murmeln. „Ja, wer iss’n das?“

Ignaz musste sich nicht erst aufblasen wie ein Oberst oder Major, der vor einem General auf dicke Hose machen will. Mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße und recht breiten Schultern machte er Eindruck, indem er einfach nur dastand. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, wir kennen uns seit einer Ewigkeit. Wir waren in einer Klasse.“

Der Bürgermeister kniff die Augen zusammen. „Schrotti, bist du das?“

„Mein Name ist Ignaz Hallgruber, aber du kannst mich gern wie früher Schrotti nennen. Man muss ja alte Gewohnheiten nicht aufgeben, bloß weil sie beleidigend sind.“

„Ignaz, schön dich hier auf einer Bürgerversammlung zu sehen.“ Otter breitete die Arme aus, als wolle er Ignaz einen Heiratsantrag machen. „Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe. Liebe Bürger, ihr müsst wissen, der Herr Hallgruber und ich, wir sind beide miteinander zur Grundschule gegangen und später aufs Gymnasium in Audach. Lieber Ignaz, was ist dein Ansinnen?“

„Nachdem wir eben erfahren haben, dass in Engelberg auf einmal der Reichtum ausgebrochen ist, beantrage ich, dass der Bücherei endlich mehr Geld für neue Bücher zur Verfügung gestellt wird. Seit Jahren gibt es dort keine Neuerscheinungen außer dämliche Regionalkrimis. Die Bücherei braucht genauso wie unser wunderbarer Trachtenverein einen Betrag von dreißigtausend Euro, damit wir wieder eine Bücherei bekommen, die dieser Bezeichnung würdig ist.“

Viele der im Saal Verbliebenen murrten. Der Fuhrunternehmer rief: „Dann kauf dir halt Bücher, wenn du lesen willst.“ Die meisten verließen gelangweilt den Saal. Das Spiel hatte längst begonnen, und aus dem Stüberl war lauter Jubel zu hören.

„Okay, Ignaz, dann nehmen wir das auch als Antrag auf“, verkündete Bürgermeister Otter gnädig.

„Ich habe auch noch ein Anliegen“, rief eine Frau aus der zweiten Reihe. „Ich will etwas klarstellen.“ Die Frau trug ein buntes Kleid und hatte sich einen wahrscheinlich mehrere Meter langen Strickschal um den Hals gebunden wie eine Boa Constrictor, die ihre Trägerin zu erwürgen versuchte. Aber dennoch schaffte die Frau es, laut zu sprechen. „Ich möchte anmerken, dass das, was der dicke Mann vorhin gesagt hat, nicht stimmt. Wir haben nämlich hier in Engelberg gar keine Flüchtlinge. Was da gerade gesagt wurde, stellt für mich verbale Gewalt dar und ist in meiner Wahrnehmung unstatthaft und unbotmäßig.“

„Hat die Wetterhex mich gerade ein dickes Boot genannt?“, rief der Fuhrunternehmer und erntete genüsslich einige Lacher.

Die bunte Frau sprach unbeirrt weiter: „Ich bin es leid, immer wieder zu hören, dass man Geld für Flüchtlinge hat, aber für nichts anderes. In Wahrheit haben wir Geld für alles andere, aber keine Flüchtlinge. Deswegen spreche ich mich jetzt dafür aus, dass der Trachtenverein den Zuschuss bekommt. Und die Bücherei auch.“

Erneut war lauter Jubel aus dem Stüberl zu hören. Immer mehr Leute verließen den Saal. Auf eine Flüchtlingsdiskussion wollte sich keiner einlassen. Man galt ja heutzutage schon als rechtsradikaler potenzieller Massenmörder, wenn man nur das Wort ‚Aber’ in den Mund nahm oder einen Bissen Zigeunerschnitzel.

Die bunte Frau sprach unbeeindruckt weiter: „Ich möchte einen dritten Antrag stellen. Wir vom Weltoffenen Kulturverein Engelberg fordern, dass endlich der Beschluss des Gemeinderats umgesetzt wird, einen Artist in Residence nach Engelberg zu holen.“

„Sie wollen einen Artisten nach Engelberg holen?“, fragte der Bürgermeister ehrlich erstaunt.

Die bunte Frau schüttelte den Kopf. Ebenso die letzten verbliebenen Zuhörer, die sich nun ebenfalls anschickten, den Saal zu verlassen.

„Jetzt wird’s aber hinten höher wie vorn“, rief einer, „einen Artisten will die ins Dorf holen. Einen Clown haben wir ja schon.“ Der Rufer deutete auf die bunte Frau. Einige lachten.

Die bunte Frau sah den Rufer gleichmütig an und sprach weiter: „Vor vier Jahren hat der Gemeinderat beschlossen, dass wir einen Gastkünstler nach Engelberg holen und in der leerstehenden Gemeindewohnung einquartieren. Ich glaube, das wurde damals entschieden, weil Audach das seit Jahren ähnlich macht, und die Gemeinderäte den Städtern beweisen wollten, dass wir das ja wohl auch können. Aber da muss ich mich auf Hörensagen berufen, schließlich wohnen mein Mann und ich erst seit einem halben Jahr hier.“

„Ja leck mich am Arsch, die Hex hat einen Mann. Der arme Kerl“, rief der Fuhrunternehmer und verließ den Saal.

Der Bürgermeister nickte. „Jetzt erinnere ich mich. Da war mal was. Das hat sich der Krontaler Hias damals so sehr gewünscht, dass wir ihm das genehmigt haben, weil er doch so krank war. Gott hab ihn selig.“

„Und seitdem ist nichts geschehen in der Sache, hat mir Krontalers Witwe erzählt“, beharrte die bunte Frau.

Der Bürgermeister wurde langsam ungeduldig. „Weil der Hias ein paar Wochen später gestorben ist. Für mich hat sich das dann erledigt, weil wir es doch nur dem Hias zuliebe beschlossen haben.“

„Trotzdem stelle ich den Antrag, dass Sie diesen Beschluss umsetzen. Ein auswärtiger Künstler würde unserer Kulturszene guttun. Jede Szene braucht Input von außen. Wir könnten das Projekt ja Hias-Krontaler-Gedächtnis-Stipendium nennen“, schlug die bunte Frau vor.

Wieder schallten laute Rufe aus dem Stüberl in den Saal. Nachdem der Geschäftsleiter der Gemeinde die Anträge auf ihre Zulässigkeit geprüft hatte, saßen außer Ignaz nur noch Schorsch Gutwein, die bunte Frau, ein paar Rathausangestellte und der arme Kerl von der Lokalzeitung im Saal. Der Geschäftsleiter nickte seinem Chef zu. Offenbar war an den Anträgen nichts auszusetzen.

„Die Anträge sind rechtens, wir können abstimmen“, sagte der Bürgermeister. „Wer ist dafür, dass der Trachtenverein dreißigtausend Euro bekommt?“

Ignaz, Gutwein und die bunte Frau hoben die Hände. Auch der Journalist von der Lokalzeitung, offenbar ein Praktikant, streckte seine Hand in die Luft. Vielleicht dachte er sich, wenn er wegen dieser dämlichen Bürgerversammlung schon das Spiel verpasste, dann wolle er wenigstens mitentscheiden. Dabei wohnte er gar nicht in Engelberg, sondern in München, Gott sei Dank.

„Gegenstimmen?“ Otter blickte sich im Saal um. „Zweiter Antrag: Dreißigtausend für die Gemeindebücherei. Wer ist dafür?“

Wieder gingen vier Hände hoch.

„Und drittens: Die Gemeinde Engelberg holt einen Artisten, warum auch immer, und nennt das Ganze Krontaler-Hias-Gedächtnis-Stipendium.“

Drei Hände hoch. Der Journalist war da schon auf dem Weg ins Stüberl.

Der immer gleiche Ausleihvorgang

13. April 2018, ein Freitag, 16 Grad Celsius (15:43 Uhr), Luftdruck 1003 Hektopascal, Tendenz steigend

Ignaz blickte interessiert auf den Nagel seines rechten großen Zehs. Dieser erhob sich eine Körperlänge entfernt aus dem Badeschaum wie der Zuckerhut aus dem Meer vor Rio de Janeiro. Auch in der Farbgebung ähnelte der Nagel dem Felsen. Was für eine Farbe war das? Hellbraun oder Braungrau oder Mattgraubraun mit bisschen Grün? Egal, jedenfalls würde der Nagel flöten gehen, da war er sich sicher. Ignaz setzte sich auf und knubbelte an ihm herum. Vorn konnte man ihn schon leicht und schmerzfrei anheben. Aber weiter hinten sträubte sich das Fleisch darunter, ihn gehen zu lassen. Nächsten Freitag würde er ihn wahrscheinlich komplett abknubbeln können, oder vielleicht glitschte er irgendwann davor einfach aus dem Nagelbett, ohne dass er es merkte, und wenn Ignaz dann am Abend seine Gummistiefel und Socken auszog, würde der Nagel einfach in der Socke zurückbleiben wie ein ausgesetzter Hund, unbeachtet und nutzlos.

Ignaz hatte Erfahrung, was die Abscheidung von Zehennägeln betraf. Diesmal war Max Gold mit dem Gabelstapler gegen eine Venusstatue rangiert, woraufhin die göttliche Schönheit mit ihrem marmornen Dickschädel auf Ignaz Fuß knallte. Hätte er keine Sicherheitsschuhe getragen, wäre wahrscheinlich der komplette Fuß Klump gewesen. Dank der Stahlkappe musste nur der Nagel dran glauben, dessen Nachfolger wahrscheinlich schon tüchtig nachwuchs. Die Zehennägel des Menschen sind wie das Revolvergebiss des Hais. Fällt einer aus, rückt der Nächste nach. Ignaz hielt das für eine nützliche evolutionäre Errungenschaft.

Letztes Wochenende hatte er die Biographie eines australischen Surfers gelesen, dem ein Großer Weißer das Bein abgebissen hatte. Ein ganzes Bein wächst freilich nicht mehr nach, ein Bein ist ja kein Zehennagel, naja auch, aber größtenteils nicht nur, insofern hatte es Ignaz in der Badewanne mit seinem maroden Zeh deutlich besser als Nick, der arme Surfer im Pazifik, der nun versuchte, auf einem Bein zu surfen, was ihm, wie Nick in seinem Buch ehrlich zugab, nur leidlich gut gelingen wollte. Das Buch lag in einem kleinen Stapel auf dem Fußboden im Flur.

Ignaz tauchte kurz mit dem Kopf ins Wasser, griff nach dem Shampoo und wusch sich die Haare. Fünf Minuten später stand er vor dem Spiegel, sauber und trockengerubbelt, und kürzte mit der Nagelschere die Nasenhaare auf nicht sichtbare Länge. Rasieren brauchte er sich heute nicht. Hatte er schon am Dienstag vor der Bürgerversammlung getan. Ignaz blickte in den Spiegel.

Mit Dreitagebart sah er mutiger aus, als er war, fast verwegen. Ein Rebell mit Stil und Charme. Seine abgetragene schwarze Lederjacke, die er gleich über ein schwarzes Shirt ziehen würde, und graue Jeans über braunen Lederboots würden den Eindruck einer rebellischen Gesinnung und strotzenden Selbstvertrauens noch verstärken.

Aber dann würde er doch wieder an ihr vorbeischauen, ihrem Blick ausweichen, unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den andern verlagern, hin und her, hin und her, und statt mit ihr ein Gespräch anzufangen, würde er schweigen. Sie wollte mit ihren Fragen ja seit Monaten mit ihm ins Gespräch kommen, das spürte er, ach was, nicht seit Monaten, seit Jahren. Und trotzdem würde er wieder nur knapp mit ja oder nein antworten, womöglich auch mit vielleicht oder weiß nicht. Er würde danke sagen und ein schönes Wochenende wünschen. Und dann raus, nichts wie raus.

Ignaz kämmte sich die nassen Haare nach hinten. Schön langsam erreichten sie wieder Richard-David-Precht-Länge, also das Mindestmaß. Sein letzter Friseurbesuch vor knapp einem Jahr war ein fulminantes Malheur gewesen. Ersin war im Urlaub, eine Aushilfe hatte ihn geschnitten, sie war nicht gut in Deutsch und auch nicht gut an der Schere, jedenfalls verstand sie von den Wörtern „einfach fünf Zentimeter wegschneiden“ offenbar nur „fünf Zentimeter“, und auf diese Länge hatte sie seine Haare dann so schnell zurechtgestutzt, dass Ignaz nicht rechtzeitig verhindernd einschreiten konnte. Er war ja auch abgelenkt, schaute gar nicht hin, war vertieft in die Autobiographie von Nelson Mandela, wollte sie unbedingt noch fertiglesen, bevor er sie gleich zurück in die Bücherei bringen musste, er hatte schon zweimal überzogen, und nachdem er die letzte Seite gelesen hatte, zufrieden, es war ein gutes Buch, klappte er es zu, blickte in den Spiegel und sah in das Gesicht eines Mannes, dessen Haar für eine Filmrolle als Obersturmbannführer zurechtgeschnitten war. „Hab ich schön gemacht, gute Frisur für gute Mann“, hatte der Ersin-Ersatz gesagt und Gel angeboten, „weil Gel macht gute Frisur noch besser“. Ignaz hatte abgelehnt. Er beschwerte sich nicht über den üblen Zuschnitt, er nahm die Entstellung widerspruchslos hin als wäre er eine Thujenhecke, die jedes Jahr im Herbst klaglos ihre übermäßige Zurechtstutzung erträgt, gab zwei Euro Trinkgeld und bedankte sich. Ignaz fand, wer beim Friseur nicht aufmerksam und auf der Hut ist, der darf sich über Entstellung nicht beschweren.

Und jetzt, ein Jahr später, Schwamm drüber, sowieso. Ist ja nachgewachsen. Fußnägel wachsen nach, Haare auch. Haare sind noch besser als Fußnägel oder Haifischrevolvergebisse. Sie müssen nicht erst ausfallen, um nachzuwachsen.

Es klopfte an der Tür. So heftig konnte nur einer klopfen.

„Was gibt’s, Max?“

„Haushaltsauflösung. Pressiert.“

„Ich hab nix an.“

„Hab dich damals als Vierjährigen nackert mit einer Rotzglock’n um den Christbaum rennen gesehen. Ich komm jetzt rein.“ Max Gold riss die Eingangstür auf und stolperte über den Bücherstapel im Flur. Fast wäre er der Länge nach aufs Laminat geschlagen, aber er fing sich mit knapper Not. Die Bücher schlitterten über den Boden. „Herrschaftszeiten. Scheiß Bücher. Sollen mich in Ruhe lassen. Hab noch nie eins gelesen, und jetzt hätten sie mich fast umgebracht.“

Ignaz schlang sich das Handtuch, das er nach dem Abtrocknen auf den Boden neben der Badewanne geworfen hatte, um die Hüften und ging ins Schlafzimmer. „Auflösung bei wem?“ Er zog sich an, während Max Gold berichtete.

„Bei der alten Graorac. Die Moltner vom Sozialamt hat’s mir gesteckt. Will zweitausend, die gierige Bissgurkn.“

„Kann nicht“, sagte Ignaz und ging in den Flur. Er klaubte die über den Boden verstreuten Bücher auf. „Kruzifünferl, jetzt schau dir mal das Buch hier an. Total zerdatscht. Und dein Fußabdruck drauf. Was macht das für ein Bild von mir, wenn ich das so zurückgebe?“

Max Gold scherte sich nicht um den Zustand des Buchs. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt hab? Die haben endlich die Graorac abgeholt. Endgültig und amtlich für verrückt erklärt. Haar, Ignaz, Irrenhaus, da kommt die nicht mehr raus. Ihr Haus wird geräumt, Anordnung vom Amtsgericht wegen Sozialhilfebetrugs. Wir sind die Ersten, wenn wir gleich hinfahren. Die Moltner hat gemeint, dass auch der Kneubert von der Sache Wind bekommen hat. Wenn du mich fragst, von ihr. Die kassiert doppelt.“

„Ich kann nicht“, sagte Ignaz nochmal. „Muss die Bücher zurückgeben.“ Er rubbelte mit dem Handtuch auf dem Einband der Biographie von Gorbatschow herum, um Max Golds Trittspuren zu beseitigen. „Jetzt schau dir das an, so eine Sauerei.“ Der rote Fleck auf Gorbatschows Schädel war kaum mehr zu erkennen. Über ihn zog sich ein schwarzer, schmieriger Streifen. „Wo bist du denn da wieder rumgelaufen mit deinen grintigen Stiefeln?“

„Hab den Ölöfen, den der Kratzer angeschleppt hat, abgefackelt und vergraben. Da macht man sich halt die Füße dreckig. Was machst du hier für einen Wind? Ist doch nur ein scheiß Buch.“

„Warum musst du immer erst alles abfackeln, bevor du es vergräbst?“ Ignaz klaubte die Bücher in einen Stoffbeutel und ging.

„Weil Abfackeln Spaß macht. Aber was machen wir jetzt wegen der Graorac?“, rief ihm Max Gold hinterher.

Ignaz lief über den Hof zum Audi 80. „Nimm den Laster und stell ihn in ihre Einfahrt. Und sperr das Grundstück mit Flatterband ab. Ich bin in einer halben Stunde da.“

Katrin Bückenbecker-Mahlstrom schaute auf die Uhr. Schon zwanzig vor fünf. Er war spät dran. Wie immer würde er sich etwa eine Viertelstunde lang umsehen, zuerst bei den Romanen. Er würde ein Buch aus dem Regal nehmen, den Klappentext lesen, leicht, fast unsichtbar den Kopf schütteln, das Buch zurück an seinen Platz stellen und sich nach einem anderen umsehen. Es herausziehen, Klappentext, Kopfschütteln, Zurückstellung. Das würde ein paar Mal passieren, bis er schließlich zum Regal mit den Biographien und Sachbüchern weiterging. Dort konnte sie ihn nicht mehr sehen. Der Spiegel, in dem sie die Kunden beobachten konnte, zeigte nur den Bereich der Regale mit der Belletristik. Wenn hier jemand etwas klaute, was in den acht Jahren, seit Katrin Bückenbecker-Mahlstrom für die Gemeindebücherei zuständig war, erst dreimal vorgekommen war, dann einen Roman. Einmal einen Eberhofer-Krimi, wenig später kam irgendeine Liebesschmonzette weg, kurz darauf Der Butt von Grass. Die Beute ließ kein Muster erkennen, ein Täterprofil sich nicht erstellen, obwohl die von Bürgermeister Otter verständigte Polizei sich eine geschlagene Viertelstunde mit dem Fall beschäftigte. Den Eberhofer hatten sie zweimal da, um die Schmonzette war es nicht schade, und der Grass war eh nur Zierde, den hatte noch nie jemand ausgeliehen. Der Schaden für das Engelberger Gemeindebibliothekswesen war also überschaubar, aber Bürgermeister Otter hatte trotzdem den örtlichen Glaser kommen lassen, der für zweitausend Euro den Spiegel installierte.

Schad ums Geld. Wie viele gute Bücher hätte Katrin Bückenbecker-Mahlstrom dafür kaufen können? Aber egal. Hauptsache, Ignaz Hallgruber tauchte auf. Er würde nach etwa zehn Minuten wieder in den Sichtbereich treten, fünf Bücher in der Hand, würde einen kurzen Blick auf die Literaturempfehlungen links vom Schalter werfen, wieder fast unmerklich den Kopf schütteln, und dann stünde er endlich vor ihr an der Ausleitheke und würde „Grüß Gott, Frau Bückenbecker-Mahlstrom“ sagen.

Genau das tat Ignaz Hallgruber nun um sechzehn Uhr fünfundfünfzig. Er legte die Bücher auf die Holzplatte und schob sie zu ihr hinüber.

„Grüß Sie Gott, Herr Hallgruber. Sind Sie wieder fündig geworden?“

Herr Hallgruber nickte kurz und blickte zur Seite.

Frau Bückenbecker-Mahlstrom scannte die Bücher ein und schob sie zurück auf Ignaz’ Seite. „Wie immer eine interessante Auswahl.“

Herr Hallgruber trat unsicher von einem Bein aufs andere, dann sah er Frau Bückenbecker-Mahlstrom einen Augenblick lang in die Augen, aber gleich wieder weg. Er nahm seinen Rucksack ab und zog ein paar Bücher heraus. „Die muss ich noch abgeben.“

Frau Bückenbecker-Mahlstrom scannte die Bücher und legte sie auf einen Rollwagen. „Eines fehlt noch. Die Gorbatschow-Biographie. Immer noch ein toller Mann, wenn sie mich fragen. Lebt er noch?“

Herr Hallgruber nickte, wieder fast unmerklich, aber Katrin Bückenbecker-Mahlstrom war über die Jahre eine Expertin für die Hallgrubersche Minimalmimik geworden. Insgeheim, in humorvollen Momenten, die sie freilich nur mit sich selbst teilte, nannte sie Herrn Hallgruber den Alfred Döblin von Engelberg. Schwer zu lesen, aber gut. Das hatte sie ihm freilich nie gesagt.

Herr Hallgruber räusperte sich. „Dem Gorbatschow ist ein Unfall passiert. Jemand ist auf ihn draufgestiegen. Also nicht auf den Gorbatschow selber, aber auf das Buch.“ Er zog eine durchsichtige Brotzeittüte aus dem Rucksack. Darin befand sich das zerfledderte und dreckverschmierte Buch. „Tut mir leid. Ich bezahle es natürlich.“

Frau Bückenbecker-Mahlstrom lächelte Ignaz an. Sie gab sich einen Ruck, schüttelte sich innerlich durch, wusste selbst nicht, was sie da tat, hatte keinen blassen Schimmer, was sie zu dieser Verrücktheit verleitete, und woher aus ihrem Innern sie den Mut zusammenkratzte, aber sie tat es einfach, endlich tat sie es, sowas Verrücktes hatte sie noch nie gemacht, aber jetzt tat sie es, und sie hatte ja auch Grund und Anlass, schließlich hatte sie es niemand anderem zu verdanken als Herrn Hallgruber und seinem Antrag auf der Bürgerversammlung, dass die Bücherei jetzt endlich wieder Geld für Neuanschaffungen bekam. Also lächelte sie Ignaz an und legte ihre Hand auf seine. Einen Moment lang befürchtete Frau Bückenbecker-Mahlstrom, er würde seine zurückziehen. Aber er tat es nicht.

Ignaz’ Hand zuckte kurz. Er überlegte, ob er sie in seine Hosentasche stecken sollte, aber das wäre maximal unhöflich, und eigentlich fühlte sich Frau Bückenbecker-Mahlstroms Hand auf der seinen ganz gut an, warm und sanft, und als er sie sich genauer ansah, die Hand auf seiner Hand und unter seiner Hand das verschmierte Antlitz Gorbatschows, da bemerkte er, dass sie lackierte Fingernägel hatte, fast so wie Helen damals, nur nicht violett, sondern hellrot, aber eben lackiert, und dann spürte er auch das Streicheln auf der Hand, es war ja seine, über deren Haut Frau Bückenbecker-Mahlstrom mit der Kuppe ihres Zeigefingers strich.

Dann begann sie zu sprechen. Und wie sie zu sprechen begann. Frau Bückenbecker-Mahlstrom hörte ihrem eigenen Redeschwall zu, als wäre es nicht sie, die da redete, sondern jemand anderes. Sie war mehr Beobachterin als Akteurin, unfähig einzugreifen, machtlos dem ausgeliefert, was sie von sich gab. „Herr Hallgruber, das mit dem Gorbatschow macht überhaupt nichts. Kann ja mal passieren, dass man auf ein Buch steigt, ist mir auch schon passiert. Ich steige dauernd auf Bücher, so ein Dussel, wie ich bin. Und bezahlen müssen Sie das ja gleich hundertmal nicht. Weil die Bücherei dank Ihnen dreißigtausend Euro bekommt. Bürgermeister Otter hat es mir gleich am Mittwochmorgen erzählt. ‚Dieser ausgefuchste Hallgruber’, ja ausgefuchst hat er gesagt, das ist ein Lob, vor allem, wenn es vom Otter kommt, weil der nennt die meisten Leute einfach nur Deppen oder, wenn sie mehrere sind, einen Deppenhaufen, und einmal hat er auch jemanden eine greislige Brunzkachel genannt, natürlich nur, wenn die Leute nicht da sind, also hinter ihrem Rücken, aber Sie hat er hinter Ihrem Rücken ausgefuchst genannt, und das will was heißen. Sie sind nicht nur ausgefuchst, Sie sind ein Engel, jedenfalls für mich, weil die Bücherei jetzt endlich Geld für Neuanschaffungen bekommt, ich hab mich ja schon schämen müssen beim jährlichen Büchereitreffen, wenn die Kolleginnen aus den anderen Gemeinden erzählten, wie viel Geld sie haben für neue Bücher, und sie mich dann gefragt haben, wie viel ich bekommen habe, und dann musste ich fünfhundert Euro sagen, und dann haben sie erst gestaunt, weil sie dachten, fünfhundert Euro in der Woche, aber nein, hab ich gesagt, und dann haben sie gemeint, fünfhundert Euro im Monat seien ja auch ein ordentliches Budget, aber ich hab dann gesagt, weil man muss ja ehrlich sein zu seinen Kolleginnen, dass die Fünfhundert pro Jahr sind, und dann haben sie mich bemitleidet, aber ich könnte schwören, dass sie hinterher gelacht haben über die Engelberger Gemeindebücherei, und wer über die Engelberger Bücherei lacht, der lacht auch über mich, also jedenfalls bin ich Ihnen so dankbar, dass Sie das gemacht haben auf der Bürgerversammlung, und deswegen wollt ich Sie fragen, ob Sie nicht mal mit mir ausgehen wollen, naja, man muss ja ehrlich sein, eigentlich wollte ich Sie das schon viel, viel länger fragen, weil Sie immer so schick ausschauen mit ihren Haaren und der Lederjacke und den Jeans, aber glauben Sie bitte nicht, dass ich nach Äußerlichkeiten gehe, ich finde, dass die inneren Werte zählen, und ich glaube, dass die bei ihnen tipptopp sind, so belesen wie Sie sind, und was Sie sich immer für spannende Bücher ausleihen, also nicht spannend im Sinn von Krimi, da meint ja mittlerweile jeder, dass er Krimis schreiben kann, und ich muss die dann auch noch anschaffen mit dem wenigen Geld, das mir zur Verfügung steht, weil der Bürgermeister den Kluftinger so gern mag und den Eberhofer ja sowieso, den mag ich ja auch ein bisschen, sogar sehr, weil der ist, wie er ist, und sind wir nicht alle ein bisschen so, wie wir sind, also ich jedenfalls schon, aber was Sie sich ausleihen, ist toll, Bücher über Churchill oder Willy Brandt, oder auch mal Silvester Stallone oder Mike Tyson, die Iris Berben haben Sie sich ja auch mal ausgeliehen, oder jetzt die Biographie über Hannah Arendt, die hat echt noch nie einer ausgeliehen, und darum hab ich mich gefragt, ob ich Sie nicht mal frage, ob Sie mit mir auf ein Konzert gehen wollen, ich geh so gerne zu den Konzerten im Café Rousseau, da spielen immer so tolle Musiker, die Henni holt da Musiker aus aller Welt, und