Der Fuchs und Dr. Shimamura - Christine Wunnicke - E-Book

Der Fuchs und Dr. Shimamura E-Book

Christine Wunnicke

4,9

Beschreibung

Vom Fuchs besessen, und das auch noch in Japan! Klarer Fall für Neurologen mit geschärftem Sinn für Menschen - vorzugsweise Frauen - neben der Spur. Dr. Shimamura (den es wirklich gab) reist in der Abendröte des 19. Jahrhunderts durch die Provinz, wo das burleske Krankheitsbild zur Folklore gehört. Ein liebestoller Student begleitet ihn, geht aber bald verloren, dafür fängt der Doktor sich selbst einen Fuchs ein (den es vielleicht auch gab). Da hilft nur noch Europa, und so flieht Shimamura auf Bildungsurlaub gen Westen, besteht neurologisch aufschlussreiche Abenteuer in Paris, Berlin und Wien. Allein, der Fuchs lässt ihn nicht los - auch nicht Jahrzehnte später zurück in Japan, wo sich dieses seltsame Leben, beäugt von allerhand weiblichem Familienanhang, seinem Ende zuneigt. Und so bleibt der Fuchs der unsichtbare Protagonist dieses zauberhaft fernöstlich getönten Gegenwartsromans.

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Christine Wunnicke

DER FUCHSUND DR. SHIMAMURA

Roman

B E R E N B E R G

Bei Professor Charcots vorgestriger Dienstagsvorlesung wurde das wie immer dicht gedrängte Auditorium der Salpêtrière Zeuge eines interessanten Auftritts. Ein junger Japaner, der womöglich mit einer volkskundlichen Truppe nach Paris gekommen war, assistierte der Ärzteschaft bei einem Experiment zur induzierten Neurose. Sobald die Patientin in den hypnotischen Zustand versetzt war, wurde er von Charcots Gehilfen hinter einem Wandschirm hervorgeholt, und wirklich bedurfte es nicht mehr als seines Erscheinens, um der Somnambulen eine Szene vorzugaukeln, in welcher sie sich selbst als Orientalin träumte. Sie fabulierte, sang und schrie in einer fremden Sprache – Charcot erklärte, es sei Japanisch und das Phänomen bedürfe weiterer Studien – und umtanzte den Fremden weinend, bittend, lockend, wehklagend und mit einem großen Aufgebot pantomimischer Aktion, bei der sie Fächer, Dolche und allerlei sonstige exotische Requisiten zu gebrauchen schien, und brach schließlich zu seinen Füßen zusammen. Ebenso anrührend wie erschreckend war dieser Effekt. Der asiatische Gast ließ kaum eine Reaktion erkennen. Da ihn Charcots Gehilfe wie eine Gliederpuppe hinter dem Paravent hervorzog und nach vollendetem Experiment wieder zurückschob, wurde die Vermutung laut, er sei ebenfalls hypnotisiert. Aufgrund seiner orientalischen Züge, die uns ja stets recht leer und unbeseelt erscheinen, konnten wir diese Frage indes nicht entscheiden. Wir hoffen, in Zukunft mehr von diesem interessanten Gast zu sehen.

G. Demachy, Le Temps, 24. März 1892

Dr. Shimamuras Leben war von Tragödien geprägt. Nach seiner Heimkehr aus Europa 1894 war er wissenschaftlich kaum noch aktiv, weder im medizinischen Verein von Tokyo noch bei den Treffen der neurologischen Gesellschaft. Seine Studien zur Fuchsbesessenheit, die ersten ihrer Art, wurden von der Forschung ignoriert. Hinzu kam seine Krankheit. Was war diese Krankheit? Ich habe nachgeforscht, doch eine Antwort fand ich nicht.

Yasuo Okada, »Kurze Geschichte des Psychiaters Shimamura Shunichi und seiner Missgeschicke«, Nihon Ishigaku Zasshi (Zeitschrift für japanische Medizingeschichte), Dezember 1992

Gepriesen seien die Hysterie und ihr Gefolge junger nackter Frauen, die über die Dächer gleiten!

André Breton, »Zweites Manifest des Surrealismus«, 1930

EINS

Der Winter ging zu Ende, und pünktlich stieg das Fieber. Deshalb begann Shimamura Shunichi, Professor emeritus für Nervenheilkunde an der präfekturalen medizinischen Hochschule zu Kyoto, wieder einmal über die Wege des Lebens nachzudenken. Die deutsche Sprache, die er zu diesem Zweck bevorzugte, verwob sich in seinem Kopf zu komplizierten, zunehmend überhitzten Gespinsten.

Dr. Shimamura litt an der Schwindsucht. Vielleicht litt er auch noch an etwas anderem, für das er seit vielen Jahren weder im Deutschen noch im Japanischen oder Chinesischen und nicht einmal im Kauderwelsch der Medizin ein passendes Wort fand. In seinem Haus in Kameoka, Ende Februar 1922, saß er in einem Rattansessel zwischen seinem Schreibtisch und einer Farnpflanze, die in einer künstlich patinierten kleinen Metallurne steckte, und blickte gerade, reglos und ohne Brille aufs Fenster. Spätes Winterlicht, frühes Frühlingslicht färbte das Fensterpapier gelblich. Vielleicht würde das Fieber bald so sehr steigen, dass sich sein Denken vollends verwirrte. Davor wolle er zu Bett gegangen sein, dachte Shimamura, doch erst knapp davor, denn man könne ja schlecht immer vorsorglich zu Bett gehen.

Er arbeitete seit langem an einer Studie oder Monografie oder einem Aufsatz oder Artikel über die Neurologie oder Psychologie oder experimentelle Psychologie des Gedächtnisses. Seit Jahren ordnete er in Gedanken, und selten auch in einem Notizbuch, Kapitel oder Abschnitte, die darin vorkommen würden, und konnte sich weder über Art noch Umfang des Textes schlüssig werden. Er hatte ihn das Oder-Projekt getauft. Auch über die Methodologie war er sich nicht im Klaren. Am liebsten hätte er die Hirnströme, welche wohl Erinnerung herstellten, galvanometrisch erfasst, und zwar die eigenen. Oder zumindest deren Systematik bestimmt. Nur besaß Shimamura keinen Galvanometer, ein Galvanometer maß auch Erinnerung nicht, und Erinnerung war nicht systematisch, zumindest nicht die von Shimamura Shunichi. Er wollte schließlich keine sinnlosen Silben memorieren und wieder hervorspucken und sich dann damit wichtig tun wie der selige Dr. Ebbinghaus in Halle. Shimamura strebte einen großen, tiefen Text über ein großes, tiefes Problem an. Er war sich sicher, er würde sterben, lange bevor daraus etwas werden könnte, was ihn gewissermaßen täglich tröstete. Auch schien ihm das Oder-Projekt eine Rechtfertigung, sich tagaus, tagein zu erinnern, an dieses und jenes, und oft auch an dessen jeweiliges Gegenteil.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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