Katie - Christine Wunnicke - E-Book

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Christine Wunnicke

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Beschreibung

Vielleicht liegt es am Nebel. Davon jedenfalls gibt es in London auch um 1870 herum genug, und wer weiß, vielleicht trübt er der Stadt ­kollektiv die Sinne. Kaum einer, der nicht dem Medium seiner Wahl vertraut, um in schummrigen ­Séancen mit dem Jenseits zu ­parlieren. ­Florence Cook ist das It-Girl der Branche – streng verschnürt im Schrank bringt sie die ­aufregendste aller Erscheinungen zutage: Katie, 200 Jahre jung und in gleißendes Weiß gewandet, früher Piratentochter, heute eine unruhige Seele auf der Suche nach Erlösung. Oder …? Ein Fall für Sir William Crookes, der Florence (und Katie) nach den Regeln der da­maligen Kunst unter die Lupe nimmt – nur um am Ende erschöpft zu konstatieren, dass die Wissenschaft im Grunde auch nur ein Spuk ist. Eine herrlich übersinnliche Geschichte, und das Beste: Es ist alles wahr. Wirklich.

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CHRISTINE WUNNICKE

ROMAN

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Aus dem strahlenden Äther komme ich,

aus dem Reich mikroskopischer Dinge,wo Moleküle sich ewiglichin gierigem Beben umschlingen.Atomkollision – projiziert aufs Tapetmanch Spektrum leuchtend erschien,das Doppel-D und Magnesium-bund des Thalliums lebendes Grün.

James Clerk Maxwell

I

»Herausgeber der Chemical News«, wiederholte Crookes. »Crookes. William Crookes. Crookes!«

Professor Faraday betrachtete den Sonnenstrahl, der durch das Sprossenfenster auf den Teppich fiel. Er streifte sein linkes Bein und den Rollstuhl. Nicht nur Räder und Handläufe, sondern auch der gesamte Unterbau des Rollstuhls war aus Eisen geschmiedet, stellte Crookes fest, als drohe Faraday fortzuschweben, wenn man ihn nicht gut beschwerte. Professor Faraday betrachtete die Sonnenstäubchen, die neben ihm tanzten. Sein flockiges weißes Haar, das sich mit einem dünnen Backenbart verband, sträubte sich über den Ohren. Der Blick seiner blassgrauen, blanken Augen war ratlos.

»Crookes«, wiederholte Crookes. »Der mit dem Thallium. Entdecker desselben. Lichtbildnerei. Observatorium von Greenwich. Metallurgie. Der mit der Karbolsäure und der Rinderpest. William Crookes. Sie kennen mich, Sir!«

Mrs. Faraday hatte ihm nahegelegt, in knappen Sätzen mit ihrem Mann zu sprechen. Mit keiner Bewegung, keinem Blick, keinem Geräusch, und sei es auch nur einem Seufzen, würdigte Professor Faraday seine Anwesenheit. Crookes wünschte, Mrs. Faraday käme aus dem Garten zurück und spräche mit ihm. Er betrachtete, Faradays Blick folgend, die Sonnenstäubchen. Man müsste öfter aufs Land fahren, dachte Crookes. Die Kinder und Nelly aufs Land bringen, damit sie dort gut gediehen. Daheim in Camden Town drang die Sonne nie durch den Nebel. Professor Faraday hatte die Sonne gewiss verdient, nach all seinen Diensten für die Krone und für die ganze Welt. Die Königin war gleich nebenan. Man erzählte, dass Faraday zuweilen mit Queen Victoria lunche und sie für alles zu begeistern wisse. Eine kleine Speichelblase bildete sich zwischen Faradays Lippen, zitterte und zerstob.

»Sir«, sagte William Crookes, »ich habe letzthin probiert und immer wieder probiert, Spektrallinien magnetisch zu beeinflussen, zu spalten, zu spreizen, zu verändern, in irgendeiner Weise darauf einzuwirken. Ich habe Stab- und Hufeisenmagneten probiert, zusammengesetzte Stäbe, zusammengesetzte Hufeisen und Elektromagneten verschiedener Größe und Form mit verschiedenen Kernen und Spulen und verschiedenen galvanischen Apparaten, und ich habe Natrium, Lithium, Kalium, Strontium, Calcium, Barium, Magnesium verbrannt und Thallium auch, gewiss, ich habe Legierungen aller Arten bei verschiedener Temperatur verbrannt und alle Magneten auf alle Flammen gerichtet und alles spektroskopiert, bis ich schier erblindet bin, und nichts ist geschehen. Selbst das große Hufeisen der Royal Society hat gar nichts ausgerichtet. Mir kam zu Ohren, dass Sie es auch probierten. Ihnen ist es gelungen, nicht wahr?« Das kam jämmerlich heraus.

Die Sonne war ein wenig gewandert. Sie streifte jetzt Faradays linke Bartkotelette, die silbrig glänzte.

»Es läge mir sehr am Herzen«, setzte Crookes hinzu.

Auf dem kleinen Tabletttisch neben dem Rollstuhl lag ein frommes Buch aufgeschlagen und dabei stand ein schlichtes Milchkännchen mit zwei Henkeln, das Crookes schon eine Weile verwirrte, vielleicht war es ein Schnabelbecher für Kranke. Faraday las das Buch nicht und trank auch nicht aus dem Kännchen, und er erkannte Crookes nicht und verstand ihn nicht und vielleicht hörte er ihn nicht einmal, und mit der Königin lunchte er gewiss längst nicht mehr.

»Ich weiß nicht«, sagte Crookes, »warum es mir so am Herzen läge. Warum haben Sie es probiert?«

Faradays Finger waren ein wenig gespreizt und die Handgelenke stark geknickt. Er sah aus, als ob er Klavier spielen wolle, auf dem eisernen Rollstuhl und auf seinem dünnen Bein. Er sah aus, als ob er schon im Himmel wäre. William Crookes war die Religion nicht geheuer, nie geheuer gewesen, bald brachte sie ihn auf, bald dauerte sie ihn, meistens brachte sie ihn auf. Mit Nelly das Thema vermeiden. Mit den Kindern trotzdem beten. Welch schwachsinniger Himmel, worin Faraday sich befand.

»Der arme Faraday«, sagte Crookes. Dann wartete er lange, fast fünf Minuten, bis er aufstand, um Mrs. Faraday zu suchen, und dann heim nach Camden Town zu fahren. Aber er setzte sich wieder hin.

»Sie waren vierundzwanzig Jahre alt, Faraday, und eigentlich fast noch ein Buchbinderlehrling«, sagte Crookes, »als Sie vor der Philosophical Society einen Vortrag über sogenannte strahlende Materie hielten, um den Sie niemand gebeten hatte. Es kam auch nichts Rechtes dabei heraus. Sie erzählten, dass die Materie in vier Zuständen auftrete, nicht in den altbekannten dreien, und zwar sei sie fest, flüssig, gasförmig oder strahlend, und dazwischen riefen Sie ›hypothetisch, hypothetisch‹, und sie sagten nicht, was da strahlte und wie, und Sie führten uns auch nichts Strahlendes vor, sondern ließen uns hängen mit Analogien und Allegorien und Ihrem milden Charme.«

Crookes schlug das fromme Buch zu und stellte das ärgerliche Kännchen darauf.

»Ich war damals noch nicht geboren«, sagte Crookes, »doch jemand hat alles protokolliert und in den Druck gegeben, was Sie damals erzählten. Das Strahlende, so sagten Sie, sei vom Gasigen ebenso weit entfernt wie das Gasige vom Flüssigen und stelle gleichsam eine immer weitere Verdünnung des elastischen Fluidums dar, eine Verfeinerung, Veredelung des aufgeladenen Gases …«

William Crookes stöhnte und griff sich in den Bart.

»Ich habe wenig Zeit«, fuhr er fort, »und wenn Sie nicht dem Altersblödsinn verfallen wären, wüssten Sie, wie sehr ich beschäftigt bin – mit dem Hüttenwesen, der Rinderpest, den Gemeinheiten des Thalliums, das man mir abspenstig zu machen versucht, mit Nitroglyzerin und Fotografie und der Aufarbeitung von Müll und Patenten und Phosphor und Steinkohlenteer und sechs Kindern zuhause – ›es wächst das Gras und dennoch verhungert der Gaul‹, wie man sagt … Ich habe keine Zeit, Magnete auf Spektrallinien zu richten, und für strahlende Materie habe ich erst recht keine Zeit!«

Die Sonne fiel jetzt direkt in Faradays Gesicht. Er kniff nicht die Augen zusammen, doch hatte er begonnen, ein wenig zu kauen, was auch immer er da kauen mochte; es sah qualvoll aus. Crookes sah ihm eine Weile zu. Er ertappte sich dabei, wie er prüfte, ob Faradays Person dem Licht widerstand. Ob er, wie jeder andere Festkörper, einen Schatten warf.

»Mr. Maxwell spintisiert seit jüngstem ganz haltlos über den lichttragenden Äther«, sagte Crookes zu den Sonnenstäubchen, »und ich sagte einmal in Gesellschaft, ich verstünde ihn nicht, weil er spreche wie ein schottischer Viehhirt, doch verstehe ich ihn deshalb nicht, weil er alles berechnet und ich nicht rechnen kann.«

William Crookes perspirierte und sein Puls jagte. Wenn nun Mrs. Faraday erschiene, wie peinlich es wäre, wenn sie ihn derart ins Leere hinein lamentieren hörte. Crookes stand auf und schob den eisernen Rollstuhl in den Schatten.

»Mir graut es vor Ihrem vierten Aggregatzustand, Faraday!«

Faraday hatte aufgehört zu kauen und blickte nun ratlos auf die Gardine.

»Und wenn ich die Spektrallinien denn magnetisch zerteilt bekäme«, sagte Crookes, »so wüsste ich noch längst nicht, wie das zugeht, und wer weiß, was sich in Molekülen und Atomen noch alles befindet und welche Zwischenräume dort sind und was in dieser Leere vielleicht noch alles sich aufhält und regt, und wer weiß, was wir alles versäumen, und davor graut es mir auch.«

Er nahm das Kännchen in die Hand, drehte es und schaute hinein. Tee befand sich im Kännchen.

»Ich evakuiere Kolben auf immer höhere Drücke«, sagte Crookes, »bis der Grad der Entleerung so weit getrieben ist, dass nur noch selten Moleküle aneinandergeraten, und dann jage ich den Induktionsfunken hindurch.«

Er steckte den Zeigefinger in Faradays Tee.

»Es ergeben sich Anomalien. Ich verstehe sie nicht.«

Da kam Mrs. Faraday. Crookes danke ihr sehr, sie erwiderte seine Höflichkeiten. Die Krankenschwester kam, ein weißes Tuch überm Arm und neuen Tee in der Kanne. Crookes verbeugte sich. Professor Faraday blickte ins Licht. Dann kaute er ein wenig, was auch immer er kaute, und dann schlug er die Augen nieder und sagte »nein, nicht gelungen«, mit seiner sanften, glücklichen Faraday-Stimme.

Knapp zwei Monate nachdem William Crookes Professor Faraday in Hampton besucht hatte, starb Crookes’ jüngster Bruder Philip, der sich bei der englischen Kautschuk-, Guttapercha- und Telegraphengesellschaft in Ausbildung zum Ingenieur befand und erst einundzwanzig Jahre zählte. In Diensten auf dem Kabelschiff SS Narva hatte er sich, wie auch dreizehn seiner Kameraden, bei einem Landgang in Havanna mit dem Gelbfieber angesteckt. Der Schiffsarzt lieferte einen Bericht ab, der auch in Crookes’ Hände kam. Darin war mit Datum und Uhrzeit beschrieben, wie der Junge, der ein einfacher, fröhlicher Mensch war, binnen zehn Tagen auf hoher See zwischen Kuba und New York verreckte, die Lippen mit blutigen Pusteln, die Zunge mit gelbem Pelz bedeckt, delirierend, unter schwarzem Erbrechen. Es gab keine Bestattung. Nelly Crookes bestellte Krepp und Schleier.

Auch Faraday war gestorben. William Crookes verstand, dass alle Menschen starben, einer nach dem anderen, er selbst, seine Frau, seine Kinder. Er drohte der Kautschuk-, Guttapercha- und Telegraphengesellschaft mit gerichtlichen Schritten.

II

Im Winter 1869, in ihrem dreizehnten Jahr, stellte Florence Cook fest, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust.

Es kostete wenig Anstrengung. Einmal überm Gesäß verschränkt, glitten sie mühelos immer weiter nach oben, bis zwischen die Schulterblätter, und die Schultern blieben bei alledem schön gesenkt, der Hals lang, der Rücken gerade wie ein Besenstiel; und wenn Miss Cook wollte, konnte sie auch die Unterarme bis zu den Ellenbogen zusammenlegen, ohne dass ihr Nachthemd aus der Fasson geriet.

Sie glitt von der Bettkante, kniete auf dem Boden nieder und rollte die Augen nach oben. Von vorne sah sie nun hoffentlich aus wie eine verzückte Armamputierte. Florence wünschte sich sehr einen Spiegel, worin man den ganzen Menschen sah, aber man hatte ihr letzthin sogar ihr Handspiegelchen weggenommen, wahrscheinlich, weil es ungesund war.

Ungesund war das meiste, was Florence im Leben gefiel: Spiegel, Bücher, Windsor-Seife, die Zigeuner von Shoreditch, Sonne, Schnee, Toast mit Butter und Marmelade und gewiss auch all ihre anderen Neigungen, von denen niemals jemand erfuhr. Vielleicht war sie darum auch dauernd krank. Florence Cook hatte einen Großteil ihrer Kinder- und Mädchenjahre im Siechenbett verbracht, in diesem Bett, unter diesem Schutzengelbild, in diesem Zimmer, in diesem grauen Backsteinhaus mit weißen Fensterläden in der Eleanor Street im besseren Teil von Hackney.

Vater war Korrektor in einer Druckerei in der Fleet Street. Er fuhr jeden Tag mit der Eisenbahn in die City. Mutter war Mutter. Die kleine Schwester hieß Selina. Das Hausmädchen Lizzie ging Mutter zur Hand und brachte Florence ihre Medizin, die Brustpastillen, die Krampftinktur, Browne’s Chlorodyne und Santoninpillen mit Rizinus, was keine Freude war. Florence spreizte kniend die Beine und senkte ihr Hinterteil, bis sie zwischen den Fersen saß. Noch immer beteten die Hände hinten. Sie legte den Kopf in den Nacken und hob langsam das Becken. Nun tat es weh. Weiter und weiter hob Florence ihr Becken und bog dabei entschlossen den Rücken durch. Ihr Zopf streifte den Boden. Ihre Oberschenkel begannen zu zittern. Doch sie bog und bog sich, bis ihr Hinterkopf die kalten Bohlen berührte, und noch immer waren die Hände hinterm Rücken gefaltet.

Eine Weile verharrte sie in dieser Verrenkung. Sie fragte sich, ob sie hier Außergewöhnliches leistete. Die Zigeuner von Shoreditch – die sie wohlgemerkt erst ein einziges Mal und auch nur aus der Ferne gesehen hatte – wüssten gewiss, dachte Florence, wie diese Übung zu bewerten wäre, ob jeder Zweite das konnte, jeder Dritte, jeder Zehnte oder kaum einer außer Florence Cook. Die ungesündeste aller Neigungen dieses Mädchens, das laut Arzt über einen ›recht wachen Geist‹ verfügte, war die Sehnsucht danach, berühmt zu werden. Das überlegte Florence nun wieder, während ihre Finger langsam ertaubten und der umgedrehte Schutzengel vor ihren Augen zu verschwimmen begann: wie man berühmt wird. Sie stieß einen gepressten Seufzer aus. Alles war schon erwogen. Nie kam dabei etwas heraus. Das neue Talent, das sich hier entfaltete, war wohl auch nicht der Weg zum Ruhm.

Florence schloss einen Moment die Augen und stellte sich vor, als Dame ohne Knochen auf Jahrmärkten präsentiert zu werden, willfährig und willenlos, ein Kuriosum, das man herbeiträgt und hinstellt oder hinlegt und dann, nach dem Applaus, gleichgültig und ohne Dank wieder in das Zelt zurückbringt, worin man es zwischen den Präsentationen verwahrt. Sie spürte diesem Gedanken nach, der sich mit dem Schmerz in ihren Gelenken vermischte. Schließlich entknotete sie sich. Sie saß auf dem Boden und dachte nach. Dann krümmte sie sich vornüber und rollte sich ganz ein. Mund und Nase berührten den Boden und beide Fersen die Ohren. Dann legten sich die Fußballen im Nacken zusammen. Florence wickelte ihren Zopf um die Zehen. Nun holte sie die Füße wieder nach vorne, schob die Ellbogen unter die Kniekehlen und versuchte auf den Händen zu stehen, was zunächst gar nicht, dann erstaunlich gut gelang. Warum hatte sie das nicht schon früher probiert? Warum heute diese neue Erkenntnis? Wenn ich dieserart bis zum Milchmann liefe, dachte Florence, würde ich berühmt in ganz Hackney. Da musste sie lachen. Da fiel sie um. Ein Mädchen aus London-Ost, wusste Florence, wird nicht berühmt. Auch wenn es biegsam und hübsch ist. »Ihre Florrie wird eine Hübsche werden«, hatte der Arzt zu Mutter gesagt, und es hatte bedrohlich geklungen. Kaum eine ist so hübsch, wusste Florence, dass sie deshalb berühmt wird. Und wenn doch, geht es moralisch schief. Das heißt dann ›berüchtigt‹.

Florence Cook war schmal und zart, mit blassem Teint und einem tragischen Zug um den Mund. Ihr Profil, mit etwas markanter Nase, hätte gut zum Scherenschneiden getaugt. Das Haar war heller als die Brauen. Seine Farbe, dunkelblond, rotblond oder hell-brünett, wechselte mit dem Licht. Florence legte ihren Zopf nach hinten, stand auf und schlüpfte ins Bett.

Da lag sie nun wieder. Lizzie hatte die Fensterläden schon mittags geschlossen. Es nebelte gewiss und wahrscheinlich regnete es auch. Auf dem Nachttisch standen ein Lämpchen und ein Glas mit verdünnter Milch. Ein Fensterflügel war offen. Der Arzt hatte Frischluft verordnet gegen Florence’ Erregung. Oft waren morgens ihre Finger blaugefroren. Sie steckte den Kopf unter die Decke, presste das Gesicht ins Kissen und schrie »Mordselement!« Dies schreien die Seeräuber, wenn es ihnen die Laune verhagelt.

Seeräuber waren eine der Neigungen der älteren Miss Cook, von denen niemals jemand erfuhr. Sie besaß ein Buch in drei Bänden zu diesem Thema: Captain Marryats Sir Henry Morgan, der Bukanier. Das lag, zusammen mit anderen ungesunden Büchern und Dingen, unter einer losen Bohlendiele unter dem Waschtisch. Im vorletzten Sommer, als sie öfters einmal gesund gewesen war, hatte Florence die Bände aus einem Laden entwendet, in dem es unter anderem gelesene Bücher gab. Zwischen ihren vielen Petticoats hatten sie leicht Platz gefunden. Nicht nur kalte Luft, auch warme Kleidung war gegen Florence’ Erregung verordnet. Selbst unter dem Nachthemd musste sie stets ein Flanellleibchen tragen und jeden zweiten Tag, auch wenn sie zu Bett lag, das Gesundheitskorsett. Das Stehlen war eine ihrer Neigungen. Nur selten, und nur wenn es sehr wichtig war, gab sie ihr nach.

»Unser Held wird zu einem weißen Sklaven gemacht«, sagte Florence zu ihrer verdünnten Milch, »er kommt auf den Hund, fällt fast dem Wahnsinn anheim, aber er hält sich mannhaft. Er lässt untrügliche Anzeichen seiner künftigen Laufbahn erkennen.« Das war die Überschrift des zehnten Kapitels von Sir Henry Morgan. Florence stieg wieder aus dem Bett und schlich zur Tür. Es war ruhig im Haus. Vater war noch bei der Arbeit. Mutter war beim Gebetskreis. Lizzie weinte gewiss in der Küche, womit sie sich in ihren Ruhepausen oft unterhielt. Wo Selina war, wusste Florence nicht. Wahrscheinlich schaute sie Lizzie beim Weinen zu. Selina mit ihren elf Jahren war ohnehin nicht von Belang. Sie konnte Florence ertappen, wobei auch immer sie wollte, ihre Zunge war gebunden, denn Florence wusste zwei Dutzend Gespenstergeschichten, um ihr die Nacht zur Hölle zu machen, und ein Halbdutzend Geheimnisse, um sie damit zu erpressen.

Florence klemmte einen Stuhl unter die Türklinke, holte einen Strick unter der losen Bodendiele hervor und fesselte ihre Beine an den Bettpfosten, von den Knöcheln bis hinauf zu den Knien.

Sie machte Schlingen und Knoten, verstrickte alles gut und setzte noch drei Knoten obenauf. Dann kreuzte sie die Arme im Nacken und legte sich auf den Rücken. Der Boden war kalt, die Beine entblößt bis hinauf zu den Schenkeln, und zwischen den Schlaufen des Stricks bildete ihr Fleisch weiße Wülste. Der Bettpfosten kerbte sich auf der Innenseite in beide Knie. »Mit des Teufels Hülfe, Schurke, befrei dich«, murmelte Florence. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier tat.

Der Nachmittag war noch lang. Selina Cook, die, wie so oft, im Schrank saß und ihre kranke Schwester bewachte, verfolgte durch den Türschlitz mit Staunen Florence’ Kampf.

Die Hände hinterm Kopf ineinander geklammert, begann sie sich seitlich zu winden. Die Stricke schnitten ins Fleisch und es lockerte sich nichts. Sie versuchte ihre Fersen geistig zu zwingen, dünn und weich zu werden oder ganz zu verschwinden, so dass der Strick hinüberzugleiten vermochte; ohne Erfolg. Mit ihren langen Zehen griff sie ins Leere, angelte, spreizte und krampfte, doch sie erreichten nur andere Zehen, die Fessel erreichten sie nicht. Florence zerrte und zog und versuchte rücklings zu robben. Das Bett rückte mit, das Bettgestell knarrte, der Strick hielt fest. Florence löste ihre Hände voneinander und richtete sich auf den Schultern, dann auf den Armen auf. Sie zischte »Mordselement« und »Kreuzbataillon, sapperment«. Sie versuchte sich nach rechts und nach links zu verschrauben, doch nichts geschah, der Spielraum zwischen Mensch, Strick und Bett war zu gering, um etwas freizuscheuern. Schließlich kämpfte sie sich auf die Beine. Da stand sie aufrecht, mit zerrauftem Zopf und geröteten Wangen, und begann winzige Sprünge zu machen. Das richtete etwas aus, aber es reichte nicht. Florence legte die Hände um Bettpfosten und Knöchel und rüttelte, rüttelte. Ihr Hinterteil zuckte. Ihr Nachthemd bebte. Selina im Schrank hielt sich den Mund zu, um nicht zu lachen oder zu weinen. Florence’ Miene war grässlich. Selina überlegte, ob es an der Zeit sei, ein Gebet zu sprechen, oder ob das Beten in einem Schrank verboten sei. Florence hatte längst ihre Knöchel aufgewetzt, es tat weh, es blutete sogar, und der Strick hielt fest. Sie fiel vornüber aufs Bett, den Steiß steil erhoben, und verfluchte die Mechanik des menschlichen Kniegelenks. Sie rüttelte, rückte und keuchte. Selina erbebte. Bald wäre Teezeit. Bald musste Florence wieder im Bett sein, Selina aus dem Schrank, der Strick unter den Dielen, der Stuhl unter der Türklinke fort. Florence’ Füße waren taub, ihre Knie stachen. Noch einmal riss sie am Strick, dann hielt sie still. »Unser Held wurde Großadmiral«, flüsterte Florence, »vor Barbados, unter zwölf Segeln.« Sie atmete ein und atmete aus. Langsam ließ sie sich wieder auf den Boden sinken. Und da lockerte sich etwas. Etwas weichte auf. Florence’ Füße, Fersen, Knöchel, Schienbeine, Waden wurden zu Brei, wurden zu Wasser, wurden zu Luft, und schon glitten sie aus den Fesseln, als sei all diese Qual nur ein Scherz gewesen, und es ging, fand Selina, kaum mit rechten Dingen zu.

Da hing das Seil, noch geknotet, am Pfosten. Die Befreite strich ihr Haar zurück und glättete das Hemd über den Beinen.

»Oh«, sagte Florence. Dann verstaute sie den Strick unterm Waschtisch und holte Selina aus dem Schrank. Sie hatte laut darin gebetet.

»Alles, was heute noch kommt«, sagte Florence zu ihrer kleinen Schwester, »ist wichtig für morgen und all die kommenden Jahre. Das nennt man ein Omen.«

»Danke«, stammelte Selina, und: »Bitte, bitte nicht!«

Längst musste Florence nicht mehr drohen, um Selina Angst zu machen; Selina übernahm das selbst.

Am Abend, der diesen ereignisreichsten Tag des Jahres ’69 beschloss, erzählte Mrs. Cook ihrem Mann eine Geschichte, die im Gebetskreis besprochen worden war und die Mrs. Cook halb bange machte und halb entzückte. Lizzie, die am Kamin zugange war, hörte mit und erzählte es nachher den Mädchen weiter; und weil sie, so Florence, bei aller Larmoyanz doch über einen recht wachen Geist verfügte, blieb zumindest das Wesentliche wahrscheinlich erhalten.

Eine Gebetskreislerin, die jüngst verwitwet war, berichtete Lizzie, hätte an einem Sitzen, wie man das nannte, teilgenommen – und wie graute Selina bald vor dem Wort ›Sitzen‹ –, jener Unternehmung nach amerikanischer Mode, bei der man Seelen aus dem Jenseits mit List und Finten dazu nötigt, sich den Anwesenden durch Zeichen zu offenbaren. Es sei ein gut christliches Sitzen gewesen, so die Witwe, so Mrs. Cook, sagte Lizzie, mit eifrigem Hymnengesang, und nichts Anstößiges oder Schreckliches habe sich zugetragen. Nur Frauen hätten gesessen, und die Einladung sei von einer Matrone ausgegangen, die als Medium – und dieses Wort war den Cook-Töchtern neu – schon allerlei Erfolge hatte für sich verzeichnen können und die in ihrem eigenen Heim, in der guten Stube, nach Einbruch der Dunkelheit und bei Kerzenschein zuweilen gegen geringes Entgelt solche Treffen veranstaltete.

Allerlei fromme Seelen, so die Witwe, hätten sich, vom Hymnengesang angelockt, bald in der Stube eingefunden und dort den Sitzenden Zeichen ihrer Anwesenheit gegeben. Mr. Cook habe seine Frau an dieser Stelle unterbrochen, sagte Lizzie, und sich nach dem Tisch erkundigt, ob er gedröhnt und gepoltert oder die Damen gepufft oder gar nach ihnen getreten habe wie ein Gaul. Mrs. Cook sei darüber ungehalten gewesen und habe sehr betont, dass der Tisch – und inzwischen graute Selina schon vor dem Wort ›Tisch‹ – nur mit wenigen knappen Stößen, gleichsam wie ein Morse’scher Apparat, auf einfache Fragen einfach geantwortet habe – vor allem ›ja‹ und ›nein‹ nach einer vorher vereinbarten Chiffre.

Der verstorbene Mann der Gebetskreislerin etwa, und dies habe Mrs. Cook am meisten gerührt, habe immer nur ›ja‹ geklopft, ein einziges Ja auf jede Frage, die seine Frau an ihn gerichtet habe, »Wie steht es um dich?«, »Bist du in Friede?«, »Bist du bei Gott?«, immer nur ›ja‹ ohne Knacken und Knarren und immer im selben Takt. Und an diesem kargen, lakonischen Klopfen habe die Witwe ganz unzweifelhaft ihren Mann zu erkennen vermocht, weil er ebenso klopfte, wie er einst gesprochen hatte, einsilbig und ein wenig verdrießlich. Und dennoch, so Lizzie, habe er den ganzen weiten Weg aus dem Jenseits gemacht, nur um die gewissermaßen ganz konversationellen und gar nicht brennenden Fragen seiner Frau dauernd mit einem mürrischen Ja zu beantworten. Es sei nicht um den Nachlass oder unerledigte Dinge gegangen, sondern im Grunde um nichts, und dennoch habe er immer wieder und ganz unermüdlich geklopft, bis seine Witwe in Tränen zerflossen sei; und hier, sagte Lizzie, habe auch Mrs. Cook ein wenig geweint.

Wann der Mann wieder fortgegangen sei?, wimmerte Selina. Was die Matrone bei all diesem täte?, wollte Florence wissen; was genau? Wie sich das abspiele? Wie es eingerichtet sei? Wie die Matrone es einfädle und abwickle, mit welchen Gaben, welcher Kunst, welcher Berechtigung? Lizzie lachte. Sie konnte den Mädchen nicht helfen. Vielleicht klopfte der tote Gatte, einmal gerufen, bis heute, woher sollte Lizzie das wissen, Mrs. Cook hatte es nicht erzählt. Das Gespräch sei schnell beendet gewesen, kürzte das Hausmädchen die Sache ab, und dann versuchte sie Selina zu trösten, die sich in eine allgemeine Weltfurcht hineingesteigert hatte und sich in einem ganz desolaten Zustand befand.

Florence Cook war nicht klüger als zuvor. Sie schlief schlecht. Am nächsten Morgen war sie gesund und blieb es.

III

Am 5. Dezember 1870 lief das Panzerschiff HMS Urgent aus dem Hafen von Portsmouth aus, besetzt mit Wissenschaftlern, die nach Oran in Algerien reisten, um dort die totale Sonnenfinsternis zu studieren. Geleitet wurde die Expedition von Mr. Huggins, einem Privatmann aus dem Brauereigewerbe, der sich als astronomischer Spektroskopist einen Namen gemacht hatte. Mit von der Partie waren der Physiker und Alpinist John Tyndall, Mr. Gladstone vom Observatorium in Greenwich, Reverend Howlett, der geschickt mit dem Zeichenstift war, der Instrumentenmacher Ladd, eine Gruppe junger Studenten aus Oxford, die ein wertvolles Polariskop bewachten, sowie William Crookes, der zwar zu Recht als Virtuose der chemischen Spektrographie galt, von Sonnenstrahlen indes eher wenig verstand; er berichtete für die Times und das Echo.

Crookes trat die Reise mit gemischten Gefühlen an: Seit Philips Tod graute ihn, unter anderem, vor Schiffen. Eine Ahnung von Seekrankheit und ein leichter Schwindel hatten ihn befallen, noch bevor er einen Fuß auf die Urgent