DER GEHEIMNISVOLLE DOLCH - Herbert Adams - E-Book

DER GEHEIMNISVOLLE DOLCH E-Book

Herbert Adams

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wenn man Mark Braddon gefragt hätte, weshalb er sich von seinem Aufenthalt auf Fullock Park nicht allzu viel versprach, so wäre er wohl um eine Antwort verlegen gewesen. Das Haus war ihm schon von früheren Besuchen her bekannt, und er wusste, dass es alle Bequemlichkeiten zu bieten vermochte. Ohne Zweifel war er ein gern gesehener Gast, und höchstwahrscheinlich traf er dort allerlei lebenslustige junge Menschen. Auch das Wetter ließ während der letzten Woche eines sonnigen Mai nichts zu wünschen übrig, und überhaupt hatte Braddon eine ganz besondere Vorliebe für die landschaftlichen Reize dieser zur Grafschaft Surrey gehörenden Gegend.

Dennoch war er sich bewusst, dass seit seiner letzten Anwesenheit sehr wesentliche Veränderungen eingetreten waren, sodass er eine empfindliche Störung der altvertrauten, friedlichen und harmonischen Stimmung befürchtete. Das, was er dann wirklich erlebte, ging allerdings weit über seine schlimmsten Befürchtungen hinaus...

Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

Der Roman Der geheimnisvolle Dolch erschien erstmals im Jahr 1934; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1951 (unter dem Titel Der Dolch).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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HERBERT ADAMS

 

 

Der geheimnisvolle Dolch

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 213

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER GEHEIMNISVOLLE DOLCH 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Wenn man Mark Braddon gefragt hätte, weshalb er sich von seinem Aufenthalt auf Fullock Park nicht allzu viel versprach, so wäre er wohl um eine Antwort verlegen gewesen. Das Haus war ihm schon von früheren Besuchen her bekannt, und er wusste, dass es alle Bequemlichkeiten zu bieten vermochte. Ohne Zweifel war er ein gern gesehener Gast, und höchstwahrscheinlich traf er dort allerlei lebenslustige junge Menschen. Auch das Wetter ließ während der letzten Woche eines sonnigen Mai nichts zu wünschen übrig, und überhaupt hatte Braddon eine ganz besondere Vorliebe für die landschaftlichen Reize dieser zur Grafschaft Surrey gehörenden Gegend.

Dennoch war er sich bewusst, dass seit seiner letzten Anwesenheit sehr wesentliche Veränderungen eingetreten waren, sodass er eine empfindliche Störung der altvertrauten, friedlichen und harmonischen Stimmung befürchtete. Das, was er dann wirklich erlebte, ging allerdings weit über seine schlimmsten Befürchtungen hinaus...

 

Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller.  Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

Der Roman Der geheimnisvolle Dolch erschien erstmals im Jahr 1934; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1951 (unter dem Titel Der Dolch).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DER GEHEIMNISVOLLE DOLCH

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Wenn man Mark Braddon gefragt hätte, weshalb er sich von seinem Aufenthalt auf Fullock Park nicht allzu viel versprach, so wäre er wohl um eine Antwort verlegen gewesen. Das Haus war ihm schon von früheren Besuchen her bekannt, und er wusste, dass es alle Bequemlichkeiten zu bieten vermochte. Ohne Zweifel war er ein gern gesehener Gast, und höchstwahrscheinlich traf er dort allerlei lebenslustige junge Menschen. Auch das Wetter ließ während der letzten Woche eines sonnigen Mai nichts zu wünschen übrig, und überhaupt hatte Braddon eine ganz besondere Vorliebe für die landschaftlichen Reize dieser zur Grafschaft Surrey gehörenden Gegend.

Dennoch war er sich bewusst, dass seit seiner letzten Anwesenheit sehr wesentliche Veränderungen eingetreten waren, sodass er eine empfindliche Störung der altvertrauten, friedlichen und harmonischen Stimmung befürchtete. Das, was er dann wirklich erlebte, ging allerdings weit über seine schlimmsten Befürchtungen hinaus.

Wenn er nur das gehört hätte, was kurz vor seinem Eintritt drinnen im Herrenzimmer gesprochen wurde, wären seine Mutmaßungen sofort in eine bestimmte Richtung gelenkt worden. Obwohl selbst das noch nicht eine Vorbereitung auf die tatsächlichen Ereignisse ermöglicht haben würde.

Drei Personen waren anwesend.

Ein hochgewachsener, streng blickender Herr, der nicht mehr weit vom siebzigsten Lebensjahr entfernt sein konnte, sich sehr sorgsam kleidete und einen verhältnismäßig jugendlichen Eindruck erweckte.

Ferner ein hübsches zweiundzwanzigjähriges Mädchen mit lebhaften blauen Augen.

Schließlich ein junger, gut aussehender Mann, ein dunkler Typ, der etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein mochte.

Die drei standen beim Fenster in der Nähe des Schreibtisches. Ihre Gesichter verrieten, dass sie zornig waren.

»Ich kann dich nicht an dieser Ehe hindern«, erklärte der Ältere dem Mädchen. »Du bist mündig, doch bitte ich dich, Folgendes zu bedenken. Da du gegen meinen Willen handelst, wenn du Roland Sinclair heiratest, so musst du dir darüber klar sein, dass du fortan von mir keinerlei Unterstützung zu erwarten hast. Keinen Pfennig bekommst du, weder jetzt noch später.«

Wie zur Antwort ergriff das Mädchen den Arm des jungen Mannes.

»Ich begreife nicht, weshalb du so ablehnend bist«, murmelte sie. »Wir lieben uns, und nichts vermag uns zu trennen.«

»Und was haben sie dazu zu sagen?«, wandte sich der Vater mit verächtlichem Lächeln an Sinclair.

»Janet hat recht«, entgegnete der junge Mann nachdrücklich. »Es ist möglich, dass ich ihr nicht all den Luxus zu bieten vermag, den sie unter ihrem Dach genießt, aber jeder Schlag meines Herzens gehört ihr. Sie glücklich zu machen, wird stets mein erstes und einziges Bestreben sein.«

»Diese Rede haben sie wohl einem ihrer Theaterstücke entnommen? Muss übrigens nett sein, wenn man für jede Gelegenheit ein paar passende Worte auf Lager hat.«

»Vater! Weshalb sprichst du so?«, rief das Mädchen erregt. »Bist du nur deshalb so gegen Roland eingenommen, weil er Schauspieler ist?«

»Nein, mein Kind, aber ich will dein Glück und werde daher nichts tun und nichts unterstützen, was meiner festen Überzeugung nach Unglück über dich bringen muss.«

»Mit welchem Recht sagen sie das?«, warf Sinclair hitzig ein. »Ich denke, dass Janet selbst am besten wissen wird, was dem Wunsch ihres Herzens entspricht. Wenn sie diesem Gebot folgt, so darf sich ihr niemand, der es gut mit ihr meint, entgegenstellen.«

»Sagen sie mal, junger Mann, bei wie viel Frauen wiesen diese Herzensgebote bereits in ihre Richtung?«, fragte der Vater kühl.

Der Schauspieler bekam einen roten Kopf. »Ihre Worte sind unschön. Janet weiß, worauf sie anspielen, und das dürfte genügen. Nochmals, wir lieben einander und werden heiraten, komme was mag.«

»So ist es«, bestätigte Janet und sah ihrem Vater frei in die Augen.

»Also schön. Dann ist ja alles klar. Meine Wünsche haben keine Bedeutung für dich, sodass mir nur übrig bleibt, das Gesagte nochmals zu wiederholen. Vom Augenblick deiner Trauung an, und solange du die Frau dieses Mannes bleibst, wirst du völlig von ihm abhängig sein, von ihm allein. Das dir zugedachte Geld wird eine anderweitige Verwendung finden. Dabei bleibt es. Also überlegt es euch nochmals genau, ihr jungen Leute.«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und der Diener ließ Mark Braddon eintreten. Es bedurfte wahrhaftig keines großen Scharfsinnes, um die im Zimmer herrschende Stimmung zu erfassen. Sekundenlang herrschte Schweigen, dann streckte Janet die Hand aus.

»Wie nett, dass sie gekommen sind, Mr. Braddon! Sie werden sicher ein wenig mit Papa plaudern wollen. Komm, Roland!«

Gemeinsam mit Sinclair verließ sie das Zimmer.

»Freut mich, sie zu sehen, Braddon. Meine Frau ist wohl noch nicht wieder zurückgekehrt?«

»Ich glaube nicht. Ihr Butler wies mich hierher. Hoffentlich störe ich nicht.«

»Aber nein - gewiss nicht.« Nach einer Pause fuhr der Hausherr fort: »Kennen sie den jungen Burschen, der mit Janet hinausging?«

»Ich weiß nicht recht. Sein Gesicht kommt mir bekannt vor, doch kann ich mich im Augenblick nicht auf den Namen besinnen.«

»Roland Sinclair. Schauspieler. Sind sie jetzt im Bilde?«

»Kaum«, lächelte Braddon. »Wahrscheinlich habe ich ihn schon mal gesehen, ohne dass ich mich an Einzelheiten erinnern kann.«

»Vielleicht können sie mir in dieser Angelegenheit behilflich sein, lieber Doktor. Es wäre ja nicht das erste Mal.«

Wilfrid Hatton spielte hier darauf an, dass ihm der noch junge Mediziner vor Jahren das Leben rettete, als er infolge Überarbeitung plötzlich auf der Straße zusammengebrochen war. Aus der beruflichen Bekanntschaft war eine Freundschaft entstanden und als Braddon dem Älteren geraten hatte, sich zur Ruhe zu setzen, war dieser darauf eingegangen. Fortan legte er auf die Ansichten des Arztes hohen Wert.

»Roland Sinclair trat unlängst in Die Frau eines anderenauf«, sagte er. »Und zwar als der andere. Jetzt will er Janet heiraten. Ich habe meine Zustimmung verweigert und mit Bestimmtheit erklärt, dass ich für diese Ehe keinen roten Heller übrig habe. Ich werde meine Tochter enterben. Klingt vielleicht etwas theatralisch, ist aber mein Ernst.«

»Liebt sie ihn denn?«, fragte Braddon.

»Allerdings. Wenigstens bildet sie es sich ein. Dabei würde sie auf die Dauer todunglücklich werden. Nein, ich habe keine Vorurteile gegen den Stand der Schauspieler im Allgemeinen, wenn ich auch finde, dass etwas gar zu viel Aufhebens von ihnen gemacht wird.

Nein, ich denke dabei an Janet. Sie besitzt ein schlichtes und liebebedürftiges Herz. Kann sie an der Seite eines Menschen glücklich werden, dessen Beruf darin besteht, mit anderen Frauen Liebesszenen darzustellen?«

Braddon antwortete nicht gleich. Bisher hatte der kaum Dreißigjährige wenig über das Problem der Ehe nachgedacht. Durch die häufigen Besuche bei Hatton war jedoch sein rein freundschaftliches Interesse für Janet geweckt worden. Der Gedanke, sie unglücklich zu sehen, war ihm peinlich. Sein männliches Gesicht bekam einen besorgten Ausdruck.

»Die Frage ist nicht so ganz einfach«, meinte er schließlich. »Vermutlich ist es für Schauspieler das beste, sie heiraten unter sich. Andrerseits dürfte es unangebracht sein, wegen gespielter Liebesszenen Eifersucht zu empfinden. Häufig besteht zwischen den Auftretenden in Wirklichkeit Abneigung bis Feindschaft.«

»Ein Mensch vom Schlag Sinclairs begnügt sich nicht mit einer einzigen Frau«, knurrte Hatton. »Alle Augenblicke hat er eine neue und bildhübsche Partnerin. Er war auch schon einmal in Scheidungsgeschichten verwickelt. Für Janet wäre ein solches Leben unerträglich. Ruth würde sich vermutlich eher damit abfinden können.«

»Wenn sie ihn liebt, dann wird sie durch den Verlust ihres Geldes nicht beeinflusst werden. Glauben sie, dass er sich auf solche Weise von seinen Entschlüssen abbringen lässt.«

»Ja. Mag sein, dass er im Augenblick wirklich verliebt ist, doch denke ich, dass er binnen Kurzem einsehen wird, dass er keine Frau ohne Vermögen heiraten kann.«

»Und wenn es trotz allem zur Ehe kommen würde, gedenken sie ihm dann tatsächlich ihre Tochter zu überlassen, obwohl sie ihn selbst für unzuverlässig halten?«

Hatton wich aus.

»Nun, sie werden ihn ja im Lauf dieses Wochenendes genauer kennenlernen. Ich lege großes Gewicht auf ihre Meinung. Sagen sie es mir ehrlich, wenn sie denken, dass ich unrecht handle.«

Der Arzt nickte. Er ahnte, dass die Voraussetzungen für ein vergnügliches Wochenende nicht mehr gegeben waren.

Plötzlich wechselte der Hausherr lachend den Gesprächsstoff.

»Sie werden wohl einigermaßen überrascht gewesen sein, als sie von meiner Heirat hörten?«

Braddon lächelte.

»Stimmt. Wohl riet ich ihnen zu dieser Reise nach Südfrankreich, hatte dabei aber keineswegs an solche Folgen gedacht. Meine herzlichsten Glückwünsche! Natürlich bin ich sehr gespannt darauf, ihre Gattin kennenzulernen.«

»Dazu haben sie auch allen Grund, mein Lieber. Sie ist eine wundervolle Frau. Wenn sie sie sehen, werden sie den Grad meines Glückes ermessen können. Es freut mich, dass sie einer der Ersten sind, die ihr vorgestellt werden. Da ich beabsichtige, allwöchentlich Gesellschaften zu geben, wird sie sich bald einleben.«

Er strahlte geradezu in seiner Rolle als junger Ehemann, aber Braddon bemerkte diese künstlich aufgetragene Jugend mit Missfallen. Seit einer ganzen Reihe von Jahren war der ehemalige Anwalt Witwer. Seine Schwester hatte ihm den Haushalt geführt und sich der heranwachsenden Töchter angenommen. Und nun hatte er sich fern im Süden Hals über Kopf trauen lassen.

»Kommen Janet und Ruth gut mit ihrer neuen Mutter aus?«

»Hm...« Hatton zögerte sichtlich, »das Wort Mutter ist wohl in diesem Fall nicht ganz angebracht. Sagen wir lieber Schwester. Sie ist fast gleichaltrig mit meinen Töchtern. Ich bin davon überzeugt, dass sie Corinne bald lieb haben werden. Wie sollte das auch anders möglich sein? Sie ist ein so natürliches, entzückendes Geschöpf. Über ihre Schönheit sollen sie selbst urteilen, obwohl sie vielleicht in diesen Dingen anders empfinden als ich. Aber auch ihre Stunde wird kommen, mein Junge. Auch sie werden sich verlieben!«

Er lachte laut über seine eigenen Worte. Mark schwieg. Er hatte bisher den scharfsinnigen Juristen bewundert, er empfand eine gewisse Hochachtung für den strengen Vater, aber die jetzt zutage tretenden Charaktereigenschaften waren ihm neu. Möglicherweise bot die Heirat dem alternden Mann einen glücklichen Lebensabend, wahrscheinlicher jedoch deutete sie auf ein Nachlassen des Verstandes.

»Sie kann jeden Augenblick zurück sein«, redete Hatton weiter. »Sie spielt Golf mit ihrem Vetter, mit Roger Malden und mit Ruth. Malden kennen sie doch schon, nicht wahr? Auch der alte Skinner, der Richter, ist hier. Außerdem hält sich meine Schwägerin, Mrs. Rawland, seit acht Tagen bei uns auf. Heute Abend soll ihr Sohn Joseph eintreffen. Nächsten Mittwoch wollen wir gemeinsam zum Rennen fahren. Sie sehen, alles in allem so etwas wie ein kleines Familienfest.«

»Dass sie Sir Thomas Skinner so halb und halb adoptiert hatten, wusste ich bereits«, meinte Braddon. »Gehört Roger Malden auch zur Familie?«

»Noch nicht, aber was nicht ist, kann noch werden. Ich glaube, sie kommen gerade. Das muss Corinne sein. Na, nun machen sie sich mal auf eine Überraschung gefasst, mein Lieber.«

Während er sprach, lachte er wieder übertrieben laut und fröhlich, was Braddon gar nicht gefiel. Er führte seinen Gast zur Tür, riss sie auf und ließ ihm den Vortritt. Dabei fiel Marks Blick auf einen Spiegel. Er sah das Bild eines Mannes, der eine junge Frau küsste. Die Frau war schlank, dunkel und auffallend schön. Ihr Alter konnte nicht viel über zwanzig Jahre betragen. Auch der Mann, der einen schwarzen Schnurrbart trug, verriet romanische Herkunft. Nun, Braddon war tatsächlich von dem Anblick überrascht. Als die beiden die Tür aufgehen hörten, traten sie schnell auseinander. Der Mann zog sich zurück.

»Liebste Corinne, da bist du ja!«, rief Hatton, der anscheinend nichts gemerkt hatte. »Wir warten bereits auf dich. Ich darf ich dir meinen Freund Mark Braddon vorstellen, der mir seinerzeit das Leben rettete?«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Braddon bewohnte ein Zimmer, das er bereits von früheren Gelegenheiten her kannte. Ehe er sich zum Essen umzog, trat er an das Mittelfenster, das als Tür auf den Balkon hinausführte. Das ungefähr dreißig Jahre alte Haus war im Schweizer Stil erbaut worden.

Der ursprüngliche Besitzer, von dem es Hatton gekauft hatte, musste ein großer Freund des Sonnenlichts gewesen sein, denn der Balkon lief, mit Ausnahme der Nordfront, um alle Außenseiten wie eine Galerie. Fast alle Schlafzimmer hatten Zugang zum Balkon. Braddons Raum lag nach Westen.

Gerade stellte er fest, dass er nicht der Einzige war, der sich der schönen Aussicht auf den Park und den bewaldeten Hintergrund erfreute.

»Das kann doch nur die inzwischen erwachsene Ruth sein«, sagte er.

Beim Klang seiner Stimme wandte das Mädchen den Kopf. Ruth war ein Jahr jünger als ihre Schwester Janet, nicht ganz so groß, und vielleicht würde mancher sie für weniger hübsch erklärt haben, obwohl sie die gleichen schönen blauen Augen besaß. Dafür verliehen ihr jedoch ihr lebhafter Gesichtsausdruck, die markante kleine Nase und die vorzüglichen Zähne einen ganz eigenartigen Reiz.

»Sicherlich ist das kein anderer als Mark Braddon«, erwiderte sie. »Wohl gerade angekommen? Nun, und wie geht es so?«

»Zunächst einmal freue ich mich, sie wiederzusehen«, lachte er und ergriff ihre Hand. Etwas ernster fuhr er fort.

»Wir sind einander ja fast ganz fremd geworden, denn während meiner letzten Besuche zogen sie es vor, abwesend zu sein. Wie können sie sich rechtfertigen?«

»Vielleicht ist es sogar ihnen bekannt, dass es so etwas wie Schulen gibt, und später - na, Tante Laura und ich fühlen uns nicht übermäßig stark zueinander hingezogen. Natürlich ahnte ich nicht, was mir dadurch entging, dass ich so wenig zu Hause war!«

»Nun erzählen sie mir erst einmal, wie stellen sie sich zu ihrer neuen Mutter?«

Sie verzog ein wenig das Gesicht.

»Dass Papa ein so junges Mädchen als seine Frau mitbringen würde, hätte sich wohl niemand träumen lassen. Sie ist genauso alt wie ich. Sie gibt sich aber alle Mühe, ihrer gewiss nicht sehr leichten Stellung gerecht zu werden und das gefällt mir an ihr. Dass Tante Laura sie auf den ersten Blick hasste, versteht sich von selbst.«

»Vielleicht bessert sich das mit der Zeit.«

»Ausgeschlossen! Tante Laura hat bereits erklärt, dass ihr der Aufenthalt im Haus verleidet sei. Binnen weniger Tage wird sie also mit großem Krach ausziehen.«

»Sie scheinen das nicht sehr zu bedauern.«

»Das will ich nicht unbedingt behaupten«, lachte Ruth. »Im Grund genommen ist sie gar nicht so böse, aber ich habe das Pech, immer wieder bei ihr anzuecken. Das fing schon an, als ich noch nicht zehn Jahre alt war. Damals lebte Tante Alicia, ihre Schwester, noch. Die war ein viel schlimmerer Drache. Janet und ich, wir ärgerten uns jedes Mal gründlich, wenn sie zu Besuch kam. Dann erzählte uns Tante Laura eines schönen Tages tränenden Auges, dass Tante Alicia nunmehr bei den Engeln weile, worauf ich ganz harmlos fragte, ob das denn den Engeln recht sei. Sie hat mir nie verziehen!«

Braddon lächelte, ging aber dann zu einem anderen Thema über.

»Was für ein Mensch ist dieser Roland Sinclair?«

»Ein ausgezeichneter Schauspieler. Haben sie ihn schon mal gesehen?«

»Ich glaube. Wie aber beurteilen sie ihn als zukünftigen Schwager?«

»Janet liebt ihn leidenschaftlich.« Der Klang ihrer Stimme deutete an, dass sie nicht mehr zu sagen wünschte. Mark Braddon vermied es taktvoll, das Thema weiterzuspinnen, zumal er noch etwas anderes auf dem Herzen hatte.

»Sie spielten heute Nachmittag Golf, nicht wahr? War jener dunkelhäutige Mensch mit dem schwarzen Bärtchen dabei? Wer ist das?«

»Corinnes Vetter. Er heißt Leon Gasquet. Netter Kerl. Er spielt auch ganz gut.«

»Also das reinste internationale Turnier: England gegen Frankreich! - Pfeift da eigentlich jemand nach ihnen?«

»Oh, das ist nur Theodor.«

»Theodor?!«

»Mein Kanarienhähnchen. Eigentlich mache ich mir nichts daraus, einen Vogel im Käfig zu halten. Er war ein Geschenk.«

»Und warum nennen sie ihn ausgerechnet Theodor?«

»Und warum nicht?«

Beide lachten.

»Richtig, jetzt entsinne ich mich«, meinte Braddon. »Ihr Vater sprach davon. Sie sprangen ins Wasser, um einen Jungen vor dem Ertrinken zu retten, und die Eltern schenkten ihnen als Dank den Vogel.«

»Ja. Das war voriges Jahr in Cumberland. Die Leute wären gekränkt gewesen, wenn ich abgelehnt hätte. Übrigens war die Sache kaum der Rede wert.«

»Kaum der Rede wert! Und dabei standen andere Menschen herum, die schön auf dem Trockenen blieben.«

»Wahrscheinlich konnten sie nicht schwimmen. Nun, jedenfalls haben Theodor und ich einander recht gern. Er würde nicht mal davonfliegen, wenn ich ihn freiließe. Und da wir gerade vom Schwimmen sprechen, kennen sie schon unser neues Becken? Wie wäre es mit einem Bad im Mondschein?«

Später vergegenwärtigte sich Braddon immer wieder, einen welch großen Einfluss Theodors Piepen auf die Gestaltung seines Lebens haben sollte.

»Mondscheinschwimmerei klingt zwar sehr romantisch«, lächelte er, »bereitet aber nur in heißen Nächten Genuss. Sagen sie mal, Sir Thomas Skinner, der ewige Richter, ist doch auch hier. Wie gibt er sich denn so als Privatmann?«

»Ein besonders gewandter Gesellschafter ist er gerade nicht, zumal er nicht für einen Pfennig Fantasie besitzt.«

»Mit anderen Worten, ein steifleinener Pedant, wie? Ich könnte mir vorstellen, dass er ihnen zuwider ist.«

»Der gute alte Knabe!« lachte Ruth. »Er ist doch mein Pate! Früher hatte ich allerdings Angst vor ihm, bis...«

»Nun?«

»Bis er eines schönen Tages zum Dinner herunterkam, dabei aber trotz eines tadellosen Anzugs die Pyjamahosen anbehalten hatte. Zum Glück fing ich ihn rechtzeitig ab. Er lief in sein Zimmer zurück, ließ mich jedoch nach ein paar Minuten rufen. Ruth, was soll ich bloß tun? Jammerte er. Ich kann meine Smokinghosen nicht finden. Gestern Abend waren sie noch da. Ich half ihm suchen. Nichts. Endlich entdeckte ich, dass etwas Schwarzes unter den Hosen des Schlafanzugs hervor sah. Da hatte er die doch wahrhaftig in Gedanken über die Smokinghosen gezogen!«

»Also ein ganz menschlicher alter Herr«, schmunzelte Mark. »Erzählen sie mir noch ein wenig von der Golfpartie. Ihr Partner war Roger Malden, der berühmte Finanzmann? Spielt er gut?«

»Zum Mindesten ganz leidlich.«

Plötzlich schwieg Ruth, um erst nach kurzem Nachdenken fortzufahren, »Sagen sie, Doktor Braddon, was bedeutet eigentlich das Wort Finanzmann? Was tut so ein Mensch?«

»Ist es wirklich nötig, mich so formell anzureden?«, lächelte der Arzt. »Könnte man nicht einfach - Mark sagen?«

»Gut also, Mark! Aber sie weichen meiner Frage aus. Was ist ein Finanzmann? Ein ruhmvoller Geldverleiher?«

»Ich glaube kaum, dass Roger Malden auf solche Bezeichnung Wert legen würde, obwohl sie der Wahrheit ziemlich nahekommen dürfte. Meist läuft es auf Darlehen heraus, die irgendeiner Landesregierung vermittelt werden. Malden ist Vorsitzender des Aufsichtsrates eines ganzen Bankkonzerns. Ihr Vater ist sein Stellvertreter. Ich freute mich, als ihm diese Stellung angeboten wurde, denn ein plötzlicher Übergang zum alleinigen Privatisieren würde ihm nicht gut getan haben. Übrigens gehöre ich selbst zur Klasse der bescheidenen Aktionäre.«

»Offenbar ist er schwer reich, wie?«

»Sie meinen Malden? Er gilt als vielfacher Millionär. Man nimmt an, dass er dank seiner parlamentarischen Verbindungen bald einen Adelstitel erhalten wird. Interessieren sie sich so für ihn?«

Und als sie nicht gleich antwortete, setzte er neckend hinzu: »Oder interessiert er sich für sie?«

»Wissen sie was, Mark? Ich glaube, es wird Zeit, dass sie sich umziehen. Wenn sie mit ihrem Schlips nicht fertig werden, dann rufen sie mich nur.«

In heiterster Stimmung trennte man sich. Wenn Mark gewusst hätte, dass er gerade die einzigen heiteren Minuten seines Aufenthaltes erlebt hatte, würde er vielleicht wirklich Ruths Hilfe in Anspruch genommen haben.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Bald nachdem er sich wieder hinunterbegeben hatte, fiel es Mark auf, dass eine feindselige Stimmung im Haus herrschte. Bei Tisch saß er unmittelbar neben der gefürchteten Tante Laura. Eigentlich sollte das eine Auszeichnung sein, denn die Gesellschaft bestand aus sieben Herren und fünf Damen.

Mrs. Hatton - Corinne - sah bezaubernd aus. Sie besaß große, dunkle und sehr ausdrucksvolle Augen. Es war durchaus begreiflich, dass die Männer von ihr begeistert waren, obwohl gerade ihre unmittelbaren Nachbarn, der Richter und der Finanzmann, nicht viel davon merken ließen. Sir Thomas Skinner widmete seine ungeteilte Aufmerksamkeit allein den aufgetragenen Speisen und Malden unterhielt sich hauptsächlich mit Ruth.

Neben dem Richter saßen Janet und Sinclair. Die beiden sprachen nur flüsternd miteinander und trugen durchaus nicht zur Hebung der Stimmung bei.

Leon Gasquet, der hübsche französische Vetter, hatte neben dem jungen Schauspieler und Mrs. Rawland Platz genommen. Wohl bemühte er sich um seine Tischdame, doch seine Augen blickten häufig zu Corinne hinüber.

Mrs. Rawland, Hattons Schwägerin aus erster Ehe, war eine stattliche Dame. Sie trug eine schwere Halskette aus funkelnden Smaragden. Sie legte den Schmuck bei jeder erdenklichen Gelegenheit an, weil sie sich über die Bewunderung freute, die dieses besonders schöne Stück immer wieder erregte. Infolge einer fortgeschrittenen Lähmung vermochte sie sich kaum zu bewegen, doch fand sie sich heiteren Gemüts mit ihrem Leiden ab. Sie besaß überhaupt einen gütigen und schlichten Charakter. Sie saß neben dem Hausherrn.

Dann folgte Mark Braddon.

Der junge Mediziner schwebte in ständiger Furcht, dass jemand die häufigen boshaften Bemerkungen der Tante Laura hören würde.

Ruth war die Tischdame des jungen Joseph Rawland, eines rothaarigen Jünglings, der sich erfolgreich bemühte, etwas zur allgemeinen Unterhaltung beizusteuern.

»Seht mich an!«, rief er laut. »Ich habe für das Rennen in Epsom auf einen ganz vorzüglichen Außenseiter gesetzt. Wenn der Gaul gewinnt, streiche ich eine gehörige Stange Gold ein!«

Die Ankündigung erregte allgemeines Interesse. Man fragte nach dem Namen des Pferdes, verbreitete sich über dessen Aussichten und wollte wissen, was Joseph mit dem vielen Geld anzufangen gedenke. Lächelnd und selbstgefällig ließ er den Sturm über sich ergehen.

»Stolen Joy heißt das Pferdchen. Dreißig zu eins könnte die Quote sein.«

Corinne lächelte ihm aus ihren wundervollen Augen zu.

»Wie spannend ich das finde. Wann wirst du das Geld bekommen?«

»Sofern du es überhaupt bekommst!«, warnte Mutter Rawland.

»Man sollte eigentlich keine ungelegten Eier begackern«, brummte der Richter und schob sich ein Stück Seezungenfilet in den Mund. »Selbst ein Arzt vermag nicht zu sagen, welcher von seinen Patienten zuerst stirbt.«

Die Worte Skinners befremdeten einigermaßen, sodass eine Pause in der Unterhaltung eintrat. Dann begannen einige der Anwesenden zu gleicher Zeit zu sprechen, und Marks Nachbarin fragte ziemlich laut:

»Nun, was halten sie von seiner neuen Frau?«

Offenbar glaubte sie zu flüstern.

»Entzückend«, lautete die Antwort.

Tante Laura ließ einen schnaufenden Ton hören.

»Entzückend! Wirklich großartig! Wenn ein Sechsundsechzigjähriger ein zwanzigjähriges Ding heiratet - obendrein noch eine Französin! - dann möchte ich wohl wissen, wen sie entzücken wird!«

»Hoffentlich ihn!«

»Hoffen ist billig! Merken sie denn nicht, dass sich Wilfrid einfach lächerlich macht?«

»Es kann sich doch alles zum besten wenden«, murmelte Mark. Er fürchtete, dass Wilfrid Hatton zuhörte.

»Das wird es nie, und sie wissen das selbst ganz genau. Derlei törichte Streiche können einen nur ins Unglück stürzen. Sie will lediglich Luxus und Wohlleben genießen und obendrein ist sie mannstoll. Fast jedem macht sie Augen. Bloß er merkt nichts davon.!«

Braddon empfand angesichts des verfänglichen Gesprächsstoffes eine wachsende Unruhe. Mit dieser verbitterten Frau war nicht zu reden.

»Wie prächtig sich Ruth entwickelt hat«, suchte er abzulenken. »Ich habe sie seit zwei Jahren zum ersten Mal wiedergesehen.«

»Du lieber Himmel, diese Corinne wird einen denkbar schlechten Einfluss auf sie ausüben. Welch ein abscheuliches Beispiel! Nur wenige Wochen verheiratet und schon schleppt sie ihren Liebhaber ins Haus ihres Gatten!«

»Das sollten sie wirklich nicht sagen. Soviel ich weiß, ist er doch ihr Vetter, nicht wahr?«

»Vetter! Dass ich nicht lache! Sie hätten geheiratet, wenn nur ein Pfennig Geld vorhanden gewesen wäre. Jetzt hat sie Wilfrid genommen und bringt sich den anderen als Hausfreund mit. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie Emily Rawland an ihn verkuppeln will. Wirklich reizende Geschichten sind das!

Dabei ist Emily möglicherweise genauso töricht wie mein Bruder. Bildet sich am Ende gar ein, dass sie ihrer selbst wegen geliebt wird, obwohl es der Kerl in Wirklichkeit auf ihre Edelsteine abgesehen hat. Ekelhaftes Getue! Entweder ich schiebe dem einen Riegel vor oder ich reise ab!«

Allerdings plauderte Leon Gasquet sehr lebhaft mit der Dame an seiner Seite, doch wenn er ihr etwas mehr Aufmerksamkeit erwies, als es ein Nichtfranzose getan haben würde, so lag das wohl an seinem Temperament.

»Wilfrid spielt überhaupt die Rolle des Hanswurstes«, fuhr Miss Laura Hatton unbeirrt fort. »Noch nie im Leben hat er sich für Pferderennen interessiert und nun gibt er bloß des Derbys wegen eine große Gesellschaft. Das ist ihr Einfluss.«

»Bedenken sie doch, dass er jetzt freier über seine Zeit verfügen kann, als das früher der Fall war«, beschwichtigte Mark.

Dann wendete er sich an den Hausherrn und befragte ihn über Einzelheiten der Reise, worauf der einige eigene Erlebnisse zum besten gab. Es gelang ihm so für den Rest der Mahlzeit, ein längeres Gespräch mit Tante Laura zu vermeiden.

Im Übrigen fügte es die Vorsehung, dass der Abend mit zwei beunruhigenden Ereignissen schloss. Das eine besaß keine große Bedeutung, wohingegen das andere sehr ernster Art war.

Während man die Halle zum Tanzen herrichtete, kam in einem der Zimmer eine Bridgepartie zustande. Hatton, der Richter, Mrs. Rawland und Tante Laura fanden sich zusammen. Somit blieben für Corinne, Janet und Ruth fünf Tänzer übrig. Mark tanzte mit allen dreien der Reihe nach, doch merkte er bald, dass Janet Roland Sinclair bevorzugte. Corinne erklärte offen, dass sie mit Leon Gasquet am besten eingetanzt sei. Nur Ruth behandelte die drei Herren, nämlich Joseph, Mark und Roger Malden unvoreingenommen.

Malden war ein Mann, der wohl in keiner Gesellschaft übersehen worden wäre. Ungefähr fünfundvierzig Jahre mochte er alt sein. Er war breitschultrig und zeigte eine gewisse Neigung zur Körperfülle. Durch fleißiges Turnen suchte er die Folgen guten Lebens in Grenzen zu halten. Seine blauen Augen hatten die Farbe von Eisbergen, das vorspringende Kinn deutete auf einen harten Willen. Man sah es ihm an, dass er sich stets im Leben durchgesetzt hatte.

Jetzt erweckte es den Anschein, als interessiere er sich lebhaft für Ruth. Er war Witwer, und man sagte von ihm, dass es in London kaum eine Frau gäbe, die einen Heiratsantrag von ihm zurückgewiesen haben würde.

Als dann Sir Thomas Skinner den Wunsch äußerte, es möge ihn jemand beim Bridge spielen ablösen, glaubte Mark, er müsse einspringen. Die drei Paare tanzten, und Joseph Rawland widmete seine Aufmerksamkeit höchst vergnügt abwechselnd dem Grammophon und dem Whisky. Mark war somit überflüssig.

»Spielen sie Bridge?«, hatte er Ruth während des Tanzens gefragt.

»Wenig. Ich lese die Zeitungsartikel, in denen Nord und Süd alle guten Karten haben. Ich selbst bin aber immer Ost oder West! Was also soll ich tun? Häkeln oder Kreuzworträtsel lösen?«

Für eine Weile gesellte sich Mark Braddon zu den anderen Spielern, bis es auf einmal hieß, Corinne habe einen Unfall erlitten. Sie war ausgerutscht und hatte sich dabei den Fußknöchel verstaucht. Sie musste auf ihr Zimmer gebracht werden.

Hatton legte sofort die Karten hin, um sich von ihrem Befinden zu überzeugen. Braddon bot seine Hilfe an, doch wurde sie als nicht benötigt dankend abgelehnt. Die Zofe hatte den Fuß bandagiert und im Übrigen hoffte Corinne, bis zum nächsten Morgen wieder vollkommen hergestellt zu sein.

Immerhin fanden Kartenspiel und Tanzen durch diesen Zwischenfall ein unerwartet frühes Ende. Man beschloss, zu Bett zu gehen. Mark wollte gerade einschlafen, als ihn ein Klopfen an der Tür wieder munter machte. Draußen erwartete ihn Ruth. Sie trug einen Morgenmantel und sah seltsam beunruhigt aus.

»Etwas Schreckliches ist geschehen«, sagte sie.

»Um Himmels willen, was denn?« Braddon dachte sofort an einen weiteren Unfall.

»Mrs. Rawland!«, stieß das Mädchen hervor. »Ihre Smaragde sind verschwunden! Können sie nicht auf Corinnes Zimmer kommen, Mark? Wir sind alle dort.«

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Ein seltsamer Anblick bot sich den Eintretenden. Corinne lag auf einer bequemen Couch. Über die Füße hatte sie einen leichten Schal gebreitet. An ihrer Seite saß Wilfrid Hatton. Sämtliche Gäste des Hauses hatten sich in mehr oder weniger bekleidetem Zustand eingefunden. Buntfarbige Schlafanzüge und Kimonos herrschten vor. Skinner, der ewige Richter, hatte rittlings auf einem Stuhl vor dem zierlichen Schreibtisch Platz genommen. Jahrzehntelange Gewohnheit ließ ihn auch jetzt die Führung übernehmen, gegen die niemand Einspruch erhob.

In seiner Nähe saß Mrs. Rawland. Tränen der Verzweiflung und des Zorns schimmerten in ihren Augen. Von den übrigen Anwesenden saßen nur Tante Laura und ihre beide Nichten, während die Männer sozusagen das Stehparkett einnahmen. Alles lauschte schweigend den Worten des Richters.

»Auf Wunsch unseres verehrten Gastgebers habe ich sie, meine Damen und Herren, von einem sehr peinlichen Vorfall in Kenntnis zu setzen. Ehe ich jedoch damit beginne, möchte ich darauf hinweisen, dass, falls irgendein etwas weitgehender Scherz vorliegt, der Betreffende ihn sofort beenden möge, womit die Angelegenheit als erledigt betrachtet werden würde.«

Er blickte schweigend in die Runde. Mrs. Rawland hob hoffnungsvoll den Kopf, und Corinne sah gespannt von einem zum andern. Ihr Gatte ergriff ihre Hand und streichelte sie begütigend. Im Übrigen rührte sich niemand.

»Mrs. Rawland ist der Smaragde beraubt worden, die sie heute Abend trug«, fuhr der Richter eindringlich fort. »Ich brauche sie nicht auf deren hohen Wert aufmerksam zu machen. Da, wie ihnen bekannt ist, unsere Gastgeberin einen bedauerlichen Unfall erlitt, der sie vorübergehend bewegungsunfähig macht, sandte sie ihre Zofe zu Mrs. Rawland und ließ sie zu sich bitten.

»Warum hat sie das getan?«, platzte Tante Laura heraus. Sie trug eine gesteppte Morgenjacke, ihre Haare waren voller Lockenwickler. Sie empfand tiefste Entrüstung über den Vorfall, wusste aber nicht, wen sie dafür verantwortlich machen sollte.

»Das bleibt durchaus belanglos«, erklärte Skinner etwas scharf. »Es genügt uns, zu wissen, dass Mrs. Rawland der Aufforderung Folge leistete.«

»Es ist meine Gewohnheit, ihr Gute Nacht zu sagen«, ließ sich Corinne in ihrer leisen, etwas langsamen Sprechweise vernehmen. Ihre Aussprache verriet die Französin.

»Sie ist immer sehr gütig zu mir gewesen - viel gütiger als gewisse andere« - ein vorwurfsvoller Seitenblick galt der Schwägerin -, »aber heute Abend konnte ich nicht zu ihr gehen, also bat ich sie, zu mir zu kommen.«

Mrs. Rawland nickte bestätigend, worauf Skinner abermals das Wort ergriff.

»Meines Wissens unterhielten sich die beiden Damen ungefähr eine halbe Stunde lang. Mrs. Rawland hatte die Edelsteine auf ihrem Nachttisch liegenlassen. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, waren sie fort.

Ich wiederhole, sollte hier - sagen wir mal - ein unziemlicher Scherz vorliegen, so bitte ich um umgehende Rückgabe der Halskette.«

Allgemeines Schweigen.

»Ihrer körperlichen Beschwerden wegen ließ sich Mrs. Rawland von ihrem eigenen Mädchen hierherführen«, fuhr der Richter fort. »Dieses und Mrs. Hattons Zofe blieben inzwischen draußen auf dem Gang. Ihrer Aussage nach hat während der Wartezeit niemand das Zimmer von Mrs. Rawland betreten, dessen Tür innerhalb ihres Blickfeldes lag.«

Wieder unterbrach er sich, als erwarte er einen entsprechenden Erfolg seiner Worte. Schließlich begann er von neuem.