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Daisy stockte der Atem bei dieser fast unglaublichen Mitteilung. Natürlich wusste sie genau Bescheid über Teddy Chester, war sie doch mehr Freundin als Gesellschafterin und nach Monaten sündigen Beisammenseins gab es kaum noch etwas im Leben Rosemarys, das ihr nicht bekannt war.
Die beiden waren miteinander verlobt gewesen, und die Aufhebung der Verlobung hatte die Veranlassung gegeben zu der Ruhelosigkeit, die Rosemary von Stadt zu Stadt, von Land zu Land trieb. Daisy war fest davon überzeugt, dass Rosemary sich über den Bruch gegrämt hatte, dass sie Teddy Chester noch liebte.
Jetzt musste ein zufälliges Zusammentreffen alle Missverständnisse beseitigt haben...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Ein dunkles Geheimnis erschien erstmals im Jahr 1934; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1952 (unter dem Titel Daisy und Rosemary).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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HERBERT ADAMS
Ein dunkles Geheimnis
Roman
Apex Crime, Band 229
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EIN DUNKLES GEHEIMNIS
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Daisy stockte der Atem bei dieser fast unglaublichen Mitteilung. Natürlich wusste sie genau Bescheid über Teddy Chester, war sie doch mehr Freundin als Gesellschafterin und nach Monaten sündigen Beisammenseins gab es kaum noch etwas im Leben Rosemarys, das ihr nicht bekannt war.
Die beiden waren miteinander verlobt gewesen, und die Aufhebung der Verlobung hatte die Veranlassung gegeben zu der Ruhelosigkeit, die Rosemary von Stadt zu Stadt, von Land zu Land trieb. Daisy war fest davon überzeugt, dass Rosemary sich über den Bruch gegrämt hatte, dass sie Teddy Chester noch liebte.
Jetzt musste ein zufälliges Zusammentreffen alle Missverständnisse beseitigt haben...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Ein dunkles Geheimnis erschien erstmals im Jahr 1934; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1952 (unter dem Titel Daisy und Rosemary).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Trat erst dann die Versuchung an Daisy heran, als das leicht parfümierte Wasser des Bades ihre schlanken Glieder umspülte, oder hatte sie ihren Plan schon vor einigen Tagen gefasst? Wahrscheinlich konnte sie selbst keine genaue Antwort auf diese Frage geben.
Was unterschied sie denn von Rosemary Stewart? Warum gab es für sie nur harte Arbeit und Entsagung, während Überfluss und Freude die andere von Jugend an umgaben? Es musste wohl zutreffen, dass Kleider Leute machen. Wenn König und Bettelmann zu gleicher Zeit im gleichen Fluss baden und ein böser Dieb macht sich mit ihren Sachen davon – wer könnte dann wohl mit Sicherheit sagen: Dieser hier ist der Herrscher und jener der Bettler!
Daisy wusste nichts über Philosophie und mit einem ungeduldigen Kopfschütteln versuchte sie die Gedanken von sich abzuwehren, die ihr selbst unklar blieben. Sie stand in der Wanne auf und blickte auf ihr Bild in dem großen, leicht beschlagenen Spiegel: eine fast knabenhaft schlanke Figur mit schmalen Hüften und breiten Schultern; ein kleiner Kopf mit dunklen Locken, klaren, weit offenen braunen Augen, einem gut geformten Mund und einer kleinen kecken Nase. In ihren Gesichtszügen ähnelte sie Rosemary gar nicht, aber in ihrer Gestalt waren sie fast gleich.
Mit einem leichten, befriedigten Seufzer ließ sich Daisy wieder in das Wasser gleiten.
Wäre es sehr schlecht, wenn man vierzehn Tage lang vortäuschen würde, jemand anders zu sein, damit man für eine so kurze Zeit all das genießen konnte, was andere Mädchen ihr ganzes Leben hindurch hatten, man selbst aber nur vom Zusehen kannte? Und wenn es wirklich schlecht war, warum gab ihr dann das Schicksal eine solche Möglichkeit?
Im Fluge glitten ihre Gedanken über die zwanzig Jahre hinweg, die ihr Leben umfassten. Da war zunächst und vor allem Madame Sagesse, Leiterin des Pensionats für junge Mädchen in Lyon, ein würdevolles Wesen, das ihr immer Liebe und Furcht zugleich eingeflößt hatte. Dazu kamen die anderen Lehrerinnen, denen so mancher Schabernack gespielt wurde, obwohl man für sie schwärmte.
Dann ihr Vater, Patrick Tudor, ein Irländer, unberechenbar und fast immer zu allerhand Possen aufgelegt. Er war Reit- und Schwimmlehrer und Leiter des Turnunterrichts. Ihre Mutter, Französin wie Madame Sagesse, sanft, geduldig und immer noch schön, führte den Haushalt für die dreißig jungen Mädchen, die hier im Pensionat lebten. Und sie selbst, Daisy, das einzige Kind dieses gegensätzlichen und doch so glücklich miteinander lebenden Paares, war in dieser abwechslungsreichen Umgebung aufgewachsen.
Wie war sie von allen verwöhnt worden! Richtigen Unterricht hatte sie nie gehabt, wohl aber alles in sich aufgenommen, was die anderen lernten. Als sie größer wurde, half sie ihrer Mutter und versuchte, sich überall nützlich zu machen. Tanzen war etwas so Selbstverständliches für sie, dass sie eine der begehrtesten Partnerinnen im Tanzunterricht wurde. Sie konnte sich nicht erinnern, reiten und schwimmen gelernt zu haben, aber schon als kleines Kind watschelte sie ständig, wenn sich die Gelegenheit bot, hinter ihrem Vater her und war ebenso im Schwimmbecken und auf dem Pferderücken zu Haus wie der Sportlehrer selbst.
Die jungen Pensionärinnen kamen und gingen – gewöhnlich waren sie zwei oder drei Jahre im Haus –,aber sie blieb, beliebt bei allen, denn sie half ihnen, soweit sie konnte. Bücher und Süßigkeiten, die den jungen Mädchen verboten waren, schmuggelte sie in das Haus, Briefe und Briefchen, die nicht geschrieben und nicht empfangen werden durften, gingen sicher durch ihre Hände – eine sehr fragliche Erziehung. Aber sie tat alles bereitwillig und machte so das Leben der jungen Insassinnen des Hauses angenehmer, als es vielleicht sonst gewesen wäre.
Dann kam Rosemary Stewart. Ein vergnügtes, eigenwilliges Mädchen, einzige Tochter reicher Eltern, die sich sofort an Daisy anschloss. Unter ihrer Führung nahm sie an vielen neuen vergnüglichen Unternehmungen teil.
Es war ein trauriger Tag für die kleine Daisy, als Rosemary die Pension verließ. Aber ein Jahr später kehrte sie zurück. Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter war schon seit Jahren tot und Rosemary war einundzwanzig Jahre alt und ganz allein.
Sie wollte Europa kennenlernen, – Daisy sollte sie begleiten!
Lange Verhandlungen mit Madame Sagesse, ihrem Vater und ihrer Mutter. Alle waren gegen diesen Vorschlag. Die Begleiterin von Rosemary müsste vor allen Dingen älter und erfahrener sein, als Daisy es war. Schon glaubte sie, auf eine so wundervolle Reise verzichten zu müssen, als ihre Eltern nachgaben. Wie Rosemary es fertiggebracht hatte, wusste sie nicht, aber das, was sie für einem unerfüllbaren Traum gehalten hatte, wurde wahr.
Sechs Monate reisten die beiden jungen Mädchen zusammen durch die Schweiz, Tirol und Italien, durch Deutschland und Holland. Dann ging es nach Paris, der letzten Etappe dieser wundervollen Reise. In wenigen Tagen sollte Rosemary mit amerikanischen Verwandten in Dinard zusammentreffen.
Natürlich wusste Daisy genau Bescheid über diese Verwandten, die Familie Carter aus Philadelphia. Mary und Amy Sandford waren die Töchter eines armen Landpfarrers. Als Rosemarys Vater sich um die schöne Mary bemühte, verlobte sich die nicht weniger hübsche Amy mit dem jungen Amerikaner Doran Carter. Die Carters mussten schwere Zeiten in den Vereinigten Staaten durchgemacht haben – Rosemary hatte wenig von ihnen gehört und sie nie gesehen. Jetzt aber schienen sie in sehr guten Verhältnissen zu leben, denn sie wollten Europa und vor allen Dingen ihre Nichte Rosemary kennenlernen. Aber der kleine Kobold Gott Amor hat eine ganz besondere Art, die bestens vorbereiteten Pläne zu zerstören.
Rosemarys Brief war mit größter Sorgfalt aufgesetzt worden. Daisy kannte ihn beinahe auswendig, denn sie war bei jedem Satz um Rat gefragt worden.
Liebste Tante Amy!
»Es ist doch richtig Liebste zu sagen, auch wenn ich sie nie gesehen habe?«
»Ganz richtig«, entschied Rosemarys weise, junge Begleiterin. »Wenn du sie kennen würdest, würde dir das Liebste vielleicht nicht so leicht fallen.«
Rosemary kicherte und fuhr fort:
Mit Sehnsucht blicke ich dem Augenblick entgegen, wo ich dich und Onkel Doran treffen werde. Es ist doch wundervoll, Verwandte zu haben, und ich hoffe, dass eure Europareise euch viel Vergnügen machen wird und ihr lange hierbleibt.
»Aber wenn ich sie nun nicht ausstehen kann oder sie mich nicht, was dann?« bemerkte Rosemary. »Das wäre doch fürchterlich! Vielleicht halten sie es nur für ihre Pflicht, sich um mich zu kümmern und mich unter ihre Aufsicht zu nehmen.«
»Weißt du denn nichts Näheres über sie?«, fragte Daisy.
»Gar nichts! Ich weiß nur, dass sie viele Jahre lang mit großer Armut zu kämpfen hatten. Dann kam Onkel Doran auf einmal mit seiner Pikanta heraus, und ganz Amerika wollte nur noch Pikanta haben. Jetzt ist er beinahe unanständig reich. Was er aber für ein Mensch ist, weiß ich nicht.«
»Was ist denn Pikanta?«
»Eine Soße, die gekochten Kabeljau zu einer Delikatesse macht.«
»Wenn sie so reich sind, kannst du sicher sehr nett zu ihnen sein, wenn du dir nur Mühe gibst.«
»Geld allein macht den Menschen doch nicht liebenswert«, warf Rosemary ein. »Ich muss mir auf jeden Fall eine Möglichkeit zum Entweichen offenlassen.«
»Sage doch, du hast Verabredungen getroffen, bevor du wusstest, dass sie nach Europa kamen.«
»Das tue ich sowieso.« Das junge Mädchen las weiter:
Ich bin sicher, Dinard wird euch sehr gefallen. Ich war schon einmal dort. Einige sehr gute Bekannte haben mich nach Schottland eingeladen, aber wir können darüber sprechen, wenn wir zusammen sind. Da ihr nicht wisst, wo ihr absteigen werdet, sende ich diesen Brief hauptpostlagernd.
Hoffentlich war die Überfahrt gut. Dienstag in acht Tagen komme ich nach St. Malo und würde mich freuen, wenn mich jemand am Bahnhof erwartet. Wir können uns ja dann nach Dinard übersetzen lassen. Das ist der kürzeste und schönste Weg. Solltet ihr aber anders entscheiden, gebt mir bitte telegrafisch Bescheid nach hier.
»Was soll ich noch schreiben?«
»Willst du nicht wenigstens das Baby grüßen?«
»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.«
Ich finde es entzückend, einen fünfzehn Monate alten Vetter zu haben. Ich freue mich darauf, ihn in die Arme nehmen. Er ist bestimmt ein reizendes Baby!
»Ich bin neugierig, ob das wirklich stimmt«, unterbrach sich Rosemary. »Stell dir vor, sie waren zwanzig Jahre verheiratet, als das Baby ankam. Vielleicht wurden Pikanta und der Wurm zu gleicher Zeit entdeckt. – Es wird sicher schrecklich verwöhnt und so furchtbar sauber gehalten, dass er niemals ein wirklicher Junge sein kann. Seinetwegen kommen Carters ja nach Dinard. Was soll ich noch schreiben?«
»Du musst ihnen doch erklären, warum du allein bist«, schlug Daisy vor, »und ihnen vor allen Dingen dein Bild schicken!«
»Aber natürlich!
Meine Begleiterin Daisy Tudor kehrt zu ihren Eltern nach Lyon zurück, sodass ich einige Tage allein bin.
»Vielleicht ist es auch besser, die Carters lernen dich gar nicht kennen. Sie werden sich unter meiner Begleiterin eine würdige, wohlbeleibte Dame um die Vierzig vorstellen.«
Ich lege ein Bild von mir bei, damit man mich auf dem Bahnhof erkennen kann.
Mit herzlichen Grüßen an Onkel Doran und dich selbst.
Deine Nichte
Rosemary Stewart
»So, das wäre erledigt, Daisy. Weißt du, wir schicken den Brief erst in zwei oder drei Tagen ab. Sie können jetzt noch nicht in Cherbourg sein.«
So wurde der Brief mit der Fotografie beiseitegelegt – und dann mischte sich der kleine Liebesgott ins Spiel. Am folgenden Abend kam Rosemary wie ein Wirbelwind in das Zimmer gestürzt.
»Daisy, Daisy... ich könnte jubeln und tanzen vor Freude! Denke dir doch nur, ich habe Teddy Chester getroffen, und – freue dich mit mir – wir heiraten – vielleicht morgen schon!«
Daisy stockte der Atem bei dieser fast unglaublichen Mitteilung. Natürlich wusste sie genau Bescheid über Teddy Chester, war sie doch mehr Freundin als Gesellschafterin und nach Monaten sündigen Beisammenseins gab es kaum noch etwas im Leben Rosemarys, das ihr nicht bekannt war.
Die beiden waren miteinander verlobt gewesen, und die Aufhebung der Verlobung hatte die Veranlassung gegeben zu der Ruhelosigkeit, die Rosemary von Stadt zu Stadt, von Land zu Land trieb. Daisy war fest davon überzeugt, dass Rosemary sich über den Bruch gegrämt hatte, dass sie Teddy Chester noch liebte. Jetzt musste ein zufälliges Zusammentreffen alle Missverständnisse beseitigt haben.
»Teddy reist nach Neu-Seeland, er hat eine Weltreise vor. In drei Tagen muss er in Marseille an Bord seines Schiffes sein. Und ich gehe mit ihm! Das wird unsere Hochzeitsreise! Nur noch drei Tage, um alles vorzubereiten! Daisy, wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin!«
Sie packte ihre Freundin bei den Armen und tanzte mit ihr im Zimmer herum, und Daisy küsste sie zärtlich und wünschte ihr Glück und nochmals Glück.
Die Stunden der nächsten Tage waren voll aufregender und freudiger Aktivitäten. Teddy Chester, jung und unabhängig wie Rosemary, regelte die Trauung, bestellte Fahrscheine und Kabinen. Eine wilde Orgie von Einkäufen begann. Die gesamte Aussteuer musste besorgt werden.
Anschließend sagte die Freundin zu Daisy:
»Das brauche ich nicht mehr, und dies... auch nicht. Behalte du die Sachen. Das ist ja alles nicht mehr modern, wenn ich zurückkomme. Ich will nur neue Sachen mitnehmen.«
So wurden Kleider und Mäntel und Wäsche ausgesondert. Daisy besaß plötzlich eine Garderobe, wie sie es sich niemals hätte träumen lassen.
Dann aber kam ein wacher Augenblick, und sie fragte:
»Ja, was wird denn nun mit deinem Onkel und deiner Tante in Dinard?«
»Ach, die habe ich ganz vergessen. Macht nichts, ich schreibe sofort noch ein paar Zeilen:
Liebste Tante Amy!
Ich habe mich soeben verheiratet. Es ergab sich ganz plötzlich und ich habe nur noch drei Tage Zeit. Daisy wird euch alles erklären. Es tut mir schrecklich leid, dass ich euch nicht sehen kann, aber unser Schiff fährt schon am Donnerstag ab. Ichmöchte gern von unterwegs schreiben, ich weiß bloß nicht, wo ihr dann sein werdet. Viele, viele herzliche Grüße
Eure Rosemary.
P. S.: Er heißt Teddy Chester. In sechs Monaten sind wir jedenfalls wieder zurück. Vielleicht besuche ich euch, nein, besuchen wir euch in Philadelphia.
»Den Brief musst du absenden, Daisy, und dann fährst du nach Dinard und erklärst ihnen alles mündlich. Hier sind hundert Pfund. Das kannst du doch ruhig annehmen, du bist so nett und lieb zu mir gewesen. Unsere Zimmer sind bis zum nächsten Dienstag bezahlt. Wenn du willst, kannst du ja noch solange hierbleiben... Ja, ja, Teddy, ich höre schon...«
So war es gekommen, dass Daisy jetzt behaglich im warmen parfümierten Badewasser lag und über die Zukunft nachdachte. Die Aussicht auf ein Abenteuer! War es unrecht, so etwas zu tun? Rosemary würde es ja vielleicht niemals erfahren. Die Carters würden wieder nach Amerika zurückfahren und in ihrem Leben voller Luxus das kleine Mädchen vergessen, mit dem sie einige Tage zusammen gewesen waren.
Es handelte sich ja nur um vierzehn Tage. Für die anderen bedeutete das nichts, für sie aber waren es die beiden letzten sorgenfreien Wochen voller Freude und Abwechslung, bevor sie in das eintönige Leben des alten Schulhauses zurückkehren musste – das nach den sechs köstlichen Reisemonaten noch weniger Anziehungskraft besaß als vordem.
Sie stieg aus der Wanne und hüllte sich in das warme Tuch, das über den Röhren der Heizung hing. Dann ging sie entschlossen in ihr Schlafzimmer, las den ersten Brief an Mrs. Doran Carter noch einmal genau durch, nahm Rosemarys Fotografie heraus und legte ihre eigene dafür in den Umschlag. Sorgfältig wurde der Brief geschlossen und später der Post übergeben.
Zweites Kapitel
Der lange Zug fuhr in den Bahnhof ein, der dicht vor den alten, grauen Festungsmauern von St. Malo liegt. Daisy saß allein in ihrem Abteil 1. Klasse, neben ihr lagen zwei Handkoffer, die mit den Buchstaben R. S. gezeichnet waren. Im Gepäckwagen lag noch ein großer Reisekoffer mit dem gleichen Kennzeichen.
Sie fürchtete sich etwas vor dem, was da kommen würde. Es war ja noch nicht zu spät, gegebenenfalls ihre Absicht zu ändern. Rosemarys zweiter Brief war in ihrer Tasche, sie könnte ihn zeigen und wahrheitsgemäß erzählen, wie sich alles zugetragen hat. Das Bild in dem ersten Schreiben ließe sich durch ein Versehen erklären, das Rosemary in ihrer begreiflichen Aufregung passiert war. Dann – ja dann hieß es eben wieder zurück nach Lyon und in das Pensionat.
Sie nahm sich vor, erst später einen endgültigen Entschluss zu fassen, nachdem sie Mrs. Carter kennengelernt hatte. Wenn sie erst sah, was für eine Art Mensch ihre Tante war, würde ihr die Entscheidung viel leichter fallen. Vielleicht wollte sie auch ihrem Gewissen so lange wie nur möglich Raum lassen, bevor sie es zum Schweigen brachte. Aber niemals hatte sie erwartet, was nun folgte.
Sie stand auf dem langen Bahnsteig. Ein Gepäckträger hatte ihre Handkoffer neben sie auf den Boden gestellt und war zu dem Gepäckwagen gelaufen. Daisy blickte suchend umher.
Die Saison war auf dem Höhepunkt, und viele Reisende drängten den Ausgängen zu. Sie sollte doch abgeholt werden, hatte ihr ein Telegramm mitgeteilt. Mr. und Mrs. Carter waren schon ältere Leute. Einer von ihnen war sicherlich hier, vielleicht auch beide. Wie sie wohl aussahen?
Langsam lichtete sich die Menge. Hier und da noch Gruppen, die sich auf Französisch und Englisch begrüßten. Daisys Blick streifte ängstlich prüfend all die Menschen, als plötzlich zwei kräftige Arme sie umschlossen. Ein warmer Kuss auf jede ihrer Wangen folgte.
»Das ist also Cousinchen Rosemary! Freut mich mächtig, dich kennenzulernen. Hast du eine gute Reise gehabt?«
Sie fand sich von einem hochgewachsenen, vielleicht dreißig Jahre alten Manne festgehalten. Er hatte scharf gezeichnete Gesichtszüge, aber freundliche blaue Augen. Seine Sprache verriet den Amerikaner, und ihr Ton ließ deutlich die Freude über das Zusammentreffen erkennen.
»Wer – wer sind sie denn?«, stammelte sie.
»Ich bin Vetter Bill«, lächelte er. »Hat man mich denn nicht erwähnt? Das ist niederträchtig!«
»Ich wusste ja, dass da noch ein Vetter ist «, stotterte sie – sie war sich darüber gar nicht sicher – »aber..., aber ich dachte nicht, dass er schon so groß ist!«
»Ach, du meinst Doran junior«, lachte er. »Der ist nicht ganz so groß, jetzt noch nicht. Ich bin so was wie ein Kindermädchen für ihn. Wir wollen erst einmal dein Gepäck zusammensuchen und dann werde ich dir alles erzählen. Tante Amy hat Kopfschmerzen und Onkel Doran war beschäftigt. Da haben sie eben mich geschickt.
Großartige Idee, über die Bai zu fahren. Famose kleine Boote, findest du nicht? Diese alte Stadt mit ihren großen Wällen gefällt mir zu gut, aber ich glaube, unsere modernen Kanonen würden sie wegfegen, ehe man nur piep sagen könnte, und dabei waren sie zu ihrer Zeit fast uneinnehmbar. So etwas macht Geschichte zur Wirklichkeit – und du bist auch Wirklichkeit geworden, Rosemary. Hübsch zum Anbeißen, und ich bin froh, dass ich den ersten Happen bekam.«
Während er so schwatzte und lachte, führte er sie den kurzen Weg zu der Landungsbrücke hinunter und half ihr in das kleine Motorboot. Bald darauf flogen sie über die wundervolle, von vielen Booten belebte Bucht, vorbei an den kleinen Inseln, und ließen die grimmigen Festungswälle weit hinter sich.
Daisys Herz klopfte heftig. Dieser junge Mann hatte ihr mit seinem harmlosen vergnügten Kuss tatsächlich den Atem geraubt. Aber die Entscheidung war gefallen. Jetzt musste durchgehalten werden.
»Erzählen sie mir – erzähle mir, wer du nun eigentlich bist«, begann sie schließlich und wunderte sich im Stillen, dass Rosemary ihn nie erwähnt hatte.
»Hab ich doch schon gesagt«, erwiderte er lachend. »Vetter Bill – Bill Patterson. Ich nehme an, ich bin nicht mal dein richtiger Vetter, wenn auch Onkel Doran mein Onkel ist. Seine Schwester heiratete Joe Patterson, meinen Vater – und da bin ich.«
»Aber du hast doch behauptet, du wärest das Kindermädchen des kleinen Doran. Wolltest du mich zum Narren halten?«
»Absolut nicht, Rosemary. Kann ich nicht lieber Rosie sagen? Rosemary ist wirklich so ein ganzer Mundvoll. Sieh mal, ich war drüben im Westen Farmer und Rinderzüchter, aber die Sache wurde von Tag zu Tag schlechter. Kapital war nicht da, na, und dann passierte die niederträchtige Geschichte mit dem Kleinen und Onkel Doran war der Meinung, ich könnte da von Nutzen sein – so eine Art Leibwache, musst du verstehen. Und so bin ich eben mitgefahren.«
Daisy dachte blitzschnell nach: Nein, Rosemary wusste nichts von einer niederträchtigen Geschichte mit dem kleinen Doran, also brauchte auch sie sich nicht zu verstellen.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Ich dachte, alle Welt wüsste das. Kindesraub! Die Schufte hatten den kleinen Doran schon einmal in Händen, konnten aber nicht mit ihm entkommen. Und dann versuchten sie es von neuem. Das ist der Grund, warum man ihn nach Europa gebracht hat – bis hierher reicht die Macht der Bande nicht. Und ich stromere so mit herum und passe auf.«
»Man hat versucht, das Baby zu entführen?«, fragte Daisy entsetzt. »Wer denn? – Warum denn?«
»Wenn wir wüssten, wer, dann säße er schon da, wo er hingehört. Das Warum ist einfacher. Wenn ein älteres Ehepaar, so schwerreich wie Carters, ein Baby hat, so ist der Wurm kostbarer als irgendetwas anderes. Ich glaube, die Bande rechnete mit einer runden Million Dollar Lösegeld. Und Carters würden das zahlen, mehr noch, nur damit das Kind nicht zu Schaden kommt. Aber Europa ist billiger.«
»Was für schreckliche Menschen müssen bei euch leben!«
»Von jeder Art eine tüchtige Auswahl«, war seine Antwort. »Genauso wie überall in der Welt.«
»Warum hast du Rindvieh gezüchtet?«, fragte sie ernsthaft.
»Jetzt willst du mich wohl zum Besten halten, Rosie? Mein Vater war Engländer, und ich habe auch die Schule in England besucht.«
Er sah sie lächelnd an.
»Dann verkaufte Vater seine Farm, und ich übernahm eine andere im Westen. Weißt du, das freie, wilde Leben hatte mich verlockt. Aber der Boden war schlecht, und damit erledigte sich die Geschichte von allein. Jetzt bist du aber mit Erzählen an der Reihe.«
Das wäre sicherlich sehr schwierig geworden, zudem war die kurze Überfahrt beendet und so entging Daisy dem unangenehmen Thema. Wenige Minuten später standen sie auf der Terrasse des Hotels Royal. Eine etwas auffallend gekleidete Dame kam auf sie zu.
»Hallo, Tante Amy«, rief Bill. »Hier ist unsere Rosemary! Ich hatte mich einige Augenblicke verspätet, fand sie aber gerade noch, bevor sie in Tränen ausbrechen konnte.«
Ein Gedanke schoss Daisy durch den Kopf: Sollte sie dem unverfrorenen jungen Manne da jetzt erzählen, dass es nicht Rosemary war, die er geküsst hatte? Aber auch diese Gelegenheit ging vorbei und Tante Amy machte diese Überlegung endgültig zunichte.
»Ich freue mich so, dich kennenzulernen, Kleine«, sagte sie mit milder, etwas müde klingender Stimme. »Lass dich einmal ansehen!«
Mrs. Carter hatte ihre Hände auf Daisys Schultern gelegt und sah sie ernst, aber freundlich an.
»Ja, etwas erinnerst du mich an meine Schwester Mary, aber hauptsächlich bist du wohl deinem Vater ähnlich.
»Das wurde auch immer behauptet«, entgegnete Daisy schüchtern.
Irgendwie kam ihr ihr Handeln gar nicht mehr so schlecht vor, man konnte eher an ein aufregendes Spiel denken.
»Es ist zu nett, dich nach all diesen Jahren in Wirklichkeit vor mir zu sehen«, sagte Tante Amy. »Hat die Reise dich nicht sehr ermüdet? Bill, bestelle Tee für uns alle auf die Terrasse. Und du kommst jetzt mit mir, Rosemary, dein Zimmer liegt neben unseren. Wir haben uns so viel zu erzählen.
Am Teetisch lernte sie Onkel Doran kennen, einen großen, hageren, etwas schwerhörigen Herrn, der sich sichtlich anstrengte, liebenswürdig zu sein. Auch mit dem Baby und seinen beiden Pflegerinnen wurde Daisy bekannt gemacht. Doran junior war ein reizendes Kerlchen, etwas klein für sein Alter, aber freundlich und zutraulich. Er schien sich in Daisys Armen sehr wohlzufühlen.
Die Unterhaltung wurde nicht so schwierig, wie Daisy erst befürchtet hatte. Selbstverständlich wurden viele Fragen über Rosemarys Leben angestellt. Daisy konnte sie ohne Stocken beantworten. Die erste, peinliche Stunde verging sehr schnell, und es bestand nicht der geringste Zweifel, dass die Nichte die herzlichste Aufnahme im Kreise der Familie Carter gefunden hatte. Auch nicht der geringste Schatten eines Verdachtes verdunkelte Daisys Himmel. Doch noch am gleichen Abend erinnerte ein kleiner Zwischenfall sie daran, dass sie ständig auf der Hut sein musste.
Nach dem Essen gingen sie zum Tanz in eines der Kasinos. Trotz seiner Größe tanzte Bill gut; auch Mr. Carter beteiligte sich ein oder zweimal. Tante Amy sah zu.
Alle bewunderten einstimmig Daisys ausgezeichnete Haltung, und das junge Mädchen fing an, Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Graf Froisset, dessen Bekanntschaft die Carters am vorhergehenden Tag gemacht hatten, ließ sich Daisy vorstellen und forderte sie zum Tanz auf.
Er war ein hübscher Mann, und was ihm über die Kunst, galant zu sein, nicht bekannt war, musste erst noch erfunden werden. Er flüsterte ihr alle möglichen Schmeicheleien zu.
»Oh, Mademoiselle, ihnen ist die wahre Poesie der Bewegung angeboren. Nur sehr wenige englische Mädchen wissen zu tanzen wie sie. Ich vergesse alles in dieser Welt, wenn ich sie in meinen Armen halte. «
»Sie tanzen wundervoll«, lächelte Daisy zurück, »aber für mich gibt es eine Menge Dinge, an die ich zu denken habe.«
»Aber an was haben sie zu denken?«, fragte er eifrig.
»An all die vielen Mädchen, denen sie genau die gleichen Schmeicheleien gesagt haben.«
»Aber, kleine Miss, sie sind gräulich – nein, grausam, meine ich. Niemals in meinem Leben habe ich jemand gefunden, der so schön war wie sie, und doch so hartherzig.«
Das alles war natürlich sehr amüsant, und Daisy genoss jeden Augenblick der Unterhaltung dieses Franzosen mit dem fremden Akzent in der Sprache. Bill hingegen wusste, dass er nie so elegant tanzen konnte, und so forderte er Daisy, als die Musik abbrach, auf, mit ihm in die Spielsäle zu gehen.
Alle Roulette-Tische waren besetzt. Einige Augenblicke betrachteten sie die gespannten Gesichter der Spieler, die schnurrende Elfenbeinkugel und das gleichmäßige Auszahlen und Einziehen von Gewinn und Verlust.
»Ich werde ein paar Spielmarken besorgen«, sagte Bill.
»Wo soll ich sie hinsetzen?«, fragte Daisy, als er ihr eine Handvoll Spielgeld gebracht hatte.
»Gewöhnlich fängt man damit an, auf sein eigenes Alter zu setzen«, war Bills Antwort.
Sie nahm die größte ihrer Spielmarken – eine wunderhübsche Grüne – und legte sie auf die 20. Mit angespanntem Atem verfolgte sie das sich drehende Rad und die Versuche der kleinen Kugel, einen Ruheplatz zu finden. Endlich – 20! Wirklich, die Kugel blieb auf der 20 liegen.
Bill beugte sich über den Tisch und zog den Gewinn ein, das Fünfunddreißigfache des Einsatzes. Viele neugierige Augen lagen auf den beiden jungen Menschen.
Dann bemerkte Bill: »Tante Amy erzählte mir, du seiest gerade einundzwanzig geworden. Sie muss sich wohl geirrt haben.«
Daisy errötete. Es war ja richtig, Rosemary war einundzwanzig Jahre alt, sie selbst aber nur zwanzig. Derartige Fehler durfte sie nicht mehr machen. Ein Mädchen muss doch wissen, wie alt es ist! Schnell hatte sie sich wieder gefasst.
»Natürlich bin ich einundzwanzig. Habe ich denn auf die falsche Nummer gesetzt? Das war wirklich ein glückliches Versehen! Was wollen wir nun versuchen? Wie alt bist du denn?«
»Neunundzwanzig.«
Ein Spiel hatten sie versäumt, dann aber schob sie eine grüne Spielmarke auf die 29 – und wirklich, auch diese Zahl gewann! Wieder zog Bill den Gewinn ein, und noch mehr neugierige Blicke hefteten sich auf die beiden.
»Jetzt möchte ich mal 21 versuchen«, sagte Daisy.
Aber die 13 kam heraus, und ihre grüne Spielmarke wurde hinweggefegt.
»Setzt du immer Tausender?«, fragte Bill.
»Was meinst du damit?«
»Die grüne Marke hat einen Wert von tausend Franken. Die meisten Menschen setzen gewöhnlich nicht so viel auf eine einzelne Zahl – aber du hast eben eine Glückssträhne.«
»Tausend Franken?«, stammelte sie erschrocken.
»Ja, versuche doch noch einmal.«
Aber jetzt wollte sie nicht mehr. Sie war in so sparsamen Verhältnissen auf gewachsen, dass ihr das sorglose Hantieren mit so großen Summen mehr Furcht als Freude einflößte.
»Jetzt musst du mir erklären...« – sie zog ihn vom Tisch fort – »was die anderen Marken für Werte haben.«
»Erst habe ich mir für dich fünfzehnhundert Franken eingewechselt. Zweimal hast du einen Tausender gesetzt und hast so siebzigtausend Franken gewonnen«, erklärte Bill.
»Ich – habe – siebzigtausend Franken – gewonnen?« wiederholte sie ungläubig.
»Ganz genau. Ungefähr neunhundert Pfund in eurer englischen Währung. Für dich bedeutet das ja nicht besonders viel, glaube ich, aber für mich ist so ein Spiel zu hoch.«
»Aber das ist doch dein Geld«, stieß sie hervor. »Es gehört mir doch nicht.«
»Red keinen Unsinn, Rosie. Es ist dein Geld.«
»Bist du denn so schrecklich reich?«, fragte sie.
»Ich? Ach, du liebe Güte«, lachte Bill. »Abgesehen von dem Zuschuss, den mir Onkel Doran bewilligt, besitze ich gerade zwei Penny und einen Korkenzieher! Aber ein Räuber bin ich schließlich doch nicht.«
»Trotzdem ist das Geld deins«, beharrte sie.
»Ich bin kein Räuber, habe ich dir gesagt. Das hier war ganz und gar dein Spiel. Aber ich will dir was sagen: Ich nehme meine fünfzehnhundert Franken wieder zurück, und der Rest gehört dir, mit dem habe ich nichts zu tun.«
Dann erklärte er ihr die Spielregeln und die verschiedenen Möglichkeiten, auf Farbe, Gerade oder Ungerade und größere oder kleinere Zahlengruppen zu setzen.
Sie traten wieder an den Spieltisch heran, und jetzt begnügte sie sich mit bescheidenen Einsätzen. Das Glück blieb ihr treu, und ihr Gewinn wuchs an, wenn auch nicht in so großem Maß wie bei den ersten beiden Spielen. Daisy war keine Spielernatur. Das Blut ihrer sparsamen französischen Mutter in ihr war doch stärker als das des sportliebenden irischen Vaters. Sie war wirklich froh, als Bill vorschlug, noch einmal in den Tanzsaal zu gehen.
Ihr erster Tag als Rosemary war vorüber. Sie hatte mehr Geld gewonnen, als sie es sich jemals zu träumen gewagt hätte – und nur das Versehen mit ihrem Alter war ihr unterlaufen.
Drittes Kapitel
Daisy stand bald mit Mr. Carter auf bestem Fuße. Da sie bemerkt hatte, dass er etwas schwerhörig war, gab sie sich besonders Mühe, klar und deutlich zu sprechen, wenn sie sich mit ihm unterhielt.
Ein Gespräch mit dem jungen Mädchen schätzte er ganz besonders. So viele Menschen, erzählte er ihr, ließen in der Unterhaltung ihre Stimme sinken oder blickten in alle möglichen Richtungen. Seiner Meinung nach, dies war aber ganz vertraulich, hatte sich die Gewohnheit des Murmelns in beunruhigender Weise verbreitet und klare Stimmen wurden von Tag zu Tag seltener.
Mr. Carter war ein einfacher, gutherziger Mann, dessen Großmut seine Mitmenschen manchmal in Verlegenheit bringen konnte. Daisy hatte es nicht für großes Unrecht gehalten, einige freudige und sorgenlose Ferienwochen zu verleben. Als aber Mr. Carter begann, sie mit Schmucksachen zu beschenken, wusste sie kaum noch, wie sie sich verhalten sollte. Sie war sich klar, dass die Annahme derartiger Geschenke, die sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erhielt, die ganze Angelegenheit bedeutend ernsthafter für sie gestaltete. Sie versuchte abzulehnen, aber es war vergebens.
»Kleine Rosemary«, sagte er, »du bist die einzige Nichte, die ich habe, und es macht mir selbst doch so viel Freude, dir ein paar hübsche Kleinigkeiten kaufen zu können.«
Und so kam sie in Besitz von einem Brillantarmband, schönen Halsketten und verschiedene andere kleine Schmucksachen. Gerade ihr offensichtliches Widerstreben, diese anzunehmen, schien Mr. Carter immer mehr anzustacheln, sie zu beschenken.
»Ich glaube, ich bin zu spät zu Geld gekommen«, erzählte er ihr, »um es noch richtig genießen zu können. Ich glaube nicht einmal, dass deine Tante und ich heute glücklicher sind als früher. Ich habe ihr mehr Brillanten geschenkt, als viele sehr reiche Frauen besitzen, aber sie trägt sie selten – sie behauptet, sie fühlt sich unbehaglich damit. Du bist dagegen für hübsche Dinge wie geschaffen.«
Viel Vergnügen bereitete es ihm, dem jungen Mädchen seinen Lebenskampf zu beschreiben. So schnell aufwärts, wie Rosemary Stewart angedeutet hatte, war es nicht gegangen, und viele Jahre hindurch hatte er mit Rückschlägen und Enttäuschungen zu kämpfen.
»Konservenfleisch war meine Stärke«, erzählte er. »Das beste Konservenfleisch, das man sich denken kann! Aber das Publikum will ja nicht das beste, sondern kauft das, wofür die meiste Werbung gemacht wird. Die Leute machen sich nicht klar, dass sie die großen Kosten der Werbung mit bezahlen!«
»Wie ist denn aber Pikanta bekannt geworden?«, fragte Daisy.
»Ich war schon fast verzweifelt, als eines Tages ein Mann zu mir kam und mir erzählte, dass er Pikanta probiert habe und dass er sich mit einer Million Dollar beteiligen wolle. Er übernahm die Werbung und schon sehr bald mussten wir unsere Fabriken vergrößern.
Du darfst nicht glauben, ich wollte behaupten, alle angepriesenen Artikel taugen nichts, – im Gegenteil, sie müssen gut sein, denn das Publikum lässt sich nicht ständig an der Nase herumführen. Carters Pikanta – das liest du überall. Doppelt gewürzt, der Preis halb gekürzt. Das war unser Motto. Von Pikanta einen Schuss – jede Speise ist Genuss!war auch nicht schlecht.«
Eines Tages lernte Daisy eine neue Seite seines Wesens kennen. Sie hatten einen Laden mit Luxusartikeln und Antiquitäten aufgesucht, und sie bewunderte eine hübsche Miniatur.
»Imitation«, sagte Carter verächtlich, »und noch nicht einmal gut. Hast du Interesse für Miniaturen?«
»Die wenigen, die ich gesehen habe, waren wirklich wundervoll.«
Er antwortete nicht, nahm sie aber, als sie ins Hotel zurückgekehrt waren, mit in sein Privatzimmer und öffnete einen kleinen, mit starken Schlössern gesicherten Handkoffer.
»Nun, was hältst du von denen hier?«
Er nahm einen vierfach zusammengeklappten Rahmen – er erinnerte an einen winzigen Wandschirm – heraus, der mit schwarzem Samt bespannt war. Jede der vier Flächen trug ein Dutzend der wundervollsten Miniaturen.
»Das ist meine Gemäldegalerie«, sagte Carter, gab ihr ein Vergrößerungsglas und erklärte ihr mit beredten Worten die mannigfachen Schönheiten der kleinen Kunstwerke.
»Manche Menschen lieben die großen Gemälde, bei denen die Farben wie mit einem Kittmesser aufgetragen sind, man muss mehrere Meter Abstand halten, um herauszubekommen, was die Bilder eigentlich bedeuten. Und oft genug findest du das überhaupt nicht heraus!
Ich liebe nun einmal diese kleinen Bildchen. Je näher du sie betrachtest, desto schöner erscheinen sie dir und das Vergrößerungsglas zeigt dir immer noch weitere köstliche Feinheiten.«
Daisys Bewunderung war ungeheuchelt, und so bereitete es Mr. Carter doppeltes Vergnügen, ihr die einzelnen Bildchen zu erklären.