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Der Montagmorgen ist in jedem Beruf sprichwörtlich schwer. Als Judy Barrett ihren Schönheitssalon betrat, war sie sichtlich zerstreut. Ihre beiden hübschen Gehilfinnen merkten wohl den Unterschied, waren aber weit davon entfernt, den Grund zu ahnen. Sie trugen schneeweiße Kittel, und in ihren geschmackvollen Kleidchen verliehen sie dem Geschäft eine anziehende, elegante Note.
Judy fühlte sich unglücklich wegen Caroline Ormesbys Plänen. Einen Millionär entführen - das klang völlig unglaubwürdig und doch schien die Ausführung gar nicht so unmöglich zu sein...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Die schöne Verschwörerin erschien erstmals im Jahr 1929; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1954.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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HERBERT ADAMS
Die schöne Verschwörerin
Roman
Apex Crime, Band 196
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE SCHÖNE VERSCHWÖRERIN
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Der Montagmorgen ist in jedem Beruf sprichwörtlich schwer. Als Judy Barrett ihren Schönheitssalon betrat, war sie sichtlich zerstreut. Ihre beiden hübschen Gehilfinnen merkten wohl den Unterschied, waren aber weit davon entfernt, den Grund zu ahnen. Sie trugen schneeweiße Kittel, und in ihren geschmackvollen Kleidchen verliehen sie dem Geschäft eine anziehende, elegante Note.
Judy fühlte sich unglücklich wegen Caroline Ormesbys Plänen. Einen Millionär entführen - das klang völlig unglaubwürdig und doch schien die Ausführung gar nicht so unmöglich zu sein...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Die schöne Verschwörerin erschien erstmals im Jahr 1929; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1954.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
»Ich will ein Verbrecherleben beginnen, und ihr sollt mir dabei helfen.«
Diese Worte wurden langsam und betont an einem sonnigen Morgen Anfang Juli im Wohnzimmer einer kleinen, eleganten Wohnung gesprochen, die wenige Hundert Schritt von der Westminster Abbey entfernt lag. Die Sprecherin war ein Mädchen von ungefähr vierundzwanzig Jahren, Caroline Ormesby, deren schlanke Erscheinung in einem schwarzseidenen Pyjama eher den Eindruck eines hübschen Jungen hervorrief. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig; das Haar trug sie kurz geschnitten. Mund und Kinn verrieten, dass das hübsche Mädchen im Notfall durchaus seinen Willen durchzusetzen verstand.
Die schwerwiegenden Worte waren an drei Alterskameradinnen gerichtet, die lächelnd auf die neue Laune ihrer Freundin eingingen.
»Ein Verbrecherleben!«, echote die eine von ihnen, ein rothaariges, nettes Ding. »Du willst dich wohl verheiraten?«
»Beginnt man ein Verbrecherleben, wenn man heiratet?«, fragte ein anderes, blauäugiges Mädchen.
»Das hängt davon ab, was du mit deinem Wirtschaftsgeld anfängst«, antwortete die Kleine mit den roten Haaren.
»Vielleicht ist es ein Geschäft wie jedes andere«, meinte das dritte Mädchen ganz sachlich.
In Caroline Ormesbys Augen war kein zustimmendes Lächeln zu erkennen. Ihr Blick richtete sich starr durch das offene Fenster.
Die Freundinnen, in hübsche Kostüme nach letzter Mode gekleidet, machten ihr offenbar einen Morgenbesuch. Jede hatte ihre besonderen Reize, aber das Auge eines Zuschauers wäre unvermeidlich zuerst von Judith Barrett gefesselt worden, die von ihren Freundinnen Judy genannt wurde. Ihr Haar war glänzend rot; frisch leuchteten ihr Gesicht und ihre grünlichen Augen. Sie war heiter, übermütig und unternehmungslustig, ein richtiges amerikanisches Mädchen. Die beiden andern waren Schwestern, Zwillingsschwestern sogar, sich ähnlich und doch verschieden.
Bei ihrer Erschaffung schien die Natur sich im Unklaren gewesen zu sein, ob sie besser im großen Format oder in der Miniaturausgabe aussähen. Nancy Macrae war das verkleinerte Ebenbild ihrer Schwester. Ihr Gesichtsschnitt, ihre blauen Augen, ihre Haarfarbe waren dieselben, aber Bunty war etwa 1,75 m groß, Nancy maß knapp anderthalb Meter, selbst wenn sie sich noch so gerade aufrichtete. Außer in der Größe unterschieden sich die Zwillinge aber auch im Gesichtsausdruck. Bunty sah stets gelassen, fast gleichgültig aus, Nancys kleiner Mund zeigte dagegen eher einen unruhigen, unzufriedenen Zug; wenn sie aber lächelte, konnte man sie schön nennen.
»Herrlich aufregend wäre Ladendiebstahl«, sagte Bunty, »aber ich habe solches Pech. Beim ersten Paar Strümpfe würde man mich ertappen und ich bin zu arm, um an Kleptomanie leiden zu können.«
»Und zu unerhört gesund, um einen Nervenzusammenbruch vorzutäuschen«, fügte Judy hinzu. »Was meinst du dazu, Caroline?«
»Wenn es sich um einen Einbruchsdiebstahl handeln sollte, dürft ihr mit mir nicht rechnen«, sagte Nancy bekümmert, »ich kann nicht leise genug auftreten.«
Caroline verriet mit keiner Miene, dass sie an ihren Gedanken Anteil nahm. Mit zusammengepressten Lippen saß sie da, den Blick in eine unbekannte Ferne gerichtet. Für gewöhnlich war sie die lebhafteste von allen, aber heute befand sie sich in einer Stimmung, in der sie ihre Freundinnen nie zuvor angetroffen hatten.
Langsam sagte sie: »Ich habe mein gesamtes Vermögen verloren.«
»Dein Geld hast du verloren!« Bestürzt sahen alle drei ihre Freundin an. Was meinte sie damit? Sie schien immer so glücklich, so in Sicherheit gewesen zu sein. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war voll ausgewählter, wenn auch nicht besonders kostbarer Dinge, aber alles deutete doch Komfort, ja Luxus an. Aber Carolina wiederholte mit unverkennbarem Ernst:
»Ich habe mein Geld verloren, ich müsste vielleicht besser sagen, man hat es für mich verloren gehen lassen.«
»Dein Onkel Richard«, stieß Judy atemlos hervor.
»Ja, mein Onkel Richard. Wie ihr wisst, bestimmten meine Eltern, dass ich mit einundzwanzig Jahren vierteljährlich einen bestimmten Betrag erhielt, das Kapital aber bis zum fünfundzwanzigsten Jahre nicht angreifen durfte. Onkel Richard sollte es solange für mich verwalten. Das hatten sie festgesetzt, um mich vor jugendlicher Unbesonnenheit zu bewahren. Unglücklicherweise hatten sie aber in ihrem Testament nicht berücksichtigt, dass auch Onkel Richard unbesonnen sein könnte.«
»Ist wirklich alles verloren, alles?«, fragte Nancy besorgt.
»Alles ist verloren.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Bunty.
»Wie ist das denn gekommen?«, fragte Judy.
»Wie gewöhnlich«, antwortete Caroline mutlos. Sie stand auf, ging an den Schreibtisch und nahm einen Brief aus einem Schubfach. »Hier habe ich es schriftlich, wie er die Sache auffasst.«
Es war ein langer Brief, dessen Seiten sie schweigend einige Augenblicke durchblätterte. Dann begann sie mit matter Stimme vorzulesen:
Ich befürchte, liebe Nichte, dieser Brief wird Dir einen großen Schrecken einjagen. Ich hätte es Dir lieber vor meiner Abreise aus England sagen sollen, aber ich habe nicht den Mut dazu gefunden. Das in mich gesetzte Vertrauen habe ich missbraucht. Dein ganzes Vermögen ist durch meine Schuld verloren. Die bittersten Worte, die Du für mich finden kannst, sind nicht so scharf, wie ich sie verdiene, wie ich sie selbst gegen mich gebrauche, jetzt, da ich deutlich das Unrecht sehe, das ich Dir zugefügt habe.
Das Mädchen machte eine Pause. Trotz aller Anstrengung behielt sie ihre Stimme nicht ganz in der Gewalt. Sie überschlug ein oder zwei Seiten und fuhr dann fort:
Dein Einkommen habe ich Dir regelmäßig zugehen lassen, es waren fünfhundert Pfund in jedem Vierteljahr, aber in den letzten zwei Jahren oder sogar schon länger konnte ich das nur durch Verkauf von Teilen der restlichen Vermögenswerte aufbringen. Jetzt ist alles weg, der letzte Pfennig von siebenundfünfzigtausend Pfund Sterling.
Vielleicht könnte ich vorgeben, Unglück gehabt zu haben. Ich habe es auch gehabt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich das in mich gesetzte Vertrauen missbraucht habe. Es begann damit, dass ich mein eigenes Geld in eine Spekulation steckte, die weiteres Geld erforderte, wollte ich meines retten. Ich borgte von Deinem, dadurch glückte die Spekulation und ich erhielt einen erheblichen Gewinn. Da ergriff mich die Spielleidenschaft. Es schien so leicht zu sein, schnell zu einem Vermögen zu kommen - anderen gelang das doch, warum sollte es mir nicht auch gelingen?
Erinnerst Du Dich, Caroline, welchen Namen Du mir gabst, als Du noch sehr, sehr klein warst? Weil ich Dir immer Zauberkunststückchen vormachte, nanntest Du mich nur den Onkel Zauberer. Ich zeigte Dir eine leere Tasche, und einen Augenblick später fandest Du Süßigkeiten oder Früchte darin. Onkel Zauberer! Guter Onkel Zauberer!, riefst Du dann, schlugst fröhlich die Hände zusammen und tanztest um mich herum. Wir beide waren gute Freunde, Caroline.
Als ich damit begann, mit Deinem Gelde zu spekulieren, sagte ich mir: Sie soll sehen, dass ich noch immer zaubern kann. Ihr Vermögen soll verdoppelt und verdreifacht werden.
Das Spielfieber nahm mich gefangen. Jeder Verlust ließ mich nur umso verzweifelter versuchen, das Verlorene wieder zurück zu gewinnen...
Wieder hielt Caroline inne, überschlug abermals einige der dünnen Blätter. »Ich will nicht alles vorlesen«, sagte sie, »er versucht, ehrlich gegen mich zu sein, aber seine Erklärungen sind allzu peinlich. Diese Stelle sollt ihr noch hören:
Alles misslang. Der größte Teil deines Geldes ist mit Gummi-Aktien verloren gegangen. Andere haben Vermögen damit erworben, ich bin zu spät gekommen. Ich musste unter der Hälfte des Preises verkaufen, zu dem ich gekauft hatte. Mit den letzten wenigen Tausend Pfund kam ich hierher nach Monte Carlo, um noch einen letzten verzweifelten Versuch zu machen. - Ich habe endgültig alles verloren.
Als Caroline ihre Hand mit dem Brief in den Schoß sinken ließ, fragte Judy teilnahmsvoll:
»Und weiter hast du nichts mehr gehört?«
»Da steht noch folgende Nachschrift:
Ich lege fünfhundert Pfund in Banknoten bei. Es ist alles, was ich noch retten konnte. Heute bin ich noch einmal ins Kasino gegangen, am 27. Juni, deinem Geburtstag. Ich war in Versuchung, alles auf diese Nummer zu setzen, aber schließlich siegte meine bessere Einsicht. Ich hielt mich zurück, um Dir einen kleinen Rückhalt zu geben, etwas, wovon Du ein paar Monate leben kannst. Ich bete zu Gott, dass ich Dein Leben nicht zerstört habe. Die Nummer 27 ist zweimal gefallen und doch bin ich froh, dies für Dich gerettet zu haben; denn hätte ich gewonnen, würde ich bestimmt solange gespielt haben, bis nichts mehr da war.
»Und was ist mit ihm geschehen?« stöhnte Nancy Macrae.
»Ich telegrafierte ihm, er solle nichts unternehmen, bevor ich käme«, erwiderte Caroline. »Mit dem nächsten Flugzeug eilte ich zu ihm, - kam aber zu spät. An dem Tage, an dem er mir zuletzt schrieb, hat er Monte Carlo verlassen. Ich habe festgestellt, dass er dann einen Ort an der italienischen Küste aufsuchte. Als ich dorthin kam, hörte ich, dass man tags zuvor einen unbekannten Engländer beerdigt hatte, der beim Segeln ertrunken war. Seine Papiere wiesen keine Adressen auf, man fand aber genug bares Geld bei ihm, um ihn beerdigen zu können.«
Ihre Stimme zitterte, aber sie presste die Lippen fest aufeinander. Sie wollte ihren Freundinnen nicht zeigen, wie sehr sie litt.
»Gestern Abend kam ich zurück«, fuhr sie fort, »und heute Morgen habe ich euch zu mir gebeten.«
»Liebste Caroline«, sagte Judy, »du siehst, wie betroffen wir sind. Mehr kann ich zu deinem Unglück jetzt nicht sagen. Ich will dir gern die Hälfte meines Schönheitssalons abtreten. Reich wirst du damit nicht werden, aber es ist keine schlechte Sache.«
»Du bist ein guter Kerl, Judy, aber ich habe euch schon gesagt, was ich tun will. Ich will mir mein Geld zurückholen!«
Ihre Augen leuchteten, und jeder Zug ihres Gesichts verriet Entschlossenheit.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Nancy.
»Wie willst du das Geld zurückbekommen?«
»Könnt ihr euch vorstellen, warum ich euch drei zu mir gerufen habe? Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Sogar in Bridgean, wo die meisten Mädchen aus wohlhabenden Familien stammen, rechnete man uns zu den reichsten. Was hat aber jede von uns seitdem durchgemacht? Du, Nancy, und du, Bunty? Ihr seid in der Gewissheit groß geworden, von euren Erbteilen bequem leben zu können. Es kam anders.
Durch die Schuld von Männern habt ihr euer Geld verloren.
Bunty ist jetzt Chauffeurin und erledigt gleichzeitig für Dr. Beckle die Schreibmaschinenarbeiten und Nancy muss sich auf die Zehen treten lassen, weil sie in den Arcadia-Sälen ungeschickten Eseln das Tanzen beibringt. Du, Judy, warst die Unglücklichste von uns allen. Du vertrautest deine guten amerikanischen Dollars einem englischen Gatten an. Er wurde sie schneller los als du ihn. Ich wundere mich nur, dass du hier in England geblieben bist, nachdem dir das passiert ist.«
»Es hat keinen Zweck nach Hause zu reisen«, sagte Judy, und die Erinnerung an diese Leidenszeit überschattete ihren Frohsinn, »vor allem, wenn man kein Zuhause mehr hat.«
»Ich will den alten Kummer nicht wieder wachrufen«, sagte Caroline, »aber jede von euch wurde von einem Mann ausgeraubt. Ich werde für uns alle etwas von dem Geraubten zurückerobern.«
»Wie willst du das machen?«, fragte Bunty, die Größere von den Zwillingen.
»Wahrscheinlich«, meinte Caroline, »klingt es verrückt, aber ich habe viel Zeit gehabt, zu überlegen. Es ist ganz einfach, wenn ihr mir helfen wollt.«
»Was müssen wir also tun?«, fragte Nancy zweifelnd.
»Wir werden einen Millionär entführen, der sein Vermögen durch Gummi erworben hat und werden ihn so lange gefangen halten, bis er bezahlt, was wir fordern: vierzigtausend Pfund - zehntausend für jede von uns.«
Die beiden Macraes sahen sich schweigend an, aber Judy lachte laut heraus.
»Meine liebste Caroline, die Filme aus Hollywood darfst du nicht ernst nehmen. Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Es ist mein voller Ernst«, sagte Caroline kühl, »und es ist auch viel einfacher, als ihr glaubt. Ich will euch sagen, wie wir es anfangen.
Wenn euch die moralische Seite etwa stören sollte, bedenkt, ob der Mann, der die Million zusammengerafft hat, sich jemals von moralischen Bedenken hat stören lassen. Wenn er sie mit Gummi verdient hat, hat er sicherlich auch einen Teil meines Geldes eingeheimst. Wir vier haben immer zusammengehalten. Wir sind alle vier betrogen worden, und jetzt werden wir uns einen Teil unsres früheren Eigentums zurückholen.«
»Fang du zuerst deinen Millionär«, lachte Judy, »dann kannst du ihn für sein Verbrechen belangen. Das klingt, als ob man Peter beraubt, um Paul damit zu bezahlen.«
»Merkwürdig, dass du das sagst«, rief Caroline und trat ans Fenster. »Er heißt nämlich tatsächlich Peter. Von hier aus könnt ihr ihn sogar sehen.«
Die drei Mädchen stürzten ans Fenster. An einem gegenüberliegenden Haus stand im Torweg ein Mann, der auf ein Taxi wartete, das ihm der Portier gerade herbei winkte.
»Peter Grey«, sagte Caroline, »der neueste Millionär.«
»Und der jüngste, würde ich sagen«, setzte Judy hinzu.
Zweites Kapitel
Peter Grey sah, falls seine finanziellen Verhältnisse diese Schilderung rechtfertigen, für den Besitzer eines selbsterworbenen Millionenvermögens unbedingt recht jugendlich aus. Er trug einen tadellos sitzenden Anzug, gestreifte Beinkleider und einen hohen Zylinder. Klar und gesund strahlte sein sonnenverbranntes Gesicht. Nach seiner schlanken Erscheinung und guten Haltung hätte man ihn von weitem auf dreißig Jahre oder wenig darüber geschätzt. Nur bei näherem Zusehen war man wegen der scharfen Linien des Mundes und seines energischen Blicks geneigt, noch vielleicht acht Jahre dazu zu legen. Er stand am Eingang zu dem Häuserblock, in dem er wohnte, knöpfte sich die grauen Handschuhe zu und ahnte nicht, dass ihn vier leuchtende Augenpaare von einem höheren Stockwerk aus scharf beobachteten.
Wenn ihn dieses Interesse für seine Person schon sehr überrascht hätte, wäre er wahrscheinlich noch weit überraschter gewesen, hätte er hören können, was in einer andern Wohnung geredet wurde, die aufzusuchen er eben im Begriff stand.
William Mason und seine Schwester Vera bewohnten eine Etagenwohnung in einer Seitenstraße von Edgware Road. Bill pflegte zu sagen, fünfzehn Meter weiter nördlich würde ihre Wohnung schon zu Maida Vale gehören; jetzt lautete ihre Briefanschrift noch Hydepark. Er war ebenfalls ungefähr vierzig Jahre alt, aber sein Haar war so von grauen Fäden durchzogen und seine Züge hatten etwas so Verlebtes, dass man ihn fast für einen Fünfziger halten konnte. In Hemdsärmeln studierte er eben die Renntipps in den Sonntagszeitungen. Die Tür öffnete sich, und Vera trat ein.
»Sehe ich gut aus?«, fragte sie.
Er legte die Zeitung beiseite und sah sie aufmerksam an. Ihre Frage war wichtig. Sah sie gut aus? Jemand hatte ihm einmal gesagt, Vera habe das Herz einer Verführerin und das Gesicht einer Heiligen. Dieser Vergleich hatte ihm gefallen. Derselbe Freund hatte auch bemerkt, Bill selbst habe das Gewissen eines Ungeheuers und den Verstand einer Mücke. Das hatte Bill allerdings nicht gehört. Vera war über fünfzehn Jahre jünger als ihr Bruder, groß, blond, scheinbar kalt und fast vornehm in ihrer Art. Gekleidet war sie in zartestem Blau, ihrer Lieblingsfarbe; passende Schuhe und Strümpfe ergänzten den tadellosen Eindruck ihrer Kleidung.
»Ich glaube, so wirst du Eindruck machen«, sagte er nach einem prüfenden Blick. »Die linke Augenbraue ist noch nicht ganz so gut nachgezogen wie die Rechte. Wenn du ihm aber so nicht gefällst, liebes Kind, hat uns das Glück tatsächlich verlassen.«
Vera trat an einen Spiegel, nahm einen Stift aus ihrer Handtasche und brachte die Augenbraue in Ordnung.
»Hätte ich es mir früher überlegt, wärst du nicht hier, wenn er kommt«, fuhr der Bruder fort, »sondern kämst mit dem Gesangbuch in der Hand aus der Kirche. Das wäre ein gefühlvoller Anfang gewesen. Na, jedenfalls steht fest, dass die Männer heute Blondinen bevorzugen; es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn er von dir nicht entzückt wäre.«
»Es gibt zweierlei Arten von Blondinen«, sagte Vera in ihrer leidenschaftslosen Art.
»Stimmt«, gab Bill zu. »Die entgegenkommende Art, die allen Männern gefällt oder wenigstens den meisten, und die Sorte Eisberg.
Zu der gehörst du und ich glaube, das ist auch die richtige Sorte für Peter Grey. Er hat seinen Kampf in der Welt bestanden und würde nie etwas für ein Mädchen übrig haben, das sich ihm an den Hals wirft. Aber eine Kälte, die er glaubt zum Schmelzen bringen zu können, wird ihn reizen; dann und wann eine Andeutung, dass du wärmer werden kannst, wenn man dich weckt - aber auf diesem Gebiet kann ich dir nichts mehr beibringen!«
»Wenn er aber blonde Mädchen nicht mag?«
»Aber bestimmt mag er sie, Schwesterchen. Er kommt aus dem Fernen Osten, der bis obenhin mit dunklen Schönheiten vollgepackt ist. Du bist das liebliche Gegenstück dazu. Wir haben ihn mit Beschlag belegt und werden das Rennen machen.«
»Erzähle mir mehr von ihm.« Vera sprach selten in langen Sätzen, während ihr Bruder langatmige Ausführungen im Allgemeinen bevorzugte.
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich war Klassensprecher und Anführer bei allen Spielen. Er war ein vielversprechender Junge und so abhängig von meinem Lob, dass er fast mein Schatten war. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihn besonders schätzte. Vermutlich gefiel mir seine Heldenverehrung, aber irgendwas zog mich zu ihm hin und er war wirklich dankbar.
Du kannst ihm sagen, wie oft ich mit dir von unseren gemeinsamen vergangenen Jugendtagen gesprochen habe. Das wird ihm besonders gefallen. Natürlich hatte ich ihn vollständig vergessen, bis ich vor einigen Tagen mit ihm zusammentraf. Ich hörte dann, dass er eine Menge Geld mit Gummi verdient hat; er hat rechtzeitig verkauft und will sich jetzt in der Heimat niederlassen. Ich habe ihn für die Honduras-Gesellschaft interessiert. Beißt er an, sind wir fein heraus.«
»Honduras-Gesellschaft, was ist das?«
»Gesellschaft zur Erschließung und Ausbeutung von Nord-Honduras. Habe ich dir noch nichts davon erzählt?«
»Wohl ein neues Schwindelunternehmen?«
»Liebe Vera, was für ein Wort! Es ist eine der aussichtsreichsten Unternehmungen, an denen ich mich je beteiligt habe. Gummi, Öl, Mineralien und Nutzholz. Etwas davon gibt es bestimmt in Honduras.«
»Spielt Walker auch mit?«
»Natürlich! Es ist so gedacht, dass ich fünftausend Pfund einbringe, Walker ebenso viel und Peter Grey vierzigtausend. Damit kaufen wir alles fix und fertig von de Squeira.«
»Woher willst du fünftausend Pfund nehmen?«
»Ich gebe zu, es scheint unmöglich... Aber schau, Walker und ich sind zusammen de Squeira. So ist es eine Kleinigkeit, unsre Anteile aufzubringen und noch einfacher, den Anteil Greys zu teilen.«
»Ich meine, du musst dir klar sein, Bill, wer von uns beiden an Mister Grey interessiert ist. Wenn du ihm vierzigtausend Pfund abnehmen willst, wird mir das wenig helfen, sobald er dahinter kommt.«
»Aber bedenke, vierzigtausend Pfund! Ehrlich gestanden, Vera, stehen die Dinge verzweifelt. Ich darf eine solche Gelegenheit nicht verpassen.«
»Fragt sich, welche Chance auf die Dauer die Bessere ist.«
»Liebste Vera, dein Vater überließ mir die Sorge für dich, als du noch ein kleines Mädchen warst. Das und seine Schulden waren die ganze Erbschaft. Ich habe dich noch nie im Stich gelassen. Auch du hast immer dein Möglichstes getan, das weiß ich. Wäre uns das Glück hold gewesen, so hätte uns längst ein großer Schlag gelingen müssen. Jetzt bietet sich uns eine Gelegenheit. Peter kennt hier niemanden. Wenn ich ihn für die Honduras- Gesellschaft gewinne, kommen wir wieder auf die Beine. Er soll das Vergnügen bekommen, das er haben will. Bezahlt er es mit seinem eigenen Geld, so ist das kein Diebstahl, und er soll auch eine Frau bekommen, auf die er stolz sein kann. Wie ich schon sagte, er kennt hier niemanden. Bis die Honduras-Gesellschaft zusammenbricht, muss er längst zur Familie gehören.«
»Vorläufig mag er niemand kennen, aber reiche Leute finden schnell Freunde.«
»Deshalb dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich habe versprochen, mit ihm auszugehen und muss sehen, dass er sich gut amüsiert, ohne in Gefahr zu geraten. Wir werden nach Elton Park fahren und die Cricket-Woche beim alten Gilbert Summers besuchen. Der muss ihn auf fordern, mitzuspielen. Für dessen Verhältnisse spielt er sicherlich gut genug. Triffst du ihn dort, dann bietet sich dir eine Chance fürs Leben.«
»Das klingt ganz gut«, sagte Vera, »aber gewöhnlich sind die Männer, die du für mich aussuchst, widerliche Kerle.«
»Das sollst du selbst sehen, Vera. Peter ist ein ansehnlicher Mann. Ich würde mich nicht wundern, wenn du dich in ihn verliebtest. Mindestens muss es so scheinen! Es war eine Fügung des Himmels, dass er mir in den Weg gelaufen ist. Ich habe versucht, ehrlich zu bleiben oder, unter uns gesagt, zu scheinen. Ich war schließlich so weit, daran zu denken, in der Stadt etwas zu unternehmen, die Hotels abzugrasen, im Ärmel falsche Würfel oder gezinkte Karten. Da habe ich ihn getroffen, und mein Weg war mir klar.«
»Was hast du heute mit ihm vor?«
»Ich will ihn dir vorstellen. Wir trinken einen Cocktail zusammen. Du sträubst dich zuerst, bis wir auch in dieser Beziehung seine Ansicht kennen. Dann fahren wir im Auto nach Maidenhead. Ich habe mir Walkers Wagen geliehen. Dort lunchen wir und machen eine Kahnpartie. Dann kann ich abgerufen werden und ihr bleibt allein. Wie viel Geld hast du noch?«
Vera zog eine Börse aus ihrer Handtasche und zählte eine Menge kleines Silbergeld auf den Tisch. »Das ist alles, ein Pfund, zwei Schilling und sechs«, sagte sie.
»Gib mir das Pfund«, bat Bill. »Ich habe noch gerade zehn Schillinge. Dann komme ich aus, falls ich das Essen bezahlen muss. Natürlich muss ich so tun, als wollte ich ihn nicht bezahlen lassen. Wenn er mit aller Gewalt bezahlen will, soll er von mir aus das Vergnügen haben! Hallo! schnell meinen Rock, da kommt er schon!«
Drittes Kapitel
Schweigend sahen die vier Mädchen zu, wie Peter Grey die Taxe bestieg, im Halbkreis um den in der Mitte des Hofraumes befindlichen Springbrunnen herumfuhr und durch die untere Ausfahrt den Hofraum verließ. St. Michaelshof war stolz auf seine sechs Wohnhäuser, von denen jedes einen eignen Namen trug. Judy war die erste, die das Schweigen unterbrach.
»Es ist zu gutmütig von dir, Caroline, ihm nur einen Teil seines Geldes nehmen zu wollen. Ich würde alles und dazu ihn selbst für mich beanspruchen.«
»Caroline ist bestohlen worden«, sagte Bunty in ihrer ruhigen Art, und die andern fühlten den versteckten Tadel. Ihre Freundin hatte einen zu großen, zu ernsten Verlust erlitten, um darüber Witze zu machen.
»Du hast recht«, sagte Judy lebhaft, »wir müssen unser Möglichstes tun. Aber wenn man so einen flotten Millionär abfahren sieht... Ich hatte einen asthmatischen alten Herrn im Rollstuhl erwartet. Meinst du wirklich, Caroline, du wirst mit Peter Grey fertig? Er sieht ganz so aus, als sollten wir selbst uns vor ihm in acht nehmen.«
Caroline trat vom Fenster zurück und zündete sich eine Zigarette an.
Nach einiger Überlegung sagte sie: »Wer kann heute in wenigen Jahren Millionär werden, ohne andere zu bestehlen? Wenn jemand eine Million mit Gummi verdient, während ich mein Vermögen mit Gummi verliere, bekommt er sehr wahrscheinlich auch einen Teil meines Geldes. Man kann sich aber die Millionäre nicht aussuchen. Gibt euch das Schicksal einen in die Hand, müsst ihr dankbar sein und zugreifen, ganz gleich, ob er jung oder alt, gesund oder gebrechlich ist.«
»Haben schon jemals vorher Mädchen so etwas unternommen?«, fragte die kleine Nancy besorgt.
»Wahrscheinlich noch nie«, antwortete Caroline. »Jemand muss aber immer den Anfang machen!«
»Warum sagst du, du hättest Peter Grey in der Hand?«, fragte Judy.
»Er hat die Wohnung im Byron-Haus, die ich selbst bewohnt habe. Erst kürzlich ist er dort eingezogen. Ich habe mir diese hier genommen, weil sie billiger ist. Zufällig habe ich noch einen Schlüssel zu der andern Wohnung. Ich kann also dort hinein, wann immer ich will.«
»Vorausgesetzt, dass er dich hereinlässt«, sagte Nancy. »Ich sehe nicht recht ein, was dir das helfen kann.«
»Peter Grey scheint ein sehr regelmäßiges Leben zu führen«, fuhr Caroline fort. »Jede Nacht um ein Viertel nach zwölf kommt er nach Hause. Er wohnt im Erdgeschoß, geht in das Wohnzimmer und macht dort Licht. Vermutlich ist er vom Fernen Osten her so an offene Räume gewöhnt, dass er nie die Vorhänge zuzieht.«
»Lässt er sie auch im Schlafzimmer offen?«, spottete Judy.
»Das weiß ich nicht, sein Schlafzimmer liegt nach der andern Seite. Er geht also ins Wohnzimmer, tritt ans Büfett, mischt sich einen Whisky-Soda, wirft sich in einen Sessel und zündet eine Zigarette an. Dann liest er die Abendzeitung, bis er mit der Zigarette und seinem Whisky fertig ist. Nacht für Nacht geht das so mit peinlicher Genauigkeit.
Ich werde mich abends zeitig in seine Wohnung schleichen und ein Schlafmittel in seinen Whisky schütten, dann verschwinde ich und er wird im Clubsessel einschlafen. Ich warte hier, bis er schläft, rufe Judy oder Nancy an, die Bunty mit dem Auto holen. Sie fährt draußen vor und geht mit mir hinein. Von der Wohnung bis zum Auto sind es höchstens zwölf Schritt. Diese zwölf Schritt sind unser einziges Risiko, aber auch das ist nicht gefährlich, wenn die andern aufpassen.«
In gespannter Erregung sahen die drei Mädchen sie schweigend an. Sie sprach mit einer Gelassenheit, als handelte es sich um einen Nachmittagsausflug.
»Wie ihr wisst«, fuhr sie fort, »haben alle diese Wohnungen hier eine Bedienung; der Vermieter stellt ein Mädchen zur Verfügung, das morgens die Räume in Ordnung bringt, im Übrigen aber nur kommt, wenn man klingelt. Sonst kümmert sich niemand um den Mieter. Die einzige Gefahr ist der Nachtportier. Der kommt aber nur dann aus seiner Kellerwohnung herauf, wenn geklingelt wird. Sowie ich in der Wohnung bin, schalte ich das Licht aus und warte den richtigen Augenblick ab. In knapp einer halben Minute können wir wieder draußen sein.«
»Wenn dich aber jemand sieht?«, flüsterte Nancy.
»Ich werde in Männerkleidung kommen und Bunty in Chauffeuruniform. Wir nehmen Peter Grey zwischen uns. Werden wir gesehen, so hat es den Anschein, als ginge der vielleicht nicht mehr ganz nüchterne Peter Grey mit Freunden noch einmal aus.
Es kann kaum misslingen. Ihr müsst mir helfen, weil ich nicht alles allein tun kann, aber so weit wie möglich, trage ich das ganze Risiko. In vergangenen Zeiten haben nur die Männer gestohlen und entführt. Es wird Zeit, dass wir Mädchen auch darin nicht Zurückbleiben!«
Die Verbündeten schienen zwar Lust zu haben, aber noch ängstlich zu zögern. Caroline sah sie scharf an und wartete auf ihre Äußerungen. Wieder nahm Judy das Wort.
»Liebste Caroline, ist das alles dein voller Ernst?«
»Ich habe noch nie etwas ernster besprochen«, war die Antwort.
»Dann sag mir noch Folgendes: Nehmen wir an, Peter Grey trinkt den Whisky - vielleicht nippt er auch nur daran und merkt den fremden Geschmack! - aber nehmen wir an, er trinkt, alles geht nach Wunsch und wir schaffen ihn ins Auto. Wohin willst du ihn dann bringen, und was fangen wir weiter mit ihm an?«
»Wir bringen ihn in mein Wochenendhäuschen in Theetle. Das liegt meilenweit von allem entfernt, wie ihr wisst. Meiner Aufwartefrau dort sage ich, ich brauche sie nicht, wie ich das häufig mache, wenn mich eine von euch besucht und wir ganz unter uns sein wollen. Dort halten wir ihn gefangen, bis er Lösegeld bezahlt.«
»Wie willst du ihn festhalten?« warf Judy ein. »Das Schlafmittel wirkt nur für ein paar Stunden. Du kannst ihm nicht fortwährend Schlafmittel eingeben. Nimm mal an, er wird gewalttätig, was schließlich aus seiner Sicht zu entschuldigen wäre.«
»Wenn er erst gefesselt ist«, sagte Caroline kühl, »brauchen wir ihn nicht mehr einzuschläfern.«
»Wenn er sich aber weigert, für seine Freilassung vierzigtausend Pfund zu zahlen?«
»Dann soll er hungern, wenn ihm das lieber ist! Lange wird er das bestimmt nicht aushalten.«
Wieder schwiegen alle. Vom Turm des Parlaments schlug die Uhr dröhnend, und diese vier Mädchen, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben etwas Ehrenrühriges getan hatten, erörterten seelenruhig ein schweres Verbrechen, das ganz London in Bestürzung versetzen würde.
»Was hast du vor, wenn alles nach Wunsch gelingt?«, fragte Nancy nach langer Pause.
»Und was, wenn die Geschichte schlecht ausläuft?«, fügte Judy hinzu.
»Gelingt mir - gelingt uns der große Schlag«, sagte Caroline, »dann sagen wir dem Verbrecherleben Lebewohl. Jede von uns hat dann genug, um ruhig und selbstständig von allen Männern unabhängig, zu leben. Habe ich aber Pech, dann weiß ich noch nicht, was ich tue. Onkel Richard hat mir 500 Pfund geschickt, von denen ich vielleicht 300 übrig behalte, wenn ich alles geregelt habe. Außer euch habe ich keinem erzählt, dass mein Vermögen verloren ist - hoffentlich sagt ihr es auch niemand.
Wir sind alle von Daphne Summers zu der von ihrem Vater veranstalteten Cricket-Woche nach Ellton Park eingeladen. Sie braucht noch ein paar Mädchen, um die Männer bei guter Laune zu halten. Zuerst werde ich wohl dort hingehen. Dann besuche ich vielleicht meine Cousinen in Yorkshire. Auch dort bin ich ein willkommener Gast, so lange sie nicht wissen, dass ich nichts mehr habe. Was ich dann anfange, weiß ich noch nicht. Aber ich glaube nicht, dass unser Plan misslingen kann.«
»Lass die Finger davon, Caroline«, quälte Judy. »Ich habe Daphne versprochen, mit dir nach Ellton Park zu kommen. Nachher kommst du zu mir und wirst Teilhaberin an meinem Schönheitssalon.«
»Ich habe mir in den Kopf gesetzt, ein Kapitalverbrechen zu begehen«, sagte Caroline. »An einer Unzahl von kleinen Verbrechen, bei denen nichts abfällt, ist mir gar nichts gelegen.«
Wieder entstand ein unentschlossenes Schweigen. Diesmal unterbrach es die große Bunty Macrae.
»Du meinst also wirklich, mit deinem Plan zum Ziele zu kommen, Caroline?«, fragte sie.
»Ich bin fest davon überzeugt.«
»Dann kannst du auf mich zählen. Als Nancy und ich den letzten Pfennig verloren hatten, hast du uns bei dir auf genommen und uns Obdach gewährt, bis wir gelernt hatten, Maschine zu schreiben und ein Auto zu lenken. Dir verdanke ich meinen Posten bei Dr. Beckle. Du hast Nancy geholfen. Du hast sie ausbilden lassen und ihr die Stellung in den Arcadia-Sälen verschafft. Wenn ich das jetzt, wo du bestohlen worden bist, auf diese Weise wieder gutmachen kann, werde ich tun, was in meinen Kräften steht. Du doch auch, Nancy?«
»Aber gewiss«, erwiderte langsam die kleinere Zwillingsschwester.
»Ich bin Caroline wohl mehr zu Dank verpflichtet als ihr«, rief Judy Barrett, und ihre Wangen färbten sich. »Denkt nur nicht, ich sei so vergesslich. Als Amerikanerin stand ich ganz allein, da nahm sie mich bei sich auf. Sie hat das Geschäft für mich gekauft und mich wieder auf eigne Füße gestellt. Und da sollte ich nicht alles für sie tun, was ich kann?«
»Du hast mir das Geliehene zurückgegeben«, antwortete Caroline. »Ich will nicht, dass ihr mir vergeltet, was ich vielleicht früher einmal für euch getan habe. Die Männer haben uns bestohlen, und das werden wir ihnen heimzahlen. Sie sollen an ihrem Raub keine Freude haben. Wir wollen uns alle vier verbünden und einen Mann ausplündern, wie wir ausgeplündert worden sind.«
Judy lachte schallend auf. »Immer schon habe ich mir mal ein Abenteuer gewünscht, wenn auch nicht gerade so eins. Morgen wollen wir weiter überlegen. Ich sage dir dann, was ich davon halte, Caroline.«
Viertes Kapitel
Der Montagmorgen ist in jedem Beruf sprichwörtlich schwer. Als Judy Barrett ihren Schönheitssalon betrat, war sie sichtlich zerstreut. Ihre beiden hübschen Gehilfinnen merkten wohl den Unterschied, waren aber weit davon entfernt, den Grund zu ahnen. Sie trugen schneeweiße Kittel, und in ihren geschmackvollen Kleidchen verliehen sie dem Geschäft eine anziehende, elegante Note.
Judy fühlte sich unglücklich wegen Caroline Ormesbys Plänen. Einen Millionär entführen - das klang völlig unglaubwürdig und doch schien die Ausführung gar nicht so unmöglich zu sein.
Frauen fühlen sich im Allgemeinen mehr an die Gesetze gebunden als Männer, nicht weil sie moralischer sind, sondern weil ihnen Abenteuer weniger liegen. Judy hatte schon einige Abenteuer hinter sich und glaubte nicht mehr an große Glücksfälle.
Als junges Mädchen hatte sie durchgesetzt, auf eine englische Schule geschickt zu werden. Ihr Vater war gestorben und ihre Mutter hatte sie schließlich über den Ozean gebracht. In Bridgean lernte sie Caroline Ormesby, die beiden Macraes und Daphne Summers kennen. Diese fünf hatten sich eng aneinander angeschlossen und Caroline war ihre Führerin beim Sport und überall gewesen. Mit 19 Jahren heiratete Judy einen jungen Engländer aus guter Familie, der in wenigen Jahren ihr Vermögen durchbrachte. Sie ließ sich scheiden. Als sich ihr später andere Männer zu nähern versuchten - und sie war zu anziehend, um übersehen zu werden - bot sie ihnen wohl ihre Freundschaft an, aber ihre Liebe konnte sie keinem mehr schenken.
Ihre Mutter war kurz vor dem vollständigen Verlust ihrer Mitgift gestorben. Da hatte Caroline ihr aus der Not geholfen, wie sie kurz zuvor auch den Zwillingsschwestern beigestanden hatte. Eine Zeit lang war es ihnen allen dreien schlecht gegangen, aber Carolines Heim war ihr Heim gewesen.
Sie mussten hart arbeiten, um sich ihren notwendigen Lebensunterhalt zu verdienen und hatten immer wieder bei Caroline neue Kraft gefunden. Carolines Wohnung wurde ihre Heimat in jenen dunklen Tagen. Niemand wusste, was sie ihr verdankten, an Kameradschaft und an zahllosen kleinen Geschenken, die es ihnen leichter machten, einer missgünstigen Welt die Stirn zu bieten.
Jetzt war Caroline selbst ins Unglück geraten. Nur Daphne Summers ging es noch gut; sie hatte aber nur noch wenig Fühlung mit ihnen. Mit ihrem Vater lebte sie in Mittelengland. Schon oft hatte sie die Freundinnen zu sich eingeladen, aber die Zwillinge hielt ihr Beruf in London fest und auch Judy konnte sich nicht gut freimachen.
Welch sonderbare Fügung, dass von dem alten glücklichen Quintett jetzt vier Freundinnen durch gemeinsame Armut und unverschuldetes Unglück verbunden waren. Jedes Mal war die Ursache ihres Unglücks ein Mann, der sich ihres Vertrauens nicht würdig erwiesen hatte.
Sollte sie Carolines Versuch unterstützen, einen Teil des Verlorenen zurückzugewinnen? Sie hatte eine schlaflose Nacht damit zugebracht, über diese Frage nachzudenken, aber bis zum Morgen hatte sie noch keine Antwort darauf gefunden. Im innersten Herzen war sie sich klar darüber, dass sie Carolines Bitte nicht abschlagen konnte, aber der Plan an sich war ihr verhasst.