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Im Gang begannen sich die Leute zu sammeln. Alles erkundigte sich, was geschehen sei. Aus den Fenstern der andern Wagen blickten ängstliche Gesichter. Man wollte die Ursache des plötzlichen Haltens erfahren. Im ganzen Zug verbreitete sich die Nachricht, dass ein Herr in seinem Abteil tot aufgefunden wurde. Alles war aufgeregt und verstört.
Man rief nach einem Arzt, doch es fand sich keiner unter den Fahrgästen. Glücklicherweise war aber eine Krankenschwester im Zuge, die die dunkle Pflegerinnentracht eines bekannten Krankenhauses trug. Da dem überfallenen Mann nicht mehr zu helfen war, nahm sie sich des ohnmächtigen Mädchens an.
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Was wird aus Nonna? erschien erstmals im Jahr 1926; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1954.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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HERBERT ADAMS
Was wird aus Nonna?
Roman
Apex Crime, Band 183
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
WAS WIRD AUS NONNA?
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Im Gang begannen sich die Leute zu sammeln. Alles erkundigte sich, was geschehen sei. Aus den Fenstern der andern Wagen blickten ängstliche Gesichter. Man wollte die Ursache des plötzlichen Haltens erfahren. Im ganzen Zug verbreitete sich die Nachricht, dass ein Herr in seinem Abteil tot aufgefunden wurde. Alles war aufgeregt und verstört.
Man rief nach einem Arzt, doch es fand sich keiner unter den Fahrgästen. Glücklicherweise war aber eine Krankenschwester im Zuge, die die dunkle Pflegerinnentracht eines bekannten Krankenhauses trug. Da dem überfallenen Mann nicht mehr zu helfen war, nahm sie sich des ohnmächtigen Mädchens an.
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Was wird aus Nonna? erschien erstmals im Jahr 1926; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1954.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
»Endlich geht's los!«, sagte, Tony Bridgman. »Gott sei Dank haben wir ein Abteil für uns allein, sodass wir ungestört plaudern können.«
Sein Freund, Jimmie Haswell, fand nicht mehr Zeit, ihm zu antworten; denn gerade in dem Augenblick, als sich der Zug in Bewegung setzte, wurde die Tür aufgerissen und eine junge Dame hereingeschoben. Ihr folgte der Vater, ein Mann in mittleren Jahren, der vor Anstrengung keuchte. Den Abschluss machten zwei Handkoffer, die ein energischer Träger mit Schwung in das Abteil abstellte.
Jimmie kam der jungen, um ihr Gleichgewicht kämpfenden Dame zu Hilfe, fasste sie am Arm und stützte sie, bis sie einen Sitzplatz erreicht hatte. Es war ihm durchaus nicht unangenehm. Mit weit weniger Genuss erfüllte Tony die Menschenpflicht, den strauchelnden und pustenden Vater auf den Beinen zu halten. Beide aber wurden ärgerlich, als die schweren Handkoffer gegen ihre Beine flogen.
Doch noch ehe der Zug in volle Fahrt erreichte, hatte alles seinen Platz gefunden. Der Herr und das Mädchen beglückwünschten sich lachend, dass sie noch rechtzeitig den Zug erreicht hatten. Tony Bridgman sank in seine Ecke zurück und verschwand hinter seiner Wochenzeitschrift.
Auch Jimmie Haswell hielt ein illustriertes Magazin vor sein Gesicht. Er tat aber nur so, als würde er lesen. Tatsächlich nutzte die Zeitschrift nur als eine Deckung, über die hinweg er die Neuankömmlinge beobachten konnte. Ein Blick hatte ihm gezeigt, dass die junge Dame wahrscheinlich viel interessanter war als die schönste Kurzgeschichte, ja sogar als die Kreuzworträtsel des Magazins. Ein scharfsinniger Beobachter hätte aus dieser einfachen Tatsache wahrscheinlich den Schluss gezogen, dass die beiden jungen Männer, sie standen an der Schwelle der Dreißiger, ganz verschieden veranlagt waren. Der scharfsinnige Beobachter hätte sich aber arg getäuscht. Die beiden jungen Männer waren durchaus nicht verschieden veranlagt, nur ihre Verhältnisse unterschieden sich - allerdings gerade in einem wesentlichen Punkt: Tony Bridgman war verheiratet, der andere nicht!
Tony war noch nicht länger als ein Jahr verheiratet. Er war daher noch sehr verliebt in seine kleine Frau und augenblicklich gerade im Begriff, nach längerer Abwesenheit in ihre Arme zu eilen und ein ausgiebiges Wochenende mit ihr zu genießen. Ihn selbst fesselte nämlich sein Beruf an London, für sie aber hatte er einen kleinen Bungalow in Rhyl zum Sommeraufenthalt gemietet. Begreiflicherweise verbrachte er jede freie Stunde bei ihr. In der nächsten Woche lief die Mietzeit des kleinen Häuschens ab; er hatte deshalb zur besonderen Feier des letzten Wochenendes seinen Freund Jimmie Haswell mitgenommen.
Jimmie war also Junggeselle. Er hatte daher das Recht, sich für jedes hübsche Gesicht zu interessieren, ganz besonders dann, wenn ihm die Besitzerin dieses hübschen Gesichtes durch das Zusammenwirken von väterlicher Hast, anfahrendem Zug und eigenem Schwung in die hilfsbereiten Arme geflogen kam.
Gewöhnlich pflegte er allerdings nicht viel Zeit auf die Betrachtung des gepuderten Geschlechtes zu verwenden. Er war Advokat und hatte als solcher reichlich Gelegenheit, Damen aller Altersklassen genau kennenzulernen. Und seine Meinung über die Frauen war im Allgemeinen nicht sehr gut. Als Rechtsanwalt gewinnt man eben zu viel Einblick in die düsteren Winkel des menschlichen Wesens, wo sich oft zu viel Selbstsucht und Verlogenheit zeigen, als dass ihm viele Illusionen erhalten bleiben würden.
Als er jedoch das Mädchen in der andern Ecke des Abteils ansah, erschien sie ihm so ganz anders als die Mehrzahl der jungen Damen, denen er bisher begegnet war. Jedenfalls war sie sehr jung: Er schätzte sie auf zwanzig Jahre. Sie war auch sehr hübsch, hatte dunkle Augen, einen süßen kleinen Mund und einen sehr reinen Teint. Was ihn an ihr jedoch am meisten entzückte, waren zwei reizende Grübchen, die kamen und verschwanden. Sie verschwanden, ehe man sie noch recht wahrgenommen hatte, und lächelten gleich wieder auf den rosigen Wangen, wenn man eben dabei war, an eine optische Täuschung zu glauben.
Ihr lebhaftes frisches Wesen gefiel ihm über alle Maßen. Der Zug hatte die ausgedehnten rußigen Vorstädte Londons verlassen und brauste durch das offene Land, dem das sanfte Licht eines frühen Septemberabends einen eigentümlichen Reiz verlieh. Sie machte ihren Vater auf jede Einzelheit der Landschaft aufmerksam: nette Bauernhöfe, seltsame alte Windmühlen, reizende im Grün halb versteckte Weiler, ehrwürdige Kirchen und rauschende Bäche. Zu allem hatte sie etwas zu sagen, immer wieder etwas zu fragen.
»Schau, Daddy, schau!«, rief sie laut aus, als weißgeschürzte Kaninchen, vom Rattern des Zuges aufgeschreckt, über das Feld stoben, um in ihren Löcher unter Hecken und Büschen zu verschwinden.
Jimmie benützte diese Gelegenheit zu dem freundlichen Vorschlag, die Fremden möchten doch mit ihm und seinem Freunde die Plätze tauschen. Er und Tony hatten nämlich die Fenstersitze, während die andern auf der Gangseite saßen und daher nur eine eingeschränkte Aussicht genießen konnten. Vielleicht hoffte er auch im Geheimen, ein Gespräch anknüpfen zu können.
»Wollen Sie sich nicht hierher setzen?«, fragte er. »Die Gegend ist auf dieser Seite interessanter, und die Aussicht ist besser.«
»Dürfen wir wirklich?«, antwortete sie voll Eifer, ihrem Vater einen fragenden Blick zuwerfend. Der nickte ihr lächelnd zu.
»Überaus freundlich von Ihnen«, sagte er zu Jimmie. »Meine Tochter sieht England zum ersten Mal und scheint ganz entzückt zu sein.«
Der Platztausch wurde vollzogen. Jimmie begann sich bald Vorwürfe zu machen, dass er eigentlich recht dumm war. Denn das Mädchen sah jetzt fortwährend von ihm weg, sodass er nur das reizende kleine Ohr unter dem Samthut bewundern konnte. Dann aber wendete sie sich doch wieder einmal dem andern Fenster zu, und er benützte die Gelegenheit, sie zu fragen:
»Finden Sie England so anziehend, wie Sie es erwartet haben?«
»Doch... Ich glaube schon... Ich liebe es sehr.«
Ihre sanfte Stimme mit dem leichten fremdländischen Akzent gefiel ihm in hohem Maße. Er wollte mehr hören.
»Was haben Sie eigentlich zu finden gehofft?«, fragte er mit einem entwaffnend liebenswürdigen Lächeln.
»Das weiß ich selbst nicht«, antwortete sie mit einem leichten Erröten. »Als Daddy und ich aus der Schweiz heimfuhren, sahen wir auf einer Eisenbahnstation die schöne farbige Fotografie eines Hochlandtales mit einem über eine mächtige Felswand stürzenden Wasserfall. Ich konnte mich nicht enthalten, zu sagen: 0 Daddy, warum haben wir uns das nicht angesehen? Das muss ja ganz wundervoll sein! Als wir dem Bilde näher traten, erkannten wir, dass es gar keine Schweizer Gegend darstellte, sondern die Swallow Falls in Nord Wales. Da ließ ich mir von Daddy versprechen, dass er mich gleich dahin führen würde, wenn wir nach England kämen.«
Der Vater nickte zustimmend. Jimmie aber meinte: »So benützen Sie also Ihren ersten Tag in England ausgerechnet dazu, nach Wales zu fahren?«
»Ist denn das nicht ein und dasselbe?«, fragte sie.
»Fast«, lächelte Jimmie, »aber doch nicht ganz. Wir Engländer betrachten die Waliser als unsresgleichen, sie aber glauben, dass sie ein wenig besser sind als die Engländer.«
»Daher liefern sie uns immer wieder Prediger und Politiker, die uns bessern sollen«, mengte sich Tony Bridgman ins Gespräch.
»Es ist wirklich sonderbar«, meinte der Vater der jungen Dame, »dass die Leute von Wales so viele Prediger hervorbringen und gar keine Maler. Die Schönheit ihrer Landschaft scheint sie nicht zu inspirieren. Sie haben auch nur Barden, aber keine Dichter. Sie haben majestätische Berge, aber nur wenige schöne Bauwerke. Die Natur scheint der einzige Architekt in Wales zu sein.«
Das Eis war damit gebrochen, es kam ein angeregtes Gespräch über die verschiedensten Gegenstände in Fluss. Jimmie fragte das Mädchen, ob es längere Zeit in England zu verbringen gedenke. Sie sagte, es sei ihre Heimat, und sie sei gekommen, um fortan hier zu leben. Darauf zählte er ihr eine Reihe von Orten auf, die sie unbedingt besichtigen müsse.
Der Vater schien gegen diese Beratung nichts einzuwenden zu haben. Er sagte, dass sie im Herbst das Land bereisen wollten, und nannte eine Menge Sehenswürdigkeiten, die er ihr zu zeigen beabsichtigte. Jimmie wunderte sich einigermaßen, dass der Vater seine Heimat so gut kannte, während die Tochter den Fuß noch nie auf heimischen Boden gesetzt hatte. Er bemerkte überdies, dass ihr angeregtes Gespräch die Aufmerksamkeit anderer Mitreisenden auf ihre kleine Gruppe gelenkt hatte.
Zwei oder drei Leute, die den Korridor entlanggingen, blieben bei ihrer Tür stehen und blickten herein. Ein junger Artillerieoffizier in Kaki-Uniform schien die Aussicht von dem ihrer Tür nächstgelegenen Fenster ganz besonders fesselnd zu finden. Ein im Gange herumlungernder, etwa achtzehnjähriger Jüngling in einem braunen Anzug grinste das Mädchen ganz unverhohlen an, als es ihm einmal gelang, ihren Blick zu erhaschen.
Ein Mann im geistlichen oder wenigstens priesterlich erscheinenden Gewand, den Jimmie für einen Prediger der Nonkonformisten hielt, ging dreimal langsam vorbei. Er hatte einen dunklen herabhängenden, wenig gepflegten Schnurrbart und dichte, buschige Augenbrauen. Sooft er vorbeikam, glotzte er durch seine große in Schildpatt gefasste Brille in das Abteil herein. Beim dritten Mal jedoch trat ihm der junge Offizier, das Fenster verlassend, mit dem Absatz seiner schweren Reiterstiefel heftig auf die Zehen. Der markige Ausruf, der sich seinen Lippen entrang, war wohl sehr verständlich, aber für einen Priestermund durchaus nicht angemessen.
Jimmie, der bei Gerichtsverhandlungen alle Vorgänge genauestens verfolgte, um sie beim Kreuzverhör der Gegenzeugen verwerten zu können, merkte sich leicht auch geringfügige Einzelheiten. Während er aber diese kleinen Ereignisse im Wagengang beobachtete, ließ er es sich wirklich nicht träumen, dass er schon bald Grund haben sollte, sie sich möglichst genau ins Gedächtnis zurückzurufen.
Dann tauchte eine neue Erscheinung im Türrahmen auf. Diesmal war es eine junge Frau. Sie war in einen langen Reisemantel aus Plaid-artigem Stoff mit Pelzkragen gehüllt und trug einen Hut mit einem grünen Band. Sie hatte freundlich blickende graue Augen und etwas blasse Wangen. Am meisten aber fiel Jimmie ihr Mund auf. Er war schief geformt. Der eine Mundwinkel war herabgezogen, der andere emporgeschoben. Wenn es ein großer Mund gewesen wäre, so hätte er entschieden hässlich gewirkt, da er aber klein war, sah er drollig aus. Die junge Frau blieb in der offenen Gangtür stehen. Der Mann am Fenster starrte sie wie eine gespenstische Erscheinung an.
»Hallo, Geoff!«, rief sie. »Wie geht's dir?«
Da drehte sich die Tochter des Mannes nach ihr um, und die Frau in der Tür schien plötzlich gewahr zu werden, dass Geoff nicht allein reiste.
»Auf Vergnügungsreise?«, fragte sie lächelnd. »Recht gute Unterhaltung wünsche ich!« Sie nickte ihm lächelnd zu und verschwand.
»Wer war denn das, Daddy?«, fragte das neugierige Töchterchen, aber noch ehe ihr der Vater antworten konnte, erschien schon wieder ein neues Gesicht im Türrahmen. Es war der blauuniformierte Kellner des Speisewagens, der zum Abendessen aufforderte.
»Bitte, Platz nehmen zum Abendessen, meine Herrschaften!«
»Du musst etwas zu dir nehmen«, sagte der Vater, »wir haben noch eine lange Reise vor uns.«
Jimmie und Tony erhoben sich. Der Junggeselle warf einen forschenden Blick auf das Mädchen.
»Dürfen wir Sie zu Tisch begleiten?«, fragte Jimmie.
»Geoff«, meinte, er sei den beiden sehr dankbar, wenn sie sich seiner Tochter annähmen. Er selbst, fügte er bei, habe schon vor der Abreise gegessen, seine Tochter jedoch habe sich zu lange in den Kaufläden aufgehalten. Das Mädchen erhob sich und folgte, ihrem Vater fröhlich zunickend, den beiden Herren in den Speisewagen. Sie hatte nicht die leiseste Vorahnung der Tragödie, die schon so bald ihr Leben verdüstern sollte.
Jimmie wählte einen Tisch, an dem sich die kleine Gesellschaft in bester Stimmung niederließ. Er sah mit Vergnügen das Lächeln in den schwarzen Augen des Mädchens und nahm sich vor, recht viele Dinge zu sagen, die ihre reizenden Grübchen in Erscheinung treten lassen würden. Zunächst aber fragte er sie, wo sie eigentlich gelebt habe. Sie antwortete, sie habe die meiste Zeit ihres Lebens in Sospel verbracht, sei aber auch viel mit ihrem Vater gereist.
»Sospel?«, fragte Tony Bridgman. »Der Name kommt mir so bekannt vor. Ich sollte wohl wissen, wo der Ort liegt, aber es fällt mir nicht ein.«
»Spielen Sie vielleicht Golf?«, erkundigte sich das Mädchen.
»Und wie!«, sagte Jimmie. »Er hat sich auf den meisten Golfplätzen Europas als ein Meister gezeigt.«
»Es gibt nämlich einen ganz berühmten Golfplatz in Sospel«, fuhr das Mädchen erklärend fort. »Noch vor wenigen Jahren war es nur ein altes Städtchen, das in einer Talmulde des Gebirges hinter Mentone seinen Dornröschenschlaf schlummerte, aber jetzt fährt eine Eisenbahn dahin und eine Menge Leute kommen Tag für Tag über die Berge, um dort Golf zu spielen. Mir freilich gefiel es früher besser.«
»So sind Sie also noch keine Anhängerin dieses geisttötenden, fürchterlichen Spieles?«, fragte Jimmie.
»Noch nicht, aber Vater will es mich lehren.«
»Na, an Lehrern wird es Ihnen gewiss nicht fehlen«, meinte Jimmie mit einem bewundernden Lächeln und ein leises Aufflackern der Grübchen belohnte seine Bemerkung.
Die beiden Herren erkundigten sich noch weiter nach ihrer bisherigen Wohnstätte, und sie erzählte ihnen einiges aus der Geschichte des alten Städtchens: Wie einmal die ganze Bevölkerung, vom ältesten Greis bis zum jüngsten Kinde , die Mütter, die Säuglinge auf dem Arm, im Mittelalter, als die Pest wütete, in langem Zuge die Stadt verlassen habe und in die Berge hinauf gezogen sei, wo sie blieb, bis ihr die Rückkehr in die alten Heimstätten wieder sicher erschien.
Nach beendetem Mahl wollte sich das Mädchen erheben, aber auf die Bitte ihrer Begleiter blieb sie noch, bis diese einen Kaffee zu sich genommen und eine Zigarette geraucht hatten. Dann bezahlten sie ihre bescheidenen Rechnungen, worauf sie sich auf den Weg zu ihrem Abteil machten. Jimmie ging voran, wendete sich aber von Zeit zu Zeit um und bot der jungen Dame seinen Arm zur Stütze, wenn sie über die schwankenden Verbindungssteige zwischen den Wagen schritten. Noch während sie auf dem Wege waren, mäßigte der Zug seine Fahrt.
»Der Zug bleibt stehen«, meinte Tony. »Wir laufen vermutlich in Chester ein.«
Als sie ihr Abteil erreichten, kam der Zug zum Stillstand. Jimmie bemerkte, dass sie sich auf freier Strecke befanden, dann sah er den Schaffner mit einem bleichen, erschrockenen Gesicht aus dem Abteil treten, das sie vor kaum einer Stunde verlassen hatten.
»Was ist los?«, fragte er.
Der Mann sah ihn entsetzt an.
»Es scheint... ein Mord...«, antwortete er mit heiserer Stimme.
Zweites Kapitel
Ohne sich der Bedeutung der Worte des Schaffners recht bewusst geworden zu sein, betrat Jimmie das Abteil. Ein fürchterliches Bild bot sich seinen Augen. Der Mann, den sie vor kaum einer Stunde in aller Frische und Fröhlichkeit verlassen hatten, saß in sich zusammengesunken auf dem Ecksitz. Das Kinn war ihm auf die Brust gefallen, die Arme hingen schlaff herab. Sein Rock war aufgerissen. Aus einer tiefen Wunde in der Nähe der linken Schläfe quoll rotes Blut, das in den Kragen floss. Er war tot. Die äußere Tür des Abteils aber stand offen und schwang knarrend im Luftzug hin und her.
Jimmie drehte sich zu dem Mädchen, das ihm auf den Fersen folgte, um.
»Sie dürfen nicht eintreten«, sagte er rasch.
»Was gibt es denn?«, rief sie. »Ist meinem Vater unwohl geworden?«
Sie schob seinen Arm zur Seite, betrat das Abteil und stürzte sich auf ihren Vater. Da gewahrte sie das Blut und die Wunde. Mit einem lauten Aufschrei sank sie ohnmächtig zu Boden.
Jimmie beugte sich rasch zu ihr nieder, hob sie mit Tonys Hilfe auf und trug sie in das benachbarte Abteil, das zufällig leer war.
»Suchen Sie doch einen Arzt«, schrie er den verstörten Schaffner an. »Jemand soll Wasser herbeischaffen!«
Im Gang begannen sich die Leute zu sammeln. Alles erkundigte sich, was geschehen sei. Aus den Fenstern der andern Wagen blickten ängstliche Gesichter. Man wollte die Ursache des plötzlichen Haltens erfahren. Im ganzen Zug verbreitete sich die Nachricht, dass ein Herr in seinem Abteil tot aufgefunden wurde. Alles war aufgeregt und verstört.
Man rief nach einem Arzt, doch es fand sich keiner unter den Fahrgästen. Glücklicherweise war aber eine Krankenschwester im Zuge, die die dunkle Pflegerinnentracht eines bekannten Krankenhauses trug. Da dem überfallenen Mann nicht mehr zu helfen war, nahm sie sich des ohnmächtigen Mädchens an.
Der Schaffner sprang ab und lief den Zug entlang zum Lokomotivführer. Mit diesem zusammen stürzte er auf die Hecke zu, die an dieser Stelle den Bahnkörper begrenzte. Jimmie sprang ebenfalls ab und schloss sich ihnen an.
In der Nähe war keine Spur von einem Menschen zu entdecken. Allerdings war es schon dunkle Nacht, sodass man nicht weit sehen konnte. Nach einer kurzen Beratung begaben sie sich zum Zuge zurück. Sie wussten, dass es zu einer noch viel schrecklicheren Katastrophe kommen konnte, wenn sie sich zu lange aufhielten.
Der Lokomotivführer brachte den Zug langsam zum nächsten Bahnwärterhäuschen, wo dem Beamten der Vorfall mitgeteilt wurde. Es wurde ihm aufgetragen, die Meldung telefonisch weiterzugeben und die Strecke sofort genauestens absuchen zu lassen. Dann nahm der mächtige Schnellzug wieder seine Fahrt auf. Donnernd und fauchend stürmte er durch die Nacht, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.
Jimmie und Tony hatten ihre Handkoffer aus dem Abteil, in dem sich der Leichnam ihres Reisegenossen befand, entfernt und standen im Gang in der Nähe des Abteils, in dem das bewusstlose Mädchen lag. Die schreckliche, unerklärliche Tragödie hatte auf sie einen tiefen Eindruck gemacht. Sie fragten sich, wie dem jungen Mädchen, dessen erster Besuch in der Heimat so fürchterlich begonnen hatte, zu helfen sei. Bald schloss sich ihnen der Schaffner an.
»Wie hieß der Herr eigentlich?«, fragte er sie und war überrascht, zu hören, dass sie so gut wie nichts von ihrem Reisegenossen wussten. Da er sie in Gesellschaft des jungen Mädchens gesehen hatte, das sich mit dem Ruf Daddy über die Leiche gestürzt hatte, war er der Ansicht gewesen, sie bildeten eine Gesellschaft. Der Schaffner erfuhr nur, dass der Fremde wohlauf und bester Laune gewesen war, als die drei in den Speisewagen gingen.
»Aber es befindet sich im Zug eine Dame, die den Ermordeten kennt«, fügte Jimmie hinzu. »Sie sprach ihn an, kurz bevor wir ihn verließen.«
»Glauben Sie, dass Sie die Dame wiedererkennen würden?«, erkundigte sich der Schaffner.
»Ich will es versuchen«, antwortete Jimmie, »aber sagen Sie mir: Wer gab das Alarmsignal, und warum ließen Sie den Zug halten?«
»Ich gab gar kein Haltezeichen. Irgendjemand zog die Notbremse.«
»Was geschieht denn eigentlich, wenn die Notbremse gezogen wird?« mengte sich Tony ein.
»Die Ventile der Luftdruckbremse werden dadurch geöffnet; das bringt den Zug zum Stehen. Von meinem Posten aus kann ich dann erkennen, wo der Griff gezogen wurde, denn außerhalb des Abteils fällt ein Zeiger herab.«
»Kann der Mann selbst es getan haben?«, fragte Jimmie weiter.
»Nach der Lage, in der wir ihn fanden, möchte ich das bezweifeln. Jedenfalls glaube ich nicht, dass er die Tür geöffnet hat«, lautete die Antwort.
»Sie also haben die Tür nicht wieder geöffnet?«, ließ sich Tony wieder hören.
»Nein. Als ich hinaussah, um festzustellen, wo das Alarmsignal gegeben wurde, war die Tür noch zu, als ich aber in das Abteil kam, stand sie bereits sperrangelweit offen.«
»Sie sind also der Meinung«, sagte Jimmie nachdenklich, »dass der Täter nach Verübung des Verbrechens selbst die Notbremse gezogen und dann die Verlangsamung der Fahrt abgewartet hat, um die Tür zu öffnen, hinauszuspringen und zu flüchten?«
»Es sieht ganz so aus«, antwortete der Schaffner, »wenn es auch die größte Frechheit wäre, von der ich je gehört habe. Wissen Sie, ob der fremde Herr Wertsachen bei sich hatte?«
Die Freunde sahen einander an. Keiner konnte diese Frage beantworten, beide aber glaubten, sich einer goldenen Uhrkette erinnern zu können.
»Sein Rock und seine Weste sind aufgerissen, und es ist jetzt keine Uhrkette mehr an ihm zu finden«, meinte der Schaffner.
»Glauben Sie, dass man ihn beraubt hat?«, fragte Tony.
Der Beamte nickte.
»Welche Schritte sind wohl eingeleitet?«
»Wir werden in wenigen Minuten in Chester sein, dann wird die Bahnpolizei den Fall in die Hand nehmen. Man wird jedenfalls alle Stationen und Posten an der Strecke bis nach Crewe telefonisch verständigen. Und ich glaube, dass der Täter noch nicht weit weg sein kann, wenn die Suche nach ihm einsetzt. Ja, ich denke mir, dass unsere Leute jetzt schon auf den Beinen sind.«
»Und wir dürfen auch nicht untätig bleiben«, meinte Jimmie, »wir müssen uns auf die Suche nach der Frau mit dem schiefen Mund machen. Glaubst du, dass du sie wiedererkennen wirst, Tony?«
»Ich denke schon - obwohl ich sie mir nicht sehr genau angesehen habe.«
»Sie trägt einen langen Reisemantel aus einem Plaid-artigen Stoff, Pelzkragen und grünen Putz am Hut. Ganz unverkennbar ist aber ihr Mund.«
»Schön. Dann geh du in dieser Richtung, ich werde in der andern Umschau halten. Aber vielleicht wird der Schaffner die Namen und Anschriften aller Fahrgäste aufnehmen?«
»Das ist mir wohl kaum möglich«, erwiderte der Beamte. »Wir sind gleich in Chester, wo sofort nach der Ankunft eine Menge Leute den Zug verlassen und andere dafür einsteigen werden. Wir haben nur einen ganz kurzen Aufenthalt. Zweifellos wird sich jeder melden, der irgendeine Beobachtung gemacht hat. Wenn wir die Dame finden könnten, wäre das für die Behörde ja ganz bestimmt sehr wertvoll.«
Die Herren waren gerade im Begriff, ihre Nachforschungen zu beginnen, als sich die Tür des Nachbarabteils ein wenig öffnete. Die Schwester, die sich der Ohnmächtigen angenommen hatte, steckte den Kopf heraus und winkte Jimmie herbei.
»Sie ist wieder bei Bewusstsein«, sagte sie, »ich glaube, Sie können schon wieder mit ihr sprechen.«
Jimmie erkannte daraus, dass auch die Pflegerin nähere Beziehungen zwischen ihnen und den unglücklichen Opfern des Verbrechens vermutete.
»Können Sie Ihren Schützling einen Augenblick allein lassen?«, fragte er flüsternd.
Die gute Frau warf einen flüchtigen Blick hinter sich, trat aus dem Abteil auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu.
»Ich muss Ihnen nämlich erklären, liebe Schwester, dass wir uns sehr gerne der jungen Dame annehmen wollen«, sagte Jimmie leise, »aber sie und ihr Vater sind uns völlig fremd. Wir kennen nicht einmal ihren Namen. Wollen Sie gütigst herausbringen, wohin sie eigentlich will und ob sie Freunde oder Verwandte hat, die man von dem traurigen Vorfall verständigen sollte?«
»Gern«, sagte die Schwester. »Ich werde Ihnen sagen, was sie mir mitteilen wird.«
Sie verschwand. Die Männer warteten, um zu hören, was für das Mädchen getan werden konnte. Jimmie ging den ganzen Wagen ab. Es befanden sich nur wenige Fahrgäste darin. Von der Dame mit dem Plaidmantel war keine Spur zu sehen. Weiter aber wollte er sich nicht entfernen, ehe die Schwester ihnen Nachrichten gebracht hatte. Es verging eine lange Zeit, bis die Frau wieder zum Vorschein kam. Sie sah verstört und traurig aus.
»Sie heißt Nonna Warren«, berichtete sie. »Ihr Vater hieß Geoffrey Warren. Er hat ein Geschäft in London, musste jedoch viel in Frankreich umher reisen und ließ daher seine Tochter dort wohnen. Sie haben gestern Lyon verlassen und waren im Begriff, eine Vergnügungsreise durch England zu machen.«
»Sie wollten irgendeinen Ort in Wales aufsuchen. Sagte sie Ihnen vielleicht welchen?«
»Das weiß sie selbst nicht! Ihr Vater wollte sie überraschen und hatte ihr nicht anvertraut, wohin sie fuhren.«
»Die Arme! Das war ihr erster Tag auf englischem Boden!« meinte Jimmie.
»So sagte sie mir. Ihr Vater soll irgendwo ein Landhaus gemietet haben, aber sie weiß nicht wo. Er wollte sie damit überraschen. Frage ich etwas, so schluchzt und stöhnt das arme Kind nur immer wieder: Mein lieber, armer Daddy! Wer konnte nur meinem guten Daddy Übles antun?«
»Haben Sie herausgebracht, ob sie jemanden hier kennt, den wir verständigen könnten?«
»Das ist das Traurigste von allem«, antwortete die Pflegerin. »Sie scheint ganz allein dazustehen. Sie hat keine Verwandten auf der weiten Welt und kennt keine Seele in England.«
Die beiden Herren blickten sich ein Weilchen schweigend an. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem armen Mädchen, das sie noch vor wenigen Minuten so lebenslustig und sprühend fröhlich gesehen hatten und das jetzt, seines Vaters beraubt, ganz allein und verlassen in der Welt zu stehen schien - ohne Freunde, die sie hätten trösten können, ohne Obdach und ohne Beistand. Jimmie begann als Erster wieder zu reden.
»Schwester«, fragte er, »könnten Sie ein wenig bei ihr bleiben?«
»Leider nur bis Chester«, lautete die ernste Antwort. »Ich muss gleich weiter, denn ich bin an das Bett eines Schwerkranken in Colwyn Bay berufen. Aber im Bahnhofshotel zu Chester wird gewiss irgendein weibliches Wesen zu finden sein, das sich ihrer annehmen wird.«
Jimmie nickte. Die Pflegerin huschte wieder in das Abteil, das sie vor wenigen Minuten verlassen hatte.
»Tony, alter Junge«, fragte Jimmie, als die Frau sich zurückgezogen hatte, »was fangen wir nur mit der Armen an? Mir scheint, wir sind die einzigen Freunde, die Nonna Warren im Augenblick hat... - und vielleicht wäre das ganze Unheil nicht über sie hereingebrochen, wenn wir sie nicht überredet hätten, mit uns noch eine Zigarette im Speisewagen zu rauchen.«
»Fürchterlich, fürchterlich«, antwortete sein Freund. »Noch nie habe ich so etwas erlebt. Was sollen wir tun?«
»Weißt du, wir könnten Mollie fragen, wenn du nichts dagegen hast. Das Mädchen steigt in Chester aus. Wir wollen desgleichen tun. Du rufst Mollie an und erklärst ihr den ganzen Fall. Vielleicht kann sie herüberkommen und Nonna Warren bis morgen betreuen. Vielleicht hat sich bis dahin die Lage ein wenig geklärt. Mollie wird schon wissen, was zu geschehen hat.«
»Auch ich habe Ähnliches gedacht«, meinte Tony, »nur habe ich mich gefragt, ob wir nicht vielleicht das Mädchen mit uns nach Rhyl nehmen sollten. Ich denke aber, dass dein Vorschlag der bessere ist.«
»Ich glaube auch«, erwiderte Jimmie. »Sie könnte doch schwer die Leiche ihres Vaters verlassen und mit uns kommen. Eben fahren wir in Chester ein. Geh hinein und sag ihr, dass wir alle zusammen hier aussteigen wollen und dass deine Frau herkommen wird, um sich ihrer anzunehmen. Jetzt muss ich aber rasch schauen, ob ich nicht doch noch die Frau mit dem schiefen Mund finden kann!«
Drittes Kapitel
»Warum werden Morde verübt?«
Es war Jimmie Haswell, der diese Frage stellte, als er mit Tony Bridgman am nächsten Morgen zu später Stunde im Bahnhofshotel von Chester beim Frühstück saß.
»Da du als Rechtsverdreher ein kriminalistischer Fachmann bist, solltest du selbst diese Frage beantworten. Du willst aber wahrscheinlich wissen, warum dieser Mord verübt wurde?«
Jimmie nickte. »Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht. Mein Kopf brummt wie ein Flugzeugmotor, aber ich habe keine auch nur halbwegs annehmbare Lösung für das Rätsel gefunden.«
»Ich denke, dass die gewöhnlichen Beweggründe Habsucht, Hass oder Rache sind«, meinte sein Freund, »und da Geoffrey Warren beraubt worden ist, scheint mir das Motiv der Tat durchaus nicht rätselhaft. Der Polizeiinspektor, der uns gestern Abend vernahm, war der Ansicht, dass nicht nur Uhr und Kette, sondern wahrscheinlich auch seine Brieftasche geraubt wurden.«
»Ich weiß - aber kann man damit die Sache wirklich erklären? Die Fahrt von London nach Chester kostet 22 Schilling. Glaubst du, dass ein berufsmäßiger Mörder so viel Geld um der sehr fraglichen Aussicht willen ausgibt, eine Gelegenheit zu einem Raubmord zu finden? Und lohnt es sich denn, wegen der Wertsachen, die ein Durchschnittsmensch bei sich trägt, einen Mord zu begehen? Das Risiko wäre dabei doch ganz unverhältnismäßig groß.«
»Dieser Mörder hat vielleicht gewusst, dass Warren viel Geld bei sich hatte.«
»Hatte er das wirklich? Er war mit seiner Tochter auf einer Vergnügungsreise begriffen, hatte also gar keinen Grund, eine sehr große Summe bei sich zu tragen. Übrigens half ich gestern dem Inspektor bei der Durchsuchung seiner Sachen, und wir fanden in seinem Handkoffer neben Wäsche und Gebrauchsgegenständen sein Scheckbuch. Der letzte Abschnitt darin ließ erkennen, dass Warren gestern 15 Pfund abgehoben hatte. Das war also höchstwahrscheinlich alles, was er an Bargeld bei sich trug. Nun sind fünfzehn Pfund, eine goldene Uhr und die Kette dazu wirklich keine große Beute. Meiner Ansicht nach kommt es in erster Linie darauf an, festzustellen, wer und was Geoffrey Warren eigentlich war. Seine Persönlichkeit erscheint mir jedenfalls etwas merkwürdig.«
»Wieso?«
»Na, er hat eine Tochter und lebt nicht mit ihr. Er wohnt in England, sie aber hat englischen Boden vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr niemals betreten. Ist das allein nicht bereits sonderbar?«
»Es werden doch viele junge Engländerinnen in ausländischen Schulen erzogen.«
»Das schon, aber gewöhnlich verbringen sie dann ihre Ferien in der Heimat. Unsere arme, junge Freundin aber wusste nicht einmal, wohin sie gebracht werden sollte, sie hat keine Verwandten. Etwas auffällig erscheint es mir auch, dass sie uns erzählte, sie lebe in Sospel, während sie der Schwester sagte, sie sei aus Lyon gekommen.«
»Nein, nein«, fuhr Jimmie auf »Was Nonna Warren gesagt hat, ist sicher wahr. Da kannst du deinen Kopf darauf wetten. Sie hat eben ihre Jugend in Sospel verbracht, dann aber in Lyon gewohnt. Da Geschäfte ihren Vater oft nach Frankreich führten, war es schließlich gleichgültig, ob sie da oder dort wohnte.«
»Der Inspektor wird bald da sein«, bemerkte Tony, während er sich ein Butterbrot strich. »Wahrscheinlich wird er schon etwas in Erfahrung gebracht haben, was zur Aufklärung des Falles beitragen kann.«
»Hoffentlich! Seitdem ich mich als Rechtsverdreher - wie du so liebenswürdig sagst - mit Kriminalistik zu beschäftigen habe, versuche ich, Dilettanten im Detektivfach zu entmutigen. Ich habe noch immer gefunden, dass die Polizisten ihre Sache weit besser machen. Über diesen Fall aber habe ich merkwürdigerweise so viel nachdenken müssen, als wollte ich mich selbst zu einem Sherlock Holmes entwickeln.«
»Warum denn nicht?«, meinte Tony. »Hast du schon irgendwelche Anhaltspunkte entdeckt?«
»Leider nicht, ich muss nur immer wieder an die vier Menschen denken, die sich so auffällig in der Nähe unseres Abteils umhertrieben. Ob nicht einer von ihnen um die Umstände weiß?«
»Welche vier Personen meinst du?«
»Na, den frechen Jüngling, den schneidigen Leutnant, den struppigen Prediger und die Frau mit dem schiefen Mund.«
»Eine recht komische Gesellschaft. Leider habe ich sie mir nicht angesehen. Die Frau hast du also nicht mehr entdeckt?«
»Ich habe keine der vier Personen wiedergesehen. Viele Leute stürzten aus dem Zug, andere stürmten herein, und der ganze Bahnsteig war voll von Menschen, die mir in die Quere kamen. Träger mit ihren Handwagen rannten mich beinahe um, alte Damen hielten mich mit der Frage auf, wohin der Zug fahre. Aber wenn die Frau von dem Mord hört, wird sie sich sicher bei der Polizei melden.«
»Es sei denn, dass sie selbst mit der Tat in Zusammenhang steht!«
»Das glaube ich nicht. Sie sah ganz nett aus.«
»Und was hältst du von den andern?«
»Der Priester glotzte häufiger in das Abteil herein und sagte ganz laut Verflucht, als der Offizier ihm auf die Zehen trat.«
»Das ist schon bedeutungsvoller. Das Geheimnis des fluchenden Predigers wäre ein ganz netter Titel für einen Kriminalroman nicht wahr, mein lieber Sherlock? Was aber ist über den frechen Jüngling und den schneidigen Kanonier zu sagen?«
»Der Bengel war ein unverschämter Schuljunge, nichts weiter, und der Leutnant saß mit uns gleichzeitig im Speisewagen; er kommt also nicht in Betracht.«
»Verdächtig erscheinen dir also nur die Dame mit dem schiefen Mundwerk und der fluchende Heilige. Vielleicht haben sie zusammengearbeitet?«
»Soviel ich weiß, haben sie sich gegenseitig nicht einmal gesehen. Der Prediger war verschwunden, ehe die Frau auftauchte. Übrigens würden sie sich wahrscheinlich nicht so auffällig benommen haben, wenn sie wirklich Übles im Schilde geführt hätten.«
»Hallo, Jungens! Wie fühlt ihr euch heute Morgen?« Mollie Bridgman war hinter ihnen aufgetaucht und begrüßte sie kameradschaftlich. Sie sah reizend und taufrisch aus, obwohl sie in der Nacht nur sehr wenig geschlafen hatte. Über dem weißen Kleidchen trug sie einen blauen Mantel, dessen Farbe vorzüglich zu der ihrer Augen passte. Sie war nicht viel älter als das junge Mädchen, um dessentwillen sie gekommen war. Als ihr Tony am Abend vorher die ganze Geschichte telefoniert hatte, war sie aus hellem Mitleid mit dem armen, gestrandeten Wesen sofort herbeigeeilt.
Sie hatte schnell die nötigsten Kleidungsstücke eingepackt, gerade noch einen Zug erreicht und war sehr bald bei ihnen angelangt. Nonna war in ein Zimmer des Hotels gebracht worden. Dort fand Mollie sie. Das arme Mädchen lag, noch immer vollkommen angezogen, auf seinem Bett und schluchzte erbarmungswürdig, als Mollie eintrat. Anfänglich schien sie gar nicht zu bemerken, dass jemand bei ihr war. Dann aber sprach eine sanfte Stimme:
»Ich fühle so sehr mit Ihnen, Nonna. Auch ich habe meinen Vater verloren, als ich noch ganz jung war. Auch ich hatte niemanden, der sich meiner liebevoll annahm.« Sie hatte darauf das junge Mädchen in ihre Arme genommen und getröstet, wie nur eine Frau trösten kann.
Tony küsste seine junge Frau.
Jimmie schüttelte ihr die Hand und fragte gleich: »Wie geht es ihr?«
»Besser, als man erwarten durfte. Sie hat doch ein wenig Schlaf gefunden, der sie gestärkt hat. Übrigens wird sie gleich herunterkommen. Ich will sie nach Rhyl mitnehmen. Sie ist das süßeste Geschöpf, das man sich denken kann. Ich habe noch nie jemanden so innig bemitleidet wie sie. Wir müssen für sie tun, was nur in unserer Macht steht.«
Mollie sprudelte diese Worte heraus und beobachtete dabei ihren Mann. Ob er ihr widersprechen würde? Allerdings war sie ziemlich sicher, dass er es nicht tun würde.