Der Genesis-Plan - SIGMA Force - James Rollins - E-Book

Der Genesis-Plan - SIGMA Force E-Book

James Rollins

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Beschreibung

Die schlimmste Bedrohung der Menschheitsgeschichte ist nicht besiegt! Der 3. Fall für die Spezialeinheit SIGMA-Force.

Kurz bevor Nazi-Deutschland im zweiten Weltkrieg endlich unterlag, machten deutsche Wissenschaftler eine bahnbrechende Entdeckung. Kurz darauf verschwanden sie und mit ihnen ihre Ergebnisse. Heute will ein Geheimbund, dessen Mitglieder sich Sonnenkönige nennen, mit dieser Erfindung die Welt neu ordnen. Ganze Nationen werden untergehen, und auf ihren Ruinen soll ein neues Weltreich entstehen. Nur Painter Crowe, ein Topagent des wissenschaftlichen Geheimdienstes SIGMA-Force, und die Ärztin Lisa Cummings können den Erfolg des wahnsinnigen Plans noch verhindern …

Verpassen Sie nicht die weiteren in sich abgeschlossenen Romane über die Topagenten der SIGMA Force, zum Beispiel den neusten packenden Action-Roman Auftrag Tartarus!

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Seitenzahl: 701

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Buch

In einem buddhistischen Kloster in den höchsten Bergregionen Nepals bricht ohne jede Vorwarnung der helle Wahnsinn aus: Eine Gemeinschaft von weisen Mönchen beginnt einen verheerenden Amoklauf, die friedlichen Brüder verfallen in blindwütige Blutgier – bereits nach kurzer Zeit ist keiner von ihnen mehr am Leben. Als erste Zeugin der schrecklichen Geschehnisse trifft die amerikanische Ärztin Lisa Cummings ein. Schnell muss sie erkennen, dass sie an diesem Ort des unfassbaren Grauens nicht allein ist, denn sie gerät in das Visier eines skrupellosen Killers, der offensichtlich mit allen Mitteln verhindern will, dass der Vorfall in der Welt bekannt wird. Doch Lisa hat Glück und findet in Painter Crowe, dem Leiter des amerikanischen Elitekommandos SIGMA Force, einen Verbündeten. Allerdings entdecken sie schon bald auch an Painter die ersten beunruhigenden Symptome jener rätselhaften Krankheit, von der die Mönche befallen wurden. Für Lisa und Painter beginnt ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit …

Autor

James Rollins wurde 1968 in Chicago geboren. Er ist promovierter Veterinärmediziner und betreibt eine Tierarztpraxis in Sacramento, Kalifornien. Dort geht der Bestsellerautor, der mit seinen actionreichen Romanen immer wieder zahllose Leser begeistert, neben dem Schreiben auch seinen beiden anderen Leidenschaften nach: Höhlenforschung und Tauchen.

Von James Rollins außerdem lieferbar

Feuermönche (36738), Das Flammenzeichen (37473), Der Judas-Code (37316), Das Messias-Gen (37217), Sub Terra (37824), Im Dreieck des Drachen (37822), Operation Amazonas (37821)

James Rollins

Der Genesis-Plan

Roman

Aus dem Englischen

von Norbert Stöbe

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel

»Black Order« bei William Morrow, New York.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe November 2013

bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Jim Czajkowski

Published in agreement with the author,

c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006

by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign

Redaktion: Gerhard Seidl

wr · Herstellung: sam

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-11247-9

www.blanvalet.de

Für David,

um der vielen Abenteuer willen

Vorbemerkung zum historischen Hintergrund

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, brach unter den Alliierten ein neuer Krieg aus, bei dem es darum ging, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Nazi-Wissenschaftler auszuschlachten. Briten, Amerikaner, Franzosen und Russen lieferten sich ein Wettrennen jeder gegen jeden. Patente wurden gestohlen: Patente für neuartige Elektronenröhren, exotische Chemikalien und Kunststoffe, sogar für das Pasteurisieren von Milch mittels UV-Licht. Viele der heikelsten Patente verschwanden im tiefen Brunnen geheimer Projekte wie der Operation Paperclip, in deren Verlauf Hunderte von Nazi-Wissenschaftlern, die am Bau der V-2-Rakete beteiligt gewesen waren, heimlich angeworben und in die Vereinigten Staaten gebracht wurden.

Die Deutschen aber gaben ihre Technologie nicht freiwillig aus der Hand. In der Hoffnung auf ein Wiederauferstehen des Reiches trachteten sie danach, ihre Geheimnisse zu bewahren. Wissenschaftler wurden ermordet, Forschungslaboratorien zerstört, Pläne in Höhlen versteckt, in Seen versenkt und in Grüften eingemauert. Und zwar nur deswegen, um sie vor den Alliierten zu schützen.

Die Suche nahm erschreckende Züge an. In Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen gab es Hunderte von teilweise unterirdisch gelegenen Forschungslabors und Einrichtungen zur Entwicklung von Waffen. Eine der geheimsten Einrichtungen befand sich in einem ausgebauten Stollen am Rande der Bergbaustadt Breslau. Das Forschungsprojekt trug den Codenamen »Die Glocke«. Die Bewohner dieser Gegend berichteten von seltsamen Lichterscheinungen sowie mysteriösen Krankheiten und Todesfällen.

Die russischen Streitkräfte erreichten das Bergwerk als Erste. Es war verlassen. Alle zweiundsechzig an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler waren erschossen worden. Und das Gerät, an dem sie gearbeitet hatten, war spurlos verschwunden.

Sicher ist nur eines: Es hat die Glocke tatsächlich gegeben.

Vorbemerkung zum wissenschaftlichen Gehalt

Das wahre Leben ist vielfältiger als jede Fiktion. Die in diesem Buch aufgeworfenen Fragen bezüglich Quantenmechanik, Intelligent Design und Evolution gründen auf Fakten.

Die Tatsache der Evolution ist das Rückgrat der Biologie, und somit ist die Biologie in der eigentümlichen Lage, eine Wissenschaft zu sein, die auf einer unbegründeten Theorie basiert – ist sie jetzt Wissenschaft oder Glaube?

Charles Darwin

Die Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, die Religion ohne Naturwissenschaft aber ist blind.

Albert Einstein

Wer sagt, ich stünde nicht unter dem besonderen Schutz Gottes?

Adolf Hitler

1945

4. Mai, 06:22

Festungsstadt Breslau, Polen

Die Leiche schwamm im stinkenden Wasser, das sich durch die feuchten Abwasserkanäle wälzte. Es handelte sich um einen toten Jungen, aufgebläht und von Ratten angefressen. Schuhe, Unterhose und Hemd hatte man ihm ausgezogen. In der belagerten Stadt ließ man nichts verkommen.

SS-Obergruppenführer Jakob Sporrenberg zwängte sich an dem Leichnam vorbei und rührte dabei die trübe Brühe auf. Abfall und Exkremente. Blut und Galle. Das feuchte Tuch, das er sich vor Nase und Mund gebunden hatte, schützte kaum vor dem Gestank. So also endete der große Krieg. Die Mächtigen mussten durch Abwasserkanäle flüchten. Aber Befehl war Befehl.

Unablässig trommelte die russische Artillerie mit ihrem Ka-wumm auf die Stadt ein. Die Druckwellen der Explosionen spürte er im Bauch. Die Russen hatten die Stadttore eingenommen und bombardierten den Flughafen. In diesem Moment rollten russische Kettenpanzer über das Kopfsteinpflaster, während Transportflugzeuge auf der Kaiserstraße landeten. Die Hauptdurchgangsstraße war mittels zweier paralleler Reihen brennender Ölfässer in eine Landebahn verwandelt worden. Der Qualm stieg in den bereits raucherfüllten Himmel empor und verhinderte, dass es hell wurde. In den Straßen und in den Häusern wurde gekämpft, vom Keller bis zum Dachboden.

Jedes Haus eine Festung.

Das war Gauleiter Hankes letzter Befehl an die Bevölkerung gewesen. Die Stadt sollte so lange wie möglich Widerstand leisten. Die Zukunft des Dritten Reichs hing davon ab.

Und die von Jakob Sporrenberg.

»Beeilt euch!«, drängte er die nachfolgenden Männer.

Die von ihm befehligte Einheit des Sicherheitsdienstes – ein Evakuierungsspezialkommando – stapfte hinter ihm durchs knietiefe Dreckwasser. Vierzehn Männer.

Alle bewaffnet. Alle schwarz uniformiert. Alle mit schweren Rucksäcken ausgestattet. In der Mitte gingen die vier größten Männer, alle ehemalige Dockarbeiter. Sie hatten Tragstangen geschultert, an denen schwere Kisten befestigt waren.

Es gab einen bestimmten Grund, weshalb die Russen diese am Fuße der Sudetengebirge zwischen Deutschland und Polen gelegene Stadt angegriffen hatten. Die Befestigungen von Breslau schützten den Zugang zum Hochland. In den vergangenen zwei Jahren hatten Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Groß-Rosen einen nahe gelegenen Berg ausgehöhlt. Mit bloßen Händen und mit Sprengstoff hatten sie ein Tunnelsystem von hundert Kilometern Länge angelegt, dessen einziger Zweck darin bestand, ein Geheimprojekt vor den Augen der Alliierten zu verbergen.

Das Arbeitslager Riese.

Dennoch waren Gerüchte aufgekommen. Vielleicht hatte einer der Bewohner des Dorfes in der Nähe des Wenceslas-Bergwerks hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen über die Krankheit angestellt, die selbst jene befallen hatte, die sich außerhalb der Anlage aufhielten.

Wenn sie die Forschungen nur hätten abschließen können …

Gleichwohl empfand Jakob Sporrenberg eine gewisse Scheu. Er kannte nicht alle Einzelheiten des Geheimprojekts mit dem Codenamen Chronos. Doch er wusste genug. Er hatte die Leichen derer gesehen, die man Experimenten unterzogen hatte. Er hatte die Schreie gehört.

Abscheu.

Dieses Wort war ihm in den Sinn gekommen und hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Es war ihm nicht schwergefallen, die Wissenschaftler zu liquidieren. Er hatte die zweiundsechzig Männer und Frauen nach draußen schaffen lassen und sie mit jeweils zwei Kopfschüssen getötet. Keiner durfte erfahren, was in der Tiefe des Wenceslas-Bergwerks vorgegangen war … oder was man dort entdeckt hatte. Eine Wissenschaftlerin freilich war noch am Leben.

Doktor Tola Hirszfeld.

Sie schlurfte hinter Jakob her, die Hände auf dem Rücken gefesselt, von einem seiner Männer halb mitgeschleift. Sie war eine groß gewachsene Frau Ende zwanzig, mit kleinen Brüsten, aber üppiger Hüfte und wohlgeformten Beinen. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, und ihre Haut war aufgrund der langen Zeit, die sie unter der Erde verbracht hatte, so weiß wie Milch. Eigentlich hätte sie mit den anderen zusammen getötet werden sollen, doch ihr Vater, Oberarbeitsleiter Hugo Hirszfeld, der das Projekt beaufsichtigte, hatte endlich sein halbjüdisches Erbe offenbart. Er hatte versucht, die Forschungsakten zu vernichten, war aber von einem der Wachposten erschossen worden, bevor er sein unterirdisches Büro mit einer Brandbombe zerstören konnte. Seine Tochter konnte von Glück sagen, dass wenigstens einer überleben musste, der Einblick in das Projekt Glocke hatte, denn die Arbeit musste weitergeführt werden. Sie war ein Genie genau wie ihr Vater und wusste über seine Forschung besser Bescheid als jeder andere.

Von jetzt an würde man freilich nachhelfen müssen.

Jedes Mal, wenn Jakob sie ansah, funkelte sie ihn an. Der Hass strahlte von ihr aus wie die Hitze von einem offenen Backofen. Aber sie würde kooperieren … genau wie ihr Vater es getan hatte. Jakob wusste mit Juden umzugehen, zumal mit Mischlingen. Das waren die Schlimmsten. Die Teiljuden. Einige hunderttausend Mischlinge leisteten Militärdienst. Jüdische Soldaten. Aufgrund von Ausnahmeregelungen wurden sie verschont und durften dem Reich dienen. Dazu war eine Sondererlaubnis nötig. Solche Mischlinge taten sich als Soldaten zumeist besonders hervor, denn sie mussten beweisen, dass ihre Abstammung keinen Einfluss hatte auf ihre Loyalität.

Jakob aber hatte ihnen noch nie vertraut. Tolas Vater hatte seine Zweifel bestätigt. Sein Sabotageversuch hatte Jakob nicht überrascht. Juden durfte man halt nicht trauen, man musste sie vernichten.

Hugo Hirszfelds Sondergenehmigung war vom Führer persönlich unterzeichnet worden und hatte nicht nur für den Vater und die Tochter gegolten, sondern auch für seine Eltern, die irgendwo in Mitteldeutschland lebten. Sosehr Jakob den Mischlingen misstraute, so groß war das Vertrauen, das er in den Führer setzte. Hitlers Befehle waren eindeutig gewesen: Die für die Fortsetzung der Forschungsarbeit benötigten Geräte sollten aus dem Stollen evakuiert und der Rest zerstört werden.

Das bedeutete, die Tochter zu verschonen.

Und das Kind.

Der Junge war in mehrere Decken eingewickelt, ein jüdischer, erst einen Monat alter Säugling. Um ihn ruhigzustellen, hatten sie ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.

Das Kind war der eigentliche Grund für den Abscheu, den Jakob empfand. Alle Hoffnungen des Dritten Reichs ruhten in diesen kleinen Händen – in den Händen eines Judenkinds. Bei dieser Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Am liebsten hätte er das Kind mit dem Bajonett aufgespießt. Aber er hatte seine Befehle.

Auch Tola beobachtete das Kind. In ihren Augen flammte eine Mischung aus Zorn und Kummer. Tola hatte nicht nur ihren Vater bei seinen Forschungen unterstützt, sondern sich auch um den Säugling gekümmert, ihn in den Schlaf gewiegt und gefüttert. Das Kind war der einzige Grund, weshalb die Frau überhaupt mit ihnen kooperiert hatte. Die Drohung, den Jungen zu töten, hatte Tola bewogen, Jakobs Forderungen nachzugeben.

Über ihnen detonierte eine Granate. Die Druckwelle warf sie alle auf die Knie nieder und löschte die anderen Geräusche in einem gewaltigen Dröhnen aus. Beton barst, Staub rieselte ins stinkende Wasser.

Fluchend richtete Jakob sich wieder auf.

Oskar Henricks, sein Stellvertreter, setzte sich vor ihn und zeigte zu einer Abzweigung des Abwasserkanals.

»Wir nehmen diesen Tunnel, Obergruppenführer. Ein alter Überlaufkanal. Der Übersichtskarte zufolge mündet der Hauptkanal nicht weit von der Kathedraleninsel in den Fluss.«

Jakob nickte. In der Nähe der Insel sollten zwei mit einer weiteren Kommandoeinheit bemannte getarnte Kanonenboote auf sie warten. Bis dorthin war es nicht mehr weit.

Während das russische Bombardement immer heftiger wurde, beschleunigte er das Tempo. Das Bombardement leitete offenbar den entscheidenden Vorstoß des Gegners ein. Die Kapitulation der Stadt war unvermeidlich.

Als Jakob die Abzweigung erreichte, kletterte er aus der stinkenden Brühe auf den Betonsims des Seitentunnels. Bei jedem Schritt machten seine Stiefel glucksende Geräusche. Der widerliche Gestank von Exkrementen und Schlamm wurde vorübergehend unerträglich, als wollte ihn der Abwasserkanal aus seinem Inneren vertreiben.

Der Rest des Kommandos folgte ihm.

Jakob leuchtete mit der Taschenlampe in den Betontunnel hinein. Roch die Luft nicht schon etwas frischer? Er schritt energischer aus als zuvor. Die Rettung war in greifbarer Nähe; sie hatten es fast geschafft. Seine Einheit würde Schlesien halb durchquert haben, bevor die Russen auch nur in das unterirdische Labyrinth des Wenceslas-Stollens vorgedrungen wären. Als Willkommensgruß hatte Jakob in den Gängen des Labortrakts Sprengfallen versteckt. In dem Berg würden die Russen und ihre Verbündeten nichts als den Tod finden.

Frischen Mutes eilte Jakob der frischen Luft entgegen. Der Betontunnel wies ein schwaches Gefälle auf. Das Tempo nahm zu. Ihre Schritte wurden beflügelt von der plötzlichen Stille zwischen den Artilleriesalven. Die Russen griffen mit aller Macht an.

Es würde knapp werden. Die Fluchtroute über den Fluss würde ihnen nicht mehr lange offen stehen.

Als spürte er die Anspannung, begann der Säugling leise zu weinen, ein dünnes Greinen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ allmählich nach. Jakob hatte dem Arzt eingeschärft, das Mittel schwach zu dosieren. Sie durften das Leben des Kindes nicht gefährden. Das war vielleicht ein Fehler gewesen …

Das Weinen wurde durchdringender.

Irgendwo im Norden detonierte eine einzelne Granate.

Das Greinen steigerte sich zu einem lauten Wimmern, das durch den Betonschlund hallte.

»Bringen Sie das Kind zum Schweigen!«, befahl er dem Soldaten, der den Säugling trug.

Der kreidebleiche, klapperdürre Mann nahm das Bündel von der Schulter, wobei er die schwarze Mütze verlor. Er wickelte den Jungen aus seiner Decke, was das Geschrei aber nur noch weiter steigerte.

»Bitte … lassen Sie mich das machen«, sagte Tola. Sie stemmte sich gegen den Griff des Mannes, der sie am Ellbogen festhielt. »Das Kind braucht mich.«

Der Soldat mit dem Säugling sah fragend Jakob an. Draußen war es still geworden. Das Weinen hielt an.

Jakob schnitt eine Grimasse und nickte.

Man schnitt Tola die Handfesseln durch. Sie massierte sich kurz die eingeschlafenen Hände, dann griff sie nach dem Kind. Der Soldat war froh, ihr seine Bürde übergeben zu können. Tola barg den Säugling in der Armbeuge, stützte ihm den Kopf und wiegte ihn sanft. Sie beugte sich dicht auf ihn hinunter und flüsterte beruhigende Laute. Ihr ganzes Wesen hatte sich dem Kind zugewandt.

Das Geschrei machte leisem Wimmern Platz.

Zufrieden gestellt nickte Jakob Tolas Bewacher zu. Der Mann drückte ihr seine Luger in den Rücken. Schweigend setzten sie den Weg durch das Labyrinth unter der Stadt Breslau fort.

Bald darauf ließ der Brandgeruch den Kloakengestank in den Hintergrund treten. Jakobs Taschenlampe beleuchtete eine Rauchwolke, die den Ausgang des Überlaufkanals markierte. Die Artillerie schwieg, doch das Tackern und Knattern des Maschinengewehrfeuers hielt unvermindert an – überwiegend im Osten lokalisiert. Irgendwo in der Nähe schwappte Wasser.

Jakob bedeutete seinen Männern, im Tunnel zu bleiben, dann zeigte er zum Ausgang. »Geben Sie den Booten das vereinbarte Zeichen«, befahl er dem Funker.

Der Soldat nickte knapp, eilte vor und verschwand in der rauchverhangenen Düsternis. Im nächsten Moment übermittelte er mit Lichtsignalen eine verschlüsselte Nachricht an die Nachbarinsel. Es würde eine Weile dauern, bis die Boote sie erreicht hätten.

Jakob drehte sich zu Tola um. Sie hielt immer noch das Kind. Der Junge hatte sich wieder beruhigt und die Augen geschlossen.

Tola erwiderte unerschrocken Jakobs Blick. »Sie wissen, dass mein Vater recht hatte«, sagte sie mit ruhiger Überzeugung. Ihr Blick wanderte über die verschlossenen Kisten, dann sah sie wieder Jakob an. »Das lese ich in Ihrem Gesicht. Wir … sind zu weit gegangen.«

»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu«, erwiderte Jakob.

»Wem dann?«

Jakob schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er hatte seine Befehle von Heinrich Himmler persönlich. Ihm stand es nicht zu, sie in Zweifel zu ziehen. Trotzdem spürte er, dass die Frau ihn noch immer ansah.

»Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur«, flüsterte sie.

Der Funker bewahrte ihn davor, darauf antworten zu müssen. »Die Boote kommen!«, meldete er, dann kehrte er zur Tunnelmündung zurück.

Jakob raunzte ein paar Befehle und brachte seine Männer in Stellung. Er führte sie zum Ende des Tunnels, der auf das Ufer der Oder hinausging. Inzwischen war es hell geworden. Im Osten glühte der Sonnenaufgang, hier aber hing tief über dem Wasser eine schwarze, von der Flussströmung verdichtete Rauchwolke. Der Qualm würde ihnen Deckung geben.

Aber wie lange noch?

Das unheimliche, fröhliche Geknatter der MGs ging unvermindert weiter, ein Feuerwerk zur Feier der Zerstörung Breslaus.

Als der Kanal endlich hinter ihm lag, riss Jakob sich die feuchte Gesichtsmaske herunter und atmete tief durch. Er ließ den Blick über das bleigraue Flusswasser schweifen. Zwei flache Siebenmeterboote durchteilten die Wellen, die Motoren gaben ein stetiges Dröhnen von sich. Am Bug waren jeweils zwei Maschinengewehre vom Typ MG-42 montiert, die von grünen Planen notdürftig verhüllt wurden.

Hinter den Booten war verschwommen der dunkle Umriss einer Insel zu erkennen. Die Kathedraleninsel war eigentlich eine Halbinsel, denn im neunzehnten Jahrhundert hatte sich in Ufernähe so viel Schlamm angesammelt, dass eine Landverbindung entstanden war. Eine ebenfalls aus dem neunzehnten Jahrhundert datierende smaragdgrüne schmiedeeiserne Brücke führte ans Ufer. Die beiden Boote wichen den steinernen Brückenpfeilern aus und näherten sich der Tunnelmündung.

Als ein Sonnenstrahl die beiden Türme der Kathedrale traf, von der die Insel ihren Namen hatte, wanderte Jakobs Blick nach oben. Das war eine der sechs Kirchen der Insel.

Tola Hirszfelds Worte klangen ihm noch immer in den Ohren.

Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur.

Die Morgenkühle durchdrang seine nasse Kleidung, und er fröstelte. Er sehnte sich danach, von hier wegzukommen und die vergangenen Tage zu vergessen.

Das erste der beiden Boote hatte das Ufer erreicht. Froh über die Ablenkung und vor allem die Bewegung befahl er seinen Männern, die Boote zu beladen.

Tola stand etwas abseits, den Säugling im Arm, bewacht von einem einzigen Soldaten. Auch sie hatte die am verqualmten Himmel funkelnden Kirchtürme entdeckt. Das MG-Feuer hielt an und rückte immer näher. Man hörte Panzer, deren Motoren in den unteren Gängen heulten. Rufe und Schreie drangen herüber.

Wo war der Gott, gegen den sie sich nicht versündigen wollte?

Hier war er jedenfalls nicht.

Als die Boote beladen waren, ging Jakob zu Tola hinüber. »Steigen Sie ein.« Er hatte barsch sein wollen, doch ihr Gesichtsausdruck veranlasste ihn zur Mäßigung.

Sie gehorchte, mit den Augen noch immer bei der Kathedrale, mit den Gedanken noch weiter himmelwärts.

Auf einmal wurde Jakob sich ihrer Schönheit bewusst, obwohl sie doch ein Mischling war. Dann aber blieb sie mit der Stiefelkappe irgendwo hängen und geriet ins Stolpern, fand jedoch das Gleichgewicht wieder, ohne den Säugling fallen zu lassen. Sie richtete den Blick wieder aufs graue Wasser und die Rauchwolke. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Selbst ihre Augen wurden hart wie Kiesel, als sie sich nach einem Sitzplatz für sich und das Kind umsah.

Sie setzte sich auf die Steuerbordbank, ihr Bewacher nahm neben ihr Platz.

Jakob setzte sich ihr gegenüber und gab dem Steuermann das Zeichen zum Ablegen. »Wir müssen uns beeilen.« Suchend blickte er den Fluss entlang. Sie wandten sich nach Westen, weg von der Front im Osten, weg von der aufgehenden Sonne.

Er sah auf die Uhr. Inzwischen würde auf einem zehn Kilometer entfernten verlassenen Flugplatz ein Transportflugzeug vom Typ Ju 52 auf sie warten. Es trug das Emblem des Deutschen Roten Kreuzes und war als Verwundetentransport getarnt, um sie gegen Angriffe abzusichern.

Die Boote schwenkten ins tiefere Wasser hinaus, die Motoren kamen auf Touren. Jetzt konnten die Russen sie nicht mehr aufhalten. Sie hatten es geschafft.

Plötzlich fiel ihm an der anderen Seite des Bootes eine Bewegung ins Auge.

Tola hatte sich über den Säugling gebeugt und hauchte ihm zärtlich einen Kuss aufs flaumige Haar. Dann hob sie den Kopf und sah Jakob in die Augen. In ihrem Blick lag keine Verachtung und auch kein Zorn. Nur Entschlossenheit.

Jakob wusste, was sie vorhatte. »Nicht …«

Zu spät.

Tola schob sich hoch, rutschte mit dem Rücken über die niedrige Reling und stieß sich mit den Füßen ab. Den Säugling an die Brust gedrückt, kippte sie rücklings ins kalte Wasser.

Ihr überraschter Bewacher drehte sich um und feuerte aufs Geratewohl hinterher.

Jakob stürzte hinüber und riss den Arm des Mannes nach oben. »Nicht. Sie könnten das Kind treffen.«

Jakob beugte sich über die Reling. Auch die anderen Männer waren aufgesprungen. Das Boot schaukelte. Das Einzige, was Jakob im bleifarbenen Wasser sah, war sein eigenes Spiegelbild. Er befahl dem Steuermann, einen Kreis zu fahren.

Nichts.

Er hielt Ausschau nach den sprichwörtlichen Luftblasen, doch das Kielwasser des schwer beladenen Bootes erzeugte zu viele Wellen. Er schlug mit der Faust auf die Reling.

Wie der Vater, so die Tochter …

Das sah einem Mischling ähnlich. Er kannte das bereits: Jüdische Mütter, die ihre eigenen Kinder erstickten, um ihnen größeres Leid zu ersparen. Er hatte geglaubt, Tola wäre stärker. Aber vielleicht hatte sie ja gar keine andere Wahl gehabt.

Er ließ das Boot noch eine Weile kreisen. Seine Männer suchten beide Ufer ab. Die Frau blieb verschwunden. Eine Granate pfiff über sie hinweg. Sie durften nicht länger warten.

Jakob befahl seinen Männern, sich wieder hinzusetzen. Er zeigte nach Westen, zum wartenden Flugzeug. Sie hatten immer noch die Kisten mit den Akten. Es war ein Rückschlag, doch damit ließ sich leben. Das Kind war zu ersetzen.

»Rückzug«, sagte er.

Die beiden Boote fuhren unter voller Kraft weiter.

Kurz darauf verschwanden sie in der Qualmwolke der brennenden Stadt Breslau.

Tola hörte, wie der Motorenlärm in der Ferne verhallte.

Hinter einem der dicken Pfeiler verborgen, welche die alte, schmiedeeiserne Kathedralenbrücke stützten, trat sie Wasser. Mit einer Hand hielt sie dem Säugling den Mund zu, damit er nicht schrie. Sie konnte nur hoffen, dass er durch die Nase genug Luft bekam. Aber das Kind war geschwächt.

Und sie ebenfalls.

Sie hatte einen Streifschuss am Hals abbekommen. Das Blut färbte das Wasser rot. Ihr Gesichtsfeld engte sich immer mehr ein. Trotzdem kämpfte sie weiter und bemühte sich, das Kind über Wasser zu halten.

Als sie sich in den Fluss gestürzt hatte, wollte sie sich zusammen mit dem Kind eigentlich ertränken. Dann aber traf sie der Kälteschock, und der Hals begann zu brennen, und sie änderte ihren Entschluss. Sie dachte an die funkelnden Kirchtürme. Das war nicht ihre Religion, nicht ihr kulturelles Erbe. Dennoch erinnerten die Türme sie daran, dass es jenseits des gegenwärtigen Dunkels Licht gab. Irgendwo gab es Menschen, die ihre Mitmenschen nicht quälten. Einen Ort, wo Mütter ihre Kinder nicht ertränkten.

Sie schwamm weiter auf den Fluss hinaus und ließ sich zur Brücke treiben. Unter Wasser kniff sie dem Kind die Nase zu und pustete ihm Luft in den Mund. Obwohl sie eigentlich hatte sterben wollen, flammte der Lebenswille, einmal entzündet, immer stärker in ihrer Brust.

Der Junge hatte nicht mal einen Namen.

Niemand sollte namenlos sterben.

Sie hauchte dem Kind ihren Atem ein und schwamm blindlings mit der Strömung. Es war reiner Zufall, dass sie gegen einen Brückenpfeiler getrieben wurde, hinter dem sie sich verstecken konnte.

Jetzt aber waren die Boote verschwunden, und sie durfte nicht länger warten.

Das Herz pumpte mühsam das Blut durch ihre Adern. Sie spürte, dass nur die Kälte sie am Leben erhielt. Die gleiche Kälte aber entzog dem zarten Kind die lebensnotwendige Körperwärme.

Hektisch mit den Beinen austretend, schwamm sie zum Ufer. Aufgrund ihrer Schwäche und der Kälte waren ihre Bewegungen unkoordiniert. Sie tauchte unter und zog das Kind mit sich.

Nein.

Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, doch auf einmal fühlte sich das Wasser schwerer an als zuvor, und das Schwimmen wurde immer mühsamer.

Sie wollte nicht aufgeben.

Plötzlich stießen ihre Stiefel an glitschige Steine. Vor Erleichterung schrie sie auf, doch da sie vergessen hatte, dass ihr Kopf untergetaucht war, schluckte sie einen Mund voll Wasser. Sie sank noch tiefer, stieß sich von den schlammigen Steinen ab. Ihr Kopf tauchte auf, und sie warf sich dem Ufer entgegen.

Vor ihr ragte die steile Böschung auf.

Sich mit einer Hand stützend, krabbelte sie aus dem Wasser, mit der anderen Hand drückte sie den Säugling an ihre Brust. Als sie festen Boden unter sich hatte, brach sie zusammen. Sie fühlte sich vollkommen kraftlos. Ihr Blut strömte über das Kind. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich auf den Jungen.

Er rührte sich nicht mehr. Er hatte aufgehört zu atmen.

Sie schloss die Augen und betete, während die ewige Dunkelheit sie verschluckte.

Klagt, ihr Verdammten, klagt …

Pater Varick hörte das Gewimmer als Erster.

Zusammen mit seinen Mitbrüdern hatte er am Vorabend, als die Bombardierung einsetzte, im Weinkeller unter der St.-Petrus-und-Paulus-Kirche Zuflucht gesucht. Kniend hatten sie darum gebetet, dass ihre Insel verschont werden möge. Die im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Kirche hatte die ständig wechselnden Beherrscher der Grenzstadt überlebt. Sie flehten den Himmel um Beistand an, damit die Kirche auch diese Katastrophe überdauerte.

In dieser frommen Stille vernahmen die Mönche auf einmal das Wehgeschrei.

Pater Varick richtete sich auf, was ihm aufgrund seines Alters einige Mühe bereitete.

»Wo willst du hin?«, fragte Franz.

»Meine Schützlinge rufen nach mir«, sagte der Pater. Seit zwanzig Jahren verfütterte er die Speisereste an die streunenden Katzen und Hunde, die sich hin und wieder an der am Flussufer gelegenen Kirche blicken ließen.

»Du solltest besser hierbleiben«, meinte ein anderer Bruder mit angstvoll bebender Stimme.

Pater Varick hatte schon zu lange gelebt, um den Tod mit der Inbrunst der Jugend zu fürchten. Er ging durch den Keller und bog auf den kurzen Gang ein, der zum Fluss hinausführte. Über diesen Gang war früher die Heizkohle geschleppt worden, die dort gelagert worden war, wo jetzt die staubbedeckten edlen grünen Flaschen in Eichengestellen ruhten.

Er entriegelte die alte Kohlentür und drückte mit der Schulter dagegen.

Knarrend öffnete sich die Tür.

Als Erstes bemerkte er den Gestank in der Luft – dann veranlasste ihn das Wimmern, den Blick zu senken. »Allmächtiger …«

Nur wenige Schritte von der Tür in der Festungsmauer entfernt lag eine Frau. Sie rührte sich nicht. Er eilte zu ihr und kniete, ein Gebet auf den Lippen, neben ihr nieder.

Er tastete am Hals nach dem Puls, doch da war nichts als Blut. Sie war blutüberströmt von Kopf bis Fuß und so kalt wie die Steine.

Tot.

Wieder ertönte das Wimmern – von der anderen Seite.

Und da lag der Säugling, halb unter der Frau begraben, ebenfalls blutig.

Das Kind war blau gefroren und völlig durchnässt, doch es lebte noch. Er zog es unter der Toten hervor, wobei die vollgesogene Decke verrutschte.

Ein Junge.

Er fuhr mit der Hand über den winzigen Körper des Kindes und vergewisserte sich, dass es unverletzt war.

Das Blut stammte von seiner Mutter.

Bekümmert sah er auf die Frau nieder. So viele Tote. Er blickte zum anderen Flussufer hinüber. Die Stadt stand in Flammen, Rauchwolken stiegen in den Morgenhimmel. Die Artillerie feuerte unablässig. War die Frau über den Fluss geschwommen? Hatte sie das Kind retten wollen?

»Ruhe in Frieden«, sagte er zu der Toten. »Das hast du dir verdient.«

Pater Varick ging zur Kohlentür zurück. Er wischte dem Säugling Blut und Wasser ab. Das Haar des Kindes war ganz fein, aber schneeweiß. Es war höchstens einen Monat alt.

Der Junge schrie lauter, und sein Gesicht verzerrte sich, doch er war noch immer schlaff, kraftlos und kalt.

»Ja, wein du nur, mein Kleiner.«

Als er die Stimme hörte, schlug der Junge die verquollenen Augen auf. Sie waren blau und klar. Andererseits hatten die meisten Neugeborenen blaue Augen. Varick aber hatte das Gefühl, dass sich diese Augen ihre strahlend blaue Schönheit bewahren würden.

Behutsam drückte er den Jungen an sich, um ihn zu wärmen. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Nanu, was ist denn das? Er drehte den Fuß des Jungen vorsichtig herum. Auf die Ferse hatte jemand ein Zeichen aufgemalt.

Nein, nicht aufgemalt. Der Pater rieb daran.

Das Zeichen war mit scharlachroter Tinte eintätowiert. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Krähenfuß.

Vater Varick hatte einen Großteil seiner Jugend in Finnland verbracht. Deshalb kannte er das Symbol: Es war eine nordische Rune. Allerdings hatte er keine Ahnung, welche Rune das war oder was sie bedeutete. Er schüttelte den Kopf. Wer tat so etwas?

Nachdenklich musterte er die tote Mutter.

Egal. Der Sohn soll nicht tragen die Missetat des Vaters.

Er wischte das Blut vom Scheitel des Jungen und wickelte ihn in seine warme Kutte.

»Armer Junge … Welch ein Willkommen in der Welt.«

Eins

1

Das Dach der Welt

Gegenwart

16. Mai, 06:34

Himalaya

Basislager Mount Everest, 5360 Meter ü. d. M.

Der Wind brachte den Tod.

Taski, der Anführer der Sherpas, verkündete sein Urteil mit dem feierlichen Ernst und der Selbstgewissheit seines Berufs. Der untersetzte Mann war nur knapp einssechzig groß, und das mitsamt dem zerfledderten Cowboyhut. Dabei tat er so, als wäre er hier in den Bergen der Größte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die flatternden Gebetsfahnen.

Dr. Lisa Cummings nahm den Mann mit ihrer Nikon D-100 ins Visier und betätigte den Auslöser. Taski war nicht nur der Führer der Gruppe, sondern auch Lisas psychometrische Testperson. Ein perfektes Forschungsobjekt.

Sie hatte ein Stipendium bekommen, das es ihr ermöglichte, in Nepal die physiologischen Auswirkungen einer Everestbesteigung ohne Sauerstoffgeräte zu untersuchen. Bis zum Jahr 1978 hatte niemand den Everest ohne technische Hilfsmittel bestiegen. Die Luft war zu dünn. Selbst erfahrene Bergsteiger mit Sauerstoffflaschen hatten unter extremer Erschöpfung, Koordinationsschwierigkeiten, Doppeltsehen und Halluzinationen zu leiden. Es galt als unmöglich, einen Achttausender ohne Luftvorrat zu bezwingen.

1978 aber hatten Reinhold Messner und Peter Habeler das Unmögliche geschafft und den Gipfel allein mithilfe ihrer keuchenden Lungen erreicht. In den folgenden Jahren folgten etwa sechzig Männer und Frauen ihren Fußstapfen und setzten der Bergsteigerelite ein neues Ziel.

Bessere Testbedingungen unter niedrigem Luftdruck hätte sie sich nicht wünschen können.

Zuvor hatte Dr. Lisa Cummings mithilfe eines Fünfjahresstipendiums die Auswirkungen von hohem Luftdruck auf die physiologischen Vorgänge beim Menschen erforscht. Auf dem Forschungsschiff Deep Fathom hatte sie Tiefseetaucher untersucht. Anschließend hatten Veränderungen angestanden– sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ein Stipendium der National Science Foundation zur Durchführung antithetischer Forschungen bewilligt bekommen: zur Untersuchung der physiologischen Auswirkungen von Niederdrucksystemen.

Deshalb befand sie sich jetzt hier auf dem Dach der Welt.

Lisa wechselte die Position, um noch eine Aufnahme von Taski Sherpa zu machen. Wie so viele hatte Taski die Stammesbezeichnung als Familiennamen angenommen.

Der Mann entfernte sich von den wehenden Gebetsfahnen, nickte energisch und zeigte mit einem zwischen zwei Fingern eingeklemmten Zigarettenstummel zum Gipfel hoch. »Ein schlechter Tag. Der Wind bringt den Tod«, wiederholte er, dann steckte er sich eine neue Zigarette an und wandte sich ab. Es war alles gesagt.

Für die anderen Mitglieder der Gruppe galt das freilich nicht.

Enttäuschte Bemerkungen wurden gewechselt. Die Bergsteiger blickten zum strahlend blauen Himmel auf. Das zehnköpfige Bergsteigerteam hatte neun Tage darauf gewartet, dass sich ein Wetterfenster öffnete. Wegen des Unwetters hatte sich bislang noch keiner gegen den gesunden Menschenverstand aufgelehnt. Ein Tiefdruckgebiet im Golf von Bengalen war für das schlechte Wetter verantwortlich gewesen. Sturmböen hatten mit bis zu hundertsechzig Stundenkilometern auf das Lager eingetrommelt, eines der Zelte weggeweht und Leute im Freien umgeworfen. Der zeitweise damit einhergehende Schneefall hatte der ungeschützten Haut wie Sandpapier zugesetzt.

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