Der graue Mann - Jan Flieger - E-Book

Der graue Mann E-Book

Jan Flieger

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Beschreibung

Es geschah in der Stille eines Sonnabends. Mittagsschwere liegt noch auf den Grundstücken; Angler sitzen in ihren Booten, weit draußen auf dem See; von ferne her tönt hin und wieder Motorengeräusch; Spaziergänger sind unterwegs rund um den See. Aber keiner sieht etwas oder hört einen Schrei. Am Sonntagmorgen erst wird die fünfzehnjährige Susanne Schirmer gefunden: tot und halbnackt … Hauptmann Kellermann und sein Team beginnen zu ermitteln. Sie arbeiten fieberhaft. Erste Fingerzeige enthält ein Tagebuch der Ermordeten. Aber wer verbirgt sich hinter den Buchstaben E., M., K. und H.? Und warum hat Vater Schirmer bei der ersten Vernehmung das Tagebuch nicht erwähnt? War der Täter ein dem Opfer völlig Unbekannter? Geschah der Mord im Affekt, ein Verbrechen „ohne Motiv“? Jan Flieger zieht den Leser in den Bann der Frage: „Wer ist der Täter?“ und lässt ihn die Ermittlungsarbeit einer Morduntersuchungskommission miterleben.

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Impressum

Jan Flieger

Der graue Mann

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-655-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1988 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern

Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog

Der achte Mai war ein sonniger Sonnabend, und der milde Wind bewegte die Wipfel der Bäume nur sehr sacht.

Der Mann stand im Schatten der Birken hinter den Schneebeerenbüschen, sodass man ihn von dem kleinen Weg aus, der am Überflutkanal und dem Wehr entlang zum Gölziger Stausee führte, nicht sehen konnte. Er aber sah jeden Spaziergänger, das Wehr, die Bungalows auf der anderen Seite des Kanals, und er sah auch in der Ferne die Neue Brücke, über die man, von der Fernverkehrsstraße abbiegend, fahren musste, um das Dorf Gölzig zu erreichen.

Er blickte auf die Uhr, rauchte, spuckte dann gegen den Stamm einer Birke, als er Tabakkrümel auf seinen Lippen spürte.

Er sah das Mädchen, als es mit dem Klappfahrrad auf die Brücke fuhr. Es trug einen bunt gestreiften Pulli und Jeans, die es bis zu den Knien hochgekrempelt hatte.

Er rauchte reglos weiter, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, sah das Mädchen in das Wasser des kleinen Flüsschens blicken und endlich weiter radeln.

Über ihm, im Wipfel des Baumes, musste ein Vogel sitzen, er hörte ihn, ohne ihn sehen zu können, und empfand seinen Ruf als schrill und störend.

Da kam das Mädchen auf dem Weg gefahren, wobei es den Lenker gelangweilt mit einer Hand hielt. Es unterbrach seine Fahrt am Wehr, lehnte das Rad an den Drahtzaun, der ein Betreten der Anlage verhindern sollte, und blickte sich um.

Sie hat mich nicht bemerkt, dachte er, denn sie wendet mir den Rücken zu.

Ehe er hinter den Büschen hervortrat, warf er die Zigarette in das Gras zu seinen Füßen, um sie sorgfältig auszutreten.

Er lauschte einen Augenblick lang, wissend, dass die Angler reglos in ihren Kähnen auf dem See hockten, die Ausflügler und die Besitzer der Bungalows im Schatten der Bäume lagen. Nur ganz fern hörte er Motorräder.

Sie waren allein, er und sie.

Das Mädchen wandte sich um, als es seine Schritte hörte, aber es erschrak nicht.

1. Teil

Die Tote unter dem Schneebeerenbusch

Das Mädchen lag in der Grube lang ausgestreckt und auf dem Rücken, die Beine waren leicht gespreizt, die Augen und der Mund geschlossen, der Kopf etwas geneigt. Die Finger der rechten Hand waren zur Faust geballt, der linke Arm lag längs des Körpers, und die Hand ruhte mit der Handfläche auf dem Erdreich.

Die Tote war mit einem kurzärmligen kragenlosen Pulli, der am Bund mit einer eingearbeiteten Schnur zusammenzuziehen war, bekleidet. Der Pulli war aus weißer Wolle gewirkt, eingewebt waren Streifen in Rot, Grün, Blau und Gelb. Er war über die Brüste nach oben geschoben.

Dr. Bärlach richtete sich auf und sah wie in einer Momentaufnahme, ehe er zu sprechen begann, die Mitarbeiter der Morduntersuchungskommission, die er gut kannte, sah deren Leiter, den eins sechsundachtzig großen Hauptmann Fritz Kellermann mit dem langen schmalen Gesicht und den graublauen Augen, sah in die blassgrünen Augen des Leutnants Rita Havenstein, nahm wahr, wie der Kriminaltechniker Oberleutnant Herbert Fuchs, dieser rundliche mittelgroße Mann, seine schwarze Hornbrille in ihrer Mitte mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand anhob, wie Leutnant Peter Fichtel eine blonde Locke aus der Stirn strich, sah den Schnurrbart des Oberleutnants Hans Cundius, dieses kleinen wuchtigen Mannes mit den hellbraunen Augen, leicht zittern, sah, dass der Oberleutnant Dieter Rascher, der beinahe so groß war wie Kellermann und Fichtel, auf seiner Unterlippe kaute.

Kellermann lauschte den Worten Dr. Bärlachs, hörte von der Totenstarre in allen Gelenken, Totenflecken in bläulich-rötlicher Verfärbung an den abhängigen Körperpartien und punktförmigen Erstickungsblutungen. Am Rücken, beginnend etwa in Hüfthöhe und bis zu den Fersen verlaufend, befänden sich zahlreiche kratzerförmige Hautverletzungen, die besonders stark ausgeprägt wären am Gesäß und an den Wadenbeinen. Am Hals, etwa in der Nähe des Kehlkopfes, sei eine etwa acht bis zehn Millimeter lange blutende Wunde, eine Stichverletzung. Gleichartige Verletzungen befänden sich eine Handbreit neben der rechten Brust. Eine weitere erkennbare Verletzung sei im Rücken, zwei Fingerbreit rechts der Wirbelsäule wahrzunehmen. Der Tod sei vermutlich am gestrigen Tag zwischen elf und neunzehn Uhr durch die Stiche eingetreten, das Würgen könne im Zusammenhang mit einer möglichen Vergewaltigung erfolgt sein. Genaueres lasse sich mit Bestimmtheit erst nach der gerichtsmedizinischen Sektion sagen.

Kellermann stand so, wie er es gewohnt war, die Hände auf dem Gesäß, wobei er das Handgelenk des rechten Armes mit der linken Hand umschlossen hielt.

Staatsanwalt Auerbach stand neben ihm in seinem grauen Trenchcoat, mittelgroß, Ende Vierzig, die asketischen Lippen zusammengepresst im schmalen Gesicht, das schüttere graue Haar korrekt nach hinten gekämmt. Seine blassgrauen Augen blickten nach unten, hinab zu der Toten und dann flüchtig zu Kellermann.

Kellermann schätzte diesen Mann, einen Staatsanwalt, den er bei Problemen, die einen laufenden Fall betrafen - und das hatte Auerbach von Beginn ihrer Zusammenarbeit an sogar gefordert - zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnte.

Er bemerkte am Randbereich der Grube, in der die Tote mit Laub und Erde bedeckt gelegen hatte, die eingesteckten Zweige eines Schneebeerenbusches, die mit den herunterhängenden Zweigen eine natürliche Tarnung ergaben.

»Sie wurde sicher mit angehobenem Oberkörper in Rückenlage vom Tatort über den Boden hierhergezogen«, ließ sich Fichtel vernehmen.

Kellermann nickte, und er überdachte die Möglichkeit einer Faserspur an dem Busch, wo der Täter die Zweige abgebrochen hatte.

Aber wo waren die restlichen Bekleidungsstücke der Toten?

Sie hätten bei der Suchaktion gefunden werden müssen, die gestern begonnen hatte und bei der heute, am neunten Mai, die Tote entdeckt worden war, genau in dem Augenblick, als ihm der Diensthabende mitgeteilt hatte, dass am Stausee bei Gölzig eine fünfzehnjährige Schülerin vermisst würde und zur Unterstützung der Einsatz der Mitarbeiter seiner Morduntersuchungskommission unerlässlich sei.

Fichtel kaute auf seiner Unterlippe, während seine Augen umherschweiften. Rita Havenstein rieb sich ihr Kinn, und Fuchs begann mit seiner Arbeit, begann nicht allein, denn ein Trassologe und ein Biologe des Kriminaltechnischen Labors, ein Hauptmann und ein Leutnant, waren gleichfalls anwesend.

An der Wand im Zimmer des Polizeigebäudes der nahen Kleinstadt, das nun Kellermanns »Befehlszentrale« werden würde, hing die Karte vom See und der Umgebung.

Kellermann begann sie sich einzuprägen, die Wege, Felder, Wäldchen. Neben ihm standen Fichtel und Rita Havenstein.

Von der Fernverkehrsstraße kommend, bog man ab auf die Gölziger Allee, die zum gleichnamigen Dorf führte, vorbei am See, vorher aber über die Neue Brücke, unter der ein Flüsschen entlangplätscherte.

Folgte man dieser Allee nicht so weit, konnte man noch vor der Brücke nach rechts in einen unbefestigten Weg abbiegen, auf dem man wiederum, nach Passieren der anderen, der Alten Brücke, zum Parkplatz am See gelangte.

Man konnte allerdings als Fußgänger den See auch erreichen, wenn man gleich hinter der Alten Brücke abbog nach links, um einem kleinen Pfad zu folgen, der dann auf seiner linken Seite begrenzt wurde vom Überflutkanal und auf der rechten von einem Wäldchen. Dieser Pfad war nur zu passieren für Fußgänger, Rad- und Motorradfahrer und führte vorbei an einem Wehr, das sich noch im vorderen Teil des Überflutkanals befand. An dessen anderem Ufer standen fünf Bungalows.

Wald umgab den See. Man konnte zu ihm auch gelangen, wenn man durch die Kleingartenanlage »Frohe Zukunft« lief oder fuhr. Dieser Weg führte gleichfalls, nur von der anderen Seite, zu dem Parkplatz. Auto- und Motorradfahrer durften ihn nicht benutzen.

Auf ihm kamen gewiss die Spaziergänger aus der Kreisstadt, die motorisierten Besucher des Sees kamen von der Gölziger Allee.

Um den See herum führte ein Weg, von dem einige Pfade abzweigten.

Minutenlang stand Kellermann reglos, genau wie die anderen vier Männer und die eine Frau der Morduntersuchungskommission.

Dann schienen sich ihre Blicke festzusaugen an einem Punkt, dort, wo sie die Tote gefunden hatten, im Wäldchen zwischen Wehr und Weizenfeld.

Ein roter Kreis auf der Karte ...

Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie viele Möglichkeiten es für den Täter gegeben hatte, zum Fundort der Leiche, der gewiss nicht der Tatort war, zu gelangen.

Rita Havenstein fuhr sich kopfschüttelnd mit den Fingern durch das Haar.

»Das Fahrrad des Opfers lehnte am Wehr des Überflutkanals. Zwischen Wehr und Fundort der Leiche liegen vierzig Meter Wald. Und nahe dem Wehr stand der Bungalow ihres Vaters, am Überflutkanal stehen weitere Bungalows. Es ist in unmittelbarer Nähe von Menschen geschehen.«

Cundius zwirbelte seinen Bart. »Der Täter kann praktisch von allen Seiten gekommen sein. Aber überall waren an einem solchen Tag Menschen, besonders nachmittags.«

Kellermann rieb sich nachdenklich das Kinn.

Warum hatte das Mädchen nicht geschrien, als es der Täter zu Boden warf?

Hatte es den Täter gekannt? Wenn ja, dann würde es leichter werden ...

Der Vater

Dieter Schirmer, der Vater des Mädchens, machte auf Kellermann einen gefassten Eindruck, als er das Vernehmungszimmer des Polizeigebäudes betrat. Kellermann wies auf einen Stuhl. »Bitte«, sagte er.

Kellermann bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben.

»Wir wissen, dass es schwer ist für Sie, Herr Schirmer, aber wir müssen Ihnen Fragen stellen. Und wir benötigen eine genaue Schilderung des Sonnabends.«

Schirmer nickte mit starrem Gesicht. Er war ein Mann um die vierzig, groß und korpulent, mit bleichem Gesicht und trüben blauen Augen. Er arbeitete als Ingenieur im VEB Motex.

Schirmer war geschieden und lebte zusammen mit einer gewissen Erika Wengemann. Seiner geschiedenen Frau waren beide Mädchen zugesprochen worden, Susanne, die fünfzehn war, und die elfjährige Elke.

Susanne hatte seit einer Woche auf eigenen Wunsch bei ihm gelebt, nachdem von der Mutter endlich die Zustimmung gegeben worden war.

Dann begann Schirmer zu sprechen. Es klingt sachlich und nüchtern wie der Text eines Protokolls, dachte Kellermann.

»Ich habe den Bungalow hier am Dienstag gekauft. Wir fuhren gestern gleich früh raus. Wir drei: meine Lebensgefährtin Erika Wengemann, meine Tochter und ich. Um neun fuhren wir nach Globin, um noch einige Sachen einzukaufen. Gegen elf Uhr trafen wir wieder am Bungalow ein. Bis zwölf Uhr dreißig haben wir dann im Bungalow gearbeitet und um dreizehn Uhr Mittag gegessen. Susanne hatte eine Art Schnellsuppe gekocht. Nach dem Essen nahm meine Tochter eine Campingliege und sonnte sich. Es kann kurz nach vierzehn Uhr gewesen sein, als ich zu meinem Bootssteg ging, wo mein Boot liegt. Dann habe ich geangelt. Es waren noch sechs andere Angler draußen. Auf dem Wasser war ich bis siebzehn Uhr. Dann habe ich das Boot festgemacht und bin zum Bungalow zurückgelaufen. Um siebzehn Uhr dreißig kam ich dort an. Erika sagte mir, dass Susanne mit dem Klappfahrrad unterwegs sei. Sie habe Viertel vor drei noch eine Brause geholt und sei wieder weggefahren. Ich habe dann gepfiffen und gerufen. Sie kam aber nicht. Ich habe gegessen und dachte, sie käme noch. Um sieben habe ich die Gegend abgesucht und endlich das Fahrrad am Wehr gefunden. Da war es Viertel vor acht. Ich bin den Weg weiter zum See. Dann ging ich zum Ufer, was dort steil abfällt. Ich bemerkte im Wasser etwas Dunkles, kletterte den Abhang hinunter und sah, dass es die Hose meiner Tochter war. Ich erkannte die Hose an den hochgekrempelten Hosenbeinen. Dicht daneben fand ich die Pantoletten. In einer Entfernung von einem Meter lag eine Flasche Bier, der Kronenverschluss dicht daneben. Ich nahm die Sachen, die Flasche und den Verschluss mit. Ich bin dann gleich zur Polizei.«

»Wer wusste, dass Susanne hier war?«, fragte Kellermann.

»Meine Eltern, mein Bruder Erwin Schirmer, dessen Ehefrau, mein Anglerfreund Jauernig und dessen Sohn Peter.«

»Kennen Sie den Freund Ihrer Tochter?«

»Sie hat keinen. Sie hatte noch nichts mit Jungen. Sie war ein anständiges Mädchen. Bescheiden. Zurückhaltend.«

»Welche Personen, bekannte oder unbekannte, haben Sie am See oder hier in der Gegend gesehen?«

»Welche Personen?«

»Ja.«

»Vom Boot aus habe ich am Ufer einen Angler gesehen. Größe eins siebzig bis eins fünfundsiebzig. Ich schätze ihn auf fünfzig Jahre. Das war nachmittags. Auf dem See waren sechs Angler. Jauernig mit seinem Sohn, Weinhold und Liebig, Brauner, Matzner, Faber mit Frau. Ach ja, dann, so gegen halb drei, habe ich am Ufer mal kurz einen Mann in Motorradkluft gesehen, aber nur kurz.«

Er rieb sich das Kinn. »Die Boote sind alle registriert. Sie müssen eine Nummer haben. Ach ja, dann waren noch zwei Motorboote auf dem See, ein braunes und ein weißes. Diese Boote fuhren manchmal an der Stelle vorbei, wo ich die Bekleidungsstücke meiner Tochter gefunden habe. Dann sah ich noch ein Ehepaar im Faltboot mit einem Kind. Tja ... ach, als ich zum Bungalow ging, da habe ich ein Motorrad gehört. Auf diesem Weg, der zum Parkplatz führt.«

»Kannte Ihre Tochter hier in der Gegend Menschen?«

»Keinen. Nur den Sohn vom Jauernig, den kennt sie, den Peter.«

»Eine Freundschaft?«

»Ach was. Ich sagte Ihnen doch. Da war noch nichts mit Jungen. Ich hatte schon Mühe, als ich sie mal zum FKK-Strand mitnehmen wollte.«

»Hat einer von den Anglern das Boot verlassen?«

»Ja, der Faber.«

»Wann?«

»So gegen drei.«

»Ist er wiedergekommen?«

»Nein.«

»Seine Frau blieb im Boot?«

»Ja.«

»Kommt das öfter vor?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»In der Scharnhorststraße acht.«

»Haben Sie sonst noch verdächtige Personen bemerkt?«

Schirmer schüttelte den Kopf. »Ehepaare, Spaziergänger.«

In der Uferböschung des Kanals, zehn Meter vor dem Stausee, fand der Schutzpolizist Biskupek einen Baumwollschlüpfer, den Schirmer als den seiner Tochter identifizierte. Am Schlüpfer wurden im Labor des Kriminalistischen Institutes der Hauptstadt zwei graue Baumwollfasern entdeckt. Diese konnten jedoch, wie sich im Rahmen der Ermittlungen herausstellen sollte, in Hosen und Sakkos verarbeitet worden sein, die in fünf Betrieben gefertigt und seit zwei Jahren im Handel angeboten wurden.

Die Jungen

Kellermann hob den Hörer ab. Der Anruf kam von Rita Havenstein, die in Gölzig ermittelte.

»Ich habe zwei Jungen, Fritz. Die haben ab dreizehn Uhr am Abzweig von der Fernverkehrsstraße nach Gölzig gesessen.«

»Bis wann?«

»Bis siebzehn Uhr. Und die können sich an das Mädchen erinnern. Um drei. Du, wenn wir Glück haben, könnten sie den Täter gesehen haben. Entweder, als er zum See fuhr oder lief oder als er ihn verließ.«     .

»Und wenn er nicht durch Gölzig gekommen oder weggefahren ist, Rita?«

»Ich bin gerade dabei, das zu klären, Fritz. Hier ist wenig Verkehr, sehr wenig. Und am Sonnabend saßen hier ein paar alte Leutchen vor dem Haus, die haben jedes Auto gesehen und jeden Fußgänger.«

»Ich komme«, sagte Kellermann. »Wo finde ich dich?«

»Gölziger Allee fünfzehn.«

Kellermann saß mit den beiden Jungen auf einer roten Bank, die vor dem Wohnhaus stand, dicht neben der Tür.

»Vielleicht könntet ihr uns helfen«, sagte Kellermann und musterte die beiden Jungen, den Rotschopf mit den Sommersprossen und den mit den dunklen krausen Haaren.

Der Rotschopf nickte eifrig, und es war offensichtlich, dass er der Aktivere von beiden war.

»Ab wann habt ihr dort gesessen?«, begann Kellermann.

»Na so vor ein Uhr.«

»Was habt ihr gemacht?«

»Wir haben die Autos gezählt.«

»Warum?«

»Eine Wette. Wie viele vorbeikommen.«

»Habt ihr auch ein Mädchen auf einem Fahrrad gesehen?«

»Haben wir. Es stand auf der Neuen Brücke.«

»Wann war das?«

»So um drei.«

»Was hatte das Mädchen an?«

»Einen bunten gestreiften Pulli und Jeans. Die waren hochgekrempelt.«

»Und ihr habt auch die Leute gesehen, die abgebogen sind, um über die Alte Brücke weiter zum See oder zu eurem Dorf zu fahren?«

»Haben wir.« Der Junge nickte eifrig. »Aber es waren ganz wenige. Alle wollten zum See.«

»Waren Autos und Motorräder darunter? Könnt ihr sie beschreiben?«

»Ja ... Da war ein roter Skoda. Der ist weiter zum See.«

»Wann war das?«

»Vielleicht halb zwei. Dann kam ein Mann auf einem Moped. Gleich danach.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Er hatte eine braune Lederjacke an und eine Skimütze auf. Mehr weiß ich nicht. Und eine Angel hatte er auch.«

»Wer kam noch?«

»Ein Motorradfahrer. Der ging irre scharf in die Kurve. Ganz toll.«

»Wann kam der?«

»Zwei war es noch nicht.«

»Ist euch was an ihm aufgefallen?«

»Er hatte einen roten Helm.«

»Was war es für eine Maschine?«

»Eine Jawa.«

»Habt ihr euch das Kennzeichen merken können?« Der Rotschopf nannte die Buchstaben des Bezirkes und eine Zahl. Mehr, meinte er, wisse er nicht. Die eine Zahl aber würde sicher stimmen.

»Das ist sehr gut«, sagte Kellermann.

»Kam er zurück?«

»Ja, ich glaube, so Viertel vor fünf. - Dann war da noch ein Lastkraftwagen.«

»Wohin ist der gefahren?«

»In unser Dorf.«

»Ist er durchgefahren? Oder hat er angehalten?«

»Weiß ich nicht. Ich habe nicht hingeguckt. Vielleicht hat er gehalten, vielleicht auch nicht.«

»Und wann war das?«

»Nach zwei. Ein paar Minuten.«

»Weißt du noch was?« Kellermann wandte sich an den zweiten Jungen.

Der zuckte mit den Schultern.

»Wer kam noch vorbei? Fußgänger? Radfahrer?«

»Radfahrer weiß ich nicht«, sagte der Rotkopf zögernd. »Aber doch, so ein großer Dunkler kam mal vorbei. Auch über die Alte Brücke. Aber wann ...«

»Was trug er?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Und weitere Fahrzeuge?«

»Noch ein Wartburg mit Hänger.«

»Wo fuhr er hin?«

»Zum See.«

»Ist dir am Auto was aufgefallen?«

»Nein.«

»Welche Farbe hatte der Wagen?«

»So ein Weiß. Ja ...«

»Habt ihr euch das Kennzeichen gemerkt?«

Beide Jungen schüttelten die Köpfe.

»Wir mussten doch zählen«, erklärte der Rotschopf. »Das mit dem Motorrad wissen wir nur, weil wir ihm beide nachgeguckt haben.«

Kellermann fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Spaziergänger?«

»Da waren welche. Allerhand Ehepaare. Kinder dabei.«

Der Rotschopf sah den Freund an. »Weißt du noch was?«

»Nee.«

»Warten Sie mal«, begann der Rothaarige wieder.

»Ja?«, fragte Kellermann.

»Klar«, begann nun der Rotschopf. »Zwei große Jungen gingen am Wasser lang. Vor der Brücke blieben sie stehen. Die haben nach dem Mädchen gepfiffen, das auf der Brücke stand.«

»Wann war das?«

»Vielleicht so um drei.«

»Die haben gelacht. Und getrunken haben sie auch. Aus einer Schnapsflasche.«

»Wisst ihr noch, wie sie aussahen?«

»Nee. Wir haben doch die Autos gezählt.«

Der andere stieß ihn an. »Da war noch der Mann auf dem Fahrrad, als gerade der Citroën kam, der rote.«

»Ach ja«, bestätigte der Rotschopf.

»Ist euch an dem Mann was aufgefallen?«

»Er ist nur an uns vorbeigefahren.«

»Welche Farbe hatte sein Rad?«

»Weiß nicht.«

»Welche Haarfarbe hatte er?«

»Braun, glaub ich. Was meinst du?«

Der andere schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.

»War er groß?« begann Kellermann wieder.

»Groß war er schon.«

»So wie ich?«

»So groß nicht. Aber auch groß.«

»Den Mann habt ihr vorher nicht gesehen?«

»Nein.«

»Und wann könnte es gewesen sein?«

»Vielleicht halb fünf. Ein Mädchen und drei Jungen sind auch vorbeigekommen und über die Brücke.«

»Wann?«

»Noch bevor das Mädchen mit dem Pulli über die Brücke fuhr.«

»Wo sind die vier langgegangen?«

»Am Ufer lang und dann in das Wäldchen rein.«

»Und wohin sind die beiden jungen Männer gegangen?«

»Die waren weg, als das Mädchen auch weg war. Ganz plötzlich.«

»Mehr habt ihr nicht gesehen?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

Kellermann klopfte ihnen auf die Schulter. »Ihr seid schon gut. Und vielleicht fällt euch noch was ein.«

Die Jungen nickten.

Der Rotschopf zog einen Kaugummi aus der Hosentasche, den er bereits ausgewickelt und schon gekaut aufbewahrt haben musste, und schob ihn in den Mund.

Er kaute genussvoll.

»Auch einen?«, fragte er Kellermann.

»Danke«, sagte Kellermann, und er dachte schon weiter, an die Freundin der Susanne Schirmer.

Das Bild einer Toten

Kellermann hörte seine Schritte auf dem Trottoir.

Sein Mund war trocken, und seine Zunge fühlte sich wie zähes Leder an.

Den Wind im Rücken, ging er weiter auf dem Bürgersteig.

Kellermann hatte Appetit auf einen Korn.

Wie ein graues Zelt sah er den Himmel über sich.

Langsam, wie man ein Puzzle zusammenfügt, entstand das Bild des Mädchens. Es gab allerdings Widersprüchliches in den Aussagen über sie. Was hatte der Vater gesagt? Sie sei zurückhaltend, bescheiden und gehe noch nicht mit Jungen, ein »anständiges« Mädchen. Ihr Klassenlehrer schätzte sie gleichfalls als zurückhaltend ein, sie sei ruhig, warte immer auf Anstöße, suche nicht selbst das Gespräch, warte ab.

Und was sagte die Freundin?

Die Jungen gucken ihr nach. Klar. Aber sie spielt nur mit ihnen. Ehrlich. Reizen, ja. Ihr Vater denkt, sie ist eine Heilige. Ein altmodischer Knacker. Was sie an dem hat? Der denkt tatsächlich, sie hat keine Freunde. Bei dem sind Jugendliche alle schlecht, durch die Bank weg. Na und mit ihrer Mutter. Da hör'n Sie bloß auf. Der Freund will immer ins Bad, wenn Susanne sich wäscht. Geiler Bock. Hat doch die Mutter, der Clown.

Freunde?

Ja, hatte sie immer. Zuletzt einen mit 'ner roten Jawa.

Den Namen?

Weiß ich nicht. Wegen dem hat sie dem letzten endlich den Laufpass gegeben.

Wer das ist?

Panzer oder so heißt er. Auch so'n verklemmter. Wird noch rot, wenn man ihn nur anglotzt. Mit dem konnte sie alles machen. Kein Mann. Ehrlich!

Adresse?

Weiß ich nicht. Ein beknackter Kerl. Muss doch merken, wenn er abgegessen hat. Is' eben scharf auf sie. Ich kann ihn beschreiben.

Wie sie so war? Nabelte sich manchmal ab. Aber sonst dufte.

Ob sie auf ältere Männer steht? Nein, sie macht höchstens mal einen scharf. Nur so, zum Spaß. Da war mal einer, der wollte sie abholen von der Schule. Aber sie ist nicht eingestiegen. Den hat sie vielleicht abfahren lassen. So'n alter Knacker wie ihr Vater.