Der Haifischmann - Gunter Gerlach - E-Book
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Der Haifischmann E-Book

Gunter Gerlach

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Beschreibung

„Gunter Gerlach versteht auf intelligente Art zu unterhalten.“: Frankfurter Rundschau über „Der Haifischmann“ – jetzt als eBook bei dotbooks. Luca ist ein Feigling. Er trägt einen Panzer. Und er hat Angst. Angst vor der Nacht, die ihn seit sieben Jahren umgibt. Seit dem Tag, als er verlassen wurde – von einer Frau, die ihn berühren konnte, ohne dass er zurückzuckte. Da begegnet er Lisa. Er legt den Panzer ab. Die Nacht weicht. Doch Lisa erscheint merkwürdig ruhelos, als wäre sie auf der Flucht. Welches Geheimnis umgibt sie? Kann man einen anderen Menschen jemals wirklich kennen? Ein grandioses Buch über die Unmöglichkeit der Liebe, über große Angst und noch größere Sehnsucht! Die Presse über Gunter Gerlach: „Die Ungeheuerlichkeiten, die sich Seite um Seite enthüllen, sind von einer so abgründigen Komik und Tragik, wie man sie in der deutschsprachigen Literatur nur selten findet.“ Süddeutsche Zeitung „Was und wie dieser Autor schreibt, das ist selten in der deutschsprachigen Literatur.“ – Hamburger Abendblatt „Gunter Gerlach ist ein Autor, der auf intelligente Art zu unterhalten versteht.“ – Frankfurter Rundschau Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Der Haifischmann“ von Gunter Gerlach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 215

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Über dieses Buch:

Luca ist ein Feigling. Er trägt einen Panzer. Und er hat Angst. Angst vor der Nacht, die ihn seit sieben Jahren umgibt. Seit dem Tag, als er verlassen wurde – von einer Frau, die ihn berühren konnte, ohne dass er zurückzuckte. Da begegnet er Lisa. Er legt den Panzer ab. Die Nacht weicht. Doch Lisa erscheint merkwürdig ruhelos, als wäre sie auf der Flucht. Welches Geheimnis umgibt sie? Kann man einen anderen Menschen jemals wirklich kennen?

Über den Autor:

Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren,  lebt in Hamburg.

Bei dotbooks erscheinen ebenfalls Gunter Gerlachs Romane Herzensach, Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen und Ich bin der andere sowie die Literaturquickies Gold im Gebirge und Vorlieben.

***

Neuausgabe August 2015

Copyright © 2003 by Rotbuch I Sabine Groenewold Verlage, Hamburg

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: © Anni K. (Freygeist)/photocase.com

ISBN 978-3-95824-213-5

***

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Gunter Gerlach

Der Haifischmann

Roman

dotbooks.

Alles, was sie tut, ist, ihre Ohren freizulegen

Es ist so weit. Ich mache Schluss.

»Ich mache Schluss«, sage ich. Ich sitze auf der Couch und sehe ihr in die Augen. Das ist nicht einfach. Sie nickt und lächelt. Es ist das übliche in die Lippen eingewickelte Lächeln. Es kommt immer, egal, was ich sage.

Ich hatte dieses Gespräch schon heute Morgen im Bett geübt, alle Argumente gesammelt, Fragen gestellt und mögliche Antworten geprüft. Ich bin vorbereitet. Was immer sie sagen wird, ich bin vorbereitet.

Sie sagt nichts. Sie wirft ihren Kopf zurück. Die blonden, sorgfältig gelockten Haare wippen. Ihr Gesicht bleibt weiß und glatt. Ich schweige, warte und hoffe, dass sich doch noch diese feinen Falten auf ihrer Stirn zeigen. Es kann ihr doch nicht gleichgültig sein, dass ich gehe.

Sie hat wieder dieses graue Wasserkleid an, das bei jeder Bewegung an ihr herabfließt, unten schauen die nackten Beine einer ertrinkenden Frau heraus, mit den weißen Wollsocken. Ich müsste sie retten, ihr die Socken ausziehen. Draußen ist fast Sommer. Sie trägt immer Socken statt Hausschuhe.

»Ja«, sage ich, weil mir die Zeit zu lang wird. Ich hasse diesen Trick von ihr, nichts zu sagen, bis mir die Zeit zu lang wird. »Ich denke, es ist genug.«

Sie nickt und lächelt. Ich müsste jetzt einfach aufstehen, ihr die Socken ausziehen und hinausgehen. Die Socken nehme ich mit als Souvenir. Ich bleibe sitzen, folge der Welle, die der Stoff gerade über ihren Schoß fließen lässt. Ich habe noch nie eine Beziehung abgebrochen. Ich will entlassen, entlastet, verabschiedet werden. Mit Worten. Verständnisvollen, beleidigten, wütenden Worten meinetwegen. Ganz egal.

Sie sagt nichts, beobachtet mich, dreht ihren Körper etwas. Sie macht das, denke ich, mit Absicht, damit die Wellen entstehen. Ich schaue einfach zu Boden, sehe gerade noch die Spitzen ihrer dicken Socken. Ich warte. Dann blicke ich kurz wieder hoch. Sie hat die Haare hinter die Ohren gelegt. Sie weiß, dass ich ihre Ohren besonders gern mag. Es liegt vielleicht daran, dass ich so viele Probleme mit meinen eigenen Ohren habe. Sie wachsen noch, obwohl ich schon fast dreißig bin.

Ich konzentriere mich schnell wieder auf eine Ritze zwischen den Fußbodenbrettern. Ich vergleiche die Zwischenräume. Manche sind etwa drei Millimeter breit, andere nur einen Millimeter.

Sie schweigt weiter, vielleicht hat sie jede Bewegung eingestellt.

An der Decke ihres Zimmers gibt es auch solche Dinge, mit denen ich mich ablenken könnte. Eine Stuckkante. Aber heute kann ich den Kopf nicht nach oben verdrehen. Wenn ich das jetzt mache, würde sie ja denken, ich sei verrückt. Das denkt sie vielleicht sowieso.

»Ich meine«, sage ich, weil ich das Schweigen nicht mehr ertrage und weil ich wieder aufblicken will. »Ich meine, ich komme nicht mehr.«

Sie nickt und lächelt. Ihre Haare fallen zurück ins Gesicht.

Ich begreife das nicht. Sie muss doch kämpfen. Aber alles, was sie tut, ist, ihre Ohren wieder freizulegen. Ein bisschen mehr habe ich schon erwartet.

»Ja«, sagt sie.

Ich warte. Aber es kommt nicht mehr.

Ich überlege, ob ich ihr sage, dass es nicht ist, weil sie nicht gut ist. Sie ist gut. Ich bin jede Woche einmal zu ihr gegangen. Seit Monaten. Ich habe das gemacht, weil ich Schwierigkeiten mit Frauen habe. Ich hatte mal eine Freundin. Julia. Vor sieben Jahren. Seitdem keine mehr.

Außerdem bin ich jede Woche zu ihr gegangen, weil ich Probleme habe, jemanden anzufassen. Nicht nur Frauen.

Sie hat mich verstanden. Im Grunde wäre sie eine gute Freundin für mich. Aber ihr Beruf steht dagegen. Und sie hat einen festen Freund.

Sie nickt und lächelt. Es ist wie eine Aufforderung zu reden.

Ich sage: »Ich denke, es ist genug.« Es klingt so hart, so endgültig. Ich schwäche es ab. »Erst mal«, sage ich.

»Ja.« Endlich bilden sich die kleinen Falten auf der Stirn. »Sie glauben, Sie sollten es beenden.«

Ich habe ihr so viele intime Dinge über mich erzählt, dass wir längst Du hätten sagen müssen. Aber sie wollte das Sie, wenigstens während unseres Gesprächs. Es ist gut, wenn man professionell miteinander verkehrt.

Mehrmals habe ich versucht, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Indirekt.

»Ich bin mir natürlich nicht sicher«, sage ich.

»Was befürchten Sie?«

»Ich meine, ich bin kein anderer Mensch geworden. Das konnte ich auch nicht erwarten. Ich glaube auch, alle meine Befürchtungen und Ängste sind noch vorhanden. Meine Berührungsängste.««

»Sie spüren keine Veränderung.«

»Doch. Es hilft mir einfach, dass ich mir jetzt der Dinge bewusst bin – also meiner Schwierigkeiten. Ich kann mit jedem darüber reden.«

»Es macht Ihnen nichts.«

»Ja, ich rede sogar mit Frauen darüber.«

»Sie fühlen sich dabei akzeptiert.«

»Ich meine, sie hören mir zu, aber ich gewinne sie nicht für mich. Kann es sein, dass ich der Haifischmann bin, ohne es zu wissen?«

»Dieser Kerl, der nachts herumläuft und Frauen überfällt?«

»Ja, Vielleicht bin ich es, weil mich keine liebt.«

»Sie meinen, Sie sind nicht in der Lage, eine normale Beziehung einzugehen?« Sie lehnt sich zurück. Die Beine strecken sich, die Socken reiben aneinander.

»Katharina, bitte heirate mich.«

»Fall nicht aus der Rolle. Ich bin deine Therapeutin.«

»Du bist keine Therapeutin.«

»Noch zwei Monate und ich bin es.«

»Aber noch hast du dein Diplom nicht.« Ich stehe von der Couch auf.

»Warte«, sagt sie, »du willst wirklich gehen?« Sie kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor.

»Ja.«

»Du warst ein wunderbarer Patient.«

»Dann ...«

Sie kommt zu mir. Sie fasst mich an die Schulter. »Du weißt, das geht nicht.«

»Bitte.«

»Luca, du kannst deine Probleme nicht an deiner Therapeutin kurieren.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.

»Warum nicht? Ich liebe dich.« Ich würde sie gern umarmen, aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht. Ich kann es nicht. Blöde Therapie. Sie hat kein Stück geholfen.

»Du liebst einfach jede Frau, der du begegnest.«

»Ich komme wirklich nicht mehr.«

»Das macht nichts.«

»Du kannst es auf der Stelle ändern.«

Sie schüttelt unwillig den Kopf. »Ich danke dir, dass du mitgemacht hast.«

»Das ist alles?«

»Wir hätten die Sitzungen sowieso beenden müssen, das weißt du. In zwei Wochen bin ich weg.«

Sie bringt mich zur Tür.

»Die Socken«, sage ich. »Deine Socken, kann ich die zur Erinnerung haben?«

Sie lacht, schiebt mich durch die Tür. Sie verabschiedet mich. Ihre Finger sind spitz, sie will mich nicht noch einmal anfassen. Männer, die Socken von Frauen sammeln, fasst man nicht an.

Ich gehe langsam die Treppen hinunter. Katharina steht am Geländer, ruft mir nach. Ich soll Benk grüßen. Durch Benk habe ich sie kennen gelernt. Jede Woche bin ich zu ihr gegangen. Jede Woche mittwochs eine Stunde. Und jetzt verlässt sie die Stadt. Kein einziges Mal ist sie mehr für mich gewesen als eine Therapeutin. Meine Therapeutin. Und ich habe nicht einmal ihre Socken bekommen. Zwei Sitzungen wären noch übrig gewesen. Noch könnte sie mich zurückrufen. Sie winkt mir. Mach's gut. Ihre Socken gucken zwischen zwei Geländerpfosten hindurch und durch ihr Gähnen. Das macht sie mit Absicht. Ich sehe noch einmal nach oben, hebe die Hand, dann nehme ich immer zwei Stufen auf einmal. Jetzt verlasse ich sie. Das hat sie davon. Das hat sie aus mir gemacht. Einen, der Schluss macht und neu anfängt. Mit den alten Ängsten.

Und ganz neuen.

Die Socken, wenn ich die hätte, das wäre wunderbar. Damit könnte ich zwei verschiedene Menschen sein.

Das würde mir helfen.

Sagen wir mal, ich bin ein Außerirdischer

Seit Tagen läuft nachts ein Mann in einem Haifischkostüm durch die Stadt und jagt Frauen. Die Zeitungen sind voll davon. Ein Räuber, ein Mörder soll er sein. Fast jeder Überfall wird mit ihm in Verbindung gebracht.

Ich habe mehrere Hai-Schlüsselanhänger, einen Hai-Korkenzieher, linksrum, einen Hai als Kugelschreiber. Am Kühlschrank klebt ein Hai-Kopf als Magnet. Im Wohnzimmer liegt ein Hai-Feuerzeug, leer. Im Regal steht ein Hai als Blechspielzeug. Ich öffne sein Maul, ziehe eine Reihe kleiner Fische heraus. Ich lasse los, und er verschlingt sie wieder. Dann ein Buch mit Hai-Comics und zwei Haie als Keramikfiguren. Ich besitze zwei Tüten Weingummi »Kleine Haie«, drei Postkarten mit Hai-Motiven, einen Hai-Bleistiftanspitzer. Im Bad hängt eine Hai-Tauchermaske zur Dekoration. Sie ist mir zu klein. Ich sammle, was Hai ist, in einem Schuhkarton. Ich muss das für eine Weile loswerden.

Ich nehme also die Schlüssel für den Dachboden vom Haken. Ich wohne seit sieben Jahren in dem alten Mietshaus. Seit Julia. Doch mancher Mieter grüßt mich nicht, weiß immer noch nicht, dass ich sein Nachbar bin, hält mich vielleicht für den Haifischmann. Darum lausche ich an der Wohnungstür, ob jemand im Treppenhaus ist. Alles frei.

Ich gehe leise mit meinem Karton die Treppe hinauf. Eine Stufe knackt laut. Ich bleibe stehen. Nichts geschieht. Ich stecke den Schlüssel in die eiserne Tür, versuche geräuschlos zu öffnen. Mit dem Fuß schiebe ich den Holzkeil unter die Tür. Der Dachboden ist durch Maschendraht unterteilt. Jeder Mieter hat seinen Käfig, mit einer Tür aus Draht und einem Vorhängeschloss. Ich beuge mich in den halbdunklen Raum, halte den Atem an und lausche. Höre nur meinen Herzschlag. Ich schrumpfe. Hier oben bin ich wieder acht Jahre alt:

– Luca, geh mal auf den Boden. – Luca, hol den Karton vom Dachboden. – Luca, bring bitte den Koffer auf den Dachboden.

Und immer sind da Gestalten. Männer, die sich dicht an die Wand drängen, die an Haken hängen, erhängt, oder lauernd hinter einem Karton hocken. Manchmal nur Schatten. Meist war es einer meiner älteren Brüder. Vorausgeschlichen, um mich zu erschrecken. Spaß macht Angst. Umgekehrt nie.

Ab dreißig sollten die Kinderängste Puppenkleider tragen.

Der Dachboden hat eine einzige Glühbirne. Am Eingang. Sie brennt nur so lange wie die Treppenhausbeleuchtung: zweieinhalb Minuten. Das reicht selten. Mein Dachbodenkäfig liegt ganz am Ende, um die Ecke. Aber dafür habe ich eine der beiden Dachluken. Tageslicht. Und diesmal werde ich es in zweieinhalb Minuten schaffen: nicht nach rechts oder links gucken, das Vorhängeschloss öffnen, meine Haifischsammlung in den alten Kleiderschrank stellen, wieder abschließen und zurück. Zweieinhalb Minuten. Das schaffe ich.

Ich gehe in Startposition. Ich drücke den Lichtknopf. Die Glühlampe brennt dunkler als sonst. Jemand atmet hinter mir. Ich spüre es am Hals. Es ist nur der Luftzug vom Treppenhaus. Los geht's. Die Holzbohlen röcheln. Mit festen Schritten vorbei an allen anderen Käfigen, um die Ecke rum. Ich erstarre. Jemand sitzt im Schneidersitz in meinem Dachbodenabteil.

Eine Täuschung.

Ich gehe einen halben Schritt rückwärts, stoße mit dem Rücken gegen eine Dachstrebe.

Es ist ein Mann. Er sieht mich an. Das darf nicht sein. Da darf niemand sein. Es sieht nur so aus. Eine optische Täuschung.

Das Licht fällt von der offenen Dachluke von hinten auf etwas, das aussieht wie ein kahl geschorener Schädel. Er bewegt sich. Er hebt den Kopf. Das kann nicht sein. Er sieht mich an. Er kann nicht wirklich da sein. Nur ein Sack. Der Sack mit den alten Kleidern. Ein Kleiderbündel.

Er bewegt sich.

Er lebt.

Ich kann mich nicht bewegen.

Benk sagt immer, mein Leben würde ohne große Höhepunkte verlaufen, unauffällig, ohne Überraschungen. Und Benk weiß alles. Und jetzt das. Und das mir. Und gerade jetzt. Ich trage meinen Panzer nicht, meinen Schutz. Den berühmten Buda-Panzer, der Unheil fern hält. Ich starre den Mann an und kann mich nicht bewegen. Mein Freund Benk sagt, ich würde ein Leben wie Millionen anderer Menschen führen. Ohne große Gefahren, Aufregungen, Veränderungen. Und jetzt das.

Wie geht das: weglaufen?

Ich spüre, wie sich der Karton mit meiner Haifischsammlung unter meinem Arm zusammenpresst. Ich kann ihn im Gegenlicht der Dachluke nicht richtig erkennen. Sein Schädel saugt alles Licht auf. Er muss über das Dach hereingekommen sein. Wahrscheinlich liegt in seinem Schoß eine Axt. Er wird mich zerstückeln. Davor hatte ich schon mein ganzes Leben lang Angst. Jetzt ist es so weit. Ich muss mich zerstückeln lassen. Alle anderen Reaktionen von mir wären Demonstrationen meiner Angst. Also zerstückeln lassen.

Benk weiß eben doch nicht alles.

Der Mann erhebt sich langsam. Kein Haifischkostüm. Ein Handtuch über den Schultern. Dunkelrot. Wenn der eine Axt darunter hat, ist der Käfigdraht mit einem Schlag durch. Ein Schlag, der mir gleichzeitig in die Schulter fährt oder den Arm abhackt. Irgendwo muss er ja anfangen mit dem Zerstückeln. Und ich stehe da ohne meinen Panzer. Es musste ja so kommen. »Luca Buda tot. Der berühmte Buda-Panzer rettete seinen Erfinder nicht.«

Das Licht geht aus. Zweieinhalb Minuten sind rum. Der Kerl erhebt sich, wächst. Übergröße. Ein Riese. Er nimmt den Kopf zurück. Das Tageslicht fällt zur Hälfte auf sein Gesicht. Einer meiner Brüder ist es nicht. Das wusste ich schon. Die sind weit weg.

Der Mann lächelt. Er sieht aus wie der Dalai Lama. Nur jünger und länger. Wenig Haar. Vielleicht so alt wie ich. Dreißig. Das Tibetanische kommt von dem Faltenwurf des roten Handtuchs über seiner Schulter.

So sehen also Mörder aus.

»Würdest du mir bitte aufschließen.« Er spricht Deutsch. Nein, bloß nicht rauslassen aus dem Drahtkäfig. Wie ist er da reingekommen?

»Wie sind Sie da reingekommen?«

»Von oben.« Er dreht sich in der Hüfte. »Durch die Luke.«

Na klar, von oben. Übers Dach. »Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin.«

Er lächelt. »Sie war offen.« Er hebt die Hände. »Es tut mir Leid, dass ich bei dir gelandet bin.«

»Oh«, sage ich, »ich lasse die Luke immer offen. Es kommen heutzutage sehr viele Menschen übers Dach.«

Er tritt einen Schritt zurück. Ein müder Bär. Licht fällt über sein Gesicht. »Ich bin leider kein richtiger Mensch.«

»Ach, nehmen Sie es nicht tragisch.«

Er bückt sich, nimmt einen Gitarrenkoffer auf. Der war vorher doch nicht da? Und ist er nicht viel zu groß, um durch die Dachluke zu passen? Da drin könnte das Haifischkostüm sein.

»Sagen wir mal, ich bin ein Außerirdischer.«

Eine schöne Lüge. »Na, klar. Und da in Ihrem Koffer ist Ihr Raumschiff.«

»Nein, meine Gitarre. Genau genommen ist es ein Bass.«

»Und ich soll Sie da rauslassen. Ist es nicht besser, Sie bleiben eingesperrt?«

»Ich bin vollkommen harmlos.«

»Das sagen alle.«

Er nickt. Dann setzt er sich wieder auf den Boden. Wenn in dem Gitarrenkoffer wirklich eine Gitarre ist, kann er nicht so böse sein. Ich weiß nicht, was ich tun soll. »Wenn ich gehe, was machen Sie dann?«

»Ich warte.«

»Worauf?«

»Auf deine Entscheidung.«

Er ist mein erster Außerirdischer. Ich finde, er ist nett, menschlich. Was soll ich machen?

Benk wüsste, was zu tun ist. Er weiß, wie alle Dinge ausgehen. Manchmal weiß ich das auch. Aber wer weiß, ob sich Außerirdische nach meinen Prognosen richten. Oder Haifischmänner. Das weiß niemand.

Er schwankt mit dem Oberkörper hin und her. »Ich nenne dir einen vernünftigen Grund.«

»Wofür?«

»Mich rauszulassen.«

»Okay.«

»Ich bin gekommen, um gegen die Inflation des Lachens zu kämpfen.«

Das überzeugt mich.

Ich öffne das Schloss.

Katharina, was sagst du dazu? Deine Therapie hat geholfen. Meine Angst ist weg. Fast.

Ich stelle mich hinter die Tür. Wenigstens das Drahtgitter ist zwischen uns. Er verbeugt sich, geht an mir vorbei. Im gleichen Moment denke ich, dass es auch das Argument des Haifischmanns sein kann. Nachts als Haifisch durch die Stadt zu laufen, ist nicht zum Lachen. Vielleicht doch. Es kommt auf die Art des Kostüms an.

»Und wie geht das?«, frage ich.

Er hält inne, dreht seinen Kopf. »Ich gehe mit gutem Beispiel voran.« Kein Lächeln folgt. Er geht. Ich höre seine Schritte auf der Treppe. Schnell stelle ich meinen Karton mit der Haifischsammlung in den alten Kleiderschrank. Da sind noch Julias Hinterlassenschaften drin. Der blaue Sack mit den Kleidern ihrer Theatergruppe. Ich sollte ihn wegwerfen. Sie wollte nicht mehr spielen. Nie mehr. Ich fürchte, sie würde mich auslachen, wenn sie wüsste, dass ich ihn noch habe. Ich schiebe eine Kiste an das Dachfenster, ziehe mich hoch. Kein Raumschiff. Wo ist er nur hergekommen? Vielleicht kommen noch mehr, oder sie kommen, um ihn abzuholen? Ich lasse die Dachluke einen Spalt offen, aber verschließe den Dachboden.

Ich könnte die Polizei rufen. Wenn ich nicht so viel Angst vor der Polizei hätte, könnte ich die Polizei rufen. Hören Sie, ein Außerirdischer! Wie das klingt. »Hören Sie, ein Außerirdischer«, probiere ich laut. Es klingt angenehm, als wäre es ein Verwandter, ein Freund. Jemand, der zu mir ins Bett kommt und ganz selbstverständlich mein Geschlecht in seine Hände nimmt.

Er wartet unten vor meiner Wohnungstür. Ich bleibe drei Stufen über ihm stehen. Er hat den Hemdsärmel zurückgeschoben, streckt mir seinen linken Arm mit der Unterseite nach oben entgegen. »Fühle meinen Puls.«

Jetzt auch noch das. Er ist schwul.

»Nein.« Ich kann das nicht. Ich kann einen Fremden nicht berühren. »Nein.« Das will ich nicht. Das Leben in seinem Arm, etwas Intimes, Pulsierendes zwischen meinen Fingern halten. Dann juckt es mich am ganzen Körper.

»Nein.« Es würde ihm das Recht geben, mich ebenfalls zu berühren. Schlag auf Schlag. Was wird er sich aussuchen? Vielleicht meinen Hals mit beiden Händen umklammern. Vielleicht weil ich in meinem Leben zu viel gelacht habe. So wird es sein. Er ist gekommen, meinem langweiligen Leben einen letzten Funken zu geben. Was wird Benk dazu sagen?

»Du willst doch einen Beweis?«

»Wofür?« Wofür will ich einen Beweis? Ich weiß es nicht.

»Für alles.«

Natürlich will ich für alles immer einen Beweis. Aber soll ich mich der Gefahr aussetzen, ihn zu berühren? Das wäre meine Mutprobe und kein Beweis seiner Harmlosigkeit.

»Ich beweise dir, dass ich kein Mensch bin.«

Seine Haut wird kalt sein. Sie wird Fisch sein. Haifisch.

»Nicht nötig.«

Er tritt einen Schritt vor. Ich sehe die Bewegung seines Pulses durch die Haut am Arm. Es ist sein Herzschlag. Damit will er mir die Knie weich machen. Macht er auch.

»Siehst du es?«

Ich sehe, wie es zuckt. Ich nicke.

»Und jetzt pass auf.«

Sein Puls wird schwächer, verschwindet.

»Wenn du willst, fühl es. Ich habe meinen Herzschlag eingestellt.« Seine Stimme wird rau. Er will ein Glas Wasser.

»Schon gut.« Ich öffne ihm die Wohnungstür.

Ein Außerirdischer also. Ha. Er kommt mir bekannt vor. Ich hab ihn schon mal gesehen. Auf der Straße oder im Supermarkt.

Ich führe meinen Alien in die Küche. Er trinkt Wasser direkt aus der Leitung. Er erklärt, auf der Suche nach einer Wohnung, einem Zimmer zu sein. Aber nicht bei mir. Ich habe nur zwei Zimmer. Bei mir nicht. Wer weiß, ob er sich nicht nachts verwandelt. Der Haifischmann ist ja tagsüber auch ein ganz normaler Mensch.

»Und du bist wirklich ein Außerirdischer?«

Er brummt, wischt sich die Wassertropfen vom Kinn.

»Du kannst mich Wuh nennen.«

»Wie?«

Er beugt sich zum Wasserhahn herab und trinkt wieder.

»Wuh ist die Abkürzung von Wesen unbekannter Herkunft.«

»Klar, wie konnte ich das vergessen.«

»Ich weiß zwar genau, woher ich komme, aber da ich nicht wissen will, wohin ich gehe, ist es besser, ich vergesse, woher ich gekommen bin. Ein Wuh eben.«

»Klar.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Er lacht. Darf er das?

Er öffnet meinen Kühlschrank. Er schneidet sich ein Stück Käse ab. Es scheint ihm zu schmecken. Er isst mein letztes Fruchtjoghurt. Dann ist er satt. Er bedankt sich. Er sagt, er sei wegen einer Frau über das Dach gekommen beziehungsweise geflohen.

»Frauen«, sage ich und: »Beziehungsweise, aha.«

Er nickt. Wir sind fast Freunde. Aber ein Außerirdischer ist das nicht.

»Wovon lebt ein Wuh?«, frage ich.

Du siehst gut aus, Luca. Gute Nacht, Luca

Ich stehe am Tresen und versuche vergeblich, ein Gespräch mit Julia anzufangen. Das versuche ich immer. Es geht nicht. Es geht nie. Sie hat zu viel zu tun. Sie hat immer zu viel zu tun.

Die Kneipe füllt sich mit fremden Stimmen, Rufen, die man nur versteht, wenn man hinter der Theke steht. Um diese Zeit kommen die Leute aus den Firmen. Sie haben Feierabend und brauchen schnell eine bestimmte Menge Alkohol im Blut. Sie haben den ganzen Tag auf diesen Moment gewartet. Sie haben den Tag nur hinter sich gebracht, weil es diesen Moment gibt. Sie schaffen es sonst nicht nach Hause. Sie kriegen sonst die Nacht nicht hin und den nächsten Tag auch nicht. Sie kriechen in das Bier wie in eine Höhle.

Julia zapft zehn Bier auf einmal. Sie behält jede Bestellung, die ihr zugerufen wird, im kurzhaarigen Kopf. So kurz war ihr schwarzes Haar damals noch nicht. Vor sieben Jahren. Sie serviert auch Soleier und Buletten. Vielleicht ist ihr Haar so kurz, weil es später noch Suppen gibt. Und Brote, belegte Brote gibt es auch. Aber nicht jetzt. Jetzt brauchen die Leute nur Alkohol.

Julia betreibt die Kneipe mit drei anderen Frauen zusammen. Sie leben zusammen in einer Wohnung. Julia will es nur so lange machen, bis sie genug Geld zusammen hat. Sie muss nach Sibirien, sagt sie. Unbedingt. Denn da war sie noch nie, in Sibirien. Die meisten Menschen waren noch nie in Sibirien, sage ich. Wenn Julia Dienst hat, sitze ich hier und versuche vergeblich, ein Gespräch mit ihr anzufangen.

Es geht nicht. Es geht nie. Wenn ich komme, sagt sie: »Du siehst gut aus, Luca.« Und später sagt sie dann: »Gute Nacht, Luca.«

Dazwischen hat sie keine Zeit.

Wuh steht an den hinteren Tischen und lässt ein paar Leute seinen Puls fühlen. Er bekommt so viel Bier und Buletten dafür, wie er will. Die Buletten sind gut. Julia macht sie. Im Grunde ist das Rezept dafür in meiner Küche entstanden. Damals.

Julia und ich. Damals.

Endlich kommt Benk. Er ist groß und schlank. Er streicht sich die welligen Haare zurück. Wenn er irgendwo hereinkommt, sehen viele Frauen sofort auf. Sie bewegen die Nasen. Sie richten ihre Frisur. Sie zeigen ihre Haut, als hätten sie kein Gedärm.

»Wo ist er?«, sagt Benk. Viele Frauen bemerken meine Anwesenheit jetzt zum ersten Mal. Weil Benk neben mir steht. Manche denken, ich könnte ein Art Mittler sein. Ich weiß das. Und Benk weiß es auch. Er amüsiert sich darüber. Ich mag das nicht, wenn Frauen mit mir reden, weil sie mit Benk reden wollen.

»Da hinten«, sage ich, »der mit dem roten Handtuch über der Schulter. Das ist Wuh.«

»Was macht er?«

»Er lässt sich testen.«

Benk bleibt neben mir am Tresen, er setzt sich nicht. Er beobachtet Wuh. Nach einer Weile dreht er sich wieder zu mir. Julia stellt ihm ein Bier hin. Ich versuche, über den Tresen hinweg an ihr herabzusehen. Sie trägt kurze Hosen und dicke graue Socken. Aber ihre Füße stecken in derben Wanderschuhen. Einen Moment lang überlege ich, sie um ihre Socken zu bitten. Aber dann frage ich sie lieber doch nicht. Benk trinkt das Bier in einem Zug aus. Es tropft vom Glas auf den Boden.

»Du hast Recht«, sagt Benk. Er nickt mit dem Kopf in Wuhs Richtung. »Ich weiß nichts über ihn. Ich habe keine Vision. Er ist anders.«

»Habe ich dir doch gesagt.«

»Ja, hast du.«

»Versuch es mal mit dem dort am Fenster, der mit der Zeitung.«

»Warum?«

»Vielleicht hast du ja deine Fähigkeiten verloren.«

Benk lacht. »Gut. Also der am Fenster, der wohnt nicht hier in der Stadt. Er hat eine Firma besucht. Geschäfte. Er lebt auf dem Land, hat zwei Kinder und ...«

»Schon gut. Noch ein Bier?«

»Ich kann nicht bleiben. Muss noch arbeiten.«

Benk hat eine Kolumne bei einer Zeitung und im Internet. Er beschreibt die Zukunft von Politikern und Prominenten. Er sagt, er kann das nur, weil er viel Bier trinkt. Bier macht klug.

Wuh kommt, ich stelle die beiden vor.

»Kommst du morgen zu meinem Konzert?«, fragt Wuh.

Benk nickt. »Ich fahre mit Luca.«

Eine rothaarige Frau lässt sich von ihrem Barhocker herab und geht auf Benk zu. Ich kenne sie, sie sitzt meist schon nachmittags hier. Sie trinkt nur Magenbitter und Wasser. Immer abwechselnd. Sie streckt Benk die Handflächen entgegen. »Emil, sag mir meine Zukunft.«

»Du hast keine.«

»Los, im Ernst.«

»Das war Ernst.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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