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Eine merkwürdige Begegnung. Ein düsteres Idyll. Ein schreckliches Geheimnis. Jakob wird am Steuer von Sekundenschlaf übermannt – und schon landet er am nächsten Baum. Rettung ist sofort zur Stelle: Die schöne Katharina, die sich als Bewohnerin des nahegelegenen Dorfs Herzensach vorstellt, führt ihn in ihre idyllische Heimat. Doch schon nach kurzer Zeit macht sich bei Jakob ein hintergründiger Horror bemerkbar. Warum ist Herzensach auf keiner Karte zu finden? Warum gibt es keine Hinweisschilder auf diesen Ort? Jakob wird bewusst, dass er in Lebensgefahr schwebt. Denn er droht, das lang gehütete Geheimnis der Dorfbewohner zu lüften … "Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, ausgeklügelt, oft bissige Dialoge und ein tückisches Ende." NDR Jetzt als eBook: „Herzensach“ von Gunter Gerlach. dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 631
Über dieses Buch:
Jakob wird am Steuer von Sekundenschlaf übermannt – und schon landet er am nächsten Baum. Rettung ist sofort zur Stelle: Die schöne Katharina, die sich als Bewohnerin des nahegelegenen Dorfs Herzensach vorstellt, führt ihn in ihre idyllische Heimat. Doch schon nach kurzer Zeit macht sich bei Jakob ein hintergründiger Horror bemerkbar. Warum ist Herzensach auf keiner Karte zu finden? Warum gibt es keine Hinweisschilder auf diesen Ort? Jakob wird bewusst, dass er in Lebensgefahr schwebt. Denn er droht, das lang gehütete Geheimnis der Dorfbewohner zu lüften …
"Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, ausgeklügelt, oft bissige Dialoge und ein tückisches Ende." NDR
Über den Autor:
Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg.
Bei dotbooks erscheinen ebenfalls Gunter Gerlachs Roman „Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen“ sowie die Literaturquickies „Gold im Gebirge“ und „Vorlieben“.
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Neuausgabe Juli 2013
Copyright © der Originalausgabe 1998 Haffmans Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: © mk35martin/photocase.com und micjan/photocase.com
ISBN 978-3-95520-291-0
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Gunter Gerlach
Herzensach
Roman
dotbooks.
Herzensach ist ein idyllisches Dorf (in den Ausläufern des Harzes?), es gehört zum Kreis Weinstein und hat rund neunzig Einwohner, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, jedes Schild zu entfernen und jeden anderen Hinweis auf ihren Ort aus der Landschaft zu tilgen (doch in der Schwäbischen Alb?).
Ein Unfall bringt Jakob Finn (28) nach Herzensach. Durch einen früheren Unfall ist er Erbe eines beträchtlichen Vermögens. Auszahlung bei Heirat. Der gleiche Unfall hat aber bisher jede Eheschließung verhindert. Die Planung eines weiteren »Unfalls« könnte sein gesamtes weiteres Leben verhindern.
Dr. Bernhard Andree (44) hat die wissenschaftliche Laufbahn aufgegeben und die Stelle des Landarztes übernommen. Im Keller seines Hauses experimentiert er, um doch noch den Nobelpreis zu erlangen. Seine Frau und Biest Heidelinde Wulf malt vorzugsweise Landschaftsbilder. Ihre beiden Töchter Anne und Katja spielen keine Rolle. Zum Haus gehört »Mienchen«; die siebzigjährige Haushälterin scheint sich für siebzehn zu halten.
Rudolf Pedus (49), der Pastor mit ständig blutiger Stirn, weil er sich im Schacht des Tiefbrunnens beim Bau einer geheimnisvollen Maschine immer den Kopf stößt. Seine Frau Inge hat Krebs und liegt vom Anfang bis Ende im Sterben. Bei ihnen ist Trivial zu Hause, der große braune Hund unbestimmbarer Rasse, der alles weiß und nur ein einziges Mal etwas sagt.
Johann Franke (50) zog sich nach der Ermordung seiner Frau (die er gern selbst umgebracht hätte!) mit seiner Tochter Claudia als Förster nach Herzensach zurück. Er jagt gern anonym, und unter Pseudonym ist von ihm ein Büchlein erschienen. Selbstverständlich lebt im Garten des Forsthauses ein Reh.
Jan van Grunten (36) wäre gern Schauspieler geworden, muß aber, seit sich sein Vater auf das Altenteil nach Mallorca zurückgezogen hat, den Gutsherrn mimen. In Berlin betreibt er ein Unternehmen, von dem er nicht so ganz genau weiß, was dort geschieht. Jürgen Vietel ist sein Verwalter und trägt schwer an einer Sünde. Im Gutshaus sind unter anderem Werner Kotschik beschäftigt und seine Frau, die Haushälterin Manuela, die sich über die Vorgänge im Haus keine Fragen stellen will und es trotzdem tut. Unter dem Dach bewahrt Maria Glaser, Haushälterin im Ruhestand, alle Geheimnisse für sich und ist deshalb an einem unglücklichen Ereignis schuld.
(Stammbaum der Familie van Grunten im Anhang.)
Peter Wischberg (38), Wirt im Gasthof, vertreibt den Herzensacher Likör (leider immer noch nicht weltweit) und vorzugsweise die Fliegen aus der Gaststube. In der Wirtschaft arbeitet noch seine Mutter Luise, die das Geheimnis des Herzensacher Heilwassers und das Herz des Studenten kennt. Seine Tochter Karin (16) hat kurze Auftritte – immer mit etwas Eßbarem in der Hand. Seine Frau Dorothee hat ihm das Knie zertrümmert und ist in das benachbarte Gebäude gezogen, wo sie sich die Zeit mit einem kleinen Laden vertreibt.
Wilhelm Weber (55) hat eine Karriere vom Schlachter zum Besitzer einer Wurstfabrik und zum Bodybuilding-Fan hinter sich. In seinem Bungalow sorgt Lisa, die 22jährige Tochter eines Bauern, für Ordnung. Sie weiß noch nicht, ob sie ihren Arbeitgeber lieben oder umbringen soll. Seine Frau Sabine besitzt eine Galerie, eine Boutique in Weinstein und eine Mordswut auf ihren Mann.
Thomas Timber (45) ist Tischler, Bürgermeister und Besitzer einer Hütte am See. Tagelang verschanzt er sich dort. Seine Frau Petra muckt nicht auf, kann aber hervorragend mit einem Gewehr umgehen. Kein Wunder, daß der unter dem Dach lebende, geistig verwirrte Vater des Tischlers, Otto Timber, in einem klaren Moment fast erschossen wird.
Katharina Freitag, benannt nach dem gleichnamigen Tag, an dem sie vor einundzwanzig Jahren gefunden wurde, lebt im Haus des Tischlers. Selbst aus einer verbotenen Beziehung hervorgegangen, haßt sie ihr Geschlecht und die Männer. (Liebt aber den Wald.)
Als der schwere schwarze Wagen ins Schleudern geriet und Jakob Finn hinter dem Steuer aus seinem Sekundenschlaf hochschreckte, ahnte er bereits, nun nie mehr in Bergstadt anzukommen, das ihm ein Kommilitone dringend empfohlen hatte, weil sich der dortige Wald so gut für die Untersuchungen seiner Doktorarbeit eignen würde.
Es gelang ihm, den Wagen etwas zu stabilisieren. Für die Kurve war er noch immer zu schnell. Weder der impulsive Druck auf das Bremspedal noch Gegensteuern vermochten die Fliehkraft abzuschwächen. Er verlor die Gewalt über den Wagen und wunderte sich, wie kaltblütig er alles beobachtete, sogar seine falsche Reaktion registrierte er, ohne sie ändern zu können: Mit blockierten Bremsen und bis zum Anschlag gedrehtem Steuer rutschte er über die Fahrbahn, rammte mit dem Hinterteil krachend einen der alten Alleebäume. Der BMW drehte sich, als wollte er den Baum umrunden, und kam mit den Vorderreifen auf dem Feldrand zum Stehen. Der Motor ging aus, und in der plötzlichen Stille, nur unterbrochen vom Knacken des Blechs, löste Jakob Finn seine von Schweiß klebrigen und verkrampften Hände vom Lenkrad und stieß erleichtert die Luft aus. Einen Augenblick blieb er ruhig sitzen, dann öffnete er die Tür und stieg aus. Ein Zittern bemächtigte sich seines Körpers. Das flaue Gefühl im Magen verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen. Erst jetzt dachte er an den Flugzeugabsturz und wunderte sich, daß die Erinnerung nicht gleich gekommen war, denn auch damals hatte ihn die Fliehkraft gepackt. Allerdings war er ohnmächtig geworden ... Er lachte laut, um die Bilder abzuschütteln. Er war ein Glückspilz.
Er stützte sich mit den Händen gegen die Dachkante des Wagens und betrachtete unter seinem Arm hindurch den Schaden am Hinterteil des BMWs. Das Blech war tief eingedrückt und blockierte den Reifen. Die Stoßstange hing schräg. Er würde nicht weiterfahren können. Er sah an sich herunter, doch seine Kleidung war nicht zerfetzt, sein Schoß nicht blutig, so wie damals, als er auf der vom Flugzeug in den Wald gerissenen Schneise aus der Ohnmacht erwacht war.
Er löste sich von dem Wagen, ging einmal langsam um ihn herum. Nein, damit konnte er nicht mehr fahren. Er überquerte die Straße, setzte sich auf einen am Rand liegenden großen Feldstein und lauschte. Nichts als das Summen von Insekten. Keine Autogeräusche. Er ärgerte sich über seine Unachtsamkeit. Nicht einmal an den letzten Wegweiser konnte er sich erinnern, geschweige denn, wie lange es her war, daß er eine Ortschaft durchfahren hatte.
Er betrachtete die Umgebung, eine Landschaft, die ihm unter anderen Umständen reizvoll erschienen wäre, so aber vermittelten die grünen, Ende Mai noch kurz bewachsenen Felder beidseitig der Straße und die dahinter sich sanft erhebenden bewaldeten Hügel nur ein Gefühl von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Keine Kirchturmspitze streckte sich in der Ferne über die Bäume, keine Reklametafel am Straßenrand kündigte ein Gasthaus, die nächste Tankstelle oder Autowerkstatt an. Für einen Städter begann in solcher Verlassenheit bereits ein Survival-Training.
Er erinnerte sich an das Geräusch der Hubschrauber, an die Hektik und an das Entsetzen im Gesicht der Retter. Sie hatten ihm den Tod seiner Eltern schonend mitteilen wollen. Er wußte es schon beim ersten Wort. Er hatte überlebt, weil er aus dem Flugzeug geschleudert worden war.
Es war ihm kaum gelungen, um seine Eltern zu trauern. Sie hatten ein Leben ohne ihn geführt. Er war immer nur zu Besuch gewesen.
Zwar heilten seine Verletzungen schnell, doch als ihm die Ärzte eine zweite, winzig kleine Operation (Sie verstehen, geradezu lächerlich!) vorschlugen, begriff er, daß es ihn zum Gespött machen könnte, wenn jemand davon erfuhr.
Er erhob sich von dem Feldstein, als auch nach zehn Minuten noch kein Auto vorbeigekommen war, und entschied sich, die Straße zurückzugehen. Er schloß seinen Wagen ab und hatte sich kaum zehn Meter entfernt, als er sich abrupt umdrehte und doch in die andere Richtung marschierte.
Er vermochte später nicht mehr zu sagen, was diesen plötzlichen Sinneswandel bewirkt hatte, doch der Entschluß änderte nicht nur sein gesamtes Leben, sondern beschleunigte in dem knapp drei Kilometer entfernt liegenden Dorf Herzensach erneut eine Entwicklung, die bei den letzten Malen mit einem Toten geendet hatte.
Herzensach, benannt nach dem gleichnamigen Flüßchen, in dessen Biegung es lag und dessen Name den wenigen Reisenden Gelegenheit gab, darüber zu spekulieren, ob es sich um einen leidvollen oder freudvollen Ausdruck handle, und der in einer Untersuchung der Kreisverwaltung Weinstein hinsichtlich der für den Tourismus zu fördernden Gebiete des Kreises so schlecht weggekommen war, sollte Schlagzeilen machen.
Grund für Schlagzeilen hätte es bereits vor mehr als zweihundert Jahren gegeben, als das Herzensacher Tal durch einen Schenkungsakt des Grafen Weinstein in den Besitz des holländischen Piraten Cornelius van Grunten überging. Aus Angst vor den van Gruntens sprach man damals über die wahre Ursache der Besitzübertragung nicht. Heute erzählt sie der junge Gutsherr Jan van Grunten seinen Gästen mit besonderem Vergnügen und in immer neuen Ausschmückungen. (Der Pastor empfindet das als Geschmacklosigkeit.) Aber wer kann schon einen waschechten Freibeuter zu seinen Ahnen zählen? Besagter Cornelius van Grunten stand Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Kapitän in den Diensten der spanischen Krone, doch soll er es mit Freund oder Feind nicht so genau genommen haben, Hauptsache, die unter der Totenkopfflagge eingenommene Beute stimmte. Als er 1761 ein englisches Schiff – in der Annahme, es habe Gold geladen – kaperte, fielen ihm einige adlige Passagiere in die Hände, unter ihnen die zwölfjährige Catharina Clarabella von Weinstein, Tochter des Grafen Weinstein, auf der Reise zu englischen Verwandten (... daß es sich hier um die Winstons handelte, angeblich der englische Name für Weinstein, zu deren Nachkommen Winston Churchill zählte, ist nur ein ebenso beliebter wie dümmlicher Scherz des Gutsbesitzers). Die Piraten durchsuchten das Schiff, doch ihre Information, es habe Gold an Bord, erwies sich als falsch. Cornelius van Grunten ließ in seiner Wut die gesamte Besatzung töten, ebenso alle Adligen bis auf Catharina Clarabella und ihre Begleiterin Sophie, eine Freifrau von Wachenberg. Diese übernahm die schwierige Aufgabe, dem Grafen die Bedingungen für die Freilassung seiner Tochter zu überbringen. Auf einer aus dem Reisegepäck der Damen geraubten Karte von den gräflichen Ländereien hatte der Pirat das Herzensacher Tal eingekreist. Dieses Tal war die Gegenleistung für die Unversehrtheit Catharinas. Tatsächlich nahm der Graf die Besitzübertragung in aller Form vor, jedoch mit dem Zusatz, daß beim Ausbleiben eines direkten Nachkommens der Familie van Grunten der gesamte Besitz an die gräfliche Familie zurückfalle. Der Graf muß sich bei der Abfassung dieses Vertrages besonders raffiniert vorgekommen sein. Heutige Historiker, wie der Frankfurter Michael Leibrandt, sind allerdings der Meinung, er habe damit das Todesurteil für alle Weinsteins unterzeichnet. Die Schlußfolgerung, die van Gruntens hätten an den seltsamen Todesfällen und am mysteriösen Verschwinden der gräflichen Familienmitglieder einen mörderischen Anteil, liegt nahe, ist jedoch letztlich nicht beweisbar.
Cornelius van Grunten jedenfalls kam nicht mehr in den Genuß seines Landbesitzes, dafür in den der Freifrau von Wachenberg. Die Unterhändlerin heiratete ihn (was zu Spekulationen Anlaß geben sollte) und hat ihm sicher das idyllische Herzensach wenigstens beschrieben. Wahrscheinlich hatte der Seemann es als Alterssitz auserkoren. Der Pirat wurde 1772 in Lissabon bei einem Landgang von einem Unbekannten erstochen. Die Spanier waren wohl seines Treibens in ihrem Namen müde gewesen und hatten einen Mörder gedungen. Sein Sohn Hendrik, beim Tod des Vaters gerade mal acht Jahre alt, wurde ebenfalls Seemann und setzte die Tradition seines Vaters fort. Die Meinung seiner Mutter Sophie dazu ist nicht überliefert. Mit achtundvierzig Jahren kehrte er zusammen mit einer wilden Horde aus der Karibik zurück und nahm das Tal in Besitz. (War die Mutter dabei?) 1812 baute er als erstes einen Wehrturm, der heute nicht mehr steht, und 1824 ein befestigtes Gutshaus.
Auch wenn die Familie van Grunten es im letzten Jahrhundert gern anders darstellte, die Geschichte des Dorfes hatte lange vor dieser Zeit begonnen. Vermutlich lag bereits eine Germanensiedlung in dieser Biegung des Flusses. Die erste urkundliche Erwähnung stammt von 1612.
Jakob Finn war noch nicht weit gegangen, als er plötzlich auf der anderen Straßenseite, in einem kleinen Birkenwäldchen, eine Bewegung wahrnahm. Ein Tier, vielleicht ein Reh, strich dort herum. Dann sah er zwischen den Blättern ein Stück gelbbraunes Fell, und gleich darauf trat ein etwa hüfthoher, kurzhaariger Hund unbestimmbarer Rasse zwischen den Birken hervor, setzte sich an den Straßenrand und beobachtete ihn mit bernsteinfarbenen, freundlichen Augen. Der Student schnalzte mit der Zunge, was den Hund allerdings nur veranlaßte, den Kopf ein wenig höher zu heben und ihn spöttisch anzusehen. Jakob Finn erinnerte die Haltung an eines seiner Kuscheltiere. Seine Eltern hatten ihn schon früh in ein deutsches Internat geschickt, und so war, bis in die Pubertät hinein, einer seiner wichtigsten Gesprächspartner ein abgewetzter Teddybär gewesen.
Kurz nach dem Hund trat eine junge Frau aus dem Wald, die er im ersten Moment für einen Jungen hielt. Sie hatte sich geschickter und geräuschloser in dem Wäldchen bewegt als das Tier. Ihr hing das blonde, kinnlange Haar in dicken Strähnen übers Gesicht. Sie trug eine derbe blaue Bauernjacke über einem ausgeblichenen grünen Hemd. Die weite, ausgefranste Hose wurde mit einem Strick zusammengehalten. Die Sachen waren keineswegs sauber, so daß Jakob an eine Landstreicherin denken mußte, doch zugleich schien es eine Art Kostümierung zu sein.
»Hallo«, rief er. Hund und Mädchen beobachteten ihn reglos und stumm.
»Ich habe eine Panne«, versuchte er seine Anwesenheit auf der Straße zu erklären und wies mit der Hand zurück zu seinem Wagen. Es rief bei seinen beiden Beobachtern keine Reaktion hervor. Warum sollte sein Pech nicht anhalten und ihm eine Taubstumme mit einem blinden Hund schicken? (Wie ging noch mal die Zeichensprache?)
»Wo ist das nächste Dorf? Ich brauche Hilfe.«
Das Mädchen zog die Nase hoch und kaute auf der Unterlippe. Es sah zu dem Hund hinunter, dann wieder mißmutig zu dem Fremden. Der Hund erhob sich und trottete langsam über die Fahrbahn, um ihn zu beschnuppern. Jakob bestand die Prüfung, das Tier setzte sich dicht zu seinen Füßen. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und folgte dem Hund, wobei sie den Fremden nicht aus den Augen ließ, als erwarte sie einen Angriff.
»Gibt es hier ein Dorf?«
Das Mädchen reagierte nicht.
Vielleicht konnte sie tatsächlich nicht sprechen. Er wollte sie nicht beleidigen und formulierte in Gedanken eine entsprechende Frage, als sie plötzlich den Mund öffnete und ja sagte. Er begriff, daß dies eine Prüfung war.
»Und wo?« fragte er.
Sie blieb stumm, prüfte noch immer.
Er versuchte seinen Unfall und den Schaden am Wagen zu erklären. Schließlich fiel ihm ein, daß es wohl richtig wäre, sich vorzustellen, und er nannte seinen Namen, seinen Herkunftsort, sein Studienfach, bis er etwas ratlos innehielt und lachen mußte.
»Entschuldigung, aber ich komme mir so komisch vor.«
Ihre einzige Reaktion war ein noch finsterer Ausdruck. (Er war also nicht komisch.) Dann zuckte sie mit dem Kopf nach links und sagte knapp: »Da lang.«
Sie ging voraus. Der Hund schloß sich an, blieb aber im Lauf des Weges immer weiter zurück. Jakob beobachtete die junge Frau von der Seite, schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig Jahre und entdeckte unter ihrem finsteren Blick eine hübsche, schmale Nase und einen außergewöhnlichen Mund, dessen Winkel wohl von Natur aus einen leichten Schwung nach oben hatten wie bei einem dünnen Lächeln (hauchdünn). Ein vollkommen düsterer Ausdruck würde ihr deshalb nie gelingen. Sie gefiel ihm.
»Wie weit ist es?«
»Nicht weit.«
»Ist das Ihr Hund?«
»Nein.«
»Wie heißt der Ort?«
»Herzensach.«
»Wie?«
»Sie haben es schon richtig verstanden.«
Dies war die Unterhaltung auf dem ersten Kilometer. Jeder andere hätte aufgegeben, doch Jakob amüsierte sich über ihre Wortkargheit, über ihr abweisendes Verhalten und versuchte sie weiter zu provozieren.
»Wohnen Sie da?«
»Möglich.«
Er ging schneller, um direkt neben sie zu kommen, ihr ins Gesicht zu sehen, doch auch sie beschleunigte den Schritt, so daß es fast zu einem Wettrennen ausartete. Er war sich nicht sicher, ob es ihre abwehrende Haltung war oder die Entdeckung ihrer Schönheit, was in ihm den Wunsch reifen ließ, sie unbedingt für sich einzunehmen.
»Gibt es da, in diesem ... gibt es da eine Tankstelle?«
»Nö.«
»Wie groß ist denn der Ort?«
»Klein.«
Die Straße stieg jetzt leicht an, bildete einen Damm, der auf eine Brücke mit steinernem Geländer zuführte.
»Kommt da ein Fluß?«
»Blöde Frage.«
»Wie heißt der?«
Als Antwort drehte sie ihren Kopf leicht, und er bekam einen genervten Blick.
»Sie sind nicht sehr gesprächig, was?«
»Hören Sie zu«, sagte sie scharf und blieb stehen, »wenn Sie mit mir anbändeln wollen: Ich bin nicht die richtige Person dazu.«
»Ich wollte nur freundlich sein.« Er zog aus Spaß den Kopf etwas ein, als erwarte er einen Schlag, und grinste sie an. »Ich bin Ihnen ziemlich ausgeliefert.«
Sie schwieg, und er war sich nicht sicher, ob es nicht doch ein Lächeln war, das ihre Mundwinkel willentlich herstellten.
»Außerdem«, beeilte er sich hinzuzufügen, »habe ich keine andere Absicht, als mich abschleppen zu lassen.«
»Genau das dachte ich mir.«
Er wurde sich des Doppelsinns bewußt. »Ich meine das anders.«
»Umgekehrt?«
Er lachte. Sie ging schneller.
»Danach werde ich auf Nimmerwiedersehen aus Ihrem Leben verschwinden.«
»Sicher.«
Alles ergab einen anderen Sinn. Sie reizte ihn. Er hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt, das so kühl und abwehrend gewesen war. Wieder mußte er sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten. Er würde schon herausfinden, wer sie war. »Wenn Sie mir Ihren Namen sagen, schreibe ich Ihnen, wenn alles erledigt ist, eine Postkarte als Dank. Oder meinetwegen auch, damit Sie erkennen können, wie groß die Entfernung zwischen uns ist.«
»Ha!«
»Sie haben mich durchschaut.«
»Männer!«
Sie hatten die Brücke erreicht. Jakob blieb stehen und beugte sich über das Geländer, um in den etwa zwei Meter breiten, von Schilf umsäumten Fluß zu sehen, dessen klares, sprudelndes Wasser unter dem dunklen Bogen der Brücke verschwand. Der obere Teil der Brücke bestand aus einer modernen Betonkonstruktion, in die man das alte Geländer aus Naturstein eingepaßt hatte. Die Fundamente stammten aus früheren Zeiten. Es ist allerdings nie untersucht worden, ob es noch jene Steine sind, aus denen Hendrik van Grunten einst die Brücke errichten ließ. Auf jeden Fall geht der Bau dieser sowie der zweiten Brücke am anderen Ende des Dorfes auf ihn zurück. Vorher hatte es eine nur im Sommer gut passierbare Furt in der Herzensach gegeben. Die Landstraße nach Weinstein führte ursprünglich nicht durch Herzensach, sondern über den Heidberg. Hendrik van Gruntens Brücken- und Straßenbau sorgte für eine kürzere und bequemere Strecke. Er ließ sich von den Kaufleuten die Durchfahrt bezahlen. Zwar führte er selbst nie darüber Buch, aber aus alten Handelsabrechnungen, die heute im Archiv des Weinsteiner Heimatmuseums liegen, gehen diese Abgaben hervor. Es gibt sogar einen Brief des damals bedeutenden Handelsherrn Farianus, in dem er die Machenschaften Hendrik van Gruntens anprangerte, beispielsweise nicht nur bei der ersten Brücke einen Wegzoll zu kassieren, sondern auch bei der zweiten: »... so ist bei allen befahrenen Wegen Hendericus van Gruntens doppelter Wegzoll als etwas Räuberisches, den privilegierten Ständen dem einfachen Handelsmann gegenüber kaum Würdiges anzusehen, das bei entsprechend höherer Amtsstelle einmal von uns eingeklagt werden sollte ...«
Wegen der schönen Handschrift und des guterhaltenen, verzierten Siegels ist dieser Brief im Weinsteiner Heimatmuseum in einer Vitrine ausgestellt. (Nur deshalb!)
Jakob glaubte, in dem Wasser des Flusses einen langen silberglänzenden Fisch zu sehen. Er blickte auf. Das Mädchen war, wie er es gehofft hatte, ebenfalls stehengeblieben, um über die Brüstung zu schauen.
»Fisch?«
»Möglich.«
»Sie wissen nicht, was für ein Sternbild Sie haben?«
Sie lachte zum ersten Mal.
»Was ist eigentlich so gefährlich an mir?«
»Sie sind ein Mann.« Es schien ihr als Erklärung ausreichend.
»Das tut mir leid.«
»Sollte es auch.«
Der Hund war herangekommen und blieb jetzt an ihrer Seite. Sie schritt wieder schneller voran.
»Und als Hund? Würden Sie mich akzeptieren?«
»Hunde tun, was ich will.«
»Dachte ich mir.«
Die Straße machte eine Biegung nach links, gabelte sich. Eine Abzweigung führte zu dem sieben Kilometer entfernten Ehrenfelde. Der zweite, nach links zeigende Wegweiser war zerkratzt und übermalt. Jakob rekonstruierte das Wort »Herzensach«. Am Ende der Kurve reckte sich ein Kirchturm über hohe, ausladende Bäume, und zwischen Fliederbüschen wurden alte Fachwerkhäuser sichtbar. Und ihm kam der verlockende Gedanke vom einfachen und ruhigen Landleben.
»Wo kann ich telefonieren?«
Sie wies auf das erste Gehöft auf der linken Seite und blieb stehen. Es war offensichtlich, daß sie ihn nicht weiter führen wollte.
Jakob bedankte sich, fragte noch einmal, ob er nicht doch eine Postkarte schreiben solle. Sie schüttelte den Kopf. Auch andere Vorschläge, ihr seine Dankbarkeit zu beweisen oder sie wiederzutreffen, führten bei ihr nur zu zusammengepreßten Lippen. Er hatte keine Chance. Nicht einmal ihren Namen hatte er herausbekommen. Schließlich bog sie ohne Gruß auf einen Feldweg ab. Nur der Hund sah sich noch einmal um.
Unter den Bauern von Herzensach herrschte überwiegend die Meinung, Doktor Bernhard Andrees rechtes Ohr sei wesentlich größer als sein linkes. Zweifellos entsprang diese Beurteilung der Angewohnheit des Arztes, seine Patienten nicht anzusehen, sondern den Kopf nach links zum Fenster der Praxis zu drehen, den Besuchern auf der anderen Seite seines Schreibtisches also, wie bei einer Beichte, das rechte Ohr zu leihen.
»Und welcher Art sind die Schmerzen?« fragte er. Der Blick aus seinem Fenster ging geradewegs auf den kleinen Laden von Dorothee Wischberg auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Frau des Wirtes hatte den ursprünglichen Zeitungskiosk mit der Lottoannahmestelle nach und nach vergrößert und zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft ausgebaut.
»So gelb mit einem Stich ins Bläuliche«, gab der Bauer zur Antwort.
»Was?« fragte Doktor Bernhard Andree, ohne seinen Patienten anzusehen.
»Die Schmerzen«, sagte der Bauer.
Der Internist hielt sich weder für einen guten noch für einen schlechten Arzt. Was ihn auszeichnete, war seine Geduld mit den Patienten und entsprechend die Zeit, die er jedem von ihnen widmete, mehr, als er in der Regel den Krankenkassen in Rechnung stellen konnte.
Vor fünfzehn Jahren hatte er dem Drängen seiner Frau nachgegeben, die wissenschaftliche Laufbahn aufzugeben und die Landarztpraxis zu übernehmen. Dabei waren seine Forschungen an der Universitätsklinik zur Technik des Verschließens von Operationsöffnungen hoch gelobt worden. Nach seinem Weggang triumphierten seine Gegner. Ein unbegabter Kollege führte seine Testreihen fort und stellte sie bald als erfolglos ein.
Doktor Bernhard Andree wäre aufgrund seiner geringen finanziellen Mittel kaum der Gedanke gekommen, sich selbständig zu machen, doch seine Frau Heidelinde, Tochter des Brauereibesitzers Wulf, hatte aus ihrem Erbe alle Kosten für die Übernahme der Praxis in Herzensach bestritten. Seine Frau wurde dabei weniger von dem Idyll einer Landarztpraxis geleitet, sondern mehr von der Sehnsucht, an den Ort ihrer Geburt und Kindheit zurückzukehren. Gleichzeitig wollte sie den Motiven ihrer Bilder näher sein. Schon vor ihrer Eheschließung hatte sie in jeder freien Minute nichts anderes im Sinn, als Landschaften zu malen.
Am Anfang ihrer Beziehung wetteiferten der Wissenschaftler und die Künstlerin noch um öffentliches Interesse und Ruhm miteinander. Obwohl sie beide erfolglos blieben, hatte Bernhard Andree in diesen wenigen Jahren durch Ausbreiten der Arme fliegen können. Es war ganz einfach gewesen. Aber es machte blind und taub. Deshalb war er auf eine harte Landung nicht vorbereitet. Seine Frau wurde schwanger. Seine Ängste begannen. Er wollte kein weiteres Kind. Sie gebar eine zweite Tochter. Seine Furcht vor Frauen wurde zur Furcht vor fast allen Menschen.
Mit vierundvierzig Jahren war Bernhard Andree als Landarzt am Ende seiner beruflichen Möglichkeiten angelangt, die zu Beginn seiner Laufbahn angestrebte Professur nicht mehr zu erreichen; aber da war noch das Labor im Keller des Hauses, schon vom Vorgänger eingerichtet, in das er sich fast täglich einschloß, um seine streng wissenschaftliche Arbeit fortzuführen. Eines Tages würde er die Fachwelt überraschen. Doch wann, das stand dahin. Niemand wußte, was er im Keller tat. Niemand durfte ins Labor. Seine Frau ließ ihn gewähren, bedrängte ihn nicht, Auskunft zu geben. Das Eheleben der beiden war von beständiger gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Man ging sich aus dem Weg.
»Und wann treten diese Schmerzen auf?«
»Das ist es ja: immer nur montags morgens.«
Doktor Bernhard Andree nahm im rechts vom Lebensmittelladen liegenden Gasthaus »Herzensfrische« eine Bewegung wahr. Ein Fenster wurde geöffnet, doch niemand zeigte sich. Der Gedanke, den Gasthof betreten zu müssen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er drehte den Kopf in die andere Richtung, bis er die Tischlerei von Thomas Timber sehen konnte. Die beiden Gesellen standen rauchend vor der großen geöffneten Werkstattür, nutzten die Abwesenheit ihres Chefs für eine zusätzliche Pause. Der Arzt hatte den Tischler vor rund einer Stunde zu Fuß weggehen sehen, wahrscheinlich um in amtlicher Eigenschaft als Bürgermeister einen Besuch bei einem Bauern zu machen. Kurz darauf war auch seine Pflegetochter Katharina Freitag aus der Tischlerwerkstatt gekommen, in der sie vormittags die Büroarbeiten erledigte, diesmal aber wohl wesentlich länger zu tun gehabt hatte. Doktor Bernhard Andree hatte seine eigenen Ansichten über die regelmäßige Verwandlung Katharinas von der Bürokraft mit Rock und Bluse in die burschikos und nachlässig gekleidete nachmittägliche Wanderin. Eine Wandlung, die andere sich damit erklärten, daß sie abseits der Wege ging und dabei kein Dornengestrüpp scheute. Für den Arzt war sie ein geradezu klassischer Fall: Selbst aus einer verbotenen Beziehung entsprungen, konnte sie ihre eigene Sexualität nicht akzeptieren. Nun, er hatte ihr, zweifellos auf ungewöhnliche Weise, geholfen, den Konflikt zu bewältigen.
Der Arzt nickte seinem Patienten zu. »Soso, montags?« Er räusperte sich. »Vielleicht sollten Sie montags morgens im Bett bleiben«, sagte er scherzhaft. Trotz mancher Versuchung, wie sein Vorgänger und andere Landärzte mit den bäuerlichen Patienten im vertraulichen Du zu verkehren, hatte er bewußt das Sie aufrechterhalten. Der mit dieser Distanz verbundene Respekt tat ihm gut. (Irgendwie war es sicherer.)
»Das erzählen Sie mal meiner Frau.«
Der Internist lächelte. »Machen Sie bitte den Oberkörper frei.« Er wies auf die lederbezogene Liege. Während der Bauer sich auszog, stellte sich der Arzt ans Fenster und befragte ihn nach Lebensgewohnheiten und Ernährungsweise.
»Und ... äh, trinken Sie?«
»Viel Wasser.«
»Was?«
»Sie wissen schon.«
»Aha.« Der Arzt wußte, daß im Gasthaus sogenanntes Herzensacher Heilwasser ausgeschenkt wurde – ein vermutlich schwarzgebrannter Schnaps. »Und sonst?«
»Ein Glas Bier, manchmal zwei.«
»Es können aber auch ein paar mehr sein?«
Er bekam nur ein Brummen als Antwort.
»Aha«, diagnostizierte er.
»Das wollen Sie mir doch nicht nehmen?!«
Der Arzt blieb am Fenster stehen und sah auf seine Uhr. In Erwartung des kommenden Bildes biß er wütend die Zähne zusammen: Ein roter Wagen näherte sich, parkte vor seinem Haus. Der Fahrer stieg aus, ging über die Straße in das Geschäft von Dorothee Wischberg. Er kannte den Mann – asthmatische Beschwerden, leichtes Rheuma, ein Gärtner, der in der Weinsteiner Baumschule arbeitete und jeden Tag auf seinem Weg von und zu seiner Wohnung in Ehrenfelde hier anhielt, um sich Zigaretten zu kaufen, von deren Konsum Doktor Bernhard Andree hinsichtlich der geschädigten Bronchien dringend abgeraten hatte. Eine gemeine Provokation.
Die Kirchturmuhr schlug, und Doktor Andree schüttelte den Kopf. Wieder kam der Glockenschlag drei Minuten zu spät. Seinem Freund, Pastor Pedus, war es trotz seines ausgeprägten Sinnes für Mechanik und seiner Bastelleidenschaft nie gelungen, die Uhr zu reparieren. In der Kirchenleitung hielt man eine Differenz von drei Minuten nicht für ausreichend, einen Uhrmacher zu beauftragen.
»Wenn es nur Wasser ist«, lachte er, um die vermeintliche Spannung aus der Untersuchung zu nehmen. Er wollte sich schon vom Fenster wegdrehen, da bemerkte er den Hund, der kurz schnüffelnd an dem roten Wagen stehenblieb und dann in schnellem Trab weiter die Straße entlanglief. Der Arzt beugte sich vor, um zu sehen, ob das große Tier bei der Kirche zu seinem Herrn, dem Pastor, einbog. Aber der Hund kreuzte die Straße, ging auf die kleine Verkehrsinsel zu, die durch die Abzweigung der Cornelius-van-Grunten-Straße von der Dorfstraße entstanden war. Die neue Straße, ein ehemaliger Schotterweg, seit vier Jahren asphaltiert, beschrieb einen Halbkreis und stieß in Höhe des Gutshauses wieder auf die Dorfstraße. Auf der Verkehrsinsel stand eine alte Friedenseiche, 1871 gepflanzt, mit einer verwitterten Bank davor. Wenn es nach dem Wurstfabrikanten Wilhelm Weber ginge, würde hier demnächst ein Brunnen mit der Plastik eines Schweines errichtet, aus dessen Schnauze eine Fontäne kommen sollte. Zum Glück konnte sich der wahrscheinlich reichste Dorfbewohner mit seinen geschmacklosen Verschönerungsplänen nicht immer durchsetzen. Schon der moderne Bungalow des Wurstfabrikanten war dem Arzt – und nicht nur ihm – ein Dorn im Auge, hatte ihn Wilhelm Weber doch mit einem Vordach versehen, das von fünf griechischen Säulen getragen wurde. Der Hund umrundete die Friedenseiche und urinierte an ihren Stamm.
»Trivial.« Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Was?« kam es von der knarrenden Untersuchungsliege.
»Der Hund.« Wie hatte man einem so mächtigen Tier einen solchen Namen geben können: Trivial! Der Pastor behauptete, der Hund hätte eines Tages in seinem Garten gesessen und ihn angeschaut, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund sei ihm dieser Begriff durch den Kopf gegangen. Trivial! (So etwas ging einem gesunden Menschen angesichts eines Hundes nicht durch den Kopf!) Niemand wußte, woher der Hund kam. Nachforschungen und eine Kleinanzeige im ›Weinsteiner Boten‹ waren ohne Ergebnis geblieben. Das große Tier hatte sofort auf diesen seltsamen Namen gehört und den Pastor als seinen Herrn anerkannt, obwohl der Geistliche sich wenig um den Hund bemühte. Trivial trottete den ganzen Tag durch das Dorf und die Feldwege entlang, sah den Bauern bei der Arbeit zu und kam nur zum Fressen und Schlafen zum Pastor zurück.
»Der bringt Glück«, sagte der Bauer.
»Ich weiß.« Der Arzt wandte sich endlich vom Fenster ab und ging zu seinem Patienten, der mit nacktem Oberkörper, kräftigen Armen und Schultern, aber eingefallener Brust und kugelförmigem Bauch auf der Liege saß. Ein abgearbeiteter Körper. Der Bauer war – wie der Arzt – ein Außenseiter, einer von den wirklich Fleißigen im Dorf. Die meisten Herzensacher waren faul, und manchmal fragte sich der Arzt, wie sie existieren konnten. Er betrachtete die Rippen und die faltige Haut darüber. Er fürchtete, sein Aussehen werde sich im Lauf der Jahre ebenso verändern. Hunde waren da anders. Wie alt mochte Trivial sein?
Der Bauer trug nur noch seine Hose, hielt sie mit den Händen fest. Die derben Schuhe hatte er abgestreift. Sie lagen schräg unter der Liege, und Doktor Andree kräuselte leicht die Nase. Der Bauer war in Kuhmist getreten.
»Trivial«, murmelte der Arzt. Der Hund hatte sich zum Maskottchen der Herzensacher entwickelt. Sonntags zum Gottesdienst saß er regelmäßig vor dem Kirchenportal und wartete. Anfangs hatten die Kirchenbesucher ihn beim Verlassen der Kirche heimlich berührt, heute tat es jeder ganz offen, strich dem Tier mit Daumen und Zeigefinger über die Kante des Ohrs. Trivial ließ es sich gefallen, schien sogar deshalb vor der Kirche zu sitzen. An dem Aberglauben, sich durch diese Handlung ein Leben in Sicherheit und Glück zu verschaffen, war der Arzt nicht ganz schuldlos. Mit vier Jahren hatte sich seine Tochter Anne bei einem Spaziergang durch den Ort von seiner Hand losgerissen, war auf die Straße gelaufen, gerade in jenem Moment, als ein Lastwagen aus Weinstein mit überhöhter Geschwindigkeit die Herzensacher Dorfstraße entlangdonnerte. Trivial war mit einem Satz hinter Anne hergesprungen, hatte die Träger ihrer Spielhose geschnappt und sie davor bewahrt, überfahren zu werden.
Unruhig ging Doktor Bernhard Andree zum Fenster zurück. Dort, am Ende der Straße, war es geschehen. Immer wieder mußte er gegenüber seiner Frau seine Unschuld beteuern. (Glaub mir doch, sie hat sich losgerissen, wirklich!) Seine Frau jedoch zweifelte, richtete es von dieser Zeit an ein, daß er nicht mehr mit den Kindern allein spazierenging – weder mit der inzwischen zwölfjährigen Anne noch mit der zehnjährigen Katja. Ein stummer Vorwurf über all die Jahre. Trivial aber besaß seit diesem Vorfall einen Freiraum, und immer mehr Legenden rankten sich um ihn: Trivial weckte den Bauern Hermann Tomba, als eines Nachts dessen Scheune brannte. Trivial rettete Bauernkinder aus Jauchegruben. Trivial verscheuchte Einbrecher und verjagte Landstreicher. Trivial beschützte eine verletzte Ente vor den Dorfkatzen. Der Gastwirt Peter Wischberg erzählte besonders gern, daß der Hund eines Tages knurrend vor seinem Auto gelegen habe und ihn nicht fortfahren ließ, bis er schließlich die Motorhaube öffnete und zu seinem Erschrecken feststellen mußte, daß ein Marder die Bremsleitung angeknabbert hatte.
»Wie alt mag der sein?« fragte der Arzt, denn er konnte sich nicht erinnern, ob Trivial schon bei seinem Einzug im Dorf gelebt hatte. Er ging zurück zu dem Bauern.
»Zweiundsechzig«, sagte der Bauer.
»Nein, der Hund.«
»Der Wirt?«
»Nein, Trivial.«
Sein Patient zuckte mit den Achseln.
Doktor Bernhard Andree nahm sein Stethoskop und begann die Brust abzuhorchen. Es war das Geräusch einer Raucherlunge, aber der Arzt sparte sich die Frage nach Zigaretten oder Zigarren. Er wußte, sein Patient war Nichtraucher, und die Ursache für das angegriffene Organ war eher der Staub in den Ställen, vor allem der Futterstaub in den Schweineställen.
»Ich habe Ihnen sicher schon empfohlen, eine Schutzmaske im Stall zu tragen?«
Der Bauer stieß die Luft aus. »Wir sind anständige Leute.«
»Sicher, sicher.«
»Mein Vater ist zweiundneunzig geworden und hat auch den ganzen Tag im Schweinestall gestanden.«
Der Internist schüttelte den Kopf. Diese Antwort kannte er. Doch die Schweinemast hatte sich seit der Zeit der Väter und seit dem enormen Bedarf der Wurstfabrik Wilhelm Webers gewaltig verändert.
»Wo genau tritt der Schmerz auf?«
»Hinten. Da so oben.« Der Bauer zeigte mit der Hand über seine Schulter.
Doktor Bernhard Andree ließ seinen Patienten sich drehen. Erstaunt zog er die Brauen hoch. Weiße Flecken überzogen den Rücken des Landwirts. Pigmentstörungen, die bei früheren Untersuchungen nicht so deutlich zu sehen gewesen waren. Der Arzt betrachtete die gefleckten Schultern ein wenig zu lange und zu reglos, so daß der Bauer mißtrauisch fragte, was denn los sei.
»Ihre Haut. Haben Sie in der Sonne gelegen?«
Der Bauer lachte. »Keine Zeit für so etwas.«
Der Arzt strich über die weißen Flecken, einige waren noch undeutlich, andere grenzten sich scharf ab, genau wie bei den beiden anderen Patienten, an denen er erst vor einigen Tagen dasselbe Phänomen entdeckt hatte.
Er wußte nichts damit anzufangen, aber es schien sich unter den Dorfbewohnern auszubreiten. Und wie in letzter Zeit immer häufiger, ergriff ihn Furcht. Ihm war, als hätte er etwas unsagbar Entsetzliches entdeckt, etwas, das kein Arzt der Welt heilen konnte, das zur Isolation des Dorfes und zu seiner Zerstörung führen würde – mehr noch: zu fliehenden Menschenmengen, zu Plünderungen, zu Panik, zu Mauern und elektrischem Stacheldraht, zu geschlossenen Grenzen, zu endlosen Autostaus, zu Tausenden von Toten, zu Krieg, Mord, Chaos und Anarchie ...
Der Arzt wandte sich von seinem Patienten ab und ging schwankend zum Fenster. Ein Fremder stand vor dem Gasthof. Es ging schon los.
Peter Wischberg kam aus der Küche hinter den Tresen gehinkt. Sein Kinn glänzte noch von dem Fett, das kurz zuvor daran herabgetropft und von seinem vorstehenden Bauch aufgefangen worden war. Er betrachtete den Fremden, der seine Gaststube betreten hatte, mit unverhohlener Neugier, dann schlug er mit seiner Fliegenklatsche zu und erwischte zwei seiner Feinde, die am Rand des Tresens still aufeinanderhockten.
»Tag.«
Jakob Finn hatte den Schlag nicht kommen sehen und zuckte zusammen.
»Tag.«
Nachdem er den Bauernhof, ohne telefoniert zu haben, fluchtartig verlassen hatte, war dem Studenten das Schild mit der altdeutschen Schrift »Gasthof Herzensfrische« ins Auge gefallen. Er hatte noch einen Augenblick über den Sinn des großen farbigen Wandgemäldes über der Eingangstür nachgedacht, das beim letzten ockergelben Anstrich sorgsam ausgespart worden war. Es zeigte germanische Krieger, die mit Speeren bewaffnet an einem Fluß standen oder kniend Wasser daraus schöpften. Schließlich war er in die leere Gaststube getreten. Die große Zahl von Fliegen, die in dem Raum schwirrten, war das erste, was ihm aufgefallen war, wohl weil in der Gaststube ansonsten peinliche Sauberkeit herrschte und ein Geruch von Essig in der Luft lag.
Der Wirt schlug mit seiner Fliegenklatsche ein weiteres Mal ansatzlos zu, dann ließ er deren Stiel durch die Finger gleiten. Es war eine langgeübte Bewegung, und sie erinnerte an das geschmeidige Zurückgleiten eines Revolvers in seinen Holster. Vielleicht gab es unter Fliegen so etwas wie ein kollektives, sich vererbendes Bewußtsein. Generation auf Generation fanden sie sich in der Nähe Peter Wischbergs ein, um ihn todesmutig zu ärgern. Die Feindschaft hatte eine zweiunddreißigjährige Geschichte. Mit sechs Jahren hatte Peter seine erste Fliegenklatsche geschenkt bekommen, ein Gerät, von dem er sich von da an nicht mehr trennte. In der Schule brachte es ihm den Spitznamen »Fliegenpeter« und regelmäßige Maulschellen seiner Lehrerin ein. Die inzwischen pensionierte Studienrätin Emma Winkelmann hatte es gehaßt, im Unterricht durch Peters Fliegenklatsche gestört zu werden. Immer wenn der kleine Peter Wischberg während der Schulstunden zuschlug – oft tat er es unbewußt –, hatte sie ihm ebenfalls einen Schlag versetzt. Trotzdem wurde der Wirt unbeschadet aus der Schule ins Leben entlassen. Erst hier gelang es ihm, eine Frau so sehr zu reizen, daß sie ihn zum Krüppel machte. Seitdem nahm er zu.
Peter Wischberg sah den Fremden erwartungsvoll an.
»Und?«
Eben noch hatte der Wirt sich über die Pläne einer Ferienhaussiedlung am Lichter Moor gebeugt, die er mit Wilhelm Weber als Geldgeber seit Jahren bauen wollte, und so erschien es ihm, als sei der Student der Abgesandte einer nachfolgenden Schar von Erholungssuchenden. Die letzten zwei Abende hatte er mit Überlegungen verbracht, wie man den Tourismus in Herzensach ankurbeln könnte – auch ohne Unterstützung der Kreisverwaltung, die auf einem negativen Gutachten beharrte. Die Dorfbewohner hatten ebenfalls Vorbehalte und fürchteten um die Sicherheit ihres Ortes. Obwohl er mit seinen Plänen nicht vorankam, hing in den Gedanken des Wirtes aber das Werbeplakat bereits in den Reisebüros der ganzen Welt. Vielleicht sollte man dafür ein Bild Heidelinde Wulfs verwenden? (Nein, die würde nicht einwilligen. Reklame!) Dann eben doch ein Foto. Eine Luftaufnahme, die genau erkennen ließ, wie idyllisch das Dorf in die Windung der Herzensach, in Wald und Moor eingebettet war.
Der Wirt landete wieder, und die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben, als er erfuhr, daß ein simpler Autounfall, ein Zufall, den Fremden nach Herzensach gebracht hatte. Doch er gedachte den Besuch auf andere Weise zu nutzen.
»Sagen Sie.« Er quetschte seinen Bauch, indem er sich vertraulich über den Tresen beugte, und ging nicht auf das Hilfeersuchen des Fremden ein. »Als Sie das Ortsschild sahen, wie haben Sie den Namen ausgesprochen?«
Jakob Finn runzelte die Stirn. Endlich fiel ihm ein, wo er das Gesicht des Wirtes schon einmal gesehen hatte. Es glich mit seiner runden Form, den kurzen, wirren blonden Haaren und dem Ziegenbart der pausbäckigen Sonne draußen auf dem Gemälde über der Eingangstür.
»Es gab kein Ortsschild.«
»Trotzdem«, beharrte der Wirt.
»Herzensach«, sagte Jakob vorsichtig.
»Genau, genau. Herzens-ach!« jubelte der Wirt und erklärte: »Niemand käme auf die Idee, Herzen-sach zu sagen. Diese ganze Untersuchung der Kreisverwaltung ist einen Dreck wert.«
Stolz betrachtete der Wirt den Studenten, bemerkte schließlich dessen Verwirrung und bemühte sich, die zitierte Untersuchung zu erläutern, nicht ohne dabei an passenden Stellen wütend einige Fliegen zu erlegen.
Als Entscheidungshilfe für die politischen Gremien hatte die Verwaltung ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem drei Orte des Kreises auf ihre touristische Tauglichkeit geprüft wurden. Dabei hatte Herzensach am schlechtesten abgeschnitten. In einem Nebensatz war dann auch noch auf die mißverständliche Aussprache des Namens und den möglichen negativen Beiklang hingewiesen worden. Die meisten Herzensacher kümmerte das wenig. Der Wirt vermutete aber, daß damit nur seine Pläne torpediert werden sollten.
Jakob Finn bereitete es Mühe, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Einerseits ging ihm die vorhin erlebte Szene auf dem Bauernhof nicht mehr aus dem Sinn, andererseits wurde es allmählich Abend, und ein Abschleppunternehmen war noch nicht beauftragt. Der Student begann sich deutlich für die Farbe der Decke zu interessieren.
Der Wirt – gerade bei der Behauptung, daß man sich einen Sport daraus mache, Wegweiser nach Herzensach zu entfernen, um ausschließlich sein Geschäft zu schädigen – bremste seine Wut.
»Sicher, sicher, Sie wollen telefonieren. In Weinstein gibt es ein Abschleppunternehmen.« Er legte die Fliegenklatsche aus der Hand, griff unter die Theke und brachte ein Telefonbuch hervor. »Ich suche es Ihnen heraus.«
Während er mit einer Hand blätterte, schob er ihm mit der anderen den Telefonapparat zu. Dann wies er mit dem von Tinte, Obstsaft oder Stempelfarbe blauen Daumen auf eine Nummer.
Jakob wählte und bekam eine Verbindung, doch die Frauenstimme am anderen Ende ließ ihn gar nicht ausreden, sondern stellte zu einem anderen Apparat durch. Während er wartete, betrachtete er die Gaststube, ein Imitat bäuerlicher Gemütlichkeit, deren Möbel zum größten Teil aus gepreßtem Plastik bestanden. Die Einrichtung war wahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit erneuert worden. Hinter der langen, polierten Messingplatte des Tresens erhob sich als Prunkstück ein gläserner Schrank voller bunter Flaschen, über dem sich ein Messingrundbogen wölbte mit der gestanzten Inschrift: »Herzensacher Liköre – ein Begriff«. Jakob war dieser Name noch nie begegnet. Der Schrank ließ allerdings auf Heerscharen genüßlicher Likörtrinker schließen.
Ein Knacken im Hörer kündigte die Verbindung an, um gleich darauf in das Lachen eines Mannes überzugehen.
»Sie hatten einen Unfall? Was Sie nicht sagen!«
»Mein Wagen steht kurz vor Herzensach auf der Landstraße. Ich brauche einen Abschleppwagen.«
Der Mann lachte wieder. »Einen Abschleppwagen braucht er!« Er schien mit jemand anderem zu sprechen.
»Hören Sie, das ist kein Witz.«
»Sie werden lachen, es ist einer. Was meinen Sie, womit wir beschäftigt sind? Auf der Autobahn hat es einen Auffahrunfall mit rund sechzig Pkws gegeben und nebenbei einigen Toten. Wir sind die nächsten fünf oder sechs – was sage ich: acht Stunden damit beschäftigt, dort aufzuräumen. Und hören Sie, Sie brauchen gar kein anderes Unternehmen anzurufen. Die sind alle dort im Einsatz.«
Jakob versuchte herauszufinden, ab wann ihm geholfen werden könnte, doch der Mann wollte sich nicht festlegen.
Der Student unterbrach kurz das Gespräch.
»Kann ich hier übernachten?« fragte er den Wirt, und dieser nickte. Er nannte dem Abschleppunternehmen die Adresse des Gasthofs und legte auf.
Der Wirt zog sich am Treppengeländer mit beiden Händen in den ersten Stock hinauf. Zweimal jedoch mußte er mit einer Hand unter den Oberschenkel seines lahmen Beins fassen, um es auf die nächste Stufe zu befördern. Keines der sechs Fremdenzimmer im oberen Stock war belegt, und Jakob wählte eines der größeren aus. Der Einbau von Dusche und WC hatte im Eingangsbereich zwar einen schmalen Flur entstehen lassen, doch danach öffnete sich ein weiter, heller Raum zur Straße. Ausgestattet mit einem breiten Doppelbett, zwei Polstersesseln vor einem kleinen Couchtisch und einem in der Fensternische untergebrachten schmalen Schreibtisch. Lautstark stritten sich Muster und Farben der Polster und des Teppichs, doch wenigstens die Tapete versuchte mit einem warmen Ockerton für Ruhe zu sorgen. In den anderen Zimmern zogen dagegen auch die Wände mit weiteren Mustern in den Kampf um die Vorherrschaft.
Der Wirt versprach, jemand zu finden, der den Studenten zu seinem Wagen fahren würde, um seinen Koffer zu holen, und ließ ihn allein.
Jakob Finn schloß die Tür, öffnete das Fenster und legte sich auf das Bett. Die Geräusche des Dorfes drangen herein: Ein Hahn krähte, in einem Schweinestall herrschte quiekende Aufregung, das Geläut einer Herde, zwitschernde Vögel, und etwas weiter weg, aber doch deutlich, war das Klappern von Pferdehufen zu hören. Es war so perfekt, daß es aus den Lautsprechern eines Plattenspielers hätte kommen können. Nur die Biene, die sich in das Zimmer verflog, war augenscheinlich echt. Sie fand aber schnell in die Freiheit zurück. Das friedliche Bild eines weltabgewandten, verträumten Dorfes.
Warum war er nicht gleich zum Gasthof gegangen? Er versuchte sich das Ereignis auf dem Bauernhof in Erinnerung zu rufen. Es erschien ihm jetzt wie eine Szene aus einem dieser lächerlichen drittklassigen Pornofilme, die vorzugsweise auf dem Lande spielen.
Von der Dorfstraße hatte ein kurzer Sandweg zu dem Bauernhof geführt. Rechts und links zwei Stallgebäude, teilweise aus Holz, eines davon schief. Am Ende des Weges das Wohnhaus mit moosigem Reetdach und verzogenem Fachwerk. Davor ein aufgerissener lehmiger Platz mit tiefen Radspuren, in denen Wasser stand. Jakob war über die Pfützen bis vor die Tür des Wohnhauses gesprungen, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ.
Die Szene hatte sich in Sekundenbruchteilen abgespielt. Und er fragte sich jetzt, ob alles vielleicht eine Art Traum, eine Halluzination gewesen war, zurückzuführen auf eine Fehlschaltung seiner durch den Unfall und die Erinnerung an den Flugzeugabsturz überreizten Nerven. Ein Psychologe hätte ihm sicher erklären können, warum es in seinem speziellen Fall früher oder später zu solchen Trugbildern hatte kommen müssen. Es konnte nicht Wirklichkeit sein, wenn eine Frau aus einer Scheune lief, nackt, schreiend (oder hatte sie gelacht?), mit angstvollen Augen und einem abgerissenen Strick um den Hals, als hätte man sie gerade hängen wollen. Es konnte nicht Wirklichkeit sein, daß ihr ein, Reitstiefel und lederne Schürze ausgenommen, ebenso nackter Mann folgte, der eine Peitsche schwang und ihm, dem ahnungslosen Fremden, einen Blick voll Blutdurst und Mordgedanken entgegenschickte.
Es konnte nicht Wirklichkeit gewesen sein.
Der Student sprang vom Bett auf, ging zum Fenster, atmete tief ein und beugte sich hinaus. Vor dem Haus stand ein Mann in der Kleidung eines Försters und lächelte zu ihm herauf.
»Der Wald«, sagte Förster Johann Franke, »lehrt uns, jeden Augenblick so zu nehmen, wie er gegeben. Der Wald ist den Menschen das große Gleichnis. Für jedes unserer Probleme weist er auf eine Lösung. Aber es bedarf wohl erst eigener leidvoller Erfahrung und eines daraus resultierenden Rückzugs in die Einsamkeit der Natur, um solche Erkenntnisse zu haben.«
Jakob Finn betrachtete den Förster von der Seite, während der den Blick nicht von der Straße nahm, und glaubte, ein ironisches Blitzen in dessen Augen wahrzunehmen. (Es war aber sicher Einbildung.)
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