Der Himmel über Sylt: Max - Lina Hansson - E-Book

Der Himmel über Sylt: Max E-Book

Lina Hansson

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Beschreibung

Ein Schwächeanfall zwingt den beliebten Fernsehkoch Max zu einer Auszeit. Auf Sylt soll er sich der Trauer um seine Eltern stellen und lernen, sein Leben achtsamer zu gestalten. Doch als überraschend seine siebenjährige Halbschwester vor der Tür steht, nimmt der Urlaub einen unerwarteten Verlauf. Emily wirbelt Max‘ Gefühlswelt gehörig durcheinander. Und dann ist da auch noch ihr Vormund Lara, die in ihm Emotionen weckt, mit denen er schon vor zehn Jahren nicht umgehen konnte. Können die drei zwischen Dünen und Wattenmeer einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden?

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Der Himmel über Sylt

BAND 1

LINA HANSSON

Copyright © 2022 Lina Hansson

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Bereitstellung.

© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de unter Verwendung von Motiven: travnikovstudio / 123RF.com

Korrektorat: Sandra Linke (wortnoergler.de)

Selbstverlag: Pia Prenner BA, Am Bahndamm 9, 7000 Eisenstadt

Verwendung der Zitate aus „Only One Letter“ mit freundlicher Genehmigung von be-ebooks und Anne Goldberg.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Die Geschichte geht weiter …

„Emilys und Maxs Kochbuch“

Pancakes

Schoko-Schoko-Schoko-Muffins

Schweinefilet im Speckmantel

Die einzig wahren Spaghetti carbonara

Laras „Spaghetti carabonara“

Über die Autorin

Kapitel 1

»Max? Max! Bist du okay?«

Die vertraute Stimme klang seltsam gedämpft. Max fragte sich, wieso er Kopfhörer trug. Hatte er vergessen, sie abzunehmen, nachdem er sich zusammen mit dem Regisseur die letzte Szene angesehen hatte? Warum hatte ihm das niemand gesagt, bevor er wieder vor die Kamera getreten war? Das machte doch den ganzen Take unbrauchbar.

»Er ist komplett nassgeschwitzt.«

»Blutet er?«

»Wir müssen seine Beine hochlagern.«

»Sollen wir die Rettung rufen?«

Stimmen redeten durcheinander und verschwammen in seinem Gehirn zu einer zähen Masse. Die Kälte des Studiobodens ließ ihn erschaudern, und jemand rief nach einer Decke, während sich etwas unter seine Füße schob. Allmählich floss das Blut zurück in seinen Kopf, die unangenehme Leichtigkeit schwand aus seinen Gliedern und seine Sinne setzten wieder ein. Der feine Duft von Vanille und Beeren stieg ihm in die Nase.

»Das Soufflé!« Mit einem Ruck richtete er sich auf, wurde aber sofort auf den Boden gedrückt.

»Wir kümmern uns schon darum«, versicherte seine Assistentin Nora und musterte ihn eindringlich. »Geht’s?«

Anstatt ihre Frage zu beantworten, drehte Max den Kopf, um dabei zuzusehen, wie die Chefin der Kitchen Economy das Soufflé aus dem Ofen holte und auf der Arbeitsfläche der Showküche abstellte.

»Wie ist es geworden?«, wollte er wissen. »Es ist doch nicht zusammengefallen?«

»Das tut jetzt rein gar nichts zur Sache.« Der Produzent der Kochsendung hockte sich neben Max und betrachtete ihn eingehend. »Die Szene müssen wir ohnehin nochmal drehen. Außer für ein Halloween Special ist die nicht zu gebrauchen. Kannst du aufstehen?«

»Warte, er soll zuerst etwas trinken«, mischte sich Nora ein. »Hilf ihm beim Aufsetzen!«

Max wollte entgegnen, dass er keine Hilfe brauchte, aber dann nahm er wahr, wie kraftlos sich seine Arme und Beine anfühlten, und er ließ widerstandslos zu, dass Daniel seinen Oberkörper aufrichtete wie bei einem Pflegefall. Nora führte ein Glas an seine Lippen und strich ihm dabei eine blonde Haarsträhne zur Seite, die sich aus dem Man Bun gelöst hatte und feucht an seiner Stirn klebte. Obwohl sie jünger war als er, verhielt sie sich häufig übertrieben mütterlich.

»Apfelsaft«, sagte sie. »Der sollte deinem Kreislauf auf die Sprünge helfen.« Max hatte das Gefühl, seine Blutkörperchen warteten nur darauf, endlich eine ausreichende Menge Zucker zu bekommen, die sie an die kritischen Stellen verteilen konnten.

»Hast du dich verletzt?«, erkundigte sich Daniel.

Er horchte in sich hinein, suchte seinen Körper nach Schmerzen ab, fand aber nur eine bleierne Müdigkeit. Schwach schüttelte er den Kopf.

»Wenn du aufstehen kannst, bringe ich dich rüber in den Pausenraum.«

Das Angebot nahm Max dankend an, denn ihm wurde bewusst, dass sich das halbe Produktionsteam um sie gescharrt hatte und alle Blicke neugierig auf ihn gerichtet waren. Er war es gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Doch im Moment lag er auf dem kalten Boden, hatte keine Ahnung, was in den letzten Minuten geschehen war, und sehnte sich nach Privatsphäre, um die fehlende Zeitspanne rekonstruieren zu können.

Daniel reichte ihm die Hand, half ihm auf die Beine und geleitete ihn in den Nebenraum. Bleischwer sank Max dort auf die Couch und legte den Kopf in den Nacken. Ungefragt breitete Nora eine Decke über ihm aus. Normalerweise belächelte er die Fürsorglichkeit seiner Assistentin und pflegte, ihr zu sagen, dass sie sich viel zu viele Sorgen um ihn machte, doch nun kam ihm keine solche Bemerkung über die Lippen.

»Was genau ist da gerade passiert?«, fragte er vorsichtig und blickte dabei von Daniel zu Nora und wieder zurück.

»Du bist mitten in der Erläuterung, dass man ein Soufflé möglichst nicht aus den Augen lassen sollte, ganz blass geworden und dann einfach umgekippt«, erklärte Daniel.

»Nicht blass«, widersprach Nora. »Grau. Es war gruselig.«

»Ich dachte zuerst, du erlaubst dir einen Spaß. Die anderen wohl auch, deshalb hat es einen Moment gedauert, bis wir reagiert haben.« In seinen Worten schwang eine Entschuldigung mit, die er aber nicht aussprach.

Max nickte nur.

»Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?«, bot seine Assistentin an.

Etwas zu schnell bewegte er den Kopf in ihre Richtung und antwortete entschieden: »Nein!« Nun übertrieb sie es wieder mit ihrer Sorge um ihn. Sie sagte ihm dauernd, dass sein Arbeitspensum zu hoch sei und er einen Gang zurückschalten müsse. Aber er wusste selbst am besten, wie viel er bewältigen konnte.

»Dann wenigstens zu einem Arzt«, verlangte Daniel, was bei Max Verwunderung auslöste. Der Produzent war wie er ein Workaholic, die Einhaltung des Zeitplans oberstes Gebot. Wenn Max sich jetzt untersuchen ließ, beendete das ihren Drehtag vorzeitig.

»Wir drehen zuerst die Szene neu«, schlug er vor.

»Du drehst heute überhaupt nichts mehr!« Dass Daniel laut wurde, war keine Seltenheit. Dass er es tat, um jemanden vom Arbeiten abzuhalten, hatte Max jedoch noch nie erlebt.

»Aber der Zeitplan …«, warf er ein.

»Vergiss den Zeitplan! Du lässt dich von einem Arzt durchchecken! Vorher stellst du dich nicht mehr vor die Kamera. Außerdem siehst du aus wie der Tod auf zwei Beinen. Die Visagisten hatten in den letzten Tagen schon Mühe, dich frisch und ausgeschlafen aussehen zu lassen. Jetzt ist gegen deine Gesichtsfarbe das beste Make-up machtlos.«

»Wirklich, Max, du hast uns einen riesigen Schrecken eingejagt«, betonte auch Nora. »Du kannst nicht erwarten, dass das Team einfach so weitermacht. Alle werden dich die ganze Zeit besorgt beobachten, ob du ungewöhnlich schwitzt, zitterst, blass wirst. Niemand wird die volle Konzentration auf seine Arbeit richten können. Und halbe Sachen machen wir hier doch nicht, oder?«

Ihre Argumente überzeugten Max einigermaßen. Obwohl er sich absolut sicher war, dass ihm nichts fehlte, sah er ein, dass er seinem Team einen Beweis dafür liefern musste.

Widerwillig nickte er. »Okay. Kannst du Nick anrufen und fragen, ob er Zeit hat? Aber nur in der Praxis. Ins Krankenhaus fahre ich ganz bestimmt nicht.«

»Ich mache einen Termin mit Dr. Mayer aus«, erwiderte Nora sichtlich erleichtert und griff schon zu ihrem Handy. Während sie am anderen Ende des Raumes versuchte, den Arzt zu erreichen, richtete Daniel seinen Blick auf Max.

»Nur dass das klar ist«, sagte er ernst. »Du lässt dich von deinem Freund auf Herz und Nieren durchchecken! Wir machen hier erst weiter, wenn er mir schriftlich versichert, dass du nicht in der nächsten Szene wieder zusammenklappen wirst.«

»Übertreibst du nicht ein bisschen?«, entgegnete Max genervt.

»Ganz und gar nicht. Wir setzen die Dreharbeiten erst fort, wenn wir wissen, was der Grund für diesen Schwächeanfall war. So was Harmloses wie eine Schwangerschaft wird es ja nicht sein.«

»Ha, ha«, machte Max und versuchte zu verbergen, dass das Wort ›Schwächeanfall‹ ihn nun doch ein wenig verunsicherte. Schwäche war etwas für … für Schwache … Aber er, Spitzenkoch und Fernsehstar, er konnte sich Schwächen nicht leisten.

Kapitel 2

»Bitte sag, dass du irgendwas gefunden hast, was meinen Produzenten zufriedenstellt!« Nach einem gründlichen Check saß Max seinem besten Freund aus Kindertagen zur Befundbesprechung gegenüber.

Dr. Nick Mayer war Assistenzarzt im Krankenhaus, wollte später aber die Praxis seines Vaters übernehmen, in der er jetzt schon regelmäßig aushalf. Diesem Umstand verdankte es Max, dass er die Untersuchungen in einem geschützten Umfeld hatte über sich ergehen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, im Wartezimmer erkannt zu werden.

»Und kann es bitte etwas Harmloses sein?«

»Das ist kein Wunschkonzert«, erwiderte Nick nüchtern und tippte mit dem Kugelschreiber auf einen der Befunde, die er vor sich ausgebreitet hatte. »Aber es sieht trotzdem so aus, als könnte ich dir diese Bitte erfüllen. Falls die Laborwerte nicht noch etwas anderes zutage bringen.«

Max überhörte den letzten Satz geflissentlich und atmete erleichtert aus. »Was ist es?«

»Eine verschleppte Mittelohrentzündung.«

»Tut so was nicht weh?«, wunderte er sich.

Der Arzt nickte. »Normalerweise ja. Aber bei manchen nicht. Außerdem reicht dagegen ein gewöhnliches Schmerzmittel.« In seinem Blick lag ein Vorwurf, den Max sofort verstand.

Sein Umgang mit Schmerzmitteln war – nun ja – großzügig. Er konnte es sich nicht leisten, tagelang von Migräne außer Gefecht gesetzt zu werden, deshalb schluckte er beim ersten Anzeichen von Kopfschmerzen eine Tablette. Gut möglich, dass er das auch in den letzten Tagen gemacht und dadurch die Symptome der Entzündung unterdrückt hatte.

»Max, so geht das nicht weiter!« Nick legte den Kugelschreiber zur Seite und sah ihn eindringlich an. »Der Schwächeanfall war ein Schuss vor den Bug. Bitte nimm ihn ernst!«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, dass du dich völlig übernimmst – und das seit Jahren. Du brauchst eine Pause! Sonst landest du bei Endstation Burnout.«

»So ein Quatsch!«, rief Max aus. »Ich bekomme doch kein Burnout! Ich liebe meinen Beruf!«

»Ja, was glaubst du denn, welche Leute gefährdet sind? Die, die ihre Arbeitszeit von neun bis siebzehn Uhr im Büro absitzen und sich danach keine Gedanken mehr über den Job machen, ganz bestimmt nicht. Du hast dein Restaurant, das macht schon genug Arbeit. Darüber hinaus drehst du eine Fernsehshow nach der anderen, gibst Interviews, nimmst an jeder Veranstaltung teil, zu der man dich einlädt. Wann hast du das letzte Mal so richtig Urlaub gemacht?«

Ein ›Äh‹ war die einzige Reaktion, die er darauf erhielt. Max konnte sich an seinen letzten Urlaub nicht mehr erinnern. Er war viel gereist und auf Kreuzfahrtschiffen in der Welt herumgekommen. Aber immer beruflich, nie privat und schon gar nicht zur Entspannung.

»Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen«, verkündete Nick. »Und ich will ehrliche Antworten!«

Nur mit Mühe verkniff Max es sich, die Augen zu verdrehen, stattdessen brummte er widerwillig: »Okay, wenn es sein muss.«

»Es muss. Also. Hast du das Gefühl, dich ständig beweisen zu müssen?«

Max sah ihn irritiert an. »Selbstverständlich. Das bringt meine Arbeit mit sich. Ich muss an jedem Abend im Restaurant mein Bestes geben, ich muss mein Team zu Höchstleistungen anspornen und ich muss vor der Kamera abliefern. Aber das hat doch nichts mit Burnout zu tun, nur mit meiner Berufswahl.«

Nick überging die letzte Bemerkung und machte sich eine Notiz. »Hast du das Gefühl, ständig über deine Kapazitäten hinaus zu arbeiten? Immer noch mehr, auch wenn du müde und erschöpft bist?«

Wieder reagierte Max mit Unverständnis. »Natürlich! Ich kann doch nicht einfach um neun nach Hause gehen, wenn das Restaurant voll besetzt ist, nur weil ich müde bin. Oder den Drehtag beenden, wenn uns Takes fehlen. Da muss ich durch.«

Abermals notierte sich Nick etwas und ging kommentarlos zum nächsten Punkt weiter. »Hast du das Gefühl, manchmal den Überblick zu verlieren? Über deine Termine? Beim Kochen? Bringst du Zutaten oder Arbeitsschritte durcheinander?«

Max atmete tief durch, um die aufsteigende Ungeduld zu besänftigen. Er kannte Nick lange genug, um zu wissen, dass er ihn nicht gehen lassen würde, bevor er nicht jede einzelne Frage beantwortet hatte. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als dieses eigenartige Interview gehorsam auszusitzen.

»Nick, mein Leben ist ein Chaos, ich habe nicht den geringsten Überblick über meine Termine. Ich bezahle Nora dafür, dass sie das für mich macht. Sie hat alles im Griff und sagt mir, wann ich wo sein muss. Das ist ihr Job, damit ich meinen machen kann. Und im Restaurant gilt dasselbe. Ich bin das Aushängeschild, aber ich kann unmöglich den ganzen Betrieb allein schaukeln. Deshalb habe ich ein fähiges Team um mich gescharrt. Denn das muss auch mal ohne mich auskommen, wenn ich gerade mein Gesicht fürs Frühstücksfernsehen in die Kamera halte, um die Werbetrommel für mein Lokal, mein neuestes Kochbuch oder meine Sendung zu rühren.«

»Und was passiert, wenn Nora oder dein Küchenteam einen Fehler machen?« Nicks grüne Augen hatten sich auf ihn gerichtet, als wollten sie sich in sein Gehirn bohren und die Antwort dort finden.

»Was soll dann sein?«

»Wie reagierst du? Verständnisvoll? Aggressiv? Launisch?«

Max erwiderte den Blick seines Freundes standhaft, kämpfte aber innerlich gegen seinen Unwillen zu diesem Gespräch und den Ärger darüber.

»Jeder weiß, dass ich keine Fehler dulde«, sagte er schließlich. »Deshalb passieren keine.«

Nick zog eine Augenbraue hoch und murmelte etwas in seinen Bartansatz. Er war direkt von der Schicht im Krankenhaus hergekommen. Wenn hier jemand überarbeitet war, dann ja wohl er selbst.

»Nimmst du dir Zeit für Entspannung, Sport, einen Ausgleich zur Arbeit?«, fuhr Nick fort, während er noch seine Notizen machte.

Max verzog das Gesicht. »Du meinst, ich sollte Yoga oder sonst irgendeinen esoterischen Scheiß anfangen? Räucherstäbchen anzünden und meditieren?«

»Ich sage nicht, dass du das solltest. Ich will von dir hören, ob du irgendwas in der Richtung machst. Gehst du laufen? Oder ins Fitnessstudio? Wenn dir das unesoterisch genug ist.«

»Zählen 50 Liegestütze jeden Morgen?«

»Kaum«, brummte Nick.

»Dann nicht.« Für mehr Sport hatte er sich schon lange keine Zeit genommen.

»Die Frage, ob du ausreichend Schlaf bekommst, erspare ich mir«, murmelte Nick und schrieb etwas auf das Blatt. Er wusste ganz genau, dass Max unter massiven Schlafstörungen litt. Schließlich war er es, der die Rezepte für Schlafmittel ausstellte.

»Wie steht es um soziale Beziehungen? Freundschaften? Partnerschaft? Deine Familie?«

»Wie soll es um die stehen?«, entgegnete Max.

»Wenn du mich fragst, eher schlecht.«

»Fühlst du dich etwa vernachlässigt?«

»Wann hast du mich zuletzt angerufen, um dich zu erkundigen, wie es mir geht, oder mir irgendwas zu erzählen?«, warf Nick ihm vor. »Ich bekomme immer nur Anrufe von deiner Assistentin, weil dir die Medikamente ausgegangen sind.«

Max runzelte die Stirn. Er gab es ungern zu, aber da war etwas Wahres dran. Es war Monate her, seit er das letzte Mal mit Nick ein Glas Wein getrunken hatte.

»Ich gehe davon aus, dass du aktuell keine Freundin hast«, setzte der Arzt unbeirrt fort, was Max mit einem Nicken bestätigte.

Er hatte selten Zeit für ein Date, geschweige denn für mehrere hintereinander. Seine letzte Freundin hatte er über die Arbeit kennengelernt. Sie hatte einige Wochen seine Restaurantchefin vertreten, die sich beim Skifahren das Bein gebrochen hatte. So lange sie die Tage miteinander im Restaurant und Nächte in seinem Bett verbracht hatten, war alles gut gelaufen. Doch nachdem sie aufgehört hatte, für ihn zu arbeiten, war die Affäre sehr schnell daran zerbrochen, dass sie fand, er nähme sich zu wenig Zeit für sie.

»Und wie ist die Beziehung zu deinen Schwestern?«

Die Frage ließ Max zusammenzucken, und er hob erschrocken den Kopf. Seine Reaktion verriet Nick mehr, als ihm lieb war. Über Lara und Emily wollte er nicht reden.

»Wann hast du sie zuletzt gesehen? Telefoniert ihr regelmäßig?«

Max machte eine Bewegung mit dem Kopf, die eine Verneinung sein konnte oder einfach nur die unangenehmen Gedanken verscheuchen sollte.

Nicks Augen verengten sich. »Hast du sie seit dem Begräbnis überhaupt getroffen?«

Sein Kopfschütteln war kaum sichtbar. Max ersparte es sich, zu erklären, dass ihr letztes Treffen nicht bei der Beerdigung, sondern bei der Testamentseröffnung stattgefunden hatte. Ihm war klar, dass das in den Augen seines Freundes keinen Unterschied darstellte.

Nick entfuhr ein entsetztes Schnauben. »Du hast sie komplett allein gelassen?«

»Ich hatte so viel Arbeit«, redete er sich heraus.

»Zu viel Arbeit, um für deine Familie da zu sein?« Mit energischen Strichen schrieb Nick einige Zeilen auf, ehe er einmal tief durchatmete und Max direkt ansah. »Du bist weiter, als ich befürchtet hatte.«

»Weiter wo?«

»Weiter oben im Stufensystem eines Burnouts. Mir war nicht bewusst, dass es schon so schlimm ist, dass du dich von deiner Familie abschottest und Probleme ignorierst.«

»Ich hatte zu den beiden noch nie eine besonders enge Beziehung!«, betonte Max. »Ich kenne Emily kaum.«

»Aber sie braucht dich!«

»Woher willst du das wissen?«

»Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand!« Nick war sichtlich erregt, die Ader an seinem Hals schwoll an, und er atmete einige Male tief durch, ehe er weitersprach. »Max. Emily ist sechs Jahre alt …«

»Sieben«, korrigierte Max ihn automatisch. Sie hatte vor drei Wochen Geburtstag gehabt. Er hatte ihr eine Disney-Prinzessinnen-Puppe geschickt. Welche genau, das wusste er nicht. Er war nur dem Link gefolgt, den Lara ihm wie einen Wink mit dem Zaunpfahl gemailt hatte, hatte die Bestellung aufgegeben und das Paket direkt an Emily adressiert. Aber er hatte auch mit ihr telefoniert. Kurz zumindest, bevor an dem Abend der Trubel im Restaurant losgegangen war.

»Sieben«, wiederholte Nick. »Trotzdem, sie war sechs, als sie ihre halbe Familie verloren hat. Ob du willst oder nicht, du machst fünfzig Prozent der verbliebenen Hälfte aus.«

»Ja und? Was erwartest du jetzt von mir? Soll ich hingehen und ihr sagen, dass ich ihre verlorenen Eltern ersetzen werde?«

»Was glaubst du denn, was Lara tut?«, konterte Nick. »Sie hat gar keine andere Wahl, weil sie das Sorgerecht hat. Aber ihr steht beide im selben Verhältnis zu Emily. Du kannst Lara damit nicht einfach allein lassen!«

»Sie kommt zurecht«, behauptete Max, obwohl er insgeheim zugeben musste, dass er sich da nicht so sicher sein konnte. Wie Nick hatte auch Lara in letzter Zeit öfter mit seiner Assistentin gesprochen als mit ihm. Er versprach immer, sie anzurufen, und tat es doch nie. Seit er vor mehr als einem Jahrzehnt seine Sachen gepackt hatte und ausgezogen war, um als Koch die Welt zu erobern, hatte er nur noch Kontakt zu seinem Vater und seiner Stiefmutter gehalten, jedoch nicht zu seiner Stiefschwester.

Emily, die erst drei Jahre später geboren worden war, hatte er nur zu besonderen Anlässen getroffen. Ihre Entwicklung hatte er hauptsächlich über Fotos und Videos mitbekommen. Zuletzt hatte er sie bei der Testamentseröffnung gesehen. Sie hatte ein hübsches Kleid getragen und dazu einen ernsten Gesichtsausdruck und kaum ein Wort gesprochen. Die ganze Zeit über hatte sie sich an Laras Hand geklammert. Nach dem Termin war Max sofort zurück ins Restaurant gefahren.

»Hast du dich mit dem Tod deiner Eltern überhaupt auseinandergesetzt?«, fragte Nick und klang nun in erster Linie besorgt.

»Judith war nicht meine Mutter«, wich Max aus.

»Aber sie hat mehr als dein halbes Leben lang ihr Bestes gegeben, um dir deine zu ersetzen! Max, du bist noch keine dreißig und hast schon zwei Mütter verloren. Und deinen Vater noch dazu. Findest du nicht, du hättest dir Zeit zum Trauern geben sollen?«

»Das lässt sie auch nicht wieder lebendig werden!«, rief Max aufgebracht aus. »Was macht es für einen Unterschied, ob ich ihnen Blumen ans Grab bringe oder nicht?«

»In dir drin macht es einen! Nach so einem Verlust ist es wichtig, zu trauern. Nur durch Trauer können wir den Tod eines nahestehenden Menschen verkraften.«

»Besonders nah standen wir uns gar nicht mehr«, behauptete Max stur. »Meinen Vater habe ich ein- oder zweimal im Monat gesehen, mit Judith meistens nur telefoniert. So viel anders als vor dem Unfall ist es jetzt gar nicht.«

»So siehst du das?«

Er zuckte mit den Schultern. Als Nick zu einem zweiten Blatt Papier griff, weil das erste voll war, wandte er sich ab. Er wollte diese Unterhaltung nicht weiterführen.

Endlich legte Nick den Stift weg und verschränkte die Finger ineinander. Leider war er keineswegs gewillt, das Gespräch zu beenden.

»Als dein Arzt und dein Freund muss ich dir dringend nahelegen, dir eine längere Auszeit zu nehmen«, sagte er förmlich. »Gegen die Entzündung im Ohr verschreibe ich dir ein Antibiotikum, dann wird dieser Spuk rasch vorbeigehen und du kannst deine Serie zu Ende drehen. Aber danach machst du Urlaub – und zwar ausgiebig. Nicht nur ein Wochenende, sondern einige Wochen.«

»Einige Wochen??? Wie stellst du dir das vor?«

»Wie ich mir das vorstelle? Ich werde Nora mitteilen, dass es das Beste für dich wäre, wenn sie alle Termine der nächsten drei Monate absagen würde.«

»Drei Monate?! Bist du verrückt? Und du gibst meiner Assistentin überhaupt keine Anweisungen! Was bildest du dir eigentlich ein?« Max sprang vor lauter Ärger auf und beugte sich bedrohlich über seinen Freund.

»Ich kann deiner Assistentin keine Anweisungen geben, aber ich kann ein Attest ausstellen, dass du nicht in der Verfassung bist, die Dreharbeiten fortzusetzen«, antwortete der gelassen.

»Wenn du das tust …« Es kostete Max seine gesamte Beherrschung, Nick nicht am Kragen zu packen und kräftig zu schütteln.

»Aggression ist übrigens ein Merkmal von Stadium Nummer sechs.«

»Was?« Max starrte ihn verständnislos an.

»Das sechste Burnout-Stadium. Ich bin nicht ganz sicher, ob du nicht schon auf einer höheren Stufe bist, aber auch mit sechs hast du schon die Hälfte hinter dir.«

»Das ist Bullshit!«, widersprach er energisch. »Ich kenne Köche, die ein Burnout hatten. Die konnten am Ende des Tages die Umsätze nicht mehr zusammenrechnen oder nicht mehr richtig abschätzen, wie dick ein Steak sein muss, damit es möglichst nah ans Zielgewicht herankommt. Dinge, die sie früher mit verbundenen Augen geschafft hätten.«

»Ja, genau«, stimmte Nick ihm forsch zu. »Willst du da auch unbedingt landen? Wenn du nicht schleunigst etwas unternimmst, um dagegen zu steuern, bewegst du dich über Verhaltensänderungen, Ersatzbefriedigungen wie erhöhten Alkoholkonsum, Verlust der eigenen Persönlichkeit, innere Leere und Depression hin zum totalen emotionalen, körperlichen und geistigen Zusammenbruch. Da mir viel an dir und deiner Gesundheit liegt, würde ich das gerne verhindern. Daher werde ich dieses Attest, das dein Produzent von dir verlangt, nur ausstellen, wenn du mir schriftlich gibst, dass du danach Pause machst. Du streichst alle Termine, überlässt dein Restaurant deinem Team, von dem du ja behauptest, dass es auch gut ohne dich zurechtkommt. Die Karte kannst du weiterhin zusammenstellen, aber du stehst nicht persönlich in der Küche. Am liebsten wäre mir, du würdest die Stadt verlassen und dich irgendwohin zurückziehen, wo du möglichst wenig Ablenkung hast, damit du dich auf dich selbst konzentrieren musst. Und dich mit deiner Trauer beschäftigen musst.«

»Das ist Erpressung«, brummte Max und sank in seinen Sessel zurück.

Nick beugte sich vor und fixierte ihn mit seinem Blick. »Ja, ist es. Und ich meine es absolut ernst. Ich gehe sogar noch weiter. Wenn du nicht auf diesen Deal eingehst, akzeptiere ich dich nicht länger als meinen Patienten. Dann kannst du dir einen anderen Trottel suchen, der dir deine Schlafmittel verschreibt! Dass du mich gar nicht mehr anzurufen brauchst, muss ich nicht extra dazu sagen, denn das machst du ja ohnehin schon lange nicht mehr!«

Der letzte Satz versetzte Max einen schmerzhaften Stich. Nick war sein ältester Freund. Dass er drohte, ihm diese Freundschaft zu kündigen, rüttelte etwas in ihm wach. Dennoch sträubte er sich dagegen, seinen Job – selbst für einen begrenzten Zeitraum – aufzugeben. Sein Kopf war voll von Horrorszenarien, wie alles, was er sich in den letzten Jahren mühevoll aufgebaut hatte, zusammenbrach wie ein Kartenhaus im Wind.

»Bitte, Max! Wenn du es nicht für dich oder für mich tun kannst, dann mach es wenigstens dafür, dass du deine Serie fertig drehen kannst.«

Der Gedanke, welch finanzielle Katastrophe es wäre, seinen Vertrag für die Kochshow nicht zu erfüllen, brachte ihn zum Einlenken. »In Ordnung. Lass mich diese Staffel beenden, dann tue ich alles, was du von mir verlangst. So lange du mich nicht zu irgendwelchem esoterischen Scheiß zwingst.«

Nick grinste, als wollte er genau das empfehlen, doch dann sagte er: »Ruhe und viel Zeit in der Natur reichen mir fürs Erste.«

»Fürs Erste?«

»Tu mir den Gefallen und hör auf, Unangenehmes abzublocken und dich nur in Arbeit zu vergraben, okay?«, bat Nick. »Bitte nutz diese Pause!«

Max verdrehte die Augen, wandte sich dabei aber dem Fenster zu. Er wollte nicht, dass Nick Zweifel bekam, ob er seinen Teil des Deals einhalten würde. Er sollte ihm nur die Erlaubnis erteilen, weiter zu drehen. Danach konnte er immer noch versuchen, ihn in Bezug auf die Länge der Auszeit herunterzuhandeln.

Vielleicht gab er sich zufrieden, wenn er sah, dass Max sich schon nach kurzer Zeit erholt hatte. Dass ihm Schlaf fehlte, ließ sich nicht abstreiten. Ein, zwei Wochen darauf zu achten, dass er rechtzeitig ins Bett kam, würde bestimmt Wunder wirken. Und mit der Anweisung, Zeit in der Natur zu verbringen, konnte er leben. Früher war er mit seinem Vater oft am Wochenende ans Meer gefahren, und sie hatten lange Strandspaziergänge unternommen.

Ob er es Nick als Trauerarbeit verkaufen konnte, dass er jetzt seine Füße allein im Sand vergrub? Und besaß nicht sein Mentor Tom ein Haus auf irgendeiner Nordseeinsel? Wenn er ihn anrief und fragte, ob das in den nächsten Wochen frei war, konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einen Ort zur Entspannung finden und einen sozialen Kontakt pflegen. Das alles würde hoffentlich dazu beitragen, dass Nick sich wieder beruhigte und die absurde Diagnose zurücknahm.

Kapitel 3

Glücklicherweise war Sylt nicht autofrei. Die bloße Vorstellung, sein Gepäck reduzieren zu müssen, weil er auf ein alternatives Transportmittel angewiesen war, missfiel Max. Dass das hier nicht der Fall war, war einer der wenigen Pluspunkte, den diese ›Auszeit‹ für ihn hatte. Nick konnte von ihm verlangen, sich für einige Wochen aus der Stadt zurückzuziehen, aber er konnte ihn nicht zwingen, seine Arbeit zurücklassen.

Im Kofferraum seines Wagens, den er für die Überquerung des Hindenburgdamms vorsichtig auf den blauen Flachwagen lenkte, befand sich nicht nur ein Koffer mit Kleidung. Er hatte auch eine Kiste mit Bürounterlagen eingepackt, die er in den nächsten Wochen analysieren wollte. Darüber hinaus brachte er eine Box mit etlichen Lebensmitteln mit.

Es widerstrebte Max ebenso, sich in einem Supermarkt auf der Insel mit Spaghetti und Tomatensoße einzudecken, wie Unsummen für Essen, das nicht seinen Qualitätsansprüchen genügte, in Restaurants oder Imbissbuden auszugeben. Gute Zutaten waren teuer, das stand außer Frage. Hochwertige Speisen auch hochpreisig anzubieten war legitim. Höhere Preise zu verlangen, weil die Touristen ohnehin keine andere Wahl hatten – das widersprach seiner Philosophie jedoch auf ganzer Linie.

Er war nicht bereit, Touristenpreise zu bezahlen, nur weil das Haus seines Mentors dummerweise auf einer der beliebtesten Ferieninseln des Landes lag.

---ENDE DER LESEPROBE---