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Allan Karlsson lebt in einem Altersheim und wird 100 Jahre alt. Eigentlich ein Grund zu feiern. Doch während sich der Bürgermeister und die Lokalpresse auf das große Spektakel vorbereiten, hat Allan ganz andere Pläne: Er verschwindet an seinem 100. Geburtstag – und schon bald steht ganz Schweden wegen seiner Flucht auf dem Kopf. Doch mit solchen Dingen hat Allan seine Erfahrung, schließlich hat er schon in jungen Jahren die gesamte Weltpolitik durcheinandergebracht und so manches Abenteuer erlebt ...
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Seitenzahl: 614
Buch
Allan Karlsson hat Geburtstag. Er wird 100 Jahre alt. Eigentlich ein Grund zu feiern. Doch während sich der Bürgermeister und die lokale Presse auf das große Spektakel vorbereiten, hat der Hundertjährige ganz andere Pläne: Er verschwindet einfach – und schon bald steht ganz Schweden wegen seiner Flucht auf dem Kopf. Doch mit solchen Dingen hat Allan seine Erfahrung, er hat schließlich in jungen Jahren die ganze Welt durcheinander gebracht.
Jonas Jonasson erzählt in seinem Bestseller von einer urkomischen Flucht und zugleich die irrwitzige Lebensgeschichte eines eigensinnigen Mannes, der sich zwar nicht für Politik interessiert, aber trotzdem irgendwie immer in die großen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts verwickelt war.
Autor
Jonas Jonasson, geboren im schwedischen Växjö, arbeitete zunächst als Journalist, bevor er beschloss, seinen ersten Roman zu schreiben. Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand wurde zum legendären weltweiten Erfolg. Auch alle seine weiteren Romane wurden gefeierte Bestseller. Mit Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten knüpft Jonasson an die von unzähligen Lesern geliebten Abenteuer seines hundertjährigen Protagonisten Allan Karlsson an.
Außerdem von Jonas Jonasson lieferbar:
Die Analphabetin, die rechnen konnte Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann im Piratförlaget, Stockholm.
Sämtliche Bibelzitate aus: Die Bibel. Nach der dt. Übersetzung D. Martin Luthers, Dreieich 1964.
Das Bellman-Zitat (»Ach, wenn wir hätten, o Freunde, ein Schaff«) stammt aus: Klaus-Rüdiger Utschick (Hg.): Carl Michael Bellman. Band 2: Fredmans Gesänge, München 1998.
Copyright © 2009 by Jonas Jonasson
First published by Piratförlaget, Sweden
Published by arrangement with Pontas Literary & Film Agency, Spain
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 bei carl’s books, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.
Covergestaltung: semper smile, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05668-1V008
www.penguin.de
Ein besonderes Dankeschönan Micke, Liza, Rixon, Maud und Onkel Hans.Jonas
Niemand konnte ein Publikum so in Bann schlagen wie Großvater, wenn er mit dem Priem im Mund und leicht auf seinen Stock gestützt auf seiner Holzbank saß.
»Ja, aber … ist das denn wirklich wahr, Opa?«, fragten wir Enkel dann immer ganz hingerissen.
»Wenn ein’n man jümmers bloß de Wohrheit vertellt, denn is dat de Tid nich wert, dat je em tohört«, antwortete Großvater.
Dieses Buch ist ihm gewidmet.
Jonas Jonasson
Montag, 2. Mai 2005
Man möchte meinen, er hätte seine Entscheidung etwas früher treffen und seine Umgebung netterweise auch davon in Kenntnis setzen können. Aber Allan Karlsson war noch nie ein großer Grübler gewesen.
Entsprechend war der Einfall auch noch ganz frisch, als der alte Mann sein Fenster im Erdgeschoss des Altersheims von Malmköping, Sörmland, öffnete und in die Rabatte kletterte.
Das Manöver war etwas mühselig – nicht unbedingt überraschend, wenn man bedenkt, dass Allan just an diesem Tage hundert geworden war. In einer knappen Stunde sollte die Geburtstagsfeier im Gemeinschaftsraum losgehen. Sogar der Stadtrat wollte anrücken. Und die Lokalpresse. Und die ganzen anderen Alten. Und das komplette Personal, allen voran Schwester Alice, die alte Giftspritze.
Nur die Hauptperson hatte nicht vor, zu dieser Feier aufzutauchen.
Montag, 2. Mai 2005
Allan Karlsson stand zögernd in dem Stiefmütterchenbeet, das an der Längsseite des Altersheims verlief. Zu einer braunen Hose trug er ein braunes Jackett und ein Paar braune Pantoffeln. Mit der Mode hatte er es nicht so, aber das ist ja auch eher selten in diesem Alter. Er war vor seiner eigenen Geburtstagsfeier ausgebüxt, was ja auch eher selten ist in diesem Alter – nicht zuletzt deswegen, weil der Mensch generell selten in dieses Alter kommt.
Allan überlegte, ob er sich die Mühe machen sollte, noch einmal durchs Fenster in sein Zimmer zurückzuklettern, um Hut und Schuhe zu holen, aber als er feststellte, dass immerhin die Brieftasche in der Innentasche seines Jacketts steckte, ließ er es dabei bewenden. Außerdem hatte Schwester Alice schon mehrfach bewiesen, dass sie einen siebten Sinn besaß (egal, wo er seinen Schnaps versteckte, sie fand ihn grundsätzlich), und vielleicht lief sie ja gerade durch den Flur und witterte, dass hier etwas faul war.
Lieber abhauen, solange noch Zeit ist, dachte Allan und kletterte mit knacksenden Kniegelenken aus der Rabatte. Soweit er sich erinnern konnte, steckten in seiner Brieftasche ein paar Hunderter, die er sich zusammengespart hatte, und das war auch ganz gut so, denn kostenlos würde er sich sicher nicht verstecken können.
Also wandte er noch einmal den Kopf und warf einen Blick auf das Altersheim, von dem er bis vor Kurzem noch geglaubt hatte, dass er bis zu seinem Lebensende darin wohnen würde. Und dann sagte er sich, dass er ja auch ein andermal und anderswo sterben konnte.
Der Hundertjährige schlich sich also davon mit seinen Pisspantoffeln (die so heißen, weil Männer in hohem Alter selten weiter als bis zu ihren Schuhspitzen pissen können). Erst durch einen Park, dann an einem freien Feld entlang, auf dem ab und zu ein Markt in dem ansonsten recht stillen Städtchen abgehalten wurde. Nach ein paar hundert Metern bog Allan hinter der stolz aufragenden mittelalterlichen Kirche ab und setzte sich auf eine Bank neben den Grabsteinen, um seinen Knien eine kleine Pause zu gönnen. Mit der Gottesfurcht war es in der Gemeinde nicht so weit her, dass Allan befürchten musste, von seinem Sitzplatz aufgescheucht zu werden. Wie er feststellte, war ein gewisser Henning Algotsson, der unter dem Stein genau gegenüber von Allans Sitzbank lag, genau sein Jahrgang – Ironie des Schicksals. Der Unterschied zwischen ihnen beiden bestand unter anderem darin, dass Henning einundsechzig Jahre früher die Segel gestrichen hatte.
Wenn Allan zu derlei Gedankenspielen geneigt hätte, hätte er vielleicht überlegt, woran Henning wohl im Alter von gerade mal neununddreißig Jahren gestorben sein mochte. Aber in das Tun und Lassen anderer Menschen hatte er sich noch nie eingemischt, nicht, wenn es sich irgend vermeiden ließ, was ja meistens der Fall war.
Stattdessen dachte er sich, dass er sich wohl ganz schön verschätzt hatte, als er da so im Heim herumgehockt und zu dem Schluss gekommen war, im Grunde könnte er einfach wegsterben und alles hinter sich lassen. Denn sosehr es einen auch überall zwickte und zwackte – es war doch viel interessanter und lehrreicher, auf der Flucht vor Schwester Alice zu sein, als reglos zwei Meter unter der Erde zu liegen.
Daraufhin stand das Geburtstagskind auf, trotzte seinen schmerzenden Knien und setzte nach einem Abschiedsgruß an Henning Algotsson seine schlecht geplante Flucht fort.
Allan überquerte den Friedhof in südlicher Richtung, bis ihm eine Steinmauer den Weg versperrte. Diese war kaum über einen Meter hoch, aber Allan war ein Hundertjähriger, kein Hochspringer. Auf der anderen Seite wartete jedoch das Reisezentrum von Malmköping, und der Alte begriff soeben, dass seine wackligen Beine ihn genau dorthin tragen wollten. Vor vielen, vielen Jahren hatte Allan einmal den Himalaya überquert. Das war wirklich mühsam gewesen. Daran musste er jetzt denken, als er vor dem letzten Hindernis zwischen sich und dem Reisezentrum stand. Er dachte so intensiv daran, dass das Mäuerchen vor seinen Augen fast zu einem Nichts zusammenschrumpfte. Und als es kaum mehr kleiner hätte werden können, kroch Allan hinüber, seinem Alter und seinen Knien zum Trotz.
In Malmköping herrschte selten Gedränge, und dieser sonnige Frühlingstag machte keine Ausnahme. Allan war noch keiner Menschenseele begegnet, seit er mir nichts, dir nichts beschlossen hatte, seine eigene Geburtstagsfeier zu schwänzen. Der Wartesaal des Reisezentrums war ebenfalls fast leer, als Allan in seinen Pantoffeln hereingeschlurft kam. Aber nur fast. Mitten im Saal standen zwei Bankreihen mit den Rücken zueinander. Alle Plätze frei. Rechts befanden sich zwei Schalter, von denen der eine geschlossen war, während hinter dem anderen ein mageres Männchen mit einer kleinen runden Brille saß, mit seitlich gescheiteltem, schütterem Haar und einer Uniformweste. Er blickte gequält von seinem Computerbildschirm auf, als Allan die Halle betrat. Vielleicht fand er ja, dass heute Nachmittag einfach viel zu viel los war – wie Allan gerade bemerkt hatte, war er nämlich doch nicht der einzige Reisende im Saal. Tatsächlich stand in einer Ecke ein schmächtiger junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken.
Offensichtlich war der junge Mann des Lesens unkundig, denn er stand vor der Behindertentoilette und zerrte an der Klinke, als würde ihm das knallgelbe Schild mit der schwarzen Aufschrift »Gesperrt« nichts sagen.
Wenig später wechselte er jedenfalls zur Toilettentür nebenan, aber dort stand er vor dem nächsten Problem. Anscheinend wollte sich der junge Mann nicht von seinem großen grauen Koffer auf Rollen trennen, doch für beide auf einmal war die Toilette zu klein. Allan erkannte sofort, dass der Mann den Koffer entweder draußen lassen musste, während er seine Notdurft verrichtete, oder hineinbugsieren, während er selbst draußen blieb.
Doch Allan konnte keine größere Anteilnahme an den Sorgen des jungen Mannes aufbringen. Stattdessen bemühte er sich, die Füße zu heben, so gut es ging, während er an den geöffneten Schalter trippelte und sich bei dem kleinen Beamten erkundigte, ob es wohl irgendein Verkehrsmittel gäbe, das in den nächsten Minuten in irgendeine beliebige Richtung abfuhr, und was es in dem Fall wohl kosten mochte.
Der Schalterbeamte sah müde aus. Und er musste irgendwann mitten in Allans Ausführungen den Faden verloren haben, denn nach kurzer Bedenkzeit erkundigte er sich:
»Und welches Reiseziel hatten Sie dabei im Sinn?«
Allan setzte neu an und erinnerte das Männchen daran, dass er das Reiseziel und somit auch die Streckenführung als untergeordnet betrachtete und größeren Wert auf a) Abfahrtszeit und b) Kostenpunkt legte.
Der kleine Mann schwieg wieder ein paar Sekunden, während er in seine Tabellen glotzte und Allans Worte verdaute.
»Bus 202 fährt in drei Minuten nach Strängnäs. Passt Ihnen das?«
Ja, befand Allan, das sei durchaus passend, woraufhin man ihn informierte, dass besagter Bus von der Haltestelle gleich vor der Eingangstür abfuhr und dass es wohl am geschicktesten wäre, die Fahrkarte direkt beim Busfahrer zu lösen.
Allan fragte sich im Stillen, was der kleine Mann wohl hinter diesem Schalter zu suchen hatte, wenn er keine Fahrkarten verkaufte, sprach die Frage aber nicht aus. Vielleicht fragte sich der kleine Mann hinter seinem Schalter ja genau dasselbe. Also bedankte Allan sich einfach für die Hilfe und versuchte, zum Gruß noch den Hut zu lüften, den er in der Eile des Aufbruchs nicht mitgenommen hatte.
Der Hundertjährige setzte sich auf eine der zwei leeren Bankreihen, mit seinen Gedanken allein. Die verdammte Jubiläumsfeier im Heim sollte um drei Uhr beginnen, bis dahin waren es noch zwölf Minuten. Demnächst würden sie also an Allans Zimmertür klopfen, und dann war die Hölle los, so viel stand fest.
Der Jubilar lächelte in sich hinein, während er aus dem Augenwinkel jemanden näher kommen sah. Es war der schmächtige junge Mann mit den langen, fettigen blonden Haaren, dem struppigen Bart und der Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken. Er steuerte direkt auf Allan zu, seinen großen Koffer auf den vier kleinen Rollen im Schlepptau. Allan war sofort klar, dass er Gefahr lief, sich mit dem Langhaarigen unterhalten zu müssen. Doch das war ihm im Grunde gar nicht mal unrecht, denn auf diese Art konnte er doch mal einen Einblick bekommen, wie die Jugend von heute so über allerlei Themen dachte.
In der Tat entspann sich ein Dialog, wenn auch kein ganz so anspruchsvoller. Der junge Mann blieb ein paar Meter vor ihm stehen, schien den alten Mann kurz prüfend zu mustern und sagte dann:
»Heyhörnsemal.«
Allan antwortete freundlich, dass er ihm ebenfalls einen guten Tag wünsche, und erkundigte sich, ob er ihm mit irgendetwas dienen könne. Und so war es denn auch. Der junge Mann wollte nämlich, dass Allan den Koffer im Auge behielt, während der Eigentümer desselben seine Notdurft auf der Toilette verrichtete. Oder, wie sich der junge Mann ausdrückte:
»Ich muss mal scheißen.«
Allan erwiderte höflich, dass er zwar alt und gebrechlich sei, doch sicherlich noch über so gute Augen verfüge, dass es ihm nicht allzu beschwerlich vorkomme, den Koffer des jungen Mannes zu hüten. Allerdings empfahl er dem jungen Mann eine gewisse Eile, da er in Bälde einen Bus erwischen müsse.
Letzteres hörte der junge Mann freilich nicht mehr, denn er eilte schon im Laufschritt auf die Toilette zu, bevor Allan seinen Satz vollendet hatte.
Der Hundertjährige hatte nie zu den Leuten gehört, die sich über andere aufregen – mochte es nun Anlass dazu geben oder nicht –, und er störte sich auch nicht an der ungehobelten Art dieses jungen Mannes. Doch empfand er sicherlich auch keine ausgeprägte Sympathie für den betreffenden Jüngling, was durchaus von Bedeutung war für das, was als Nächstes geschehen sollte.
Und zwar, dass der Bus 202 vor dem Eingang vorfuhr, nur wenige Sekunden nachdem sich die Toilettentür hinter dem jungen Mann geschlossen hatte. Allan warf erst einen Blick auf den Bus und dann auf den Koffer, dann wieder auf den Bus und dann noch einmal auf den Koffer.
»Er hat ja Rollen«, sagte er zu sich. »Und so einen Griff zum Ziehen hat er auch.«
Und so überraschte er sich selbst damit, dass er einen, wie man es wohl ausdrücken könnte, lebensbejahenden Entschluss fasste.
Der Busfahrer war kundenorientiert und höflich und half dem alten Mann mit dem großen Koffer in den Bus.
Allan bedankte sich und zog die Brieftasche aus der Innentasche seiner Jacke. Der Fahrer fragte, ob der Herr wohl ganz bis nach Strängnäs mitfahren wolle, während Allan seine Barschaft zählte. Sechshundertfünfzig Kronen in Scheinen und ein paar Münzen. Weil er es für das Beste hielt, jede Krone zweimal umzudrehen, blätterte er einen Fünfziger hin und fragte:
»Wie weit komme ich wohl hiermit?«
Der Busfahrer erwiderte fröhlich, er sei ja Leute gewöhnt, die zwar wüssten, wohin sie wollten, aber nicht, was es kostete – hier sei es doch tatsächlich mal umgekehrt. Dann erklärte er nach einem Blick auf seine Tabelle, dass man für achtundvierzig Kronen bis Byringe Bahnhof fahren könne.
Damit war Allan einverstanden. Er bekam seine Fahrkarte und zwei Kronen Wechselgeld. Den frisch gestohlenen Koffer stellte der Fahrer in den Stauraum hinter seinem Sitz, und Allan setzte sich in die erste Reihe auf die rechte Seite. Von dort aus konnte er durchs Fenster in den Wartesaal des Reisezentrums blicken. Als der Busfahrer den Gang einlegte und losrollte, war die Toilettentür noch immer geschlossen. Allan wünschte dem jungen Mann ein paar besonders schöne Momente da drin – wo ihn doch so eine Enttäuschung erwartete, wenn er herauskam.
Der Bus nach Strängnäs war nicht gerade überfüllt an diesem Nachmittag. Ganz hinten saß eine Frau mittleren Alters, die in Flen zugestiegen war, in der Mitte eine junge Mutter, die sich mit zwei Kindern – eines davon im Kinderwagen – in Solberga an Bord gehangelt hatte, und ganz vorne ein sehr alter Mann, der in Malmköping zugestiegen war.
Letzterer überlegte gerade, warum er eigentlich diesen grauen Koffer auf Rollen gestohlen hatte. Vielleicht … weil er es konnte? Oder weil der Besitzer so ein Lümmel war? Oder weil der Koffer vielleicht ein Paar Schuhe und sogar einen Hut enthalten könnte? Oder weil der alte Mann nichts zu verlieren hatte? Nein, Allan konnte es selbst nicht sagen. Wenn das Leben Überstunden macht, fällt es einem eben leichter, sich gewisse Freiheiten herauszunehmen, dachte er und setzte sich bequem auf seinem Platz zurecht.
Es schlug drei Uhr, und der Bus fuhr am Björndammen vorbei. Allan stellte fest, dass er bis jetzt ganz zufrieden mit den Entwicklungen des Tages war. Dann schloss er die Augen, um ein kleines Nickerchen zu halten.
Im gleichen Augenblick klopfte Schwester Alice an die Tür zu Zimmer 1 im Altersheim von Malmköping. Sie klopfte noch einmal. Und noch einmal.
»Jetzt seien Sie doch nicht so bockig, Allan. Der Stadtrat und die anderen sind schon alle da. Hören Sie? Sie haben doch nicht schon wieder getrunken, Allan? Jetzt kommen Sie aber endlich raus, Allan! Allan?«
Ungefähr gleichzeitig öffnete sich die Tür der momentan einzigen benutzbaren Toilette des Reisezentrums Malmköping, und heraus kam ein in zweifacher Hinsicht erleichterter junger Mann. Nach ein paar Schritten in den Wartesaal hinein, wobei er mit der einen Hand seinen Gürtel zurechtrückte und sich mit der anderen durchs Haar fuhr, blieb er abrupt stehen, starrte erst auf die zwei leeren Bankreihen, dann panisch nach rechts und nach links, woraufhin er laut sagte:
»Verdammt, was hat dieser verfluchte, beschissene Drecks…«
Dann verlor er den Faden und musste noch einmal ansetzen.
»Du bist so gut wie tot, du alter Wichser. Ich muss dich bloß finden …«
Montag, 2. Mai 2005
Kurz nach drei Uhr nachmittags am 2. Mai war es auf Tage hinaus vorbei mit der Ruhe im Altersheim von Malmköping. Schwester Alice wurde nicht wütend, sondern machte sich tatsächlich Sorgen, weswegen sie auch ihren Generalschlüssel aus der Tasche zog. Da Allan sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen Fluchtweg zu verheimlichen, konnte man sofort feststellen, dass das Geburtstagskind aus dem Fenster geklettert war. Nach den Fußspuren zu urteilen, war es eine Weile zwischen den Stiefmütterchen herumgestapft und dann verschwunden.
Kraft seines Amtes fühlte der Stadtrat, dass er jetzt das Heft in die Hand nehmen musste. Er beauftragte das Personal, sich in Zweiergruppen auf die Suche zu machen. Allan konnte ja noch nicht weit gekommen sein, die Gruppen sollten sich also auf die nähere Umgebung konzentrieren. Eine wurde in den Park geschickt, eine ins Spirituosengeschäft (wohin sich Allan zuweilen verirrte, wie Schwester Alice zu berichten wusste), eine zu den anderen Geschäften an der Storgatan und eine zum Gemeindesaal. Der Stadtrat selbst wollte im Altersheim bleiben, um ein Auge auf die Alten zu haben, die sich noch nicht in Luft aufgelöst hatten, und um sich die nächsten Schritte zu überlegen. Er bat die Suchtrupps, ein bisschen diskret vorzugehen, die Sache musste ja nicht unnötig breitgetreten werden. Im allgemeinen Aufruhr war dem Stadtrat aber ganz entgangen, dass eine der Zweiergruppen, die er gerade losgeschickt hatte, aus einer Reporterin der Lokalzeitung und ihrem Fotografen bestand.
* * * *
Das Reisezentrum fiel nicht in den Bereich, in den der Stadtrat seine Suchtrupps geschickt hatte. Dort hatte allerdings eine Einergruppe – bestehend aus einem erbosten, schmächtigen jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken – bereits alle denkbaren Schlupfwinkel des Bahnhofs durchkämmt. Nachdem weder der Alte noch der Koffer auffindbar waren, trat der junge Mann resolut vor den kleinen Beamten hinter dem einzigen geöffneten Schalter, um sich Informationen über die eventuellen Reisepläne des Alten zu verschaffen.
Der kleine Beamte hatte seinen Job zwar satt, aber ein gewisses Berufsethos hatte er sich denn doch noch bewahrt. Deswegen erklärte er dem geräuschvoll auftretenden jungen Mann, die Reisenden an diesem Busbahnhof könnten sich jederzeit darauf verlassen, dass ihre persönlichen Angaben mit Diskretion behandelt wurden. Ein wenig hochmütig fügte er hinzu, dass er unter keinerlei Umständen geneigt sei, dem Ansuchen des jungen Mannes stattzugeben und derlei Informationen mit ihm zu teilen.
Der junge Mann schwieg einen Moment und verdolmetschte sich die Worte des kleinen Beamten in verständliches Schwedisch. Daraufhin ging er fünf Meter nach links, zur nicht allzu stabilen Eingangstür zum Schalterbereich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe zu überprüfen, ob sie vielleicht abgeschlossen war, sondern nahm bloß kurz Anlauf und trat mit dem rechten Stiefel die Tür ein, dass die Splitter in alle Richtungen stoben. Der kleine Beamte konnte nicht einmal den Telefonhörer abheben, nach dem er gegriffen hatte, um Hilfe zu rufen, denn ehe er sich’s versah, zappelte er vor dem jungen Mann in der Luft, der ihn mit festem Griff bei den Ohren gepackt und hochgehoben hatte.
»Ich weiß vielleicht nicht, was ›Diskretion‹ bedeutet, aber eines weiß ich ganz sicher, nämlich wie man die Leute zum Reden bringt«, sagte der junge Mann zu dem kleinen Beamten, bevor er ihn mit einem leichten Rums wieder auf seinen Drehstuhl setzte.
Anschließend beschrieb er ihm, was er – unter Zuhilfenahme von Hammer und Nägeln – mit dem Geschlechtsorgan seines Gegenübers anstellen würde, falls dieser seinem Wunsch nicht entsprechen sollte. Die Beschreibung war so anschaulich, dass der kleine Beamte sofort bereit war zu erzählen, was er wusste, nämlich dass der Alte wahrscheinlich mit einem Bus Richtung Strängnäs unterwegs war. Ob er einen Koffer mitgenommen hatte, könne er allerdings nicht sagen, weil er nämlich nicht zu den Leuten gehöre, die harmlose Reisende ausspionierten.
An dieser Stelle verstummte der kleine Beamte, um zu sehen, wie zufrieden der junge Mann mit der Auskunft war, und er kam zu dem Schluss, dass er wohl gut daran tat, weitere Angaben hinzuzufügen. Deshalb erklärte er rasch, dass es auf der Strecke von Malmköping nach Strängnäs zwölf Haltestellen gebe und dass der Alte an jeder beliebigen aussteigen konnte. Wer in dieser Frage genauere Auskunft geben könne, sei der Busfahrer, und der träfe laut Fahrplan um 19.10 Uhr des heutigen Abends wieder in Malmköping ein, auf der Rückfahrt Richtung Flen.
Jetzt setzte sich der junge Mann neben den verschreckten kleinen Beamten mit den schmerzenden Ohren.
»Muss mal kurz nachdenken«, verkündete er.
Und dann dachte er nach. Er dachte, dass er mit ziemlicher Sicherheit die Handynummer des Busfahrers aus dem kleinen Mann herausschütteln konnte, um dann den Fahrer anzurufen und ihm mitzuteilen, dass der Koffer des Alten Diebesgut war. Doch dabei bestand freilich die Gefahr, dass der Busfahrer die Polizei einschaltete, und das wollte der junge Mann ganz sicher nicht. Außerdem war es im Grunde noch nicht so eilig, denn der Alte hatte schrecklich alt ausgesehen, und wenn er nun auch noch einen Koffer mit sich herumschleppen musste, würde er sich gezwungenermaßen auch ab Strängnäs mit Zug, Bus oder Taxi weiterbewegen. So würde er weitere Spuren hinterlassen, und der junge Mann würde überall einen finden, dem er die Ohren langziehen konnte, damit er ihm erzählte, wohin der Alte unterwegs war. Der junge Mann hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, die Leute dazu zu überreden, ihr Wissen mit ihm zu teilen.
Als er fertig nachgedacht hatte, beschloss er, den entsprechenden Bus einfach abzuwarten und den Fahrer ohne übertriebene Freundlichkeit zu befragen.
Da die Sache nun klar war, stand der junge Mann wieder auf und erklärte seinem Gegenüber, was mit ihm, seiner Frau, seinen Kindern und seinem Haus passieren würde, falls es ihm einfallen sollte, der Polizei oder sonst wem zu erzählen, was gerade vorgefallen war.
Der kleine Schalterbeamte hatte zwar weder Frau noch Kind, aber ihm war doch daran gelegen, seine beiden Ohren sowie sein Geschlechtsorgan in einigermaßen unversehrtem Zustand zu behalten. Also schwor er bei seiner staatlichen Eisenbahnerehre, dass er keiner Menschenseele etwas verraten würde.
Und diesen Schwur hielt er bis zum nächsten Tag.
* * * *
Die ausgesandten Zweiergruppen kehrten zum Altersheim zurück und berichteten von ihren Beobachtungen. Beziehungsweise dem Mangel an ebensolchen. Der Stadtrat hatte instinktiv beschlossen, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, und überlegte hin und her, wie die beste Alternative aussehen könnte. Da nahm sich die Reporterin die Frage heraus:
»Was haben Sie denn nun vor, Herr Stadtrat?«
Der Stadtrat schwieg ein paar Sekunden, dann verkündete er:
»Wir werden natürlich die Polizei einschalten.«
O Gott, wenn er eines auf dieser Welt hasste, dann war es die freie Presse.
* * * *
Allan wachte davon auf, dass der Fahrer ihn freundlich anstupste und ihm mitteilte, sie hätten jetzt Byringe Bahnhof erreicht. Anschließend bugsierte er den Koffer aus der Vordertür, und Allan folgte ihm.
Auf die Frage des Fahrers, ob der Herr ab hier allein zurechtkomme, erwiderte Allan, dass der Fahrer sich keine Sorgen zu machen brauche. Dann bedankte er sich für die Hilfe und winkte ihm zum Abschied, während der Bus wieder auf die Landstraße 55 fuhr und seinen Weg nach Strängnäs fortsetzte.
Die Nachmittagssonne stand schon recht tief hinter den hohen Fichten, die ringsum aufragten, und langsam begann er in seinem dünnen Jackett und den Pantoffeln zu frieren. Ein Byringe war weit und breit nicht zu sehen, geschweige denn der dazugehörige Bahnhof. Hier gab es nur Wald, Wald und nochmals Wald. In drei Richtungen. Und nach rechts ging ein kleiner Waldweg ab.
Allan überlegte, dass der Koffer, den er kurz entschlossen mitgenommen hatte, vielleicht warme Kleider enthielt. Aber der war abgeschlossen, und ohne Schraubenzieher oder anderes Werkzeug würde er ihn sowieso nicht aufbekommen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu bewegen, wenn er nicht hier an der Landstraße herumstehen und langsam erfrieren wollte. (Die Erfahrung sagte ihm allerdings, dass ihm das wohl nicht mal gelingen würde, wenn er es darauf anlegte.)
Der Koffer hatte einen Griff an der Seite, und wenn man daran zog, rollte er brav auf seinen kleinen Rollen hinter einem her. Allan folgte also mit kleinen, schlurfenden Schritten dem Weg in den Wald. Hinter ihm holperte und schlingerte der Koffer über den Boden.
Nach ein paar hundert Metern erreichte Allan das, was offensichtlich Byringe Bahnhof war – beziehungsweise ein stillgelegtes Bahnhofsgebäude neben einer äußerst stillgelegten Bahnstrecke.
Er mochte ja ein Prachtexemplar von einem Hundertjährigen sein, aber nun war es doch alles ein bisschen viel gewesen in der kurzen Zeit. Allan musste sich auf den Koffer setzen, um sowohl seine Gedanken als auch neue Kräfte zu sammeln.
Schräg links vor ihm stand das heruntergekommene, zweigeschossige gelbe Bahnhofsgebäude. Die Fenster im Erdgeschoss waren allesamt mit rohen Brettern vernagelt. Schräg rechts verschwand das stillgelegte Eisenbahngleis in der Ferne, schnurgerade weiter in den umgebenden Wald hinein. Der Natur war es zwar noch nicht gelungen, die Schienen wieder ganz zurückzuerobern, aber das war sicher nur eine Frage der Zeit.
Der hölzerne Bahnsteig wirkte nicht gerade vertrauenerweckend. An der äußersten Planke konnte man immer noch die aufgemalte Warnung lesen: Betreten der Gleise verboten. Na, das Gleis konnte man sicher gefahrlos betreten, dachte Allan. Aber welcher Mensch, der auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, würde freiwillig diesen Bahnsteig betreten?
Die Frage wurde umgehend beantwortet, denn auf einmal ging die Tür des Gebäudes auf, und ein Mann um die siebzig mit braunen Augen und grauen Bartstoppeln kam festen Schrittes herausspaziert. Er trug solide Stiefel, ein kariertes Hemd, eine schwarze Lederweste und eine Schirmmütze. Offenbar vertraute er darauf, dass die Bretter nicht unter ihm nachgaben, denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem alten Mann.
Mitten auf dem Bahnsteig blieb der Schirmmützenmann stehen und musterte ihn mit einem Anflug von Feindseligkeit. Aber dann schien er sich eines Besseren zu besinnen, wahrscheinlich weil ihm aufging, was für ein gebrechliches Menschlein sich da auf sein Grundstück verirrt hatte.
Allan saß immer noch auf seinem frisch gestohlenen Koffer und wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er sah dem Schirmmützenmann in die Augen und wartete auf dessen Eröffnungszug. Der kam ziemlich rasch und gar nicht so unfreundlich, wie man zunächst hätte erwarten mögen. Eher abwartend.
»Wer sind Sie, und was machen Sie auf meinem Bahnsteig?«, erkundigte sich der Schirmmützenmann.
Allan gab keine Antwort. Er wusste nicht recht, ob der Mann, der ihm da gegenüberstand, Freund oder Feind war. Doch dann fiel ihm ein, dass es vielleicht ganz klug wäre, sich nicht mit dem einzigen Menschen weit und breit anzulegen, der ihn in die Wärme einer Behausung bitten konnte, bevor die Abendkühle wirklich unerbittlich zuschlug. Daher beschloss er, einfach die Wahrheit zu sagen.
Also erzählte Allan, dass er Allan hieß, dass er auf den Tag genau hundert Jahre alt war und für sein Alter noch ganz munter, sogar so munter, dass er aus dem Heim abgehauen war, und dass er außerdem den Reisekoffer eines jungen Mannes gestohlen hatte, der darüber bestimmt nicht allzu erfreut sein dürfte, dass überdies Allans Knie im Moment nicht in Bestform waren und dass Allan sich wünschte, eine kleine Pause vom Spazierengehen einlegen zu können.
Nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, verstummte er, blieb auf dem Koffer sitzen und wartete auf den Urteilsspruch.
»Na so was«, sagte der Schirmmützenmann und grinste. »Ein Dieb!«
»Ein alter Dieb«, verbesserte Allan missmutig.
Der Mann mit der Schirmmütze sprang geschmeidig vom Bahnsteig und näherte sich dem Hundertjährigen, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
»Bist du wirklich hundert Jahre alt?«, erkundigte er sich. »Dann hast du jetzt sicher Hunger.«
Allan verstand die Logik dieser Schlussfolgerung nicht ganz, aber hungrig war er tatsächlich. Also fragte er, was denn auf der Speisekarte stehe und ob es möglicherweise zu machen sei, dass er auch einen Schnaps dazubekam.
Der Schirmmützenmann hielt ihm die Hand hin, um sich zum einen als Julius Jonsson vorzustellen und zum anderen dem Alten auf die Füße zu helfen. Dann teilte er Allan mit, dass er ihm den Koffer abnehmen könne, dass es Elchbraten gebe, wenn es recht sei, und dass er auf jeden Fall einen Schnaps dazubekommen könne, zur Wiederherstellung von Körper und Knien.
Mühsam kletterte Allan auf den Bahnsteig. Die Schmerzen sagten ihm, dass er noch lebte.
Julius Jonsson hatte seit mehreren Jahren keinen mehr zum Reden gehabt, daher kam ihm die Begegnung mit dem Alten mit Koffer gerade recht. Nachdem es einen Schnaps fürs erste Knie gegeben hatte und einen fürs zweite, gefolgt von einem weiteren für den Rücken und für den Nacken sowie einem für den Appetit, war man schon in bester Plauderstimmung. Allan wollte wissen, wovon Julius lebte, und der antwortete mit einer langen Erzählung.
Julius war im Norden zur Welt gekommen, in Strömbacka, unweit von Hudiksvall, als einziges Kind der Bauern Anders und Elvina Jonsson. Er arbeitete als Knecht auf dem Hof und bekam jeden Tag Prügel von seinem Vater, welcher der Meinung war, dass sein Sohn zu gar nichts taugte. Als Julius fünfundzwanzig war, starb erst seine Mutter an Krebs, und ihr Sohn trauerte sehr um sie. Wenig später ertrank der Vater im Sumpf, bei dem Versuch, eine Kuh zu retten. Auch da trauerte Julius sehr, denn er hatte wirklich an der Kuh gehangen.
Der junge Julius hatte keinerlei Talent zum Beruf des Landwirts (da hatte sein Vater also recht gehabt), und Lust genauso wenig. Also verkaufte er alles bis auf ein paar Hektar Wald, weil er glaubte, die könnten ihm auf seine alten Tage noch etwas nützen.
Dann fuhr er nach Stockholm und brachte innerhalb von zwei Jahren sein ganzes Geld durch. Woraufhin er in den Wald zurückkehrte.
Mit gewissem Eifer meldete er sich auf die Ausschreibung eines Großauftrags des Elektrizitätswerks Hudiksvall für fünftausend Hochspannungsmasten. Und da er sich für Details wie Arbeitgeberabgaben, Umsatzsteuer und dergleichen nicht interessierte, erhielt er den Zuschlag. Mit Hilfe von zehn ungarischen Flüchtlingen gelang es ihm außerdem, die Holzmasten fristgerecht zu liefern, und er bekam so viel Geld dafür, dass er es kaum glauben konnte.
So weit, so gut. Doch Julius hatte leider ein bisschen schummeln müssen, denn die Bäume waren noch nicht ganz ausgewachsen gewesen. Daher waren die Masten einen Meter kürzer als bestellt – was wohl keiner gemerkt hätte, aber leider verhielt es sich so, dass sich fast jeder Bauer der Gegend damals einen Mähdrescher angeschafft hatte.
Das Elektrizitätswerk Hudiksvall schlug nun auf sämtlichen Äckern und Weiden der Gegend die Masten in den Boden, und als die Erntezeit gekommen war, wurden an einem einzigen Vormittag die Hochspannungsleitungen an sechsundzwanzig Stellen heruntergerissen, und zwar von zweiundzwanzig verschiedenen, aber gleichermaßen fabrikneuen Mähdreschern. In dieser Ecke der Provinz Hälsingland brach daraufhin die Stromversorgung auf Wochen zusammen, die Erntearbeiten kamen zum Erliegen, und die Melkmaschinen streikten. Es dauerte nicht lang, bis der Zorn der Bauern, der sich zunächst gegen das Elektrizitätswerk Hudiksvall gerichtet hatte, stattdessen auf den jungen Julius niederging.
»Damals wurde der Ausdruck vom ›fröhlichen Hudiksvaller‹ nicht geprägt, das kann ich dir versichern. Ich musste mich sieben Monate im Hotel in Sundsvall verstecken, und dann war mein Geld wieder alle. – Wie wäre es mit noch einem Schnäpschen?«, fragte Julius.
Allan fand auch, dass sie noch einen trinken sollten. Den Elchbraten hatten sie mit einem gepflegten Pils heruntergespült, und jetzt ging es Allan so wunderbar, dass ihm der Gedanke ans Sterben plötzlich fast wieder Angst machte.
Julius setzte seine Erzählung fort. Nachdem er eines Tages in der Stadtmitte von Sundsvall fast von einem Traktor überfahren worden wäre (am Steuer saß übrigens ein Bauer mit mordlustigem Blick), begriff er, dass man ihm seinen kleinen Fehler in dieser Gegend die nächsten hundert Jahre nicht verzeihen würde. Also zog er um und landete in Mariefred, wo er sich eine Weile mit Gelegenheitsdiebstählen über Wasser hielt, bis er das Stadtleben satthatte und das stillgelegte Bahnhofsgebäude in Byringe für die fünfundzwanzigtausend Kronen erwerben konnte, die er eines Nachts im Tresor des Wirtshauses in Gripsholm gefunden hatte. Jetzt lebte er mehr oder weniger von der Stütze, Wilderei in den Nachbarwäldern, einer bescheidenen Produktion von selbst gebranntem Schnaps und Handel mit demselben sowie dem Weiterverkauf aller möglichen Besitztümer seiner Nachbarn, deren er irgendwie habhaft werden konnte. Er sei in der Umgebung nicht sonderlich beliebt, erzählte Julius, und Allan antwortete zwischen zwei Bissen Elch, dass er das sogar irgendwie verstehen könne.
Als Julius meinte, dass sie noch ein letztes Gläschen nehmen sollten – »zum Nachtisch« –, erklärte Allan, dass er für derlei Nachtische schon immer eine Schwäche gehabt habe, aber zunächst ein stilles Örtchen aufsuchen müsse, wenn es dergleichen denn im Hause gebe. Julius stand auf, machte die Deckenlampe an, da es schon zu dämmern begann, und teilte ihm gestenreich mit, dass es rechts von der Treppe im Flur ein funktionierendes WC gebe. Außerdem stellte er Allan in Aussicht, dass ihn bei seiner Rückkehr ein frisch eingeschenkter Schnaps erwartete.
Allan fand die Toilette am von Julius angegebenen Ort. Er stellte sich zum Pinkeln hin, und wie immer schafften es nicht alle Tröpfchen bis in die Schüssel. Ein paar landeten stattdessen weich auf seinen Pisspantoffeln.
Als er zur Hälfte fertig war, hörte Allan Schritte auf der Treppe. Im ersten Moment – das musste er zugeben – dachte er, dass es vielleicht Julius war, der sich gerade mit Allans frisch gestohlenem Koffer aus dem Staub machte. Aber dann wurde es immer lauter. Irgendjemand war auf dem Weg nach oben.
Wie Allan schlagartig klar wurde, bestand ein gewisses Risiko, dass die Schritte jenseits der Tür einem schmächtigen jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken gehörten. Und wenn er es denn tatsächlich sein sollte, dann war mit ihm jetzt sicher nicht gut Kirschen essen.
* * * *
Der Bus aus Strängnäs traf drei Minuten vor der fahrplanmäßigen Ankunft am Reisezentrum Malmköping ein. Da der Bus leer war, hatte der Fahrer nach der letzten Haltestelle ein bisschen aufs Gas gedrückt, weil er gern eine rauchen wollte, bevor er die Fahrt nach Flen fortsetzte.
Doch kaum hatte der Fahrer seine Zigarette angesteckt, als ein schmächtiger junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken auftauchte. Das heißt, die Aufschrift auf dem Rücken sah der Busfahrer in dem Moment nicht, aber sie war trotzdem da.
»Wollen Sie mit nach Flen?«, fragte er etwas unsicher, denn irgendwie kam ihm der junge Mann nicht ganz koscher vor.
»Ich fahre nicht nach Flen. Und Sie auch nicht«, erwiderte der junge Mann.
Vier Stunden lang auf die Rückkehr dieses Busses warten zu müssen, hatte das bisschen Geduld des jungen Mannes nicht unwesentlich strapaziert. Nach der Hälfte der Zeit war er außerdem darauf gekommen, dass er den Bus ja leicht auf dem Weg nach Strängnäs noch hätte einholen können, wenn er sofort ein Auto beschlagnahmt hätte.
Obendrein kurvten plötzlich jede Menge Streifenwagen durch die kleine Ortschaft. Die konnten auch jeden Moment beim Reisezentrum vorbeikommen und den kleinen Beamten hinter dem Schalterfenster fragen, warum er so verschreckt dreinblickte und warum die Tür zum Schalterbereich eigentlich so schief in den Angeln hing.
Es wollte dem jungen Mann nicht in den Kopf, was die Polizei eigentlich hier machte. Der Chef von Never Again hatte Malmköping aus drei Gründen für die Transaktion ausgewählt: erstens, weil es so nahe an Stockholm lag, zweitens, weil es eine relativ gute Verkehrsanbindung besaß, und drittens – sicher der wichtigste Grund –, weil der Arm des Gesetzes nicht bis hierher reichte. Kurz und gut, in Malmköping gab es praktisch keine Polizei.
Beziehungsweise: sollte es keine geben. Aber jetzt wimmelte es ja nur so von denen! Der junge Mann hatte zwei Autos und insgesamt vier Polizisten gesehen, was in seinen Augen gleichbedeutend mit Gewimmel war.
Erst glaubte er, sie seien hinter ihm her. Aber das hätte ja vorausgesetzt, dass der kleine Schalterbeamte geplaudert hätte, und das konnte der junge Mann mit Sicherheit ausschließen. Während er auf den Bus wartete, hatte er wenig anderes zu tun gehabt, als den Kerl genau im Auge zu behalten, sein Telefon in Stücke zu schlagen und die Tür notdürftig wieder instandzusetzen.
Als der Bus endlich kam und der junge Mann sah, dass kein Passagier darin saß, hatte er sofort beschlossen, den Fahrer mitsamt Bus zu entführen.
Er brauchte gerade mal zwanzig Sekunden, um den Busfahrer zu überreden, den Bus zu wenden und wieder Richtung Norden zu fahren. Das kommt ja nahe an meine persönliche Bestleistung, dachte der junge Mann, als er sich auf genau den Platz setzte, auf dem der Alte, den er jagte, heute auch gesessen hatte.
Der Busfahrer schlotterte vor Angst, die er nur mit Hilfe einer Beruhigungszigarette einigermaßen in Schach halten konnte. Im Fahrzeug galt zwar Rauchverbot, aber das einzige Gesetz, dem der Fahrer in diesem Moment gehorchte, saß schräg hinter ihm und war schmächtig, mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken.
Unterwegs erkundigte sich der junge Mann, wohin der alte Kofferdieb gefahren war. Der Fahrer erklärte, der Alte sei an einer Haltestelle namens Byringe Bahnhof ausgestiegen, aber das wohl eher aus Zufall. Dann erzählte er von der umgekehrten Verfahrensweise mit dem Fünfzigkronenschein und der Frage, wie weit man damit kam.
Über Byringe Bahnhof wusste der Fahrer nicht viel zu sagen, außer dass selten jemand an der fraglichen Haltestelle aus- oder einstieg. Aber er glaubte, dass sich ein Stückchen in den Wald hinein ein stillgelegter Bahnhof befand, daher auch der Name, und dass die Ortschaft Byringe irgendwo in der Nähe lag. Viel weiter konnte der Alte nicht gekommen sein, meinte der Fahrer. Er sei ja sehr alt gewesen und der Koffer schwer, auch wenn er auf Rollen lief.
Da wurde der junge Mann gleich ein bisschen ruhiger. Er hatte darauf verzichtet, den Chef in Stockholm anzurufen, denn der gehörte zu den wenigen Personen, die Menschen noch viel besser erschrecken konnten als der junge Mann selbst, einzig und allein mit Worten. Der junge Mann schauderte bei dem Gedanken, was der Chef sagen würde, wenn er wüsste, dass der Koffer verschwunden war. Lieber erst das Problem lösen und dann erzählen. Und da der Alte also gar nicht ganz bis Strängnäs und von dort aus noch weiter gefahren war, würde der junge Mann den Koffer schneller als befürchtet wieder zurückhaben.
»Hier ist es«, sagte der Fahrer. »Das ist die Haltestelle Byringe Bahnhof.«
Er ging vom Gas und lenkte den Bus an den Straßenrand. Musste er jetzt sterben?
Nein, wie sich herausstellte, musste er das nicht. Nur sein Handy starb einen raschen Tod unter dem Stiefel des jungen Mannes. Und dann ließ der junge Mann noch eine Flut von Todesdrohungen gegen sämtliche Familienmitglieder des Busfahrers los, für den Fall, dass dieser auf die Idee kommen sollte, die Polizei zu benachrichtigen, statt den Bus zu wenden und die Fahrt nach Flen fortzusetzen.
Dann stieg er aus und ließ den Fahrer mit seinem Bus davonfahren. Der arme Kerl war jedoch so verängstigt, dass er nicht mal zu wenden wagte, sondern schnurstracks bis Strängnäs weiterfuhr, wo er mitten auf der Trädgårdsgatan parkte und, immer noch unter Schock, in die Bar des Hotels Delia wankte. Dort kippte er vier Whiskys hintereinander und brach zum Schrecken des Barkeepers in Tränen aus. Nach zwei weiteren Whiskys bot ihm der Barmann ein Telefon an, falls er irgendjemanden anrufen wollte. Da schluchzte der Busfahrer gleich noch herzzerreißender – und rief seine Freundin an.
* * * *
Der junge Mann meinte, Spuren von den Rollen seines Koffers im Schotter zu entdecken. Bald würde die Sache geklärt sein. Und das war auch gut so, denn es begann schon zu dämmern.
Manchmal wünschte der junge Mann, er würde bei seinen Plänen etwas vorausschauender denken. Gerade jetzt fiel ihm nämlich auf, dass er in einem Wald stand, während es von Minute zu Minute dunkler wurde. Bald würde es ringsum stockfinster sein, und was sollte er dann anfangen?
Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er ein heruntergekommenes, teilweise mit Brettern verrammeltes gelbes Haus entdeckte, auf der anderen Seite des Hügelkamms, den der junge Mann gerade überwunden hatte. Und als im Obergeschoss jemand eine Lampe einschaltete, murmelte der junge Mann: »Jetzt hab ich dich, Alter.«
* * * *
Allan unterbrach seine Verrichtung, bevor er ganz fertig war. Vorsichtig öffnete er die Toilettentür und versuchte zu horchen, was in der Küche vor sich ging. Schon bald hatte sich sein Verdacht bestätigt: Er erkannte die Stimme gleich wieder, als nämlich der junge Mann Julius Jonsson anbrüllte, er solle ihm gefälligst verraten, wo »der andere Scheißtattergreis« sei.
Allan schlich sich zur Küchentür, wobei ihm seine weichen Pantoffeln gute Dienste leisteten. Der junge Mann hatte Julius ebenso bei den Ohren gepackt wie zuvor den kleinen Schalterbeamten im Reisezentrum Malmköping. Während er den armen Julius unbarmherzig durchschüttelte, wiederholte er seine Frage, wo Allan sich versteckt halte. Dieser fand, dass der junge Mann sich doch damit zufriedengeben könnte, seinen Koffer wiedergefunden zu haben, welcher deutlich sichtbar mitten im Zimmer stand. Julius verzog zwar das Gesicht, sagte aber keine Silbe. Dieser alte Holzhändler war ja aus einem wirklich harten Holz geschnitzt, dachte Allan. Dann sah er sich auf dem Flur nach einem passenden stumpfen Gegenstand um. In dem ganzen Gerümpel fanden sich einige durchaus zweckmäßige Waffen: ein Kuhfuß, ein Brett, eine Dose Insektenspray und eine Packung Rattengift. Im ersten Moment blieb sein Blick am Rattengift hängen, aber ihm fiel keine Möglichkeit ein, wie er dem jungen Mann ein bis zwei Esslöffel davon verabreichen sollte. Der Kuhfuß hingegen war für den Hundertjährigen zu schwer, und das Insektenspray … nein, ihm blieb nur das Brett.
Also packte Allan die Waffe seiner Wahl und war mit vier für sein Alter sensationell schnellen Schritten direkt hinter seinem Opfer.
Dieses musste geahnt haben, dass Allan hinter ihm stand, denn gerade als der Alte zum Schlag ausholte, ließ der junge Mann Julius Jonsson los und fuhr herum.
Das Brett traf ihn mit voller Wucht an der Stirn. Einen Moment blieb er noch aufrecht stehen und stierte in die Luft, ehe er rücklings zu Boden fiel und sich den Hinterkopf noch am Küchentisch anschlug.
Kein Blut, kein Stöhnen, nichts. Er lag einfach nur da, die Augen mittlerweile geschlossen.
»Volltreffer«, gratulierte Julius.
»Danke«, sagte Allan. »Sag mal, hattest du mir nicht einen Nachtisch versprochen?«
Allan und Julius setzten sich an den Küchentisch, während der langhaarige junge Mann zu ihren Füßen schlummerte. Julius goss ihnen zwei Schnäpse ein, reichte Allan das eine Glas und prostete ihm mit dem anderen zu. Allan prostete zurück.
»So!«, sagte Julius, als er den Fusel gekippt hatte. »Ich schätze mal, es handelt sich hier um den Besitzer des Koffers?«
Die Frage war eher eine Feststellung. Allan sah ein, dass es Zeit für die eine oder andere detailliertere Erklärung war.
Nicht, dass es so viel zu erklären gegeben hätte. Das meiste, was im Laufe des Tages passiert war, kapierte Allan ja selbst kaum. Aber er schilderte auf jeden Fall, wie er aus dem Heim ausgerissen war, fuhr mit der zufälligen Entwendung des Koffers im Reisezentrum Malmköping fort und schilderte zum Schluss seine schleichende Sorge, dass der junge Mann, der jetzt ohnmächtig auf dem Boden lag, ihn bald aufspüren würde. Um sich schließlich aufrichtig dafür zu entschuldigen, dass Julius jetzt mit knallroten, schmerzenden Ohren dasaß. Doch da regte sich sein Gastgeber geradezu auf und meinte, Allan bräuchte sich wahrhaftig nicht dafür zu entschuldigen, dass in Julius Jonssons Leben endlich mal so richtig was los war.
Julius war auch schon wieder in Form. Und er fand, jetzt sei es an der Zeit, dass sie beide mal einen Blick in diesen Koffer warfen. Als Allan ihn darauf hinwies, dass er abgeschlossen war, bat ihn Julius, kein dummes Zeug daherzureden.
»Seit wann hätte ein Schloss einen Julius Jonsson aufhalten können?«, fragte Julius Jonsson.
Doch alles zu seiner Zeit, fand er. Zunächst sollten sie sich lieber um das Problem auf dem Boden kümmern. Es wäre ja wenig vorteilhaft, wenn der junge Mann aufwachte und da weitermachte, wo er aufgehört hatte, als ihm die Lichter ausgingen.
Allan schlug vor, ihn an einen Baum vor dem Bahnhofsgebäude zu fesseln, doch Julius wandte ein, dass man den jungen Mann bis in den Ort hören würde, wenn er wieder zu Bewusstsein kam und nur laut genug schrie. Dort wohnten zwar nur noch ein paar Familien, aber die hatten Julius – zum Teil aus durchaus berechtigten Gründen – allesamt auf dem Kieker und würden sich sicher bei erstbester Gelegenheit auf die Seite des jungen Mannes schlagen.
Julius hatte eine bessere Idee. An seine Küche schloss sich ein isolierter Kühlraum an, in dem er seine Wildererbeute lagerte, also die zerlegten Elche. Momentan war dieser Raum elchfrei und abgeschlossen. Julius wollte die Kühlung nicht unnötig laufen lassen, da sie Unmengen von Strom verbrauchte. Er hatte zwar heimlich eine Leitung angezapft – Gösta vom Skogstorp-Hof bezahlte seine Rechnung –, aber wenn er sich dieses vorteilhafte Arrangement langfristig sichern wollte, musste er beim Stromstehlen schon etwas Maß halten.
Allan besichtigte die verschlossene Kühlkammer und stellte fest, dass sie eine ausgezeichnete Zelle für ihren Häftling abgab, ohne unnötigen Luxus. Die Größe von zwei auf drei Meter war vielleicht mehr, als der junge Mann verdiente, aber es gab ja auch keinen Grund, einen Menschen unnötig zu quälen.
Die beiden Alten schleiften den jungen Mann also in seine Zelle. Als sie ihn auf eine umgedrehte Kiste in der Ecke setzten und ihn mit dem Oberkörper an die Wand lehnten, stöhnte er leise. Offensichtlich erwachte er gerade wieder. Also nichts wie raus und die Tür ordentlich abschließen.
Gesagt, getan. Danach hievte Julius den Koffer auf den Küchentisch, musterte die Schlösser, leckte die Gabel ab, mit der er soeben Elchbraten mit Kartoffeln gegessen hatte, und brach in Sekundenschnelle das Schloss auf. Anschließend forderte er Allan auf, den Koffer selbst zu öffnen, denn immerhin war es ja sein Diebesgut.
»Was mir gehört, gehört auch dir«, erklärte Allan. »Mit der Beute machen wir halbe-halbe. Wenn da allerdings ein Paar Schuhe in meiner Größe drin sein sollte, nehm ich die.«
Er hob den Deckel.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Allan.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Julius.
»Lasst mich raus!«, tönte es aus dem Kühlraum.
1905–1929
Allan Emmanuel Karlsson wurde am 2. Mai 1905 geboren. Tags zuvor war seine Mutter noch zur Maidemonstration in Flen gegangen, um sich für das Frauenwahlrecht, den Acht-Stunden-Arbeitstag und andere utopische Ideen starkzumachen. Die Demonstration bewirkte auf jeden Fall, dass die Wehen einsetzten, und kurz nach Mitternacht gebar sie ihren ersten und einzigen Sohn. Das geschah in einer kleinen Kate in Yxhult, mit Hilfe der alten Nachbarin, die zwar kein besonderes Talent zur Hebamme hatte, jedoch ein gewisses Ansehen genoss, weil sie sich als Neunjährige einmal vor Karl XIV. Johann hatte verbeugen dürfen, welcher wiederum ein guter Freund (na ja!) von Napoleon Bonaparte gewesen war. Zur Verteidigung der Nachbarin muss außerdem gesagt werden, dass das Kind der Frau, der sie bei der Entbindung half, das Erwachsenenalter erreichte, und ein recht stolzes Alter noch dazu.
Allan Karlssons Vater war ein ebenso fürsorglicher wie zorniger Mann. Fürsorglich gegenüber seiner Familie, zornig auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf alle, die man irgendwie als ihre Repräsentanten betrachten konnte. Außerdem war er bei den feineren Herrschaften nicht wohlangesehen, nicht zuletzt deswegen, weil er sich einmal in Flen auf den Marktplatz gestellt und für Verhütungsmittel geworben hatte. Dafür wurde er mit einem Bußgeld von zehn Kronen belegt, und er musste sich mit diesem Thema nie mehr persönlich auseinandersetzen, weil ihm Allans Mutter ab da nämlich vor lauter Scham jeglichen Zutritt verwehrte. Damals war ihr Sohn sieben und damit alt genug, seine Mutter um eine genauere Erklärung zu bitten, warum das Bett des Vaters plötzlich im Holzschuppen neben der Küche stand. Doch die Antwort lautete nur, wenn er sich keine Ohrfeige einfangen wolle, solle er nicht so viele Fragen stellen. Da Allan, wie die Kinder aller Generationen vor und nach ihm, wenig Lust auf eine Ohrfeige verspürte, ließ er die Sache also auf sich beruhen.
Ab diesem Tage tauchte Allans Vater jedoch immer seltener im eigenen Zuhause auf. Tagsüber verrichtete er leidlich seine Arbeit bei der Eisenbahn, abends diskutierte er auf allen möglichen Versammlungen über den Sozialismus. Nur wo er seine Nächte verbrachte, wurde Allan nie so ganz klar.
Seine wirtschaftliche Verantwortung trug der Vater aber weiterhin. Den Großteil seines Lohns lieferte er allwöchentlich bei seiner Frau ab, bis er eines Tages gefeuert wurde, weil er gegen einen Reisenden gewalttätig geworden war, der auf dem Weg nach Stockholm war, um mit Tausenden anderer Bürger dem König seine Bereitschaft zur Landesverteidigung zu demonstrieren.
»Dann verteidige dich doch erst mal hiergegen«, sagte Allans Vater und beförderte den Mann mit einer rechten Geraden in den nächsten Graben.
Nach seiner fristlosen Kündigung konnte Allans Vater die Familie nicht mehr ernähren. Da es ihm gelungen war, sich einen Ruf als Gewalttäter und Verhütungsmittelbefürworter einzuhandeln, hatte es gar keinen Zweck mehr, dass er sich um eine andere Arbeit bewarb. Er konnte nur noch auf die Revolution warten oder diese beschleunigen, denn die Dinge entwickelten sich ja immer so schrecklich langsam. Allans Vater konnte sehr zielstrebig sein, wenn er wollte. Der schwedische Sozialismus brauchte ein internationales Vorbild. Erst dann würde die Sache ins Rollen kommen und Großhändler Gustavsson und seinesgleichen ins Schwitzen bringen.
Also packte Allans Vater seinen Koffer und fuhr nach Russland, um den Zaren zu stürzen. Allans Mutter fehlte natürlich der ausbleibende Eisenbahnerlohn, aber ansonsten war sie ganz glücklich damit, dass ihr Mann nicht nur die Gegend, sondern gleich das Land verlassen hatte.
Nachdem der Familienernährer emigriert war, mussten die Mutter und ihr knapp zehnjähriger Sohn allein für sich sorgen. Die Mutter ließ die vierzehn ausgewachsenen Birken rund um ihre Hütte fällen, um sie anschließend zu zersägen und zu spalten und als Feuerholz zu verkaufen. Allan ergatterte eine unterbezahlte Stelle als Laufbursche in der Produktionsstätte der Nitroglycerinfabrik bei Flen.
Den regelmäßig eintreffenden Briefen aus St. Petersburg (das wenig später in Petrograd umbenannt wurde) konnte Allans Mutter mit steigender Verwunderung entnehmen, dass Allans Vater nach einer Weile doch nicht mehr so überzeugt von den Segnungen des Sozialismus schien.
In seinen Briefen erzählte er nicht selten von politisch aktiven Freunden und Bekannten in Petrograd. Am häufigsten nannte er einen Mann namens Carl. Kein sonderlich russisch klingender Name, wie Allan fand, und er wurde auch dadurch nicht russischer, dass Allans Vater ihn stattdessen Fabbe nannte, zumindest in seinen Briefen.
Wie Allans Vater berichtete, vertrat Fabbe die These, dass die Menschheit im Allgemeinen nicht wusste, was das Beste für sie war, und daher jemanden brauchte, der sie bei der Hand nahm. Daher sei die Autokratie der Demokratie überlegen, solange die gebildete, verantwortungsbewusste Gesellschaftsschicht einer Nation darauf achtete, dass der betreffende Autokrat sich gut benahm. Man müsse sich doch nur mal vor Augen halten, dass sieben von zehn Bolschewiken nicht mal lesen können, hatte Fabbe verächtlich geschnaubt. Wir können die Macht doch nicht diesen Analphabeten überlassen, oder?
In den Briefen an seine Lieben in Yxhult hatte Allans Vater in diesem Punkt allerdings die Bolschewiken in Schutz genommen, denn die Familie sollte mal sehen, wie dieses russische Alphabet aussah – kein Wunder, dass die Leute da nicht lesen lernten!
Da war es schon schlimmer, wie die Bolschewiken sich benahmen. Schmutzig waren sie, und sie soffen Wodka wie die Streckenarbeiter zu Hause, die in Sörmland die Eisenbahnschienen legten. Allans Vater hatte sich schon immer gewundert, wie die Gleise so gerade werden konnten, wenn man bedachte, was für einen Schnapskonsum diese Arbeiter so hatten – er hatte immer einen gewissen Argwohn gehegt, wenn eine schwedische Schiene eine Kurve machte.
Bei den Bolschewiken war es mindestens genauso schlimm. Fabbe behauptete, der Sozialismus werde darauf hinauslaufen, dass sich alle gegenseitig totschlagen wollten, bis nur noch einer übrig war, der die Regeln diktierte. Da war es doch besser, sich von vornherein auf jemanden wie Zar Nikolaj zu besinnen, immerhin ein guter, gebildeter Mann mit gewissen Visionen.
Fabbe wusste durchaus, wovon er redete, denn er hatte den Zaren tatsächlich getroffen, sogar mehr als einmal. Er behauptete, dass Nikolaj II. von Grund auf gutherzig war. Der Mann habe nur eine Menge Pech gehabt in seinem Leben, aber das konnte ja nicht ewig anhalten. Die Missernten und Bolschewikenaufstände waren schuld. Und dann muckten auch noch die Deutschen auf, weil der Zar die Truppen mobilgemacht hatte. Dabei hatte er doch nur den Frieden wahren wollen. Schließlich hatte nicht der Zar den Erzherzog und seine Frau in Sarajevo erschossen. Oder?
So argumentierte Fabbe, wer auch immer er nun sein mochte, und irgendwie überzeugte er auch Allans Vater von seinen Argumenten. Außerdem hatte der Vater Mitleid mit dem vom Pech verfolgten Zaren, er konnte es ihm so gut nachfühlen. Früher oder später musste sich das Blatt ja wenden, sowohl für russische Zaren als auch für ganz normale, ehrbare Leute aus der Gegend um Flen.
Geld schickte der Vater nie aus Russland, aber nach ein paar Jahren kam einmal ein Paket mit einem Osterei aus Emaille, das der Vater beim Kartenspiel von seinem russischen Freund gewonnen hatte. Denn abgesehen von Trinken, Diskutieren und Kartenspielen tat Fabbe nicht viel mehr, als solche Eier herzustellen.
Der Vater schenkte Fabbes Osterei seiner »lieben Frau«, die nur wütend wurde und meinte, der verdammte Dummkopf hätte wenigstens ein richtiges Ei schicken können, damit die Familie sich satt essen konnte. Sie war schon drauf und dran, das Ei zum Fenster hinauszuwerfen, bevor sie sich eines Besseren besann. Großhändler Gustavsson könnte ja vielleicht etwas dafür hinblättern, der wollte doch immer etwas Besonderes sein, fand sie, und besonders selten war dieses Ei ja auch.
Man stelle sich die Verwunderung von Allans Mutter vor, als Großhändler Gustavsson ihr nach zweitägigem Überlegen achtzehn Kronen für Fabbes Ei bot. Und die bekam sie auch nicht in bar, sie wurden ihr nur von ihren Schulden abgezogen. Aber immerhin etwas.
Danach hoffte die Mutter auf weitere Eier, aber stattdessen erfuhr sie in dem folgenden Brief, dass die Generäle des Zaren ihren Autokraten verraten hatten und er abdanken musste. In seinem Brief verfluchte Allans Vater seinen Eier produzierenden Freund, der prompt in die Schweiz geflohen war. Er selbst wollte selbstverständlich bleiben und gegen diesen Emporkömmling und Clown kämpfen, der jetzt an die Macht gekommen war, ein Mann namens Lenin.
Für Allans Vater nahm das Ganze überdies eine persönliche Dimension an, da Lenin jegliches Privateigentum verboten hatte – genau einen Tag nachdem Allans Vater zwölf Quadratmeter erworben hatte, auf denen er schwedische Erdbeeren anbauen wollte. »Der Boden hat zwar nur vier Rubel gekostet, aber mein Erdbeerfeld verstaatlicht man mir nicht ungestraft!«, schrieb Allans Vater in seinem allerletzten Brief in die Heimat. Und er schloss mit den Worten: »Jetzt ist Krieg!«
Ja, Krieg war zweifellos. So gut wie überall auf der Welt, und das schon seit ein paar Jahren. Er war ausgebrochen, kurz nachdem der kleine Allan seine Stelle als Laufbursche bei der Nitroglycerinfabrik bekommen hatte. Während der Junge die Dynamitkartons auf die Wägen lud, lauschte er den Kommentaren der Arbeiter zum Weltgeschehen. Er fragte sich immer, woher sie das alles wussten, aber vor allem wunderte er sich, wie viel Elend erwachsene Männer so anrichten konnten. Österreich erklärte Serbien den Krieg. Deutschland erklärte Russland den Krieg. Dann nahm Deutschland innerhalb eines Nachmittags Luxemburg ein, um anschließend Frankreich den Krieg zu erklären. Daraufhin erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg, und die Deutschen reagierten, indem sie Belgien den Krieg erklärten. Da erklärte Österreich Russland den Krieg und Serbien Deutschland.
So ging es seitdem ununterbrochen. Die Japaner mischten sich auch noch ein, und die Amerikaner ebenfalls. Die Briten nahmen aus irgendeinem Grund Bagdad ein und dann Jerusalem. Die Griechen und die Bulgaren begannen sich ebenfalls zu bekriegen, und dann musste der russische Zar abdanken, während die Araber Damaskus eroberten …
»Jetzt ist Krieg«, hatte der Vater geschrieben. Wenig später ließ einer von Lenins Handlangern Zar Nikolaj und seine ganze Familie hinrichten. Allan stellte fest, dass das Pech des Zaren wohl doch angehalten hatte.
Noch ein paar Wochen später schickte die schwedische Botschaft in Petrograd ein Telegramm nach Yxhult und teilte mit, dass Allans Vater tot war. Eigentlich war es nicht Sache des zuständigen Beamten, die Angelegenheit weiter auszuführen, aber vielleicht konnte er es sich einfach nicht verkneifen.
Nach seinen Angaben hatte Allans Vater ein Grundstück von zehn bis fünfzehn Quadratmetern eingezäunt und es zur unabhängigen Republik erklärt. Er hatte seinen Staat »Das richtige Russland« getauft und war bei dem Handgemenge gestorben, das entstand, als zwei Regierungssoldaten seinen Zaun einreißen wollten. Allans Vater hatte die Grenzen seines Landes mit bloßen Fäusten verteidigt und wollte partout nicht mit sich reden lassen. Schließlich wusste man sich keinen anderen Rat, als ihm eine Kugel zwischen die Augen zu verpassen, damit man den Abrissauftrag ausführen konnte.
»Hättest du dir nicht eine etwas weniger dämliche Todesart aussuchen können?«, meinte Allans Mutter zu diesem Botschaftstelegramm.
Sie hatte nie damit gerechnet, dass ihr Mann noch einmal heimkehren würde, aber in letzter Zeit hatte sie doch wieder darauf gehofft, weil sie es mit der Lunge hatte und nicht mehr den rechten Schwung zum Holzhacken aufbrachte. Doch nun stieß sie nur einen rasselnden Seufzer aus, und damit war das Kapitel Trauer für sie erledigt. Sie teilte Allan mit, dass die Dinge nun einmal waren, wie sie waren, und dass es eben immer so kommt, wie es kommt. Dann zerzauste sie ihrem Sohn zärtlich das Haar, bevor sie hinausging, um weiter Holz zu hacken.
Allan verstand nicht so recht, was die Mutter damit gemeint hatte. Aber er begriff, dass sein Vater tot war, seine Mutter Blut spuckte und der Krieg vorbei war. Mit seinen dreizehn Jahren wusste er schon sehr gut, wie man es knallen lassen konnte, indem man Nitroglycerin, Zellulosenitrat, Ammoniumnitrat, Natriumnitrat, Sägemehl, Dinitrobenzol und noch ein paar andere Zutaten zusammenmischte. Das konnte einem eines Tages sicher von Nutzen sein, dachte Allan und ging hinaus, um der Mutter mit dem Holzhacken zu helfen.
* * * *
Zwei Jahre später hatte Allans Mutter ausgehustet und kam ebenfalls in den eventuellen Himmel, in dem der Vater schon angekommen war. Auf der Schwelle ihrer Hütte stand jetzt ein mürrischer Großhändler und meinte, sie hätte zumindest noch ihre neuerlich aufgelaufenen Schulden in Höhe von 8,40 Kronen bezahlen können, bevor sie einfach unangekündigt starb. Allan hatte jedoch nicht vor, Gustavsson mehr als nötig zu mästen.
»Das muss der Herr Großhändler schon selbst mit meiner Mutter ausmachen. Möchten Sie sich vielleicht einen Spaten leihen?«
Der Großhändler war zwar Großhändler, aber körperlich eher klein geraten im Unterschied zum fünfzehnjährigen Allan. Der Junge war schon fast ein Mann, und wenn er nur halb so verrückt war wie sein Vater, konnte er auf alle möglichen dummen Gedanken kommen, dachte sich Großhändler Gustavsson. Weil er aber lieber noch eine Weile am Leben bleiben und sein Geld zählen wollte, wurden die Schulden nie wieder erwähnt.
Wie die Mutter mehrere hundert Kronen Erspartes zusammengescharrt hatte, war dem jungen Allan schier unbegreiflich. Doch das Geld war da, und es reichte für die Beerdigung der Mutter sowie als Startkapital für die Firma Dynamit-Karlsson. Bei ihrem Tod war der Junge zwar erst fünfzehn, aber in der Nitroglycerinfabrik hatte er alles Nötige gelernt.
Außerdem experimentierte er fleißig in der Kiesgrube hinter der Hütte – bei einer Gelegenheit gleich so fleißig, dass die zwei Kilometer entfernt grasende Kuh seines Nachbarn eine Fehlgeburt erlitt. Aber davon erfuhr Allan nie etwas, denn genau wie Großhändler Gustavsson hatte der Nachbar ein bisschen Angst vor dem womöglich genauso verrückten Sohn des verrückten Karlsson.