Der japanische Liebhaber - Isabel Allende - E-Book
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Der japanische Liebhaber E-Book

Isabel Allende

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Beschreibung

Für Irina ist der neue Job ein Glücksfall. Die junge Frau soll für die Millionärin Alma Belasco als Assistentin arbeiten. Mit einem Schlag ist sie nicht nur ihre Geldsorgen los, sondern gewinnt auch eine Freundin, wie sie noch keine hatte: extravagant, überbordend, mitreißend und an die achtzig. Doch bald spürt sie, dass Alma verwundet ist. Eine Wunde, die nur vergessen scheint, wenn eines der edlen Kuverts im Postfach liegt. Aber wer schreibt Woche um Woche diese Liebesbriefe? Und von wem stammen all die Blumen? Auch um sich von den eigenen Lebenssorgen abzulenken, folgt Irina den Spuren, und es beginnt eine abenteuerliche Reise bis weit in die Vergangenheit.

Isabel Allende erzählt von Freundschaft und der unentrinnbaren Kraft einer lebenslangen Liebe. Davon, wie Zeit und Zwänge über eine solche Liebe hinweggehen und sie verwandeln, in Verbundenheit, Wehmut und ein leises Staunen – darüber, schon so lange gemeinsam unterwegs zu sein.

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Für Irina ist der neue Job ein Glücksfall. Die junge Frau soll für die betuchte Alma Belasco als Assistentin arbeiten. Mit einem Schlag ist sie nicht nur ihre Geldsorgen los, sondern gewinnt auch eine Freundin, wie sie noch keine hatte: extravagant, überbordend, mitreißend und an die achtzig. Doch bald spürt sie, dass Alma verwundet ist. Eine Wunde, die nur vergessen scheint, wenn eines der auffälligen Kuverts im Postfach liegt. Aber wer schreibt Alma Woche um Woche diese Liebesbriefe? Und von wem stammen all die Blumen? Auch um sich von den eigenen Lebenssorgen abzulenken, folgt Irina den Spuren, und es beginnt eine abenteuerliche Reise bis weit in die Vergangenheit.

 Fesselnd und bewegend erzählt Isabel Allende von Freundschaft und von der unentrinnbaren Kraft einer lebenslangen Liebe. Davon, wie Zeit und Zwänge über eine solche Liebe hinweggehen und sie verwandeln, in Verbundenheit, Wehmut und ein leises Staunen – darüber, schon so lange gemeinsam unterwegs zu sein.

»Isabel Allende ist die Königin der Gefühle.« El Mundo

Isabel Allende, 1942 geboren, arbeitete in ihrer Jugend als Journalistin in Chile. Nach Pinochets Militärputsch ging sie 1973 ins Exil, wo sie ihren Weltbestseller Das Geisterhaus schrieb. Isabel Allende lebt mit ihrer Familie in Kalifornien. Ihr gesamtes Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp Verlag.

ISABEL ALLENDE

Der japanische Liebhaber

Roman

Für meine Eltern, Panchita und Ramón,zwei weise Greise.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Isabel Allende, 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Jerry Schatzberg/Trunk Archive

Bleib stehen, Schatten meines scheuen Glücks,Zauberbild du, das ich zärtlichst umwerbe,schöner Wahn, für den ich mit Freuden sterbe,mit Qualen lebe, Traum süßen Geschicks.

Lark House

Als sie mit der Arbeit in Lark House am Stadtrand von Berkeley begann, war Irina Bazili gerade dreiundzwanzig geworden und wenig zuversichtlich, denn seit acht Jahren stolperte sie von Job zu Job und von einer Stadt in die nächste. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie hier in dieser Seniorenresidenz den perfekten Ort für sich finden würde und in den kommenden drei Jahren so glücklich werden sollte, wie sie es zuletzt in Kindertagen gewesen war. Lark House war in den Fünfzigern als würdige Wohnstatt für alte, nicht sehr begüterte Menschen eröffnet worden und hatte aus ungeklärten Gründen schon zu Beginn vor allem linke Intellektuelle, entschlossene Esoteriker und wenig erfolgreiche Künstler angezogen. Mit der Zeit war vieles hier anders geworden, die Kosten für den Aufenthalt richteten sich aber wie eh und je nach den Einkommensverhältnissen der Bewohner, was theoretisch für ein breiteres Spektrum an Hautfarben und Herkunftsmilieus hätte sorgen sollen. Tatsächlich lebten in Lark House durchweg Weiße aus der Mittelschicht, und die Vielfalt beschränkte sich auf feine Unterschiede zwischen Freidenkern, Suchenden auf spirituellen Pfaden, Sozial- und Ökoaktivisten, Nihilisten und einigen wenigen Hippies, die in der Bay Area von San Francisco noch am Leben waren.

In ihrem ersten Gespräch wies Hans Voigt, der Leiter der Einrichtung, Irina darauf hin, sie sei zu jung für eine derart verantwortungsvolle Tätigkeit, da jedoch für die offene Stelle in der Verwaltung und bei der Betreuung dringend jemand gebraucht werde, könne sie übergangsweise bleiben, bis die geeignete Person gefunden wäre. Irina dachte, dasselbe ließe sich von ihm sagen, schließlich sah er aus wie ein vorzeitig kahl gewordener, pausbäckiger Junge, für den die Leitung einer solchen Einrichtung bestimmt eine Nummer zu groß war. Mit der Zeit sollte sie allerdings feststellen, dass Voigts Erscheinung aus der Entfernung und bei schlechter Beleuchtung trog, tatsächlich war er vierundfünfzig Jahre alt und ein ausgezeichneter Geschäftsführer. Irina versicherte ihm, auch wenn sie keine Ausbildung in dem Bereich vorweisen könne, habe sie in ihrer Heimat Moldawien doch eine Menge Erfahrung im Umgang mit alten Leuten gesammelt.

Vom schüchternen Lächeln der Bewerberin milde gestimmt, vergaß der Geschäftsführer seine Frage nach einem Empfehlungsschreiben und begann, ihr die Pflichten aufzuzählen, die mit der Stelle einhergingen und die kurz gesagt darin bestanden, den Bewohnern von Haus zwei und Haus drei das Leben zu erleichtern. Die in Haus eins mussten Irina nicht kümmern, sie lebten als selbständige Mieter in einem Gebäude mit kleinen Apartments, und auch für Haus vier, treffend »Paradies« genannt, weil man dort auf seinen Eintritt ins Himmelreich wartete, würde Irina nicht zuständig sein, denn dessen Bewohner verbrachten die meiste Zeit in einem Dämmerzustand und brauchten fachkundige Betreuung. Irinas Aufgabe würde es sein, ihre Schützlinge zum Arzt zu begleiten, zum Anwalt oder Steuerberater, ihnen mit den Formularen für Krankenversicherung und Steuer zu helfen, mit ihnen einkaufen zu gehen und sie auch sonst im Alltag zu unterstützen. Mit den Bewohnern des Paradieses würde sie nur insofern zu tun haben, als sie ihre Beisetzung zu organisieren hätte, aber dazu werde sie jeweils detaillierte Informationen bekommen, versicherte ihr Hans Voigt, denn die Wünsche der Sterbenden deckten sich nicht immer mit denen der Angehörigen. Die Menschen in Lark House hingen den unterschiedlichsten Glaubensvorstellungen an, weshalb sich die Beisetzungen öfter zu komplizierten ökumenischen Zeremonien auswuchsen.

Nur die Angestellten in der Hauswirtschaft, das Pflegepersonal und die Krankenschwestern trügen einheitliche Arbeitskleidung, erklärte der Geschäftsführer, die übrigen Beschäftigten hielten sich aber stillschweigend an die Kleiderordnung; Anstand und Geschmack seien oberstes Gebot. Ein T-Shirt mit dem Porträt von Malcom X, wie es Irina gerade trage, sei in der Einrichtung beispielsweise fehl am Platz, sagte er mit Nachdruck. Irina verzichtete auf den Hinweis, dass es sich nicht um Malcom X, sondern um Che Guevara handelte, den Hans Voigt offenbar nicht kannte, obwohl er außer in Kuba auch noch ein paar Anhänger in dem Teil von Berkeley hatte, wo sie wohnte. Für das T-Shirt hatte sie in einem Secondhandladen zwei Dollar bezahlt, und es war fast neu.

»Wir sind eine Nichtrauchereinrichtung«, sagte Hans Voigt.

»Ich rauche nicht und trinke nicht.«

»Sind Sie gesund? Das ist wichtig, wenn Sie mit alten Leuten arbeiten.«

»Ja.«

»Irgendetwas, das ich wissen sollte?«

»Ich bin süchtig nach Computerspielen und Fantasyromanen. Sie wissen schon, Tolkien, Neil Gaiman, Philip Pullman. Außerdem arbeite ich als Hundewäscherin, aber nur ein paar Stunden in der Woche.«

»Was Sie in Ihrer Freizeit tun, ist Ihre Sache, aber Ihre Arbeit müssen Sie gewissenhaft erledigen.«

»Aber natürlich. Hören Sie, wenn Sie mir eine Chance geben, werden Sie sehen, dass ich sehr gut mit alten Leuten umgehen kann. Sie werden es nicht bereuen«, sagte Irina mit gespieltem Selbstbewusstsein.

Nach dem offiziellen Einstellungsgespräch in seinem Büro zeigte der Geschäftsführer Irina die Einrichtung, das Zuhause für zweihundertfünfzig Bewohner, die im Schnitt fünfundachtzig Jahre alt waren. Ursprünglich war Lark House das prächtige Anwesen eines Schokoladenmagnaten gewesen, der es der Stadt vermacht und ein hübsches Vermögen gestiftet hatte, um den laufenden Betrieb zu sichern. Im Hauptgebäude, einem pompösen kleinen Palast, waren die Büros und die Gemeinschaftsräume untergebracht, eine Bibliothek, der Speisesaal und mehrere Werkstätten, und daneben gab es eine Reihe einladender Gebäude, die sich mit ihren Holzschindelfassaden harmonisch in den sie umgebenden Park einfügten, in den scheinbaren Wildwuchs, der sich tatsächlich der sorgfältigen Pflege eines kleinen Gärtnertrupps verdankte. Zwischen den Gebäuden mit den Einzelapartments und den Häusern zwei und drei verliefen überdachte Korridore, breit genug für Rollstühle und mit Panoramafenstern zu beiden Seiten, so dass man geschützt vor Wind und Wetter von einem Haus ins andere wechseln und dabei den Blick in die Natur genießen konnte, die von jeher am besten gegen die Leiden jeden Alters geholfen hat. Das Paradies, ein einzeln stehender Betonbau, hätte die Harmonie gestört, wäre er nicht vollständig von Efeu überwuchert gewesen. Bibliothek und Spielsaal standen den Bewohnern rund um die Uhr offen; der Schönheitssalon vergab Termine nach Vereinbarung, und in den Werkstätten wurden verschiedene Kurse angeboten, von Malerei bis hin zu Astrologie, für diejenigen, die sich von der Zukunft noch immer Überraschendes erhofften. Der »Laden der vergessenen Dinge« – so stand es auf dem Schild über der Tür – wurde ehrenamtlich von einigen Damen geführt und bot Kleidung, Möbel, Schmuck und allerlei andere Schätze an, die von den Bewohnern aussortiert oder von den Verstorbenen hinterlassen worden waren.

»Wir haben hier einen hervorragenden Filmklub. Dreimal in der Woche werden Filme in der Bibliothek gezeigt«, sagte Hans Voigt.

»Was für Filme denn?«, fragte Irina in der Hoffnung auf Vampire und Science-Fiction.

»Ein Komitee wählt sie aus, bevorzugt Thriller, und Tarantino ist sehr beliebt. Hier herrscht eine gewisse Faszination für Gewalt, aber keine Angst, allen ist klar, dass es sich um Fiktion handelt und die Schauspieler im nächsten Film gesund und geläutert wieder auftauchen. Sagen wir, es ist ein Ventil. Etliche unserer Bewohner träumen davon, jemanden umzubringen, in aller Regel jemanden aus der eigenen Familie.«

»Ich auch«, rutschte es Irina heraus.

Im Glauben, die junge Frau scherze, lachte Hans Voigt zufrieden; Sinn für Humor schätzte er bei seinen Angestellten fast so hoch wie Geduld.

Im Park sah man Eichhörnchen zwischen den alten Bäumen herumhuschen, und Irina staunte über die vielen Rehe. Hans Voigt erklärte ihr, die trächtigen Muttertiere würden hier ihre Kitze zur Welt bringen und den Park als Kinderstube nutzen, außerdem sei er ein Paradies für Vögel, vor allem für Lerchen, von denen das Anwesen ja auch seinen Namen hatte. An einigen strategischen Punkten im Park waren Kameras angebracht, so dass man die Tiere beobachten und nebenbei ein Auge auf die Bewohner haben konnte, falls jemand sich verirrte oder stürzte, aber ansonsten gab es auf dem Anwesen keine Sicherheitsvorkehrungen. Die Türen waren tagsüber unverschlossen, und zwei unbewaffnete Wachleute gingen ihre Runden. Die beiden waren Polizisten im Ruhestand, der eine siebzig, der andere vierundsiebzig; mehr war nicht nötig, schließlich würde niemand seine Zeit damit verschwenden, alte Leute ohne Einkommen zu überfallen. Irina und Hans Voigt begegneten zwei Frauen im Rollstuhl, einer Gruppe von Bewohnern mit Staffeleien und Farbkästen auf dem Weg zum Malkurs im Freien und ein paar anderen mit Hunden an der Leine, die ähnlich gebrechlich waren wie ihre Besitzer. Das Grundstück hatte Zugang zur Bucht, und bei ansteigender Flut konnte man mit dem Kajak hinausfahren, was einige der rüstigeren Bewohner auch taten. Hier ließe sich leben, dachte Irina nicht ohne Wehmut, sog die von Pinien und Lorbeer würzige Luft ein und verglich die freundlichen Gebäude im Stillen mit den versifften Bruchbuden, in denen sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr gewohnt hatte.

»Ich sollte wohl noch die beiden Gespenster erwähnen, Frau Bazili, denn das wird das Erste sein, wovor unsere Angestellten aus Haiti Sie warnen.«

»Ich glaube nicht an Gespenster, Herr Voigt.«

»Freut mich. Ich auch nicht. Bei den beiden hier in Lark House handelt es sich um eine junge Frau in einem Kleid mit rosa Schleiern und um ein Kind von drei Jahren. Die Frau ist Emily, die Tochter des Schokoladenmagnaten. Die arme Emily ist vor Kummer gestorben, als ihr Sohn Ende der vierziger Jahre im Pool ertrank. Danach hat der Magnat das Anwesen verlassen und die Lark-House-Stiftung gegründet.«

»Der Junge ist in dem Pool ertrunken, den Sie mir gerade gezeigt haben?«

»Genau. Aber soviel ich weiß, ist dort niemand sonst gestorben.«

Irina sollte ihre Meinung über Gespenster bald ändern, weil sie feststellte, dass viele der alten Leute in ständiger Begleitung ihrer Toten lebten; Emily und ihr Sohn waren nicht die einzigen hier wohnhaften Geister.

Am nächsten Morgen erschien Irina in aller Frühe in ihrer besten Jeans und einem unauffälligen T-Shirt bei ihrer neuen Arbeit. Wie sich zeigte, war die Stimmung in Lark House lässig, ohne nachlässig zu sein; man fühlte sich eher an ein College als an ein Altenheim erinnert. Das Essen war vergleichbar mit dem in jedem anständigen Restaurant in Kalifornien: Bio im Rahmen des Möglichen. Die Angestellten in der Hauswirtschaft waren tüchtig und die Betreuung und Pflege so freundlich, wie man es erwarten durfte. Nach wenigen Tagen kannte Irina die Namen und die Marotten ihrer Kollegen und der Bewohner, für die sie zuständig war. Dass sie sich ein paar spanische und französische Sätze einprägte, trug ihr die Sympathie ihrer Kollegen ein, die fast ausschließlich aus Mexiko, Guatemala und Haiti stammten. Die Bezahlung war nicht üppig für die viele Arbeit, die Laune aber überwiegend gut. »Die alten Frauen muss man hätscheln, aber mit Respekt behandeln. Die alten Männer auch, aber ein bisschen Abstand halten, die benehmen sich gern schlecht«, riet ihr Lupita Farías, eine untersetzte Person mit dem Gesicht einer Olmeken-Statue, die zuständig war für die Reinigungskräfte im Haus. Da Lupita seit zweiunddreißig Jahren in Lark House arbeitete und Zugang zu sämtlichen Zimmern hatte, kannte sie alle Bewohner bestens, wusste Bescheid über ihr Leben, erriet ihre Wehwehchen und hatte immer ein offenes Ohr für ihre Kümmernisse.

»Du musst darauf achtgeben, ob jemand depressiv wird, Irina. Das geschieht oft. Wenn du merkst, dass sich jemand abschottet, traurig ist, ohne Grund im Bett liegen bleibt oder nicht essen will, dann sagst du mir sofort Bescheid, verstanden?«

»Und was machst du dann?«

»Kommt drauf an. Ich streichle sie, dafür sind die alten Leute immer dankbar, weil sie niemanden mehr haben, der sie anfasst, und ich mache ihnen eine Fernsehserie schmackhaft; niemand will sterben, bevor er die letzte Folge gesehen hat. Manchen hilft es, zu beten, aber hier gibt es viele Atheisten, und die beten nicht. Am wichtigsten ist, dass man sie nicht allein lässt. Sollte ich nicht da sein, dann gehst du zu Cathy, die weiß, was zu tun ist.«

Dr. Catherine Hope wohnte in Haus zwei und war die Erste gewesen, die Irina im Namen der Gemeinschaft willkommen geheißen hatte. Mit ihren achtundsechzig Jahren war sie die jüngste Bewohnerin hier. Seit zwei Jahren saß sie im Rollstuhl und hatte sich deshalb für die Betreuung und die Gesellschaft in Lark House entschieden. Mittlerweile war sie zum guten Geist der Einrichtung geworden.

»Die Alten sind die lustigsten Leute überhaupt. Sie haben viel erlebt, reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und scheren sich nicht darum, was andere von ihnen halten. Du wirst dich hier nicht langweilen«, sagte sie zu Irina. »Die Klientel in Lark House ist gebildet, und sofern ihre Gesundheit es ihnen erlaubt, belegen die Leute Kurse und probieren Neues aus. Die Gemeinschaft bietet jede Menge Anregungen, und man kann der schlimmsten Geißel des Alters entkommen: der Einsamkeit.«

Irina hatte vom politischen Kampfgeist der Lark-House-Bewohner gehört, weil darüber öfter in der Presse berichtet wurde. Für die Plätze in der Einrichtung gab es eine lange Warteliste, und sie wäre noch länger gewesen, wären nicht etliche Anwärter vor der Zeit gestorben. Die Alten aus Lark House waren der lebende Beweis dafür, dass einen die Jahre, allen Einschränkungen zum Trotz, nicht daran hindern müssen, das Leben zu genießen und kräftig im Alltag mitzumischen. Als aktive Mitglieder der Bewegung »Alte für den Frieden« verbrachten viele Bewohner die Freitagvormittage mit Mahnwachen gegen die Verirrungen und Ungerechtigkeiten in der Welt, insbesondere gegen die der Weltmacht USA, für die sie sich verantwortlich fühlten. Die Aktivisten, darunter eine Dame von einhunderteins Jahren, trafen sich, mit ihren Stöcken, Rollatoren und Rollstühlen bewaffnet, auf dem Platz vor der örtlichen Polizeiwache und schwenkten dort Transparente gegen den Krieg oder die Klimaerwärmung, während die vorbeifahrenden Autos aufmunternd hupten und die Passanten die Petitionen unterschrieben, die ihnen die empörten Alten unter die Nase hielten. Mehr als einmal war das aufmüpfige Grüppchen im Fernsehen gewesen und hatte sich die Polizei mit Drohungen blamiert, die Versammlung mit Tränengas aufzulösen, wozu es noch nie gekommen war. Hans Voigt hatte Irina im Park sichtlich bewegt die Gedenktafel für einen Musiker gezeigt, der 2006 mit siebenundneunzig Jahren im Eifer des Gefechts auf offener Straße einem Hirnschlag erlegen war, als er gegen den Irakkrieg demonstrierte.

Irina war in einem Dorf in Moldawien aufgewachsen, in dem es nur Alte und Kinder gab. Allen fehlten Zähne, den einen waren sie schon ausgefallen, den anderen noch nicht gewachsen. Sie dachte an ihre Großeltern und bereute es wie so oft in den letzten Jahren, dass sie die beiden alleingelassen hatte. Lark House würde ihr die Möglichkeit bieten, anderen zu geben, was sie bei ihnen versäumt hatte, und mit diesem Vorsatz im Kopf begann sie, sich um ihre Schützlinge zu kümmern. Sehr schnell gewann sie alle für sich, auch einige der Bewohner von Haus eins, die keiner Betreuung bedurften.

Der Franzose

In Lark House, wo ein bedrückender Frauenüberschuss herrschte, galt Jacques Devine als Star, als der einzige Gentleman unter den achtundzwanzig männlichen Bewohnern. Er wurde »der Franzose« genannt, nicht weil er in Frankreich geboren war, sondern wegen seiner ausgesucht guten Manieren – er hielt den Damen die Tür auf, rückte ihnen den Stuhl vom Tisch und lief nie mit offenem Hosenstall durchs Haus – und weil er trotz seines versteiften Rückens tanzen konnte. Dank der Stäbe, Schrauben und Muttern in seiner Wirbelsäule hielt er sich auch mit seinen neunzig Jahren noch gerade, etwas von seiner wilden Haarpracht war ihm geblieben, und er konnte nonchalant schummelnd Karten spielen. Körperlich war er, von der üblichen Arthrose, dem Bluthochdruck und der unvermeidlichen Altersschwerhörigkeit abgesehen, gut beieinander und geistig ebenfalls, wenn auch nicht gut genug, um sich zu erinnern, ob er schon zu Mittag gegessen hatte; deshalb wohnte er in Haus zwei, wo er die nötige Unterstützung bekam. Ursprünglich war er mit seiner dritten Frau nach Lark House gekommen, doch die war nach drei Wochen von einem unvorsichtigen Radfahrer auf der Straße umgefahren worden und gestorben.

Der Franzose begann seinen Tag früh, duschte, kleidete sich an und rasierte sich mit Hilfe von Jean Daniel, einem Pfleger aus Haiti, dann überquerte er, auf seinen Stock gestützt und mit scharfem Auge auf den Radverkehr achtend, den Parkplatz und trank im Starbucks an der Ecke die erste von täglich fünf Tassen Kaffee. Er war einmal geschieden und zweifach verwitwet und dank seiner Verführungskunst nie ohne Affären gewesen. Neulich hatte er im Kopf überschlagen, dass er siebenundsechzig Mal in seinem Leben verliebt gewesen war, und er hatte die Zahl in sein Notizbuch geschrieben, um wenigstens sie nicht zu vergessen, wo ihm schon die Namen und Gesichter der Glücklichen abhandenkamen. Bei etlichen Kindern stand seine Vaterschaft außer Frage, und dann gab es noch eins, die Frucht eines heimlichen Ausrutschers, bei dem er sich nicht mehr an den Namen der Mutter erinnerte, außerdem Nichten und Neffen, und alle waren sie undankbar und zählten die Tage, bis er endlich abtrat und sie ihn beerben konnten. Man raunte von einem kleinen, mit großer Kühnheit und geringen Skrupeln erworbenen Vermögen. Er selbst erzählte ohne einen Anflug von Reue, er habe eine Zeitlang im Gefängnis gesessen, wovon ein paar durch Magerkeit, Altersflecken und Runzeln unkenntlich gewordene Freibeutertattoos an seinen Armen zeugten, habe dort mit den Ersparnissen der Wachleute spekuliert und nicht unerhebliche Summen eingestrichen.

Trotz der Aufmerksamkeit, die ihm von Seiten etlicher Damen in Lark House zuteilwurde und wenig Raum für eigene Initiativen ließ, verlor Jacque Devine sein Herz sofort an Irina Bazili, als er sie zum ersten Mal die Runde machen sah mit ihrem Klemmbrett und ihrem kecken Po. Das Mädchen besaß nicht einen Tropfen karibischen Bluts, folglich musste man diesen Mulattinnenhintern als ein Wunder der Natur betrachten, versicherte der Franzose nach seinem ersten Martini und konnte kaum glauben, dass das noch keinem sonst aufgefallen war. In seinen besten Jahren hatte er Geschäfte mit Puerto Rico und Venezuela gemacht und dort eine Leidenschaft dafür entwickelt, Frauen von hinten anzuschauen. Die erhabenen Hinterteile hatten sich ihm für immer eingeprägt, er träumte von ihnen, spürte sie überall auf, selbst an einem so wenig erwartbaren Ort wie in Lark House und bei einer so schmalen Frau wie Irina. Sein Greisenleben ohne Pläne und Ambitionen füllte sich jäh mit dieser späten und allumfassenden Liebe, und der Frieden seines Alltags war dahin. Bald nach ihrer ersten Begegnung schenkte er Irina zum Zeichen seiner Ergebenheit einen Käfer aus Topas und Brillanten, eins der wenigen Schmuckstücke aus dem Besitz seiner verstorbenen Frauen, die er vor der Raffgier ihrer Sprösslinge hatte retten können. Irina wollte das Geschenk nicht annehmen, aber ihre Zurückweisung jagte den Blutdruck des Verliebten in schwindelerregende Höhen, so dass sie die ganze Nacht bei ihm in der Notaufnahme sitzen musste. Angeschlossen an einen Tropf, sprach ihr Jacques Devine unter Seufzern und Vorhaltungen von seinen uneigennützigen und platonischen Gefühlen. Er wünsche nur ihre Gesellschaft, wolle sich am Anblick ihrer Jugend und Schönheit weiden, ihrer glockenhellen Stimme lauschen, davon träumen, dass sie ebenfalls zärtliche Gefühle für ihn hege, und seien es auch nur die einer Tochter. Oder einer Urenkelin.

Als sie am nächsten Tag zurück in Lark House waren und Jacques Devine bei seinem rituellen Nachmittagsmartini saß, ging Irina mit von der durchwachten Nacht geröteten, dunkel umrandeten Augen zu Lupita Farías und erzählte ihr von dem Durcheinander.

»Das ist nichts Neues, Kindchen. Wir finden die Bewohner ständig in fremden Betten, nicht nur die Herren, auch die Damen. Wegen der wenigen Männer müssen die Armen sich mit dem begnügen, was da ist. Jeder Mensch braucht Gesellschaft.«

»Die Liebe von Herrn Devine ist platonisch, Lupita.«

»Keine Ahnung, was das heißen soll, aber falls es das ist, was ich meine, glaub ihm kein Wort. Der Franzose hat ein Implantat im Schniedel, eine Plastikwurst, die er über einen in den Hoden versteckten Kolben aufpumpt.«

»Was redest du da!« Irina lachte.

»Im Ernst. Ehrenwort. Ich habe das selbst nicht gesehen, aber der Franzose hat es Jean Daniel vorgeführt. Der war schwer beeindruckt.«

Lupita erzählte außerdem, und davon sollte Irina profitieren, dass sie in den vielen Jahren, die sie jetzt in Lark House arbeitete, feststellen konnte, dass das Alter allein keinen zu einem besseren oder weiseren Menschen macht, sondern bloß betont, was einer immer schon gewesen ist.

»Ein Geizhals wird mit den Jahren nicht großzügig, Irina, sondern bloß noch geiziger. Devine war bestimmt schon immer ein Lüstling, und jetzt ist er eben ein alter Lüstling.«

Da sie ihrem Verehrer die Käferbrosche unmöglich zurückgeben konnte, trug Irina sie zu Hans Voigt, der darauf hinwies, es sei streng verboten, Trinkgelder oder Geschenke anzunehmen. Das betraf nicht die Schenkungen, die der Einrichtung von Sterbenden gemacht wurden, und die Spenden unter der Hand, mit denen Angehörige ihren Lieben einen Spitzenplatz auf der Warteliste sicherten, worüber aber nicht gesprochen wurde. Der Geschäftsführer nahm das scheußliche Topasgeziefer entgegen, um es, wie er sagte, seinem legitimen Besitzer zurückzugeben, und verstaute es fürs Erste in einer Schublade seines Schreibtischs.

In der Woche darauf steckte Jacques Devine Irina hundertsechzig Dollar in Zwanzigerscheinen zu, und diesmal ging sie damit gleich zu Lupita Farías, die eine Befürworterin einfacher Lösungen war: Sie legte die Scheine zurück in die Zigarrenkiste, in der der Gigolo sein Bargeld verwahrte, in der Gewissheit, dass der sich weder erinnerte, etwas entnommen zu haben, noch wie viel er besessen hatte. Damit hatte Irina eine Lösung für die Trinkgelder gefunden, aber nicht für die schmachtenden Briefe und die Essenseinladungen in teure Restaurants, für die ständigen Vorwände, unter denen Jacques Devine sie zu sich rief, um ihr von maßlosen Erfolgen zu erzählen, die er niemals gehabt hatte, und zu guter Letzt auch nicht für den Heiratsantrag. Obwohl so bewandert in der Kunst der Verführung, war der Franzose in die Zeit seiner Jugend und, damit einhergehend, in schmerzliche Verklemmtheit zurückgefallen, und anstatt sich persönlich zu erklären, überreichte er Irina einen perfekt lesbaren, weil am Computer geschriebenen Brief. Zwei Seiten voller Umschweife, Metaphern und Wiederholungen, die ungefähr auf Folgendes hinausliefen: Irina habe seine Lebensgeister und seinen Lebenswillen neu geweckt, er könne ihr großen Wohlstand bieten, etwa in Florida, wo einem stets die Sonne lachte, und wenn sie Witwe würde, wäre sie finanziell abgesichert. Wie sie seinen Vorschlag drehte und wendete, sie könne nur gewinnen, schrieb er, der Altersunterschied spiele ihr in die Hände. Die Unterschrift war ein einziges Gekrakel. Irina sah davon ab, den Einrichtungsleiter zu informieren, weil sie fürchtete, der werde sie auf die Straße setzen, und ließ den Brief unbeantwortet in der Hoffnung, dem Brautwerber werde die Erinnerung versagen, aber dieses eine Mal funktionierte Jacques Devines Kurzzeitgedächtnis tadellos. Von der Leidenschaft verjüngt, schrieb er ihr weitere Briefe, die immer drängender wurden, während sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, und zur heiligen Paraschiva betete, er möge seine Aufmerksamkeit dem Dutzend achtzigjähriger Damen zuwenden, die hinter ihm her waren.

Die Situation wurde zusehends brenzlig und hätte sich irgendwann nicht mehr verheimlichen lassen, da fand Jacques Devine und damit Irinas Dilemma ein jähes Ende. Zweimal war der Franzose in dieser Woche ohne jede Erklärung mit dem Taxi verschwunden, was er sonst nie tat, da er dazu neigte, sich zu verlaufen. Zu Irinas Aufgaben hätte es gehört, ihn zu begleiten, aber er war entwischt, ohne jemandem zu sagen, was er vorhatte. Der zweite Ausflug musste ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht haben, jedenfalls war er bei seiner Rückkehr so durcheinander und klapprig, dass der Fahrer ihn förmlich aus dem Taxi heben und wie ein Gepäckstück bei der Frau am Empfang abgeben musste.

»Was ist passiert, Herr Devine?«, fragte die ihn.

»Ich weiß nicht, ich war nicht dabei«, antwortete er.

Nachdem der diensthabende Arzt ihn untersucht und festgestellt hatte, dass mit Devines Blutdruck alles in Ordnung war, hielt er es nicht für nötig, ihn ein weiteres Mal ins Krankenhaus zu bringen, und verordnete stattdessen einige Tage Bettruhe, sagte Hans Voigt allerdings Bescheid, Jacques Devine sei mittlerweile geistig nicht mehr in der Verfassung für Haus zwei und solle besser in Haus drei umziehen, wo er ständige Betreuung hätte. Am nächsten Morgen wappnete sich der Einrichtungsleiter dafür, dem Mann den Umzug nahezulegen, eine Angelegenheit, von der er stets einen Geschmack von Kupfer auf der Zunge bekam, schließlich konnte niemandem entgehen, dass Haus drei die Vorhalle zum Paradies war, eine Schwelle, über die es kein Zurück gab, aber da stürzte Jean Daniel, der haitianische Pfleger, völlig aufgelöst in sein Büro und unterbrach seine Gedanken mit der Nachricht, als er Jacques Devine beim Anziehen habe helfen wollen, sei der mausetot gewesen. Der Arzt schlug eine Autopsie vor, weil bei seiner Untersuchung am Vortag nichts auf diese unerfreuliche Überraschung hingedeutet hatte, aber Hans Voigt wiegelte ab; wozu bei etwas derart Absehbarem wie dem Tod eines Neunzigjährigen schlafende Hunde wecken. Eine Autopsie könne dem tadellosen Ansehen der Einrichtung schaden. Als sie hörte, was geschehen war, weinte Irina lange, denn zu ihrem Leidwesen hatte sie den tattrigen Romeo ins Herz geschlossen, empfand aber dennoch eine gewisse Erleichterung darüber, ihn los zu sein, und schämte sich dafür.

Durch den Tod des Franzosen wurde der Club seiner Bewunderinnen in Witwenschmerz vereint, konnte sich allerdings nicht mit der Planung einer Abschiedszeremonie trösten, weil die Angehörigen die sofortige Verbrennung des Leichnams veranlassten.

Der Mann wäre vermutlich selbst von seinen Verehrerinnen rasch vergessen worden, hätte seine Familie nicht für Wirbel gesorgt. Kurz nachdem die Asche des Verstorbenen sang- und klanglos verstreut worden war, stellten die mutmaßlichen Erben fest, dass er seinen gesamten Besitz einer gewissen Irina Bazili vermacht hatte. Laut einer kurzen, dem Testament beigefügten Notiz hatte ihm Irina während der letzten Etappe seines langen Lebenswegs Zärtlichkeit geschenkt und verdiente es daher, ihn zu beerben. Jacques Devines Anwalt erklärte, sein Mandant habe ihm telefonisch die gewünschten Änderungen am Testament mitgeteilt und sei danach zweimal in seiner Kanzlei gewesen, zunächst, um die Papiere zu prüfen, und dann noch einmal, um sie in Anwesenheit des Notars zu unterschreiben, und er habe seinen Willen unmissverständlich bekundet. Die Angehörigen beschuldigten die Leitung von Lark House, sie habe hinsichtlich des geistigen Zustands des alten Herrn ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt, und diese Irina Bazili, sie habe ihn arglistig bestohlen. Sie würden das Testament anfechten, den Anwalt wegen Unfähigkeit vor Gericht bringen, den Notar wegen Beihilfe gleich mit und Lark House auf Schadenersatz verklagen. Hans Voigt empfing die aufgebrachte Schar mit der Ruhe und Höflichkeit, die er sich in den vielen Jahren als Leiter der Einrichtung angeeignet hatte, kochte aber innerlich vor Zorn. Eine derartige Schlitzohrigkeit hätte er von Irina Bazili nicht erwartet, hatte vielmehr geglaubt, sie könne kein Wässerchen trüben, aber man lernte eben nie aus, und trauen konnte man sowieso keinem. Hinter vorgehaltener Hand fragte er den Anwalt, wie groß das in Rede stehende Vermögen sei, und erfuhr, dass es sich um etwas karges Land in New Mexico und um Aktien verschiedener Unternehmen handelte, deren Wert man sehen müsse. Größere Geldsummen seien nicht vorhanden.

Der Einrichtungsleiter bat um vierundzwanzig Stunden, in denen er eine Lösung zu finden hoffte, die weniger kostspielig wäre als ein Rechtsstreit, und zitierte dann auf der Stelle Irina zu sich. Eigentlich hatte er die Angelegenheit mit Samthandschuhen anfassen wollen, schließlich half es ihm nicht, wenn er diese ausgefuchste Person gegen sich aufbrachte, aber als sie vor ihm stand, verlor er die Nerven:

»Ich möchte bloß wissen, wie Sie den alten Mann um den Finger gewickelt haben!«

»Von wem sprechen Sie, Herr Voigt?«

»Von wem wohl! Von dem Franzosen natürlich! Wie kann so etwas vor meiner Nase passieren!«

»Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen nichts gesagt, weil ich Sie nicht beunruhigen wollte, ich dachte, die Sache erledigt sich von selbst.«

»Und sie hat sich ja prima erledigt! Wie soll ich das der Familie erklären?«

»Die muss doch nichts davon erfahren, Herr Voigt. Die alten Leute verlieben sich, das wissen Sie, nur die Leute draußen sind schockiert darüber.«

»Waren Sie mit Devine im Bett?«

»Nein! Wo denken Sie hin!«

»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wieso hat er Sie zur Alleinerbin gemacht?«

»Wie bitte?«

Fassungslos begriff Hans Voigt, dass Irina Bazili von dem Vorhaben des Mannes nichts geahnt hatte und von dem Testament mehr überrascht war als irgendwer sonst. Er setzte eben an, ihr zu erklären, dass es schwierig für sie werden würde, etwas von dem Vermächtnis zu sehen, weil die rechtmäßigen Erben bis auf den letzten Cent darum kämpfen würden, da verkündete ihm Irina geradeheraus, sie wolle das Geld nicht, denn das würde ihr nicht zustehen und nur Unglück bringen. Jacques Devine sei nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen, sagte sie, das könne jeder in Lark House bestätigen; am besten schaffe man die Sache stillschweigend aus der Welt, dazu genüge doch wahrscheinlich ein ärztliches Attest über die Demenz des Verstorbenen. Das musste Irina zweimal sagen, bis ihr begriffsstutziger Chef es verstand.

Alma Belasco

Durch das fantastische Erbe von Jacques Devine wurde Alma Belasco auf Irina aufmerksam, und als das Gerede schließlich verstummt war, schickte sie nach ihr. Sie empfing sie in ihrem spartanisch eingerichteten Apartment, wo sie steif und hoheitsvoll mit Neko, ihrem getigerten Kater, auf dem Schoß in einem kleinen, apricotfarbenen Sessel saß.

»Ich brauche eine Sekretärin. Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten«, sagte Alma.

Das war kein Vorschlag, das war ein Befehl. Da Alma Belasco bisher kaum ihren Gruß erwidert hatte, wenn sie einander auf dem Flur begegneten, fiel Irina aus allen Wolken. Außerdem lebten die Hälfte der Bewohner im Haus von einer schmalen Rente, mussten manchmal zusätzlich von ihren Angehörigen unterstützt werden und konnten sich über das in der Einrichtung bestehende Angebot hinaus nichts leisten, weil schon ein Essen auswärts ihr Budget sprengte; niemand konnte sich den Luxus einer persönlichen Assistentin erlauben. Das Gespenst der Armut spukte hier zwischen den alten Leuten zusammen mit dem der Einsamkeit. Irina erklärte Frau Belasco, sie habe wenig Zeit, da sie nach ihrer Arbeit in Lark House noch in einem Café jobbe und außerdem ambulant Hunde wasche.

»Wie ist das mit den Hunden?«, fragte Alma nach.

»Ich habe einen Geschäftspartner, er heißt Tim und ist mein Nachbar in Berkeley. Tim hat einen Kombi, in den passen zwei große Wannen und ein langer Schlauch. Wir fahren zu den Hunden nach Hause, ich meine, zu den Hundebesitzern, schließen den Schlauch an und waschen die Kunden, also die Hunde, im Hof oder auf der Straße. Wir machen ihnen auch die Ohren sauber und schneiden ihnen die Krallen.«

»Den Hunden?« Alma verkniff sich ein Schmunzeln.

»Ja.«

»Wie viel verdienen Sie in der Stunde?«

»Fünfundzwanzig Dollar pro Hund, aber die teile ich mit Tim, also zwölffünfzig.«

»Ich stelle Sie zur Probe an, dreizehn Dollar die Stunde für drei Monate. Wenn ich mit Ihrer Arbeit zufrieden bin, erhöhe ich auf fünfzehn. Sie arbeiten für den Anfang zwei Stunden am Tag, nachdem Sie hier Feierabend haben. Die Arbeitszeiten können wir flexibel handhaben, je nachdem, wann ich Sie brauche und wann Sie verfügbar sind. Einverstanden?«

»Den Job im Café könnte ich aufgeben, Frau Belasco, aber nicht die Hunde. Die kennen mich inzwischen und würden mich vermissen.«

Darauf einigten sie sich, und so nahm eine Verbindung ihren Anfang, aus der schon bald eine Freundschaft werden sollte.

In den ersten Wochen bewegte sich Irina bei ihrer neuen Arbeit wie auf rohen Eiern und fühlte sich ziemlich verloren, denn Alma Belasco erwies sich als autoritär im Umgangston, anspruchsvoll in Detailfragen und vage in ihren Anweisungen, aber recht bald verlor Irina ihre Scheu und machte sich unentbehrlich, wie sie es in Lark House längst geworden war. Sie beobachtete Alma neugierig wie ein Zoologe das Exemplar einer seltenen Echsenart. Die Frau ähnelte niemandem, dem Irina je begegnet war, und ganz sicher keinem der Alten aus Haus zwei und drei. Sie war eifersüchtig auf ihre Unabhängigkeit bedacht, völlig unsentimental und hing nicht an Dingen, sie schien frei von Gefühlen der Zuneigung, ausgenommen für ihren Enkel Seth, und selbstsicher genug, weder der Hilfe Gottes noch der zuckersüßen Scheinheiligkeit einiger Bewohner von Lark House zu bedürfen, die sich für spirituell hielten und allerlei Wege predigten, um einen höheren Bewusstseinszustand zu erlangen. Alma stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Irina sah in ihrem Hochmut ein Mittel, sich vor fremder Neugier zu schützen, und in ihrer Schlichtheit eine Form von Eleganz, die nur wenige Frauen nachahmen konnten, ohne verwahrlost zu wirken. Sie trug ihr weißes, störrisches Haar unregelmäßig geschnitten, kämmte es mit den Fingern und legte als einzige Konzession an die Eitelkeit einen roten Lippenstift auf und einen nach Bergamotte und Orange riechenden Männerduft; wo sie vorbeikam, überdeckte dieser frische Duft den vagen Geruch von Desinfektionsmittel, Alter und manchmal auch von Marihuana, der in Lark House vorherrschte. Almas Nase war kräftig, sie hatte einen stolzen Zug um den Mund, war langgliedrig und hatte die abgearbeiteten Hände eines Tagelöhners; ihre braunen Augen mit den dunklen, dichten Brauen hatten wegen der violetten Augenringe, die auch vom schwarzen Rahmen ihrer Brille nicht verdeckt wurden, etwas Übernächtigtes. Almas schwer zu entschlüsselnde Ausstrahlung sorgte dafür, dass man ihr nicht zu nah kam; keiner der Angestellten redete mit ihr in dem treusorgend bevormundenden Ton, der gegenüber den anderen Bewohnern üblich war, und keiner konnte von sich behaupten, sie zu kennen, bis Irina Bazili in die gut gesicherte Festung ihres Privatlebens vordrang.

Alma bewohnte mit ihrer Katze ein Apartment, in dem nur die nötigsten Möbel und persönlichen Gegenstände vorhanden waren, und fuhr das kleinste am Markt erhältliche Auto, ohne sich um die Straßenverkehrsordnung zu scheren, deren Regeln sie als Vorschläge ansah – zu Irinas Aufgaben gehörte es, die Strafzettel zu bezahlen. Freundlich war sie, weil das die Höflichkeit gebot, aber Freundschaft geschlossen hatte sie in Lark House nur mit Victor, dem Gärtner, mit dem sie sich über Stunden um das Gemüse und die Blumen in den Hochbeeten kümmerte, und mit Dr. Catherine Hope, deren Charme sie nicht hatte widerstehen können. Sie hatte ein mit Holzwänden abgeteiltes Atelier in einer Halle gemietet und arbeitete dort Wand an Wand mit anderen Kunsthandwerkern. Sie bemalte Seide, was sie schon seit annähernd sechzig Jahren tat, inzwischen allerdings nicht mehr aus künstlerischem Schaffensdrang, sondern um nicht vor der Zeit an Langeweile zu sterben. Etliche Stunden in der Woche verbrachte sie in ihrem Atelier, wo Kirsten ihr zur Hand ging, die trotz ihres Downsyndroms alle Aufgaben tadellos erledigte. Kirsten wusste, mit welchen Farbmischungen und Werkzeugen Alma arbeitete, sie bereitete die Stoffe vor, hielt das Atelier in Ordnung und wusch die Pinsel aus. Die beiden Frauen waren ein eingespieltes Team und brauchten wenig Worte, um sich zu verstehen. Als Almas Hände zittrig zu werden begannen, stellte sie zwei Studenten an, die unter Kirstens argwöhnischem Gefängniswärterblick Almas Papierskizzen auf die Seidenstoffe übertrugen. Kirsten war der einzige Mensch, der es sich erlaubte, Alma zur Begrüßung um den Hals zu fallen oder sie mit Küsschen und Schmatzern ins Gesicht bei der Arbeit zu unterbrechen, wenn die Zärtlichkeit sie überkam.

Wie nebenbei hatte sich Alma mit ihren unverwechselbaren, kräftig bunten Seidenkimonos, langen Blusen, Schals und Schultertüchern einen Namen gemacht. Sie selbst trug nichts davon, kleidete sich in weite Hosen und Blusen aus Leinen in Schwarz, Weiß und Grau, Bettlerlumpen, wie Lupita Farías dazu sagte, ohne zu ahnen, was die Lumpen kosteten. Almas bemalte Stoffe erzielten stolze Preise in Kunstgalerien und erhöhten das Vermögen der Belasco-Stiftung. Die Anregungen für ihre Kollektionen stammten von ihren Reisen um die Welt – Tiere der Serengeti, osmanische Keramik, äthiopische Schriftzeichen, inkaische Symbole, griechische Flachreliefs – und wurden von Alma neu variiert, sobald die Konkurrenz sie kopierte. Sie hatte es mehrfach abgelehnt, ihre Marke zu verkaufen oder mit einem großen Modelabel zusammenzuarbeiten; jeder ihrer Originalentwürfe wurde in limitierter Auflage und unter ihrer strengen Kontrolle gefertigt und von ihr handsigniert. In ihren Glanzzeiten hatten in einer großen Fabriketage im Süden der Market Street in San Francisco fünfzig Leute für sie gearbeitet. Werbung hatte sie nie gemacht, weil sie auch ohne Verkäufe ein gesichertes Auskommen hatte, dennoch war ihr Name zu einer Garantie für Qualität und Exklusivität geworden. Mit ihrem siebzigsten Geburtstag hatte sie ihre Produktion stark reduziert, was zu herben Einbußen bei der Belasco-Stiftung führte, die mit den Einnahmen rechnete.

Die Stiftung, 1955 von ihrem Schwiegervater, dem schon zur Legende gewordenen Isaac Belasco gegründet, legte in städtischen Brennpunkten Grünanlagen an. Ursprünglich war es dabei um Verschönerung, um Naturschutz und Naherholung gegangen, aber die Projekte trugen erheblich zur Verbesserung des sozialen Klimas bei. Wo man einen Garten, einen Park oder einen öffentlichen Platz anlegte, ging die Kriminalitätsrate zurück, weil dieselben Gangs und Junkies, die sich vorher gegenseitig für ein Heftchen Heroin oder ein Fußbreit Territorium an die Gurgel gegangen waren, jetzt zusammen ein Stückchen Stadt pflegten, das ihnen gehörte. In manchen der Anlagen waren Wandbilder entstanden, in anderen Skulpturen oder Klettergerüste für Kinder, in allen sorgten Akrobaten und Straßenmusiker für Stimmung. Die Belasco-Stiftung wurde jeweils vom ältesten männlichen Nachkommen der Familie geleitet, eine stillschweigende Abmachung, an der auch die Frauenbewegung nichts geändert hatte, da keine der Töchter der Familie sich die Mühe machte, sie in Frage zu stellen; eines Tages würde die Leitung an Seth übergehen, den Urenkel des Gründers. Er hätte auf die Ehre gern verzichtet, aber sie war nun einmal Teil des Familienerbes.

Alma Belasco war so daran gewöhnt, Abstand zu halten und Anweisungen zu erteilen, und Irina so daran gewöhnt, im Hintergrund zu bleiben und zu tun, was man ihr sagte, dass die beiden einander niemals nähergekommen wären ohne Seth, der Almas Lieblingsenkel war und alles dafür tat, die Schranken zwischen ihnen einzureißen. Seth hatte Irina kurz nach dem Umzug seiner Großmutter nach Lark House zum ersten Mal gesehen und war ihr sofort verfallen, auch wenn er nicht hätte erklären können, warum. Außer ihrem Namen erinnerte nichts an ihr an die osteuropäischen Schönheiten, die seit einigen Jahren die Nachtclubs und Modelagenturen erobert hatten, Irina besaß weder deren giraffenhaft langen Wuchs noch die mongolisch hohen Wangenkochen oder den Schlafzimmerblick einer Odaliske. Von weitem hätte man sie für einen Jungen in zu großen Hosen halten können. Sie war so zart und so sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen, dass man wirklich genau hinsehen musste, um sie wahrzunehmen. Ihre weiten Anziehsachen und die Wollmütze, die sie sich bis zu den Brauen zog, trugen auch wenig zu einer vorteilhaften Erscheinung bei. Was Seth für sie einnahm, waren ihre besondere Klugheit, ihr feenhaft herzförmiges Gesicht mit dem tiefen Grübchen im Kinn, ihre scheuen grünen Augen, ihr schmaler Hals, der ihre Zerbrechlichkeit betonte, und ihr blasser Teint, der im Dunkeln schimmerte. Selbst ihre Kinderhände mit den abgekauten Nägeln entzückten ihn. Er verspürte den ihm fremden und beunruhigenden Wunsch, sie zu beschützen und mit Aufmerksamkeiten zu überschütten. Irina trug so viele Kleiderschichten übereinander, dass es fast unmöglich war, sich ein Bild von ihr zu machen, aber als Monate nach ihrer ersten Begegnung der Sommer sie zwang, die Pullis und Jacken abzulegen, war unter Irinas schlabberigen T-Shirts eine hübsche Figur zu erkennen. Die Wollmütze wurde durch bunte Tücher ersetzt, die ihr Haar nicht vollständig verdeckten, so dass ihr Gesicht jetzt von einigen weißblonden Locken eingerahmt wurde.

Zu Beginn war seine Großmutter die einzige Verbindung, die Seth zu dem Mädchen aufbauen konnte, da bei Irina keine seiner üblichen Methoden verfing, doch dann entdeckte er die unwiderstehliche Macht des Schreibens. Er erzählte ihr, er wolle mit Hilfe seiner Großmutter die einhundertfünfzig Jahre alte Geschichte der Familie Belasco aufleben lassen und parallel dazu auch die von San Francisco erzählen. Schon mit fünfzehn habe er diesen Romanstoff im Kopf gehabt, einen Strom von Bildern, Anekdoten, Ideen, einen Strudel aus Wörtern, in dem er zu ertrinken drohe, wenn er ihn nicht aufschrieb. Das war übertrieben; der Strom war allenfalls ein müdes Rinnsal, aber Irina war so begeistert von dem Vorhaben, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als mit dem Schreiben zu beginnen. Was seine Großmutter ihm bei seinen Besuchen berichtete, ergänzte er durch Recherchen in Büchern und im Internet, außerdem trug er Fotos und Briefe aus unterschiedlichen Epochen zusammen. Damit gewann er Irinas Bewunderung, nicht aber die von Alma, die meinte, er habe zwar hochfliegende Pläne, sei aber reichlich unsortiert, eine schlechte Mischung für einen Schriftsteller. Hätte Seth sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, hätte er zugeben müssen, dass seine Großmutter und der Roman lediglich Vorwände waren, um Irina zu sehen, dieses Geschöpf aus einer nordischen Feengeschichte, das irrtümlich in einem Altenheim in Berkeley gelandet war. Aber auch wenn er noch so lange darüber nachgedacht hätte, die unwiderstehliche Anziehung, die sie mit ihrer Zerbrechlichkeit eines aus dem Nest gefallenen Vogels und ihrer schwindsüchtigen Blässe auf ihn ausübte, hätte er sich doch nicht erklären können. Irina entsprach in nichts seinem Beuteschema, hatte nichts von den vitalen, fröhlichen, sonnengebräunten und unkomplizierten Frauen, die es in Kalifornien und in seiner Vergangenheit reichlich gab. Außerdem schien sie nicht zu merken, welche Wirkung sie auf ihn ausübte, und behandelte ihn mit der zerstreuten Freundlichkeit, die man fremder Leute Haustieren angedeihen lässt. Mit ihrem sanften Gleichmut, den er zu anderen Zeiten vielleicht als Herausforderung angesehen hätte, versetzte Irina ihn in einen Zustand lähmender Schüchternheit.

Seine Großmutter erklärte sich bereit, die eigenen Lebenserinnerungen zu durchforsten, um Seth bei dem Buch zu unterstützen, mit dem er nach eigenem Bekunden seit zehn Jahren immer wieder anfing und aufhörte. Das Vorhaben war ehrgeizig und Alma die beste Hilfe, die er bekommen konnte, schließlich hatte sie Zeit genug und zeigte noch keine Anzeichen von Altersdemenz. Sie fuhr mit Irina zum Familiensitz der Belascos in Sea Cliff, um ihre Kisten durchzusehen, die seit ihrem Auszug niemand angerührt hatte. Ihr früheres Zimmer war verschlossen und wurde nur zum Saubermachen betreten. Alma hatte fast ihre gesamte Habe verteilt: ihren Schmuck an ihre Schwiegertochter und ihre Enkelin, mit Ausnahme eines Brillantarmbands, das für die zukünftige Ehefrau von Seth vorgesehen war; die Bücher an Krankenhäuser und Schulen; ihre Kleider und Pelze an Wohltätigkeitseinrichtungen, obwohl die Pelze in Kalifornien niemand zu tragen wagte aus Furcht vor Tierschützern, die einen auf offener Straße mit dem Messer attackieren konnten; anderes hatte sie denen gegeben, die es haben wollten, und behalten hatte sie nur, woran ihr wirklich etwas lag: Briefe, Tagebücher, Zeitungsauschnitte, Dokumente und Fotografien. »Ich sollte die Sachen durchsehen und ordnen, Irina, ich möchte nicht, dass jemand in meiner Privatsphäre herumwühlt, wenn ich tattrig bin.« Erst versuchte sie, das allein zu bewerkstelligen, aber mit ihrem wachsenden Vertrauen zu Irina übertrug sie ihr stetig mehr Aufgaben. Schließlich kümmerte Irina sich um alles außer um die Briefe mit den gelben Umschlägen, die hin und wieder eintrafen und die Alma umgehend verschwinden ließ. Von denen hatte sie die Finger zu lassen.

Ihrem Enkel erzählte Alma nur häppchenweise aus ihren Erinnerungen, geizte damit, um ihn möglichst lange bei der Stange zu halten, und fürchtete, sobald er es leid wäre, um Irina herumzuscharwenzeln, werde das vielbesprochene Manuskript wieder in der Schublade landen und sie ihn weit seltener sehen. Irinas Anwesenheit war bei ihren Unterhaltungen mit Seth unerlässlich, weil er sonst zu sehr mit dem Warten auf sie beschäftigt war. Alma musste innerlich schmunzeln bei der Vorstellung, was die Familie sagen würde, wenn Seth, der Kronprinz der Belascos, sich mit einer Einwanderin zusammentäte, die ihr Geld damit verdiente, dass sie alte Leute betreute und Hunde wusch. Ihr selbst schien diese Liaison nicht verkehrt, jedenfalls hatte Irina mehr im Kopf als die meisten von Seth' sportversessenen Kurzzeitfreundinnen; aber sie war ein Rohdiamant und benötigte etwas Schliff. Alma nahm sich vor, ihr ein bisschen Kultur bei

Der unsichtbare Mann

Irina arbeitete seit einem Jahr für Alma Belasco, als ihr zum ersten Mal der Verdacht kam, die Frau könnte einen Geliebten haben, doch wagte sie es nicht, der Vermutung nachzugehen, bis sie einige Zeit später Seth davon berichten musste. Ehe Seth den Kitzel der Neugier in ihr weckte, hatte sie niemals die Absicht gehabt, Alma auszuspionieren. Nach und nach war sie tief in deren Privatleben vorgedrungen, aber das hatte keine der beiden Frauen wahrgenommen. Auf die Idee mit dem Liebhaber kam Irina, als sie den Inhalt der Kisten aus Sea Cliff ordnete und sich den Mann auf dem Foto näher ansah, das in einem silbernen Rahmen in Almas Schlafzimmer stand und von ihr selbst regelmäßig abgestaubt wurde. Außer einem noch kleineren Foto von Almas Familie, das im Wohnzimmer hing, war es das einzige in ihrem Apartment, was Irina wunderte, denn die anderen Bewohner in Lark House umgaben sich mit Fotos, um Gesellschaft zu haben. Über den Mann auf dem Bild hatte Alma lediglich gesagt, er sei ein Freund aus Kindertagen. Die seltenen Male, wenn Irina nachzufragen wagte, war Alma ausgewichen und hatte sich nur entlocken lassen, dass der Mann Ichimei Fukuda hieß, ein japanischer Name, und dass das Gemälde im Wohnzimmer von ihm stammte, eine trostlose Landschaft mit dunklen, eingeschossigen Gebäuden, Strommasten und Kabeln im Schnee, darüber ein grauer Himmel und, als einziges Anzeichen von Leben, ein schwarzer Vogel im Flug. Irina verstand nicht, wieso Alma von den zahlreichen Kunstwerken im Besitz der Belascos ausgerechnet dieses bedrückende Bild für ihre Wohnung ausgewählt hatte. Auf dem Porträtfoto war Ichimei Fukuda ein Mann unbestimmten Alters, er hielt den Kopf leicht schräg, wie fragend, und die Augen halb geschlossen, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien, doch war sein Blick offen und unverstellt; seine vollen, sinnlichen Lippen deuteten ein Lächeln an, sein Haar war kräftig und dicht. Irina fühlte sich unwiderstehlich zu diesem Gesicht hingezogen, als riefe der Mann nach ihr oder versuchte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Oft betrachtete sie ihn, wenn sie allein in der Wohnung war, stellte sich vor, wie er wohl ansonsten aussah, erfand Charakterzüge für ihn und eine Biografie: Ichimei Fukuda hatte breite Schultern und war ein Einzelgänger, er wusste seine Gefühle zu kontrollieren und hatte viel durchgemacht. Almas Weigerung, über ihn zu reden, befeuerte Irinas Wunsch, ihn kennenzulernen. In einer der Kisten fand sie ein weiteres Foto von ihm zusammen mit Alma am Strand, beide mit hochgekrempelten Hosen, die Sandalen in der Hand, die Füße im Wasser, lachend, einander schubsend. Die Neckerei der beiden da im Sand sah nach Liebe aus, nach körperlicher Nähe. Bestimmt waren sie allein gewesen und hatten jemand, der zufällig vorbeikam, gebeten, das Foto zu machen. Wenn Ichimei in Almas Alter war, dann musste er die achtzig überschritten haben, aber Irina zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihn erkennen würde, wenn sie ihn träfe. Nur Ichimei konnte der Grund für Almas wiederholtes Verschwinden sein.

Irina wusste inzwischen vorherzusagen, wann es wieder so weit sein würde, weil ihre Chefin Tage vorher in ein versonnenes, melancholisches Schweigen verfiel, das unvermittelt in kaum verhohlene Euphorie umschlug, sobald sie zum Aufbruch entschlossen war. Offenbar wartete sie auf etwas, und wenn es eintrat, ging ihr das Herz über; sie warf ein paar Sachen in eine kleine Reisetasche, sagte Kirsten Bescheid, dass sie nicht ins Atelier kommen würde, und bat Irina, sich um Neko zu kümmern. Der Kater war schon alt und litt an einer Reihe von Überempfindlichkeiten und Gebrechen; die lange Liste der Futterempfehlungen und Medikamente hing an der Kühlschranktür. Er war der vierte in einer Abfolge von ähnlich aussehenden Katern, die alle denselben Namen getragen und Alma durch verschiedene Abschnitte ihres Lebens begleitet hatten. Alma brach mit der Eile einer Frischverliebten auf, ohne jemandem zu sagen, wohin sie fuhr oder wann sie zurückkommen würde. Zwei oder drei Tage ließ sie nichts von sich hören und war dann unversehens, strahlend und ohne Sprit in ihrem Spielzeugauto wieder da. Irina kümmerte sich um ihre Rechnungen und hatte die Hotelbelege gesehen, außerdem war ihr aufgefallen, dass Alma zu diesen Ausflügen ihre einzigen beiden Seidennachthemden mitnahm und nicht ihre üblichen Flanellpyjamas. Sie fragte sich, warum Alma sich davonstahl, als täte sie etwas Verbotenes; sie war doch frei und konnte in ihrer Wohnung in Lark House empfangen, wen sie wollte.

Zwangsläufig wurde Seth von Irinas Spekulationen über den Mann auf dem Foto angesteckt. Sie hatte sich zwar gehütet, ihre Vermutungen ihm gegenüber zu erwähnen, aber weil er so häufig zu Besuch kam, konnten ihm die Eskapaden seiner Großmutter nicht verborgen bleiben. Auf seine Nachfragen behauptete Alma in dem spöttischen Ton, der zwischen den beiden herrschte, sie trainiere in einem Terrorcamp oder sie experimentiere mit Ayahuasca oder was ihr sonst an Haarsträubendem in den Sinn kam. Seth war klar, dass er das Geheimnis ohne Irinas Unterstützung nicht lüften konnte, nur würde er die so leicht nicht bekommen, denn Irina war Alma gegenüber unbedingt loyal. Er musste sie davon überzeugen, dass Alma in Gefahr war. Sie wirke zwar kräftig für