Der Junge im Dunkeln - Mervyn Peake - E-Book

Der Junge im Dunkeln E-Book

Mervyn Peake

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Titus, der berühmte Held aus der Gormenghast-Trilogie muss die Zeremonien zu seinem 14. Geburtstag über sich ergehen lassen. Nach den nicht enden wollenden Ritualen überkommt den 77. Erben des Hauses Groan ein unbändiger Drang nach Freiheit. Und Titus flieht. »Der Junge war völlig erschöpft. Das Ritual rollte über ihn hinweg wie ein gefühlloser Triumphwagen. Dem jungen Herrn des vieltürmigen Reiches blieb nichts anderes übrig, als nach der Pfeife seiner Beamten zu tanzen … Er sehnte sich danach, seine Wut in Taten zu verwandeln, dem Gefängnis der Vorschriften zu entkommen, Freiheit zu erlangen, wenn nicht für immer, dann zumindest für einen Tag. Für einen Tag. Einen gewaltigen Tag der Rebellion.« Aber der junge Titus kann noch nicht ahnen, welcher Albtraum ihn erwartet, als er jenseits des Flusses, der sein Reich umgrenzt, in eine verhängnisvolle Gefangenschaft gerät.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 105

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mervyn Peake

Der Junge im Dunkeln

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Boy in Darkness‹ in Sometime, Never: Three Tales of Imagination by William Golding, John Wyndham and Mervyn Peake, Eyre and Spottiswoode, London, 1956

Copyright © Mervyn Peake 1956

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96427-1

E-Book: ISBN 978-3-608-19146-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Die Feierlichkeiten hatten für heute ein Ende gefunden. Der Junge war völlig erschöpft. Das Ritual rollte weiter wie ein gefühlloser Triumphwagen und das natürliche Alltagsleben wurde zerstoßen und zermalmt.

Dem Herrn eines vieltürmigen Reiches blieb nichts anderes übrig, als nach der Pfeife jener Beamten zu tanzen, deren Pflicht darin bestand, ihn zu beraten und anzuleiten. Ihn von hier nach dort durch die Labyrinthe seines schattenhaften Heims zu führen. Jeden Tag aufs Neue in weitläufigen Zeremonien etwas zu feiern, dessen Bedeutung seit Langem in Vergessenheit geraten war.

Der Meister des Rituals hatte ihm die traditionellen Geburtstagsgeschenke auf dem traditionellen goldenen Tablett dargeboten. Lange Reihen von Dienern waren knietief im Wasser an ihm vorbeigezogen, während er stundenlang am Ufer des von Stechmücken umschwärmten Sees saß. Die ganze Veranstaltung hätte die Geduld eines gleichmütigen Erwachsenen auf die Probe gestellt, für ein Kind war es die Hölle.

Dieser Tag, der Geburtstag des Jungen, war einer der beiden anstrengendsten Tage des ganzen Jahres. Am Vortag hatte er an einem langen Marsch teilgenommen, den steilen Abhang eines Berges hinauf zu einer Plantage, wo er pflichtgemäß die vierzehnte in einer Reihe von Eschen pflanzen musste, denn heute wurde er vierzehn. Es handelte sich nicht nur um eine Formalität, da ihm niemand bei der Arbeit half, während der er einen langen grauen Umhang und einen Hut trug, der eher einer Narrenkappe glich. Auf dem Rückweg, den steilen Hang hinab, war er gestolpert und hingefallen, hatte sich das Knie angeschlagen und die Hand aufgerissen, sodass er, als er endlich wieder allein in seinem kleinen Zimmer mit Blick auf den rotgepflasterten Hof saß, nicht nur übellaunig, sondern regelrecht wütend war.

Nun aber, am Abend seines zweiten Tages, seines Geburtstages, dem Tag so vieler idiotischer Zeremonien, dass ihm der Kopf vor widersinnigen Eindrücken schier platzen wollte und sein Körper vor Müdigkeit schmerzte, legte er sich mit geschlossenen Augen auf sein Bett.

Nach kurzer Pause öffnete er ein Auge, da er ein Geräusch gehört hatte, wie von einer Motte, die gegen das Fenster flattert. Er konnte jedoch nichts sehen und wollte gerade die Augen wieder schließen, als sein Blick auf jenen ockergelben und vertrauten Schimmelfleck fiel, der sich wie eine Insel auf der Zimmerdecke abzeichnete.

Er hatte diese Schimmelinsel oftmals angestarrt, mit ihren großen und kleinen Buchten, ihren Schlupfwinkeln und der seltsamen Landenge, die den südlichen mit dem nördlichen Teil verband. Er hatte sich die spitz zulaufende Halbinsel eingeprägt, die in einer schmaler werdenden Kette kleiner Inseln endete, die ausgebleichten Perlen an einer Schnur glichen. Er kannte die Seen und Flüsse, und manches Mal waren seine Phantasieschiffe in gefährlichen Häfen vor Anker gegangen oder er hatte sie bei starker Brandung seewärts anlegen lassen, wo sie in seiner Einbildung schaukelten und neue Linien setzten zu anderen Ländern.

Doch heute war er zu gereizt, um Luftschlösser zu bauen, und er starrte lediglich eine Fliege an, die langsam über die Insel krabbelte.

»Könnte ein Forschungsreisender sein«, murmelte der Junge im Selbstgespräch, und dabei trat ihm der verhasste Umriss des Berges vor Augen und die vierzehn dummen Eschen und die abscheulichen Geschenke, die man ihm auf dem goldenen Tablett überreicht hatte, nur um sie Stunden später wieder in den Tresorräumen verschwinden zu lassen, und er sah hundert vertraute Gesichter, von welchen ein jedes ihn an eine rituelle Pflicht erinnerte, sodass er mit den Händen aufs Bett einschlug und schrie: »Nein! Nein! Nein!« Und er schluchzte, bis die Fliege die Schimmelinsel von Ost nach West überquert hatte und nun der Küste folgte, als verspürte sie nicht den geringsten Wunsch, sich aufs Deckenmeer hinauszuwagen.

Nur ein kleiner Teil seines Bewusstseins beschäftigte sich damit, die Fliege zu beobachten, doch dieser kleine Teil identifizierte sich mit dem Insekt, wobei dem Jungen eine vage Ahnung beschlich, dass Erforschung mehr war als nur ein Wort oder der Klang eines Worts, etwas Einzigartiges und Rebellisches. Und dann kam es, urplötzlich, das erste Aufflackern zwingenden Aufbegehrens, nicht gegen irgendeine bestimmte Person, sondern gegen den ewigen Kreislauf todlangweiliger Symbolhandlungen.

Er sehnte sich danach (das wurde ihm nun bewusst), seine Wut in Taten umzumünzen, aus dem Gefängnis der Vorschriften zu entfliehen, sich zu bemühen, Freiheit zu erlangen, wenn nicht für immer, dann zumindest für einen Tag. Für einen Tag. Einen gewaltigen Tag der Rebellion.

Rebellion! Tatsächlich war es nichts Geringeres. Dachte er wirklich an solch einen radikalen Schritt? Hatte er die Eide vergessen, die er als Kind und bei tausend nachfolgenden Anlässen geschworen hatte? Die feierlichen Eide, die ihn mit Schnüren der Treue an sein Heim fesselten?

Und dann das Flüstern, das zwischen seine Schulterblätter hauchte, als drängte es ihn zur Flucht – das Flüstern, das immer lauter und dringlicher wurde. »Nur für kurze Zeit«, sagte es. »Schließlich bist du nur ein Junge. Hast du je Spaß?« Er warf sich im Bett herum und stieß einen lauten Schrei aus.

»Oh, verflucht sei das Schloss! Verflucht seien die Gesetze! Alles sei verflucht!« Er setzte sich kerzengerade an der Bettkante auf. Sein Herz pochte schnell und dumpf. Ein sanftes, goldenes Licht drang wie ein Dunstschleier durch sein Fenster, und durch den feinen Nebel konnte man eine Doppelreihe aus Fahnen erkennen, die zu seinen Ehren entlang der Dächer flatterten.

Er atmete tief durch und ließ seinen Blick langsam durchs Zimmer schweifen, bis er plötzlich von einem nahen Gesicht gebannt wurde. Es starrte ihn wütend an. Es war ein junges Gesicht, obwohl die Stirn Runzeln und tiefe Falten zeigte. An einer Schnur um den Hals hing ein Büschel Truthahnfedern.

Anhand dieser Federn erkannte er, dass er sein eigenes Bild betrachtete, und er wandte sich ab von dem Spiegel, während er die lächerliche, um seinen Hals hängende Trophäe herunterriss. Eigentlich sollte er die Federn die ganze Nacht tragen, um sie am nächsten Morgen dem Erbmeister der Federn zurückzugeben. Nun aber sprang er aus dem Bett, warf das vergammelte Relikt zu Boden und trampelte darauf herum.

Dann kochte die Wut erneut über! Der erregende Gedanke an Flucht kehrte wieder. Doch wohin fliehen? Und wann? Wann sollte es sein? »Na, jetzt! Jetzt! Jetzt!«, ertönte die Stimme. »Steh auf und hau ab. Worauf wartest du?«

Doch der Junge, der so verärgert war, dass er fortlaufen wollte, hatte noch eine andere Seite. Er konnte auch eiskalt sein, sodass sein Verstand sich weniger kindisch zeigte, auch wenn sein Körper zitterte und weinte. Ob er sich rasch und am helllichten Tag Freiheit verschaffen sollte oder während der langen Stunden der Dunkelheit, konnte er nicht leicht entscheiden. Zunächst schien es offensichtlich, besser auf den Sonnenuntergang zu warten und im Schutze der Nacht in die Festung vorzudringen, während das Herz des Schlosses in Tiefschlaf versank und im Efeu erstickte, wie unter einem bitteren Schleier. Durch die labyrinthischen, ihm so wohlbekannten Gassen zu schleichen und hinaus auf die zugigen Plätze unter den Sternen und weiter … immer weiter.

Doch trotz der offenkundigen und naheliegenden Vorteile einer nächtlichen Flucht drohte die schreckliche Gefahr, sich unwiderruflich zu verirren oder bösen Mächten in die Hände zu fallen.

Mit seinen vierzehn Jahren hatte er viele Gelegenheiten gehabt, seinen Mut in dem verschlungenen Schloss auf die Probe zu stellen, und manches Mal hatte er es mit der Angst zu tun bekommen, nicht nur wegen der Stille und den düsteren Schatten der Nacht, sondern weil er sich beobachtet fühlte, fast als würde das Schloss selbst oder der Geist des uralten Ortes sich bewegen, wenn er sich bewegte, und innehalten, wenn er stehenblieb; ewiglich an seinen Schulterblättern atmen und jedes seiner Manöver registrieren.

Wenn er an die Zeiten zurückdachte, als er sich verirrt hatte, konnte er nicht umhin festzustellen, dass es für ihn viel beängstigender wäre, allein in der Dunkelheit eines fremden Bezirks zu sein, eines Orts, fern vom Kern des Schlosses, wo er, obwohl er viele der Bewohner verabscheute, sich zumindest unter seinesgleichen befand. Denn etwas Verhasstes kann sich als notwendig erweisen, und man kann etwas hassen, das man auf seltsame Weise liebt. Und so flieht ein Kind zu dem, was es wiedererkennt, weil es ihm vertraut ist. Doch allein zu sein, in einem unbekannten Land, davor fürchtete er sich und danach sehnte er sich. Denn was ist eine Forschungsreise ohne Gefahr?

Aber nein. Er würde nicht im Dunkeln aufbrechen. Das wäre Wahnsinn. Er würde kurz vor dem Morgengrauen fortgehen, während die meisten Schlossbewohner noch schliefen, und er würde durchs Dämmerlicht laufen und ein Wettrennen mit der Sonne bestreiten – er am Boden und die Sonne am Himmel – nur sie beide, allein.

Doch wie die kalte, schneckenfüßige Nacht durchstehen? Zu schlafen schien ihm unmöglich, obwohl er Schlaf nötig hatte. Er schlüpfte aus seinem Bett und eilte zum Fenster. Die Sonne stand schon tief über dem gezähnten Horizont, und alles verschwamm in einem blassen durchscheinenden Licht. Doch nicht lange. Das sanfte Landschaftsbild nahm plötzlich einen anderen Ausdruck an. Türme, die eben noch ätherisch ausgesehen hatten und fast in der goldenen Luft schwebten, ähnelten nun, nach dem Verschwinden der letzten Sonnenstrahlen, schwarzen und fauligen Zähnen.

Ein Schauder lief über das verdunkelte Gelände, und die erste der Nachteulen flog geräuschlos am Fenster vorbei. Tief unter ihm gellte eine Stimme. Es war zu weit entfernt, um die Worte entschlüsseln zu können, aber nicht zu weit, um den wütenden Unterton herauszuhören. Eine zweite Stimme widersprach. Titus lehnte sich über das Fensterbrett und blickte senkrecht nach unten. Die Streithähne waren so groß wie Sonnenblumenkerne. Eine Glocke begann zu läuten, dann noch eine und dann ein Glockenschwarm. Harte Glocken und sanfte; Glocken aus vielerlei Metallen und unterschiedlichen Alters; ängstliche Glocken und zornige Glocken; fröhliche Glocken und traurige; dumpfe Glocken und klare Glocken … die klanglosen und die widerhallenden, die freudigen und die kummervollen. Einige Augenblicke erfüllten sie gemeinsam die Luft; ein Murmeln; mit einem vielstimmigen Gebrüll, das sein Echo über die große Hülse des Schlosses legte wie ein metallenes Schultertuch. Dann wurde der Tumult nach und nach schwächer und zahllose Glocken verstummten, bis nichts übrig blieb als eine nervöse Stille, wonach, unendlich weit entfernt, eine schleppende und raue Stimme über die Dächer stolpernd näherkam und der Junge am Fenster den letzten dumpfen Ton zu Stille ersterben hörte.

Einen Moment lang war er in der vertrauten Pracht von alledem gefangen. Die Glocken wurden ihm nie langweilig. Dann, gerade als er sich vom Fenster abwenden wollte, ertönte ein Glockenschlag von solch einer Dringlichkeit, dass er darüber die Stirn runzelte, denn er konnte sich nicht vorstellen, was er bedeuten mochte. Darauf folgte ein zweiter Schlag und noch einer, und nach dem vierzehnten war klar, dass man ihm zu Ehren läutete. Er hatte eine Zeitlang seinen Rang vergessen, nur um mit einem Schlag daran erinnert zu werden. Er konnte seinem Geburtsrecht nicht entkommen. Man möchte meinen, eine solche Würdigung könnte einem Jungen nichts anderes als Vergnügen bereiten. Doch bei dem jungen Grafen war dem nicht so. Sein ganzes Leben wurde mit Zeremonien überschwemmt, und seine glücklichsten Augenblicke fand er, wenn er allein war.

Allein. Allein? Das bedeutete fort. Fort, aber wohin? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Jenseits des Fensters trug die Nacht die Bürde ihrer eigenen Dunkelheit, nur unterbrochen von den Lichtpünktchen, die entlang des Rückgrats desselben steilen Berges flackerten, den er erklommen und auf dessen Hang er die vierzehnte Esche gepflanzt hatte. Diese fernen Funken oder Feuer brannten nicht nur auf dem Berg, sondern entlang der Peripherie eines großen Kreises – und aus Gehorsam gegenüber den lockenden Freudenfeuern begannen sich in etlichen Höfen Menschen zu versammeln.

Denn heute war die Nacht des großen Grillfests, und nach kurzer Zeit bildeten sich lange Schlangen von Gefolgsleuten auf dem Weg zu dem einen oder anderen Abschnitt des Kreises. Das Schloss würde sich leeren, und Männer zu Pferde, Männer zu Fuß, Maultiere und Kutschen und alle Arten von Fahrzeugen würden ausschwärmen. Und eine vor Vorfreude von einem Bein auf das andere springende Schar kleiner Bengel würde schreien und raufen, ihre Schreie würden den Rufen der Stare ähneln.