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Bei Mr. Deere wohnen und für ihn arbeiten – etwas Schlimmeres kann sich Josch gar nicht vorstellen. Denn Mr. Deere ist kein bisschen nett, sondern hart und unfreundlich. Da bleibt für Josch nur eins: In einer stillen Sommernacht reißt er aus dem Waisenhaus aus, um die beiden Brüder seines verstorbenen Pa zu finden. Joschs abenteuerliche Wanderung, seine Suche nach einer eigenen Familie und nach dem Vater im Himmel, von dem ihm sein Pa immer erzählt hat, ist so liebevoll und anschaulich erzählt, dass man bis zur letzten Seite mitfiebert ... Für Jungen und Mädchen ab 8 Jahren. Die Josch-Triologie von Heidi Ulrich im Überblick: Band 1: Der Junge mit dem Cowboyhut Band 2: Old Jims Geheimnis Band 3: Spuren im Tal der Silberbirken
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Seitenzahl: 228
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© 1. Auflage 2022 der eBook-Auflage byChristliche SchriftenverbreitungAn der Schloßfabrik 3042499 Hückeswagenwww.csv-verlag.de
Umschlaggestaltung: Brockhaus Dillenburg
eBook-Erstellung: ceBooks Verlag Alexander RempelIn der Klaus 1852379 Langerwehewww.ceBooks.de
ISBN 978-3-89287-981-7 (eBook)
ISBN 978-3-89287-891-9 (Buch)
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Impressum
Josch reißt aus
Mattie kommt ins Spiel
Gefahr auf dem Pferdemarkt
Regen und andere Probleme
Josch sucht Arbeit
Ein Tag bei Familie March
Ankunft in Bakersville
Der blinde Passagier
Pa’s Geschichte
Der Mann mit der grünen Weste
Jede Menge Heu und eine Hütte im Wald
Ein Vater für Josch
Zwischenfall am Biberbach
Josch wird krank
Entdeckung in der Blockhütte
Ein Gespräch mit dem Doc
Endlich eine Familie
Ein Brief und ein Besucher
Old Jim
Band 2
Band 3
rgendetwas in dieser Nacht war anders als sonst. Am Mond konnte es nicht liegen, der zog wie immer gleichmäßig seine Bahn am Himmel und stand jetzt, beinahe rund, über der alten Scheune auf Morris’ Hügel. Sein Licht fiel auf ein weiß gestrichenes Haus am Fuß dieses Hügels, auf den Garten davor und auf zwei silbern schimmernde Birken seitlich vom Haus am Zaun. In diesem Haus wohnten die Waisenkinder aus Pembroke und Umgebung.
Es sah so friedlich aus wie in jeder Nacht, die Fensterläden vor den Schlafzimmern waren alle geschlossen – aber halt, genau hier lag der Fehler: Die Fensterläden waren nicht alle geschlossen! Im oberen Stockwerk ganz rechts außen stand ein Laden einen Spalt breit offen. Und jetzt öffnete er sich sogar noch weiter. Vorsichtig wurde er von innen aufgeschoben, genau in dem Tempo, dass das Quietschen nur ganz leise zu hören war, und dann streckte ein Junge seinen Kopf aus dem offenen Fenster. Er kletterte auf das Fensterbrett, spähte nach rechts und nach links, aber niemand war zu sehen. Der Junge warf noch einen Blick zurück in das Zimmer, das ruhig und dunkel hinter ihm lag, durchweht vom Atem seiner Schläfer.
„Macht’s gut“, flüsterte der Junge seinen Kameraden zu, obwohl sie das natürlich nicht hören konnten im Schlaf, aber etwas wollte er doch zum Abschied sagen, das gehörte sich einfach so. Morgen früh würden Sam und Jake merken, dass sein Bett leer war, sie würden es Miss Webster sagen, und sie würde sich bestimmt ganz furchtbar aufregen, und irgendwie konnte sie einem auch ein bisschen leidtun deswegen. Angenehm war es für sie bestimmt nicht, wenn da einfach ein Junge aus ihrem Waisenhaus verschwand. Und eigentlich wollte er, Josch, ja auch gar nicht ausreißen, aber so, wie die Dinge nun einmal lagen, blieb ihm gar nichts anderes übrig, er musste es tun! Deshalb hatte er Miss Webster ja auch einen Brief geschrieben und ihr alles erklärt. Morgen früh war er hoffentlich schon weit genug weg, dass ihn niemand finden würde. Miss Webster nicht, überhaupt niemand hier aus Pembroke und schon gar nicht Mr. Deere, dessentwegen er ja eigentlich fortlief.
Vorsichtig richtete Josch sich auf dem Fensterbrett auf. Mit den Händen tastete er nach der Regenrinne, und kurz darauf turnte er geschickt daran nach unten. Die einzige Schwierigkeit bildete das Schlafzimmerfenster von Miss Webster. Die Regenrinne führte dicht daran vorbei, und Miss Webster wurde beim kleinsten Geräusch wach. Jake sagte, sie könne im Schlaf sogar das Gras wachsen hören.
Behutsam rutschte Josch ein kleines Stück tiefer. Genau in diesem Moment hustete Miss Webster. Wie erstarrt klammerte er sich an die Regenrinne. Miss Webster hustete wieder. Jetzt setzte sie sich im Bett auf, das konnte man am Rascheln der Kissen hören, dann tappte sie auf bloßen Füßen zum Fenster.
„Nein“, dachte Josch, „bitte, bitte nicht!“ Miss Webster stieß die Fensterläden auf und lehnte sich hinaus, um frische Luft zu schnappen. Sie brauchte ihren Kopf nur etwas nach links zu drehen und etwas nach oben zu schauen, dann wäre Joschs Flucht vorbei, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Dann müsste Josch morgen aus dem Waisenhaus zu Mr. Deere übersiedeln, weil der ihn adoptieren wollte, aber genau das wollte Josch nicht. Sein Herz pochte vor Aufregung, und er klammerte sich fester an die Regenrinne. Das Gewicht seines Rucksacks zog ihn nach unten, und das Band seines Cowboyhutes kitzelte ganz schrecklich am Hals …
Gerade in dem Moment, als Josch dachte, er könnte es keine Sekunde länger aushalten, war Miss Websters Hustenreiz anscheinend vorbei. Auf jeden Fall schloss sie den Fensterladen wieder, tappte zurück in ihr Bett und ließ sich seufzend in die geblümten Kissen sinken.
Zentimeter für Zentimeter rutschte Josch weiter nach unten. Über dem Regenfass machte er halt, sprang und landete weich auf der Wiese. Er stand ein paar Sekunden still, lauschte in die Dunkelheit – aber nichts war zu hören. Barfuß lief er über das Gras auf die im Mondlicht silbern schimmernden Birken zu.
Josch hatte die Birken immer gemocht. Wenn der Wind ihre Blätter bewegte, hörte es sich so an, als ob sie einander etwas zuflüsterten. Ganz kurz blieb er stehen und streichelte behutsam über die rauen weißen Stämme. „Macht’s gut“, flüsterte er, obwohl sie das natürlich noch viel weniger hören konnten, als seine schlafenden Kameraden vorhin. Er kletterte über den Zaun, und ohne sich noch einmal umzusehen, rannte er den Pfad hinunter zum Bach.
Josch krempelte seine Hosenbeine hoch und watete ins Wasser. Nicht umsonst hatte er Indianerbücher verschlungen: Niemand würde nun seine Spur entdecken! Sollten sie ihn doch suchen, er würde ihnen nicht verraten, in welche Richtung er davongelaufen war!
Die Steine im Bach waren glitschig und spitz. Zweimal wäre er beinahe ausgerutscht. Vorsichtig, mit den Fußsohlen tastend, arbeitete er sich vorwärts. Erst als der Bach einen Knick nach Süden machte, watete Josch ans Ufer, immer auf Steine tretend, bis er den Weg erreicht hatte. Auf den Steinen würden seine nassen Fußspuren schnell trocknen, und hier auf dem festgetretenen Pfad würde niemand einen Abdruck erkennen.
Josch fing an zu laufen. Seine Füße waren eiskalt nach der langen Zeit im Wasser, und überhaupt war es unheimlich nachts im Wald. Wie Riesen standen die Bäume links und rechts von ihm, aber es waren keine beschützenden Riesen, nein, Josch hatte das Gefühl, dass hinter jedem von ihnen ein Mann lauerte, ein Mann, der eine grüne Weste trug, so wie Mr. Deere …
Aber irgendwann hört jeder Wald auf. Wiesen breiteten sich vor Josch aus. Das Gras stand gut, bald würden die Farmer mit der Heuernte beginnen. Josch folgte dem Trampelpfad, der sich durch die Wiesen schlängelte und der dann auf die alte Landstraße mündete. Hier begann seine Reise, weg von dem Städtchen Pembroke, weg vom Waisenhaus und weg, weit weg von Mr. Deere – nach Osten.
Immer weiter marschierte Josch, bis der Himmel sich vor ihm zaghaft rosa-orange zu färben begann. Bald würde es hell werden, die Farmer ringsherum würden in die Ställe, später aufs Feld gehen. Im Waisenhaus würde zuerst Miss Webster aufstehen, dann würde sie die anderen Kinder wecken, Sam und Jake würden merken, dass er nicht da war … Auch Mr. Deere würde bald aufstehen und daran denken, dass er heute zum Waisenhaus fahren würde, um einen Jungen abzuholen, der Josch hieß …
Weiter wollte Josch nicht denken. Er konnte es auch gar nicht vor lauter Müdigkeit. Etwas abseits vom Weg wuchs dichtes Gebüsch.
Josch stolperte darauf zu, kroch hinter einen Busch und ließ sich neben seinem Rucksack auf die Erde fallen. Sekunden später war er fest eingeschlafen.
Es war taghell, als Josch wach wurde. Verwirrt sah er um sich. Überall Zweige und Blätter, wo war er überhaupt? Dann fiel es ihm wieder ein. „Ach ja“, dachte er, „ich bin ja unterwegs!“ Er rieb sich die Augen, fuhr sich dann mit beiden Händen durch sein dichtes, braunes Haar und gähnte. Er war immer noch müde.
Vorsichtig richtete er sich auf und sah nach dem Stand der Sonne, so gut das aus dem Gebüsch heraus ging. Sie stand nicht mehr im Zenit, also musste es schon nach Mittag sein. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen? Seinem knurrenden Magen nach zu urteilen, musste es schon eine Ewigkeit her sein!
Josch kroch aus dem Gebüsch hervor. Warme Nachmittagssonne schien auf die Wiesen und Felder ringsum. Mindestens hundert Grillen zirpten, und zwei Schmetterlinge gaukelten durch die klare Luft.
Josch streckte sein Arme und Beine. Ganz steif fühlte er sich, denn sehr bequem war es in den Büschen nicht gewesen. Er sah sich um, aber weit und breit schien keine Menschenseele zu sein. Er hockte sich ins Gras und öffnete seinen Rucksack. Ein Hemd zum Wechseln war darin, seine Schuhe und ein paar Strümpfe. Außerdem ein schwarzes, zerlesenes Buch, die Bibel, die einmal seiner Mutter gehört hatte. Es war sein einziges Andenken an Ma. Dann waren da noch ein paar Scheiben Brot, drei Äpfel, ein kostbarer Riegel Schokolade und eine Wasserflasche.
Josch verschlang hungrig eine Scheibe Brot und trank viel Wasser dazu. Satt fühlte er sich nicht, aber immerhin knurrte sein Magen nicht mehr. Er traute sich nicht, herumzuspazieren und die Gegend zu erkunden, aus Angst, jemand könnte ihn entdecken.
Dicht hinter dem Gebüsch legte er sich ins Gras, zog den Cowboyhut über die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und döste auf einem Grashalm kauend in der Sonne. Ein warmer Wind streichelte ihn, und beinahe hätte Josch angefangen, diesen Juninachmittag zu genießen. Aber da war die Angst vor Mr. Deere. Wahrscheinlich würde er toben vor Wut, jetzt, wo er sicher längst von Joschs Ausreißen wusste.
Josch schob seinen Hut zurück und stützte sich auf einen Ellbogen. Ein Zweig knackte, aber da war noch etwas … Waren es Schritte? Oder Stimmen? Stocksteif lag er da und lauschte.
Es waren Schritte. Schritte und Stimmen, laute, wütende Stimmen. Hatten sie doch seine Spur gefunden? Da kamen Leute die Landstraße entlang. Obwohl sie eigentlich nur ein breiterer Weg war und es mittlerweile eine bessere Fahrstraße gab, wurde die alte Landstraße doch noch benutzt. Regungslos verharrte Josch hinter den Sträuchern. Jetzt konnte er die Leute sehen: zwei ältere Farmer, die lautstark über etwas diskutierten. Aufatmend ließ er sich zurück ins Gras fallen. Er war nicht entdeckt worden, noch nicht. So ganz sicher war er sich allerdings nicht mehr, dass wirklich niemand eine Spur von ihm finden würde.
„Wenn Pa noch lebte – oder wenn wenigstens Old Jim da wäre“, dachte Josch. Dann wäre er jetzt nicht auf der Flucht vor Mr. Deere, dann wäre er noch in der kleinen Stadt weiter im Westen, wo er bis vor ein paar Monaten gewohnt hatte. An seine Ma konnte er sich nicht erinnern, sie war gestorben, als Josch noch ganz klein war. Aber seinen Pa hatte er gut gekannt. Zusammen mit ihm hatte er in dem kleinen Haus auf der Ranch gewohnt. Pa war dort Vorarbeiter gewesen, und er hatte davon geträumt, einmal einen eigenen Betrieb zu besitzen, Pferde und Rinder zu züchten …
Aber dann, vor vier Jahren, hatte Pa den tödlichen Unfall gehabt. Seitdem hatte sich Old Jim, ein Cowboy von der Ranch, um Josch gekümmert. Obwohl er viel älter war als Pa, hatten sich die beiden Männer immer gut verstanden, und auch Josch mochte Old Jim sehr. Er war zwar nicht Pa, aber Josch hatte immer gewusst, dass Old Jim für ihn da war.
Es kam Josch so vor, als ob es schon eine Ewigkeit her sei, seit er mit dem Cowboy über die Prärie geritten war, aber in Wirklichkeit waren es nur drei Monate. Schneereste hatten auf den Weiden gelegen, und ein rauer Märzwind hatte ihnen ins Gesicht geblasen …
Aber das war jetzt vorbei, Old Jim war nicht mehr bei ihm, und er war nach Pembroke ins Waisenhaus gekommen. Und von dort war er ausgerissen, weil Mr. Deere ihn auf seine Farm holen wollte.
Dicht neben Josch raschelte etwas im Gebüsch. Er zuckte zusammen und setzte sich auf. Eine erschrockene Drossel flog hastig davon. Josch lachte erleichtert. „Ich tu dir doch nichts!“, rief er hinter ihr her.
Die Sonne war inzwischen weiter nach Westen gewandert. Wie ein weiches, blaugraues Tuch breitete sich die Dämmerung über den Wiesen aus. Josch kramte einen Apfel aus seinem Rucksack hervor und schnallte ihn dann sorgfältig wieder zu. Es war kein sehr hübscher Rucksack, eine Frau aus Pembroke hatte ihn selbst gemacht. Für alle Waisenhauskinder hatte sie aus diesem braun und blau karierten Stoff Rucksäcke genäht. Mrs. Jenkins, die Frau aus dem Gemischtwarenladen, hatte den Stoff billiger gelassen, wahrscheinlich weil ihn sonst niemand kaufte. Aber praktisch war er jedenfalls, dieser Rucksack. Josch schulterte ihn, setzte seinen Cowboyhut auf, biss krachend in den Apfel und marschierte los.
Wieder wurde es eine sternklare, mondhelle Nacht. Josch wanderte die alte Landstraße entlang, füllte an einem Bach seine Wasserflasche auf und lutschte, solange es ging, an einem Pfefferminzbonbon, das er in seiner Hosentasche gefunden hatte. Das Nachbardorf von Pembroke hatte er längst hinter sich gelassen, aber er wollte auch noch den nächsten Ort umgehen. Niemand sollte ihn gesehen haben, wenn Mr. Deere dorthin kommen würde, um ihn zu suchen. Hoffentlich reichte sein Proviant so lange!
Einmal machte Josch eine kurze Pause, aß eine halbe Scheibe Brot und ein winziges Stück Schokolade. Dann ging es weiter, immer Richtung Osten, bis die ersten Vögel zu zwitschern begannen. Diesmal suchte sich Josch einen Schlafplatz in einem kleinen Wald. Hinter einer Brombeerhecke, umgeben von hohen, schlanken Fichten und mit seinem Rucksack als Kopfkissen, schlief er ein.
och zwei Tage hielt Josch es so, dass er die Nacht durch marschierte, bis es anfing zu dämmern, um dann bis weit in den Nachmittag zu schlafen. Er hatte inzwischen auch den nächsten Ort hinter sich gelassen. Bestimmt konnte er es jetzt wagen, gesehen zu werden. Außerdem besaß er nur noch eine einzige, ziemlich trockene Scheibe Brot, und er sehnte sich nach einer richtigen Mahlzeit und einem großen Glas kalter Milch. Nach Menschen sehnte er sich auch. Er wollte endlich mal wieder mit jemandem reden, nicht nur mit den Schmetterlingen, die er, wie jetzt, in der Sonne herumflattern sah.
Josch kroch hinter dem Busch hervor, der sein Schlaf-Versteck gewesen war, und sah nach der Sonne. Es musste ungefähr vier Uhr nachmittags sein.
Heute würde er mal ein bisschen herumstromern, um die Gegend zu erkunden. Vier Nächte war er nun schon unterwegs. Er fühlte sich sicher und weit weg von Pembroke und Mr. Deere.
Josch folgte dem Bach ein Stück in den Wald hinein. Er mündete in einen See, das Wasser glitzerte in der Sonne. Ringsherum standen hohe Bäume. Es gab sogar einen Holzsteg, der ein Stück in den See gebaut war.
„Baden wäre nicht schlecht“, dachte Josch, und eine Minute später rannte er ins Wasser. Er spritzte und tobte, schwamm bis an das andere Ufer und wieder zurück. Dann kletterte er auf den Steg und streckte sich wohlig in der Sonne aus. Das Holz war warm, und irgendwo über ihm sang eine Amsel. „Ausreißen macht direkt Spaß!“, dachte Josch. Aber dann fiel ihm seine einzige Scheibe Brot ein, die noch übrig geblieben war. Für heute Abend würde es reichen, aber morgen … Er musste dringend in die nächste Stadt kommen und sich neuen Proviant besorgen. Etwas Geld besaß er ja, Old Jim hatte es ihm gegeben. „Für alle Fälle“, hatte er gesagt. Josch verwahrte das Geld tief in seiner Hosentasche.
Plötzlich setzte er sich auf. Seine Kleidung und sein Rucksack lagen ganz allein dort am Ufer. Wenn ihm nun jemand das Geld gestohlen hatte!
Josch sprang auf und lief zu seinen Sachen. Er tastete nach dem Geld. Da fühlte er es, eingeknotet in sein Taschentuch. Er atmete auf. Dann schlüpfte er in Hemd und Hose und griff nach seinem Rucksack.
Es wurde Zeit, dass er sich nach einem Schlafplatz für die Nacht umsah. Es war so schön hier am See. Er schaute noch einmal zu dem Steg hinüber, aber was war das?
Auf dem Steg, wo er vorhin noch gelegen hatte, saß ein Junge. Er war mit einer kurzen Hose und einem karierten Hemd bekleidet, und auf seinem blonden Haar trug er einen Strohhut. Neben ihm lag ein Hund mit seidigem schwarzen Fell und schimmernden, dunklen Augen. Sein Schwanz war eifrig in Bewegung, sonst lag er ruhig da.
Auch der Junge saß einfach nur da, baumelte mit den Beinen und sah Josch an. Schließlich grinste er. „Hallo“, sagte er. „Du schwimmst nicht schlecht.“
Josch entspannte sich etwas. Irgendwie sah der Junge nett aus. „Hallo“, erwiderte er. „Hast du mich die ganze Zeit beobachtet?“
Der Junge nickte. „Ich wollte halt wissen, wer hier so einfach in mein Revier eindringt.“
„Dein Revier?“, fragend sah Josch ihn an.
„Das Land hier herum gehört meinem Onkel. Auch der Wald und der See. Aber deshalb kannst du trotzdem näher kommen!“ Der Junge klopfte mit einer Hand auf die freie Stelle neben sich auf dem Steg. Zögernd ging Josch auf ihn zu. Der Junge lachte ihn an. „Übrigens, ich bin Mattie“, stellte er sich vor. „Und das hier ist Lucky.“
Der Hund blaffte kurz, als er seinen Namen hörte, dann legte er seinen Kopf wieder auf die Pfoten. Er schien das Sonnenbad auf dem Steg zu genießen. Früher, auf der Ranch, hatte es auch einen Hund gegeben. Obwohl es nicht sein eigener gewesen war, hatte Josch ihn heiß geliebt. Genauso wie das Pony, das er reiten durfte. Pferde und ein Hund hatten immer zu seinem Leben gehört. Und er hatte auch immer gedacht, dass man ohne Tiere gar nicht leben könnte, aber irgendwie ging es eben doch.
„Ich bin Josch“, sagte er. Die Jungen sahen einander an. „Du bist neu hier, stimmt’s?“, fragte Mattie. Josch nickte. „Wohnst du in der Nähe?“ Josch zögerte mit der Antwort. „Nee“, sagte er schließlich, „ich wohne nicht hier.“ „Und was machst du denn dann hier?“ „Ich bin unterwegs“, erklärte Josch. Mattie starrte ihn verwundert an. „Ganz alleine unterwegs? Im Ernst?“ Wieder nickte Josch. Und mit einem Mal merkte er ganz deutlich, wie allein er war. Ma und Pa, Old Jim, seine Kameraden im Waisenhaus … Niemand war da, absolut niemand. Es gab keinen, der sagte: Hier ist dein Zuhause, hier kannst du wohnen.
Energisch schluckte Josch den Kloß in seinem Hals hinunter. Er sah Mattie an und irgendwie spürte er, dass dieser Junge ein Freund sein würde, einer, dem man vertrauen konnte. „Ich bin ausgerissen“, sagte er. „Aus dem Waisenhaus. Deshalb bin ich alleine unterwegs.“
Mattie pfiff leise durch die Zähne. Er spritzte mit einem Fuß Wasser auf die glatte Oberfläche des Sees. Schließlich hob er den Kopf. „Und warum bist du ausgerissen? Waren sie gemein zu dir in dem Waisenhaus?“ Josch schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete er, „dort waren sie alle ganz nett. Sam und Jake, und Miss Webster eigentlich auch. Aber ein Farmer aus der Nähe, Mr. Deere heißt er, der wollte mich adoptieren. Ich sollte bei ihm auf der Farm wohnen.“ Josch machte eine Pause.
Mattie sagte: „Auf ‘ner Farm zu leben, ist gar nicht so übel.“
„Aber nicht bei Mr. Deere!“, platzte Josch heraus. „Ich habe ihn belauscht im Gemischtwarenladen bei Mrs. Jenkins. Er hat mich nicht gesehen, und da hat er einem anderen Mann erzählt, dass er einen Jungen aus dem Waisenhaus adoptieren wollte. Er bräuchte jemanden, der ihm bei der Arbeit hilft, und so ein Kind ohne Eltern könnte ja froh sein, wenn es irgendwo unterkommen würde. Das war ja gar nicht so schlimm, aber dann hat er gesagt, dass er nicht vorhabe, den Jungen in die Schule zu schicken. Mit elf Jahren wüsste man das Wichtigste doch sowieso. Und sonntags in die Kirche gehen, davon würde er auch nichts halten, er machte das jetzt nur, damit diese Miss Webster ihm den Jungen auch herausrücken würde. Sonst würde bei ihm sonntags gearbeitet, wie an jedem anderen Tag auch. Und bevor er abfuhr mit seinem Gespann, hab ich noch gehört, wie er den Schmied angeschrien hat, bloß weil der ‘ne Kleinigkeit vergessen hatte. Und seine Pferde hat er auch geschlagen …“
Josch zitterte immer noch vor Wut, wenn er an dieses Gespräch dachte, das er belauscht hatte. Zum Glück hatte er es gehört, sonst – nein, er wollte sich gar nicht ausdenken, was sonst gewesen wäre. Aber es tat gut, das alles einmal zu erzählen. Miss Webster hatte er es nicht sagen können, sie war ausgerechnet an dem Abend erst spät nach Hause gekommen, und am nächsten Tag wollte Mr. Deere ihn schon holen. Und überhaupt hätte Mr. Deere bestimmt alles abgestritten, wenn sie ihn darauf angesprochen hätte. So hatte Josch ihr alles in einem Brief erklärt und hoffte, dass sie ihn verstehen würde.
„Also, zu dem wäre ich auch nicht gegangen!“, Matties blaue Augen funkelten vor Entrüstung. „Muss ja ein ziemlich ekeliger Kerl sein, dieser Mr. Deere.“
Josch zerpflückte ein Blatt und ließ die winzigen Teile ins Wasser rieseln. „Mrs. Jenkins sagt, Tom Deere wäre ein gottloser Mensch“, sagte er.
„Wahrscheinlich, weil er nie zur Kirche geht“, überlegte Mattie. „Und beten tut er sicher auch nicht.“ Er stockte, dann sah er Josch an. „Machst du das?“, fragte er. „Beten, mein ich.“
„Pa hat früher mit mir gebetet. Und im Waisenhaus mussten wir auch immer unser Abendgebet sagen“, antwortete Josch. „Aber jetzt, wo ich unterwegs bin, hab ich’s nicht mehr gemacht. Ich hab’s vergessen – am Anfang. Und dann hab ich gedacht: „Es ist ja auch egal, ob ich’s mache oder nicht, es merkt ja doch keiner.“
„Manchmal vergesse ich’s auch“, gestand Mattie.„Aber Ma ist dann immer traurig. Sie sagt: ‚Auch Gott ist traurig, wenn wir ihn einfach vergessen. Er hat uns nämlich lieb.‘“
Josch nickte. Früher hatte sein Pa ihm auch von Gott erzählt, und von seinem Sohn, dem Herrn Jesus. „Du darfst nie vergessen, Josch, dass Gott dich lieb hat“, hatte Pa gesagt. „Auch wenn manchmal Dinge passieren, die uns traurig machen und die wir gar nicht gut finden.“ Bestimmt hatte er dabei an Ma gedacht, überlegte Josch. Aber er, Josch, hatte oft gar nicht an Gott gedacht, Old Jim sprach auch nicht viel über solche Sachen. Aber ab jetzt wollte er wieder beten. Für Pa war es so wichtig gewesen, und Mattie sagte es auch …
Plötzlich sprang Mattie auf. „Ich hab einen Riesenhunger“, stellte er fest. „Und meine Tante hat mir Berge von Broten mitgegeben, und noch alles mögliche andere zu essen. Ich darf nämlich diese Nacht hier draußen schlafen“, erklärte er. „Hab aber auch lange genug betteln müssen deswegen. Zum Glück hatte mein Onkel nichts dagegen, und weil Lucky bei mir ist, hat meine Tante dann endlich nachgegeben. Sonst wohne ich nämlich in einer Stadt, weißt du? Ich bin nur in den Ferien hier auf der Farm.“
„Hast du noch Geschwister?“, fragte Josch. Mattie nickte. „Drei Schwestern hab ich noch.“ „Sind sie nett?“ Josch wusste ja gar nicht, wie das war, wenn man Geschwister hatte. Mattie grinste. „Manchmal“, antwortete er. „Aber sie können einem auch ganz schön auf die Nerven gehen. Es sind eben Mädchen. Ich war ganz froh, dass ich alleine hier auf die Farm konnte!“
Auch Lucky war aufgesprungen und schüttelte sich. Neugierig schnupperte sie an Joschs Beinen und seiner Hand. Josch hockte sich neben den Hund, streichelte seinen Kopf und kraulte dann seinen Hals. „Ein schöner Hund bist du“, sagte Josch. „Du magst es, wenn man dich krault, was?“ Lucky leckte seine Hand. „Jetzt bist du ihr Freund“, meinte Mattie.
Er lief zu einem Korb, der unter einem Baum stand und mit einem rotweiß karierten Tuch abgedeckt war. Das Tuch breitete er auf dem Steg aus und packte dann dick belegte Schnitten, hartgekochte Eier und Apfelkuchen aus, sogar ein Knochen zum Abnagen für Lucky war dabei. Dann lief er zum Bach und holte eine Milchflasche, die er dort im Wasser kühl gehalten hatte.
Josch lief das Wasser im Mund zusammen, als er die leckeren Sachen sah. Wieder dachte er an seine einzige, trockene Scheibe Brot …
Mattie musste etwas Ähnliches gedacht haben. „Bleib doch noch hier“, lud er Josch ein. „Du kannst mit mir essen, das schaffe ich sowieso nicht alles alleine!“
Josch zögerte. „Das kann ich doch nicht einfach“, wollte er sagen, aber sein knurrender Magen sprach eine andere Sprache. „Ja, gern“, sagte er und grinste über das ganze Gesicht. Sie schmausten mit vollen Backen.
„Mensch, bin ich jetzt satt!“, stöhnte Josch nach zwei mit Braten belegten Broten und drei Stücken Apfelkuchen. Auch Mattie verdrehte die Augen, so satt war er, und wischte seinen Milchschnurrbart mit dem Handrücken ab. „Typisch für meine Tante“, sagte er. „Von ihren Picknickkörben könnte jedesmal ‘ne Armee satt werden!“ Er verstaute die Reste wieder in dem Korb, deckte ihn sorgfältig zu und brachte ihn in einer Astgabel im Baum vor Lucky in Sicherheit.
„Willst du nicht auch hier am See übernachten?“, fragte Mattie plötzlich. „Das wäre doch lustig, findest du nicht?“ Josch stand auch auf, er nickte begeistert. „Prima!“, freute er sich. „Zu zweit macht sowieso alles viel mehr Spaß.“
Und wieder musste er an Pa denken und an Old Jim, an früher eben, als er im Traum nicht daran gedacht hatte, dass er einmal ganz allein unterwegs sein würde. Er sah zum See hinüber und bohrte beide Hände in die Hosentaschen. Er würde nicht weinen, nicht jetzt, vor Mattie. Er schluckte. Dann tastete er mit der einen Hand nach seinem Taschentuch, in dem das Geld steckte. Mit der anderen stieß er weit unten auf sechs kleine harte Kugeln. Seine Murmeln! Er beförderte sie ans Tageslicht.
„Guck mal“, sagte er zu Mattie. „Hast du auch welche?“ Mattie wühlte in seinen Taschen. „Klar“, antwortete er, und brachte fünf bunte Murmeln zum Vorschein. „Zu Hause hab ich noch mehr.“ „Jeder fünf, das passt doch“, meinte Josch. „Mit der hier spiele ich nämlich nicht, ich hab sie von Jake gegen meinen rausgefallenen Zahn eingetauscht. Wir können sie höchstens in die Mitte legen und versuchen, sie zu treffen. Aber nachher kriege ich sie wieder.“
Er zeigte Mattie eine in vielen verschiedenen Blautönen schimmernde Murmel. „Mensch!“, staunte Mattie. „So eine hab ich noch nie gesehen!“ Bewundernd schaute er sie von allen Seiten an. „Die wollte ich auch nicht verlieren“, sagte er und gab sie Josch zurück. Er nahm einen Stock, ritzte einen Kreis in die Erde und warf die erste Murmel.
Sie spielten so lange, bis es beinahe dunkel war. Dann suchten sie ihre Sachen zusammen und Mattie zeigte Josch das Moosbett, das er schon am Nachmittag auf einer Wiese oberhalb des Sees gebaut hatte. „Hier haben wir beide Platz“, sagte er und breitete seine Decke darüber. „Hast du keine?“, fragte er Josch.
Der schüttelte den Kopf. „Ich nehm meine Jacke, das geht prima. Es ist ja auch gar nicht kalt“, meinte er. „Und überhaupt, so ein vornehmes Bett hatte ich noch nie, seit ich unterwegs bin!“
Lucky rollte sich am Fußende der Matratze zusammen. Die beiden Jungen sprachen ihr Abendgebet – heute vergaßen sie es nicht –, dann lagen sie auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und schauten in den samtblauen, mit silbernen Sternen übersäten Himmel.
Mattie fragte: „Deine Eltern, Josch, sind die schon lange tot?“ „Ma schon“, antwortete Josch. „Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war. Und Pa hatte vor vier Jahren den Unfall.“
„Und bei wem hast du dann gewohnt?“, wollte Mattie wissen.