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ICH WILL NICHT NACH WYOMING!, vertraut die elfjährige Lydiann ihrem Tagebuch an. In ihrer Fantasie kann sie reißende Flüsse, Indianerüberfälle und gefährliche Klapperschlangen schon vor sich sehen. ICH GLAUBE, WIR WERDEN AUF DER TRECKREISE EINE MENGE SPAß HABEN!, sagt ihre Zwillingsschwester Laura und ist fest entschlossen, die wochenlange Fahrt im Planwagen quer durch die Prärie zu genießen. Wenn da nur nicht dieser unmögliche Luke Peterson wäre, der immer wieder für Ärger sorgt! Band 1 der "Siedler-Serie" schildert eine der letzten Treckreisen in den amerikanischen Westen im Jahr 1868. Höchst unterschiedliche Charaktere und Schicksale treffen in der kleinen Reisegesellschaft aufeinander. Wie Kinder und Erwachsene die gefährliche Reise erleben, wird mit viel Spannung, Wärme und Humor geschildert. Dabei geht es nicht nur um Abenteuer, sondern auch um "Sternstunden" mit der Bibel, um echte Freundschaft und Verantwortung. Die Zwillinge und ihre Mitreisenden erfahren, dass man dem großen Gott im Himmel wirklich alles zutrauen kann. Eine mitreißende Geschichte für die ganze Familie!
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Seitenzahl: 343
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Heidi Ulrich
Weiter Wegnach Westen
Christliche Schriftenverbreitung
An der Schloßfabrik 30
42499 Hückeswagen
© 1. Auflage 2024 der eBook-Auflage byChristliche SchriftenverbreitungAn der Schloßfabrik 3042499 Hückeswagenwww.csv-verlag.de
Umschlag: Sarah Schulz / Jens Vogelsang
Bilder im Innenteil: Sarah Schulz
eBook-Erstellung:ceBooks Verlag Alexander RempelIn der Klaus 1852379 Langerwehewww.ceBooks.de
ISBN 978-3-89287-298-6 (eBook)
ISBN 978-3-89287-678-6 (Buch)
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In lieber Erinnerungan meinen Vater
Impressum
Prolog
Ein neuer Anfang
Treckführer gesucht
Zweimal Zwillinge und ein Wiegenlied
Mr Henderson übernimmt das Kommando
Verbotener Wettlauf
Entdeckung im Gerätewagen
Ein neues Treckmitglied
Unterwegs in der Prärie
Ein Stadtbummel und eine Sternstunde
Treckführer in Gefahr
Eine wütende Heimleiterin und die Weisen aus dem Morgenland
Zwei eigensinnige Frauenzimmer
Achtung Überfall!
Geschenke für Gott und Gespräche am Lagerfeuer
Abenteuerliche Ankunft in Fort Kearny
Ein Licht in der Nacht
Ein Zuhause für Davy
Epilog
Wyoming-Territorium, April 1868
Der Mond warf sein silbernes Licht auf die sanft gewellte Ebene, die sich meilenweit erstreckte. Noch war das Gras kurz, aber bald würde es sich in ein wogendes, grün und grau, manchmal silbern schimmerndes Meer verwandeln. Ein großer, dunkler, rechteckiger Fleck zeigte an, dass der Prärieboden an einer Stelle bearbeitet worden war. Braune Erdschollen bedeckten hier den Boden. Nicht weit davon entfernt sah man einen weiteren dunklen Fleck, nur sehr viel kleiner. Es war ein Haus, gebaut aus eckigen Grassoden, die aus dem Boden gestochen und aufeinandergestapelt worden waren. In der Nähe des Hauses stand ein kleineres, das offensichtlich als Stall und Schuppen diente. Ein Mann trat heraus, stellte sich an den Feldrand und stemmte beide Arme in die Hüften. Die Aussaat wäre geschafft! Hoffentlich wächst der Weizen gut.
Der Mann war mittelgroß und blond. Er schaute zum Himmel hinauf, der immer dunkler wurde und an dem erste funkelnde Lichter sichtbar wurden. Es wird Zeit für meine Sternstunde.Der Mann lächelte, schaute sich ein letztes Mal um und betrat dann das größere der beiden Erdhäuser. Kurz darauf flammte ein Licht darin auf. Man konnte es durch die einzige Glasscheibe sehen, die in eine der Sodenwände eingelassen war. Ein Bett, ein Regal, ein Stuhl und ein Tisch bildeten die gesamte Einrichtung. Holz und Werkzeug in einer Ecke des Raumes deuteten darauf hin, dass hier weitere Möbel entstehen würden.
Der Mann setzte sich an den Tisch und schlug die Bibel auf, die darauf lag. Das Lesezeichen lag am Anfang des Matthäusevangeliums und er las die Geschichte von den Sterndeutern, die dem Licht am Himmel folgten, das sie zu Jesus, dem neu geborenen König der Juden, führte. Diese Geschichte hatte er vor einem Jahr gemeinsam mit seiner Frau gelesen, kurz bevor er alleine in den Westen aufgebrochen war. Er wusste, dass man als Christ keinen Stern am Himmel brauchte, um den richtigen Weg zu finden. Trotzdem wünschte er sich – wie die Sterndeuter – offen zu sein für Gottes Führung, und er hoffte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, seine Frau und seinen kleinen Sohn zurückzulassen, um ihnen das erste schwere Jahr in der Wildnis zu ersparen. Er konnte es kaum erwarten, dass die beiden hier eintrafen. Wenn alles glatt lief, dann war der Wagentreck, mit dem sie reisen wollten, schon unterwegs.
Der Mann stand auf und kniete sich vor seinem Stuhl auf den Boden, der aus festgetretener Erde bestand. Er faltete die Hände, schloss die Augen und verharrte eine Weile still in dieser Stellung. Als er sein Gebet beendet hatte, erhob er sich, klappte die Bibel auf dem Tisch zu und fuhr mit dem Finger die goldfarben eingeprägten Buchstaben auf dem Einband nach. Die Heilige Schrift. Und unten in kleineren Buchstaben: Familie Peter und Anna Wagner. Ein sehnsüchtiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht und er drückte einen Kuss auf das Wort Anna.
Er machte sich fertig zum Schlafengehen, blies die Kerze aus und der einzige helle Punkt, der in die Dunkelheit geleuchtet hatte, verlosch. Nach einem anstrengenden Tag Feldarbeit schlief er rasch ein.
Zwei Indianer krochen hinter einem niedrigen Gebüsch hervor und richteten sich auf. Lautlos huschten sie über die Prärie. Wolken schoben sich vor den Mond, und die Dunkelheit war nahezu undurchdringlich. Trotzdem fanden sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit zurecht. Am Sodenhaus angekommen, blieben sie stehen. Es knarrte leise, als einer von beiden die hölzerne Eingangstür öffnete. Der Schläfer rührte sich nicht. Geräuschlos betraten beide den dunklen Raum.
Dixon, Iowa, April 1868
Cassandra Mae Stuart erwachte unter einer geblümten Steppdecke. Sie blinzelte in das Sonnenlicht, das durch die hellen Baumwollvorhänge am Fenster fiel. Dann zog sie die Stirn kraus. Warum sah alles so anders aus? Warum lag sie nicht in dem spartanisch eingerichteten, kleinen Zimmer in Lady Prescotts Mädcheninternat, in dem es keine Farbe und keine Freude gab? Sie öffnete die Augen komplett und mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein: Sie arbeitete ja überhaupt nicht mehr als Lehrerin in Miss Prescotts Schule! Sie befand sich bei ihrer Tante und ihrem Onkel, teilte das Zimmer mit zwei ihrer Cousinen und brauchte heute nicht in das mausgraue Kleid mit dem steifen weißen Kragen zu schlüpfen. Stattdessen wohnte sie in einem Haus, in dem es fröhliche Kinderstimmen, helle Vorhänge und geblümte Steppdecken gab. Die bedrückenden Jahre in der strengen Mädchenschule gehörten der Vergangenheit an. Sie war frei!
Cassie setzte sich im Bett auf. Die beiden leeren Betten auf der anderen Seite des schmalen Zimmers verrieten ihr, dass Tina und Tessie bereits aufgestanden waren. Sie machte sich schnell fertig und stieg die Treppe hinunter.
„Tina, Tessie, Toby? Es ist Zeit für die Schule! Nein, Theodor, du stehst nicht auf, erst isst du dein Frühstück. Timmy, warte, du bekommst gleich deinen Brei!“ Die freundliche, aber auch energisch klingende Stimme ihrer Tante ertönte durch das Haus. Sie schien alle Hände voll zu tun zu haben, die „fünf Ts“, wie Cassie ihre Vettern und Cousinen nannte, zur Ordnung zu rufen.
Cassie betrat die Küche. „Guten Morgen, Tante Bess! Es tut mir leid, dass ich so lange geschlafen habe!“
„Das macht doch nichts! Schließlich bist du gestern erst angekommen.“
„Gib mir Timmy, ich beaufsichtige das Frühstück der beiden jungen Herren hier. Dann kannst du nach den drei Großen sehen.“
„Danke, Cassie!“ Ihre Tante reichte ihr erleichtert den elf Monate alten Timothy und verließ die Küche. Cassie gab ihrem jüngsten Cousin einen Kuss auf die pralle Babywange und setzte sich mit ihm an den Tisch, wo sein Bruder bereits vor einer Schale mit Haferbrei saß.
„Ich hab keinen Sirup mehr“, beschwerte sich der Dreijährige.
„Weil du ihn aufgegessen und den Haferbrei übriggelassen hast! Du solltest ihn dir einteilen, kleiner Mann. Hier, etwas bekommst du noch.“
Theodor strahlte, als der braune, süße Saft auf seinen Brei tropfte, und aß seine Schüssel komplett leer. Cassie fütterte Timothy und erlaubte Theodor aufzustehen. Ihre Tante lächelte, als sie die Küche wieder betrat. „Es tut so gut, dich hierzuhaben, Cassie! Hoffentlich kannst du noch etwas bleiben.“
„Ich bin sehr gerne hier, Tante Bess. Aber ich muss mir schleunigst eine neue Arbeitsstelle suchen. Schließlich brauche ich das Geld.“
„Ja, das verstehe ich. Schade, dass hier im Ort keine Lehrerin gesucht wird.“
Genau das Gleiche dachte Cassie auch, als sie kurz darauf mit Theodor an der einen und einem Einkaufsnetz in der anderen Hand durch die Straßen von Dixon ging. Hier würde es ihr gefallen. Keine einengenden Mauern, keine strenge Schulleiterin, die … Cassie verdrängte ihre Erinnerung, und wich einem etwa achtjährigen Jungen aus, der über die Straße rannte, ohne dabei nach rechts oder links zu blicken. Er hatte mittelblondes Haar und trug einen Stoffbeutel bei sich, den er fest an sich drückte.
„Hoppla, junger Mann! Du solltest besser aufpassen!“ Der Junge schrak zusammen und blieb stehen. „Tut mir leid, Miss!“, stieß er hervor. Er schaute sie einen Moment unsicher an, dann rannte er weiter. Cassie schaute ihm kopfschüttelnd nach. Sie erledigte ihre Einkäufe und studierte anschließend die Plakate, die an einer Holzwand ausgehängt waren. Ein Schmuckdieb wurde gesucht. Sein kalter Blick auf dem Foto ließ sie erschauern. Eine Frau mit zwei Kindern suchte eine weibliche Begleitung für ihre Treckreise in den Westen. Ein Schaukelstuhl stand zum Verkauf und dann … „Lehrerin in Poplar Creek gesucht! Bei Interesse in Marshalls Gemischtwarenladen melden.“
Ihr kleiner Vetter zog an ihrem Mantel. „Cassie? Können wir nach Hause gehen?“
„Sicher, das können wir.“ Cassie warf einen letzten Blick auf das Plakat. Sie würde später noch einmal losziehen und in Marshalls Gemischtwarenladen Erkundigungen einholen.
Den Namen Poplar Creek hatte sie noch nie gehört. Ob es in der Nähe war?
„Poplar Creek liegt ungefähr hier, Miss!“ Mr Marshalls Finger fuhr über eine verblichene Landkarte, die im Hinterzimmer seines Ladens hing. Cassies Augen wurden groß. „Es liegt … im Westen?“, stieß sie hervor. „So weit weg?“
„Ja, im so genannten Wilden Westen. Das Land dort wird erst seit kurzem erschlossen, es gibt noch nicht viele Siedler. Aber die, die dort sind, suchen dringend Lehrer. Deshalb werden die Plakate so gut wie überall aufgehängt. Gibt nicht viele Freiwillige, die in diese Gegend ziehen wollen.“
„Das kann ich mir denken. Ich … brauche Bedenkzeit und melde mich noch einmal bei Ihnen, Mr Marshall.“
Der Mann nickte und rieb sich das Kinn. „Das sagen alle. Aber am Ende nimmt die Stelle niemand. Na, ich kann es keinem verübeln. Ist bestimmt mächtig einsam da draußen.“
„Wie gesagt, ich werde es mir überlegen. Auf Wiedersehen, Mr Marshall!“
Cassie verließ den Laden und blinzelte in das helle Sonnenlicht. Poplar Creek lag Hunderte von Meilen entfernt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Andererseits würde es ein großes Abenteuer bedeuten, dorthin zu reisen. Das absolute Kontrastprogramm zu Miss Prescotts Mädchenschule. Was sie wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass die aufmüpfige, rebellische Miss Stuart eine Stelle im Westen angenommen hatte?
„Bist du verrückt, Cassie? Das kannst du nicht machen!“ Ben Stuart schaute seine Zwillingschwester fassungslos an.
„Und ob ich das kann! Hier im Umkreis wird keine Lehrerin benötigt. Miss Prescott hat ganze Arbeit geleistet und offensichtlich alle umliegenden Schulen vor mir gewarnt. Also muss ich woanders mein Geld verdienen!“
„Du wirst eine Stelle finden! Du musst einfach etwas Geduld haben.“ Ben trat ans Küchenfenster, lehnte sich gegen die schmale Fensterbank und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Seit ihre Eltern vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, mussten er und seine Schwester auf eigenen Füßen stehen. Das Haus ihrer Tante Bess, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, stand ihnen allerdings jederzeit offen. „Der Westen steckt voller ungehobelter Männer“, fuhr er fort. „Zumindest, wenn man den Zeitungsberichten glauben kann. Glaubst du wirklich, ich würde dich allein dorthin reisen lassen?“
„Seit wann muss ich dich um Erlaubnis bitten, Bruderherz? Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und kann meine Entscheidungen selbstständig treffen.“
„Ich weiß sehr gut, wie alt du bist“, gab ihr Bruder zurück. „Schließlich bin ich genauso alt wie du. Wie willst du überhaupt nach Poplar Creek kommen?“
„Mit einem Wagentreck. Ende April geht es los.“
„Und du hast einen eigenen Planwagen?“
Cassie verdrehte die Augen. „Natürlich nicht! Ich reise mit einer jungen Frau und ihren beiden Kindern. Sie heißt Anna Wagner und sucht eine Begleiterin, da ihr Mann bereits letztes Jahr nach Wyoming gefahren ist, um dort ein Haus für sie zu bauen.“
„Und das hast du alles schon festgemacht, bevor du mir auch nur ein Wort davon gesagt hast?“ Ben stemmte beide Arme in die Hüften. Er war groß und schlank, hatte braunes Haar und braune Augen. Er glich seiner Schwester sehr, wenn er auch mehrere Zentimeter größer war.
„Du warst nicht hier! Und außerdem … wusste ich, dass du dagegen sein würdest. Deshalb …“
„… fandest du es besser, mich vor vollendete Tatsachen zu stellen.“
„Ben!“ Cassie legte ihrem Bruder eine Hand auf den Arm und schaute ihn bittend an. „Ich brauche eine Anstellung, das weißt du. Und nach der Zeit bei Miss Prescott sehne ich mich nach … Freiheit! Genau die werde ich im Westen erleben. Ich möchte einen komplett neuen Anfang machen. Bitte versteh das, Ben!“
Ihr Bruder atmete tief durch. „Ich verstehe dich, Cassie, wirklich. Aber trotzdem muss man nicht Hals über Kopf alles stehen und liegenlassen und in den Westen reisen. Du bist einfach zu impulsiv!“
Als sie abends in ihrem Bett lag, dachte Cassie noch einmal an ihre Unterhaltung zurück. Sie konnte Ben gut verstehen. Wenn er ihr eröffnet hätte, dass er Hunderte von Meilen fortziehen würde, hätte sie wahrscheinlich genauso reagiert. Aber Ben wusste nicht, was in Miss Prescotts Schule alles passiert war. Sie brauchte dringend Abstand. Er würde sich beruhigen und sie irgendwann einmal in Poplar Creek besuchen kommen. Bei diesem Gedanken lächelte sie. Trotzdem dauerte es lange, bis sie einschlief.
Lydianns Tagebuch
Dixon, Iowa, 21. April 1868
Mein Name ist Lydiann Fisher. Ich bin elf Jahre alt. Meine Eltern heißen Amos Levi und Margaret Fisher und meine Schwester heißt Laura. Es ist Nachmittag und die Sonne scheint. Ich sitze auf einer umgestülpten Holzkiste neben unserem Planwagen, habe mein Tagebuch auf den Knien liegen und benutze zum ersten Mal meinen neuen Bleistift. Vor mir liegt ein Platz, dessen Boden aus festgetretener Erde und kurzen Grasbüscheln besteht und auf dem andere Planwagen oder Prärieschoner, wie man sie auch nennt, stehen.
Ma sagt, ich soll dieses Tagebuch schreiben, weil das, was wir erleben werden, vielleicht eines Tages in die Geschichtsbücher eingehen wird. Zumindest wird es einmal meine zukünftigen Schüler interessieren. Ma glaubt nämlich immer noch fest daran, dass ich mein Ziel, Lehrerin zu werden, erreichen werde. Wenn es Gottes Wille ist, sagt sie, dann hat er auch einen Weg. Ich bin mir da nicht so sicher. Schließlich stehen wir kurz davor, Iowa zu verlassen und mit einem der letzten Trecks westwärts zu ziehen, um im dünn besiedelten Bergland von Wyoming ein neues Leben anzufangen. Ein Leben in der Wildnis, wie Laura es nennt. Ein Leben in einem einsamen Blockhaus mit Bären und heulenden Kojoten als nächsten Nachbarn. Weit weg von jeder Schule oder jedem College, an dem man zur Lehrerin ausgebildet werden könnte. Laura will mir Angst machen, wenn sie so etwas sagt. Und sie schafft es tatsächlich. Ich habeAngst!
Laura schafft eigentlich immer, was sie sich vornimmt. Sie ist meine Zwillingsschwester und sieht mir mit den blonden Haaren und blauen Augen zum Verwechseln ähnlich. Aber sonst sind wir unterschiedlich. Sehr sogar. Laura ist mutig und abenteuerlustig und findet die vor uns liegende Treckreise unglaublich aufregend. Ihr Ziel im Leben ist, Cowgirl auf Pas Ranch zu werden. Sie reitet schnell wie der Wind und träumt von einem eigenen Pferd. Sie klettert auf Bäume und spuckt Kirschkerne weiter als jeder Junge in unserer alten Schulklasse. Ich dagegen lese Bücher, denke mir Geschichten aus und stelle mir abwechselnd vor, eine Prinzessin, Krankenschwester oder Leiterin einer Mädchenschule zu sein. Natürlich bin ich in solchen Fällen die hübscheste Prinzessin, die aufopferungsvollste Krankenschwester und die beliebteste Lehrerin, die jemals gelebt hat.
Laura findet, dass meine Tagträume Zeitverschwendung sind. „Mensch, Lydie!“, sagt sie dann, „hör auf zu träumen. Lass uns nach draußen gehen und spielen!“ Meistens lasse ich mich überreden, aber ich bin jedes Mal froh, wenn ich zu meinen Geschichten zurückkehren kann. Laura findet außerdem, dass Tagebuchschreiben Zeitverschwendung ist. Im Moment stromert sie draußen herum und versucht herauszubekommen, was Pa und die anderen Männer vom Treck zu besprechen haben. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Laura will wissen, was es ist, und das, bevor Luke es herausbekommt. Luke Peterson ist zwölf Jahre alt. Er und seine Familie werden mit uns im Wagenzug nach Westen reisen. Luke hat braunes Haar und kann (leider) sehr gut reiten. Aber sonst ist er eingebildet und angeberisch und ich bin sicher, dass er keine Ziele im Leben hat. Außer vielleicht, der unausstehlichste Junge im ganzen Treck zu sein. Das schafft er leicht.
Zurzeit wohnen wir hier in unseren Planwagen in einem Sammelcamp nah bei der Stadt Dixon und es kommen jeden Tag neue Wagen hinzu. Auf diese Weise gewöhnen wir uns schon ein bisschen an das Vagabundenleben, das wir die nächsten Wochen führen werden, meint Ma. Mir wäre es lieber, wenn wir in unser Farmhaus zurückkehren könnten. Zurück zu Grandma, Tante Olivia und unseren anderen Freunden. Aber das geht nicht. Ma hat das feuchte Klima hier in Iowa noch nie gut vertragen und war im letzten und vorletzten Winter lange krank. Der Doktor hat gesagt, dass sie dringend fortmuss, irgendwohin, wo die Luft trockener und kühler ist. Und da Pa schon immer davon geträumt hat, in den Westen zu ziehen, hat er unsere Farm verkauft, unser Hab und Gut auf drei Planwagen geladen und wartet jetzt darauf, dass es losgeht. Westwärts, in Richtung Wyoming.
Immer noch 21. April (Am Abend)
Laura hat herausgefunden, was die Männer heute besprochen haben: Unser Treckführer fällt aus! Er hat abgesagt, da es in seiner Familie einen Todesfall gibt. Es wird dringend ein Ersatzmann gesucht. Wahrscheinlich verschiebt sich unsere Abreise noch um einige Tage. Mr Holmes hat einen sehr guten Ruf als Treckführer und viele haben Angst, dass wir nun einen schlechteren Mann bekommen. Pa sagt, wir sollen uns keine Gedanken machen. Gott wird dafür sorgen, dass wir einen guten Ersatz finden. Ich hoffe, dass er recht hat, denn auf seinen Treckführer muss man sich verlassen können. Besonders wenn es darum geht, reißende Flüsse zu überqueren, Indianerüberfälle abzuwehren oder Klapperschlangen zu töten. Solche Sachen passieren auf Treckreisen ständig, sagt Laura. Sie hat es im „Ratgeber für Pioniere“ gelesen. Jetzt ist sie gespannt, was bei uns als Erstes auf der Liste steht. Sie tippt auf einen Indianerüberfall ... ICH WILL NICHT NACH WYOMING!
Auf dem Hof ertönten Schritte, die Tür wurde geöffnet und helles Sonnenlicht flutete in den halbdunklen Pferdestall. „Nate? Bist du hier?“
„Jep. Hier hinten in der letzten Box.“ Der mit Nate angeredete Mann richtete sich auf und klopfte der braunen Stute mit den sanften, dunklen Augen den Hals. Sein Besucher kam näher und blieb vor der geöffneten Boxentür stehen. Nate sah sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Was gibt es, Jon? Ist etwas passiert?“
Die Augen seines Freundes wurden um eine Schattierung dunkler. „Mein Schwager hatte einen Unfall.“
„Samuel?“
„Ja. Er wurde auf seiner Farm von einem wütenden Bullen angegriffen. Er … hat es nicht überlebt.“
„Was sagst du? Er ist … tot?“ Nathaniel Henderson schaute seinen Freund ungläubig an. Als dieser nickte, legte er ihm in einer spontanen Geste des Mitgefühls eine Hand auf den Arm. „Das ist … schrecklich. Wie …“ Er brach ab. „Es tut mir unglaublich leid, Jonathan. Besonders für deine Schwester und die Kinder.“
„Ja, mir auch.“ Sein Gegenüber schluckte. „Ich werde zu ihr fahren. Lisa steht jetzt allein mit vier kleinen Kindern und der Farm da. Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber sie braucht dringend Unterstützung.“
„Ja, sicher.“ Nate trat aus der Box, verschloss sie sorgfältig und deutete auf einen Strohballen am Ende des Gangs. Die beiden Männer ließen sich darauf nieder. „Was ist mit dem Treck, den du nach Wyoming führen wolltest? Konntest du so schnell einen Ersatzmann finden?“
„Deshalb bin ich hier, Nate.“ Jonathan Holmes zupfte einen Halm aus dem Strohballen und rieb ihn zwischen seinen Fingern. „Ich wollte fragen, ob du meinen Posten übernehmen würdest.“
Wieder schaute Nate seinen Freund ungläubig an. „Du meinst, ich soll den Treck nach Wyoming führen?“, brachte er endlich heraus. „Du weißt doch, dass ich so etwas nie wieder …“
„Ja, schon. Es macht mir auch keinen Spaß, dich darum zu bitten. Ich weiß, dass du nach der Sache mit Ellen nie wieder in den Westen reisen wolltest. Aber dies hier ist ein Notfall, Nate. Die Leute brauchen dringend einen vertrauenswürdigen Mann, der sie sicher an ihr Ziel bringt.“
„Das klingt, als ob ich der einzige Treckführer wäre, der das tun könnte! Ich bin sicher, es gibt genügend andere, die so einen Job übernehmen würden.“
„Genau darum geht es ja! Die meisten anderen würden es einfach als Job ansehen. Aber du würdest die Sache ernst nehmen. Du hast Verantwortungsgefühl. Diese Leute verdienen einen guten Mann als Führer. Bei einer der Familien geht es um die Gesundheit der Mutter. Sie müssen dringend in ein gesünderes Klima ziehen, weil sie sehr krank war. Dann ist eine junge Frau dabei, die allein mit ihren zwei kleinen Kindern loszieht, da ihr Mann schon letztes Jahr in den Westen gereist ist, um dort eine neue Existenz für seine Familie aufzubauen. Ich fühle mich schrecklich, wenn ich daran denke, dass ich sie im Stich lasse.“
„Du hast einen guten Grund, Jon! Du lässt sie nicht im Stich. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich …“
„Du hast doch nach einer neuen Aufgabe gesucht, oder?“
„Ja, schon. Aber …“
Jonathan warf den Strohhalm fort. Er musste Nate einfach dazu bringen, für ihn einzuspringen. Er beschloss, sein letztes Geschütz aufzufahren, von dem er sicher war, dass es seinen Zweck erfüllen würde. „Es ist auch ein Arzt dabei mit seiner Frau. Überleg mal, was es für die Siedler im Westen bedeuten wird, einen Doktor in erreichbarer Nähe zu haben! Er hat seine Praxis verkauft, weil er sich von Gott berufen fühlt, im Westen tätig zu sein. Du bist doch seit einiger Zeit auch einer von diesen frommen Leuten. Willst du schuld sein, dass er seinem Ruf nicht folgen kann?“
Nathaniel Henderson erhob sich zu seiner vollen Größe und fuhr sich mit der Hand durch das dichte dunkelblonde Haar. Dieses letzte Argument seines Freundes saß. „Ich … muss darüber nachdenken, Jon. Eine Reise in den Westen ist keine Kleinigkeit. Ich brauche eine komplette Ausrüstung. Ich …“
„Du könntest meine ausleihen. Auf der Farm meiner Schwester brauche ich bestimmt kein Zelt, keinen Schlafsack oder Kochgeschirr.“
„Ich muss mich zu der Sache aber auch von Gott berufen fühlen. Genau wie der Doktor.“
Sein Freund nickte zögernd. „Wahrscheinlich. Ich kenne mich in solchen Sachen nicht so aus.“
Nate runzelte die Stirn. „Solltest du aber.“
„Ich weiß. Irgendwann werde ich mich damit beschäftigen. Im Moment habe ich allerdings anderes im Kopf.“ Jonathan stand ebenfalls auf und klopfte sich ein paar Strohhalme von der Kleidung. „Danke, dass du drüber nachdenkst.“
Die beiden Männer gingen die Stallgasse entlang und traten auf den sonnenbeschienenen Hof. Der Treckführer band sein Pferd los und stieg in den Sattel. „Mach's gut, Nate!“
„Du auch, Jon. Ich werde für euch alle beten.“
„Danke.“ Sein Freund tippte sich an den Hut und ritt im Schritt vom Hof.
„Wie viel Zeit zum Nachdenken habe ich denn?“, rief Nate ihm hinterher. „Wann brauchst du die Antwort?“
„In drei Tagen soll es losgehen.“
„In drei Tagen schon? Ist das dein Ernst?“
Jonathan nickte. „Die Leute wollen los, und wie ich schon sagte, du kannst meine Ausrüstung haben.“ Er trieb sein Pferd an und trabte los. Nate stemmte beide Hände in die Seiten und schaute seinem Freund kopfschüttelnd nach.
Mit weitgeöffneten Augen lag Lydiann auf der schmalen Pritsche des Prärieschoners und schaute in die Dunkelheit. Durch die runde Öffnung der Plane konnte sie einen einzelnen Stern am Himmel erkennen. Es knarrte, als ein Windstoß den Eimer bewegte, der außen am Wagen befestigt war. Irgendwo in der Ferne heulte ein Kojote. Neben sich hörte sie die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Zwillingsschwester Laura. Sie schlief bereits.
Lydiann schloss die Augen und versuchte, die Gedanken an endlose, heiße Tage in der Prärie, reißende Flüsse, Klapperschlangen und Indianer aus ihrem Kopf zu verdrängen. Aber die Bilder tauchten immer wieder vor ihrem inneren Auge auf.
„Bitte nimm meine Angst weg, Herr Jesus“, flüsterte sie lautlos in die Dunkelheit. „Pa sagt, dass du immer bei uns bist, auch, wenn wir die Prärie durchqueren. Aber ich vermisse unsere Freundinnen und Grandma und Tante Olivia jetzt schon und ich habe Angst, dass Ma vielleicht wieder krank wird oder dass uns etwas passiert.“
Lydiann schaute auf den winzigen Stern, den sie am samtblauen Himmel erkennen konnte. In Grandmas Flur hing ein kleines Bild an der Wand, auf dem ein heller Stern am Himmel und einige Männer mit Kamelen zu sehen waren. Darunter stand der Satz: „Sie alle folgten dem Stern.“ Lydiann sah Pa vor sich, wie er vor drei Wochen mit der geöffneten Bibel an Grandmas Esstisch gesessen hatte. Sie wusste noch genau, was er gesagt hatte: „Wir Christen brauchen keinen Stern am Himmel, der uns die Richtung zeigt. Wir kennen Gott als unseren Vater und dürfen ihn und seinen Sohn, den Herrn Jesus, direkt um Hilfe bitten. Er wird uns ans Ziel bringen. Darauf wollen wir vertrauen.“ Lydiann schluckte. Manchmal war es schwer, zu vertrauen.
Im Wagen nebenan weinte plötzlich ein Baby. Man hörte eine flüsternde Stimme, dann summte eine Frau eine leise, beruhigende Melodie. Lydiann lächelte. Es war die gleiche Melodie, die die junge Mutter schon gestern Abend gesummt hatte. Mrs Wagner stammte aus Deutschland und sie reiste mit ihren beiden kleinen Kindern und einer anderen jungen Frau nach Westen, wo ihr Mann auf sie wartete. Mr Wagner war schon letztes Jahr losgezogen, um das neue Land, das er gekauft hatte, in Besitz zu nehmen. Lydiann fand seine Frau unglaublich mutig. Die schlichte Melodie aus dem Planwagen nebenan erfüllte ihren Zweck. Nicht nur das Baby, auch Lydiann schlief tief und fest ein.
Am nächsten Tag
„Komm jetzt, Laura! Ma wartet auf uns!“ Lydiann verlagerte das Gewicht ihrer Einkaufstasche auf die linke Schulter und warf einen ungeduldigen Blick zu ihrer Zwillingsschwester hinüber, die vor einer großen Plakatwand stand und die mit Heftzwecken daran befestigten Aushänge studierte. Die Sonne schien und für Ende April war es bereits sehr warm.
„Ich komme ja schon! Man wird sich doch wohl noch informieren dürfen, was in dieser Kleinstadt los ist.“ Laura riss sich nur zögernd von den Plakaten los und lief hinter ihrer Schwester her, die sich bereits auf den Weg zum Sammelplatz der Planwagen gemacht hatte, die in Richtung Westen aufbrechen würden. Das prall gefüllte Einkaufsnetz schlug gegen ihr Bein, aber Laura bemerkte es kaum. In Gedanken war sie noch bei den Neuigkeiten, die sie gerade eben gelesen hatte. „Das Blatt mit: ‚Lehrerin in Poplar Creek gesucht‘, ist weg“, informierte sie Lydiann außer Atem, als sie sie eingeholt hatte. „Aber das Bild von dem Mann, der ein Schmuckgeschäft ausgeraubt hat, hängt noch da. Und dann kann man immer noch einen Schaukelstuhl und ein Pony kaufen.“
„Ich würde den Schaukelstuhl nehmen“, sagte Lydiann, ohne zu zögern. „Bestimmt ist es so einer, wie Grandma ihn auf der Veranda stehen hat. Ich würde meine Lieblingsbücher auf den Boden stapeln, es mir im Schaukelstuhl gemütlich machen und den ganzen Tag lesen!“
Laura schüttelte den Kopf und brachte damit ihre Zöpfe zum Schwingen. „Ich wünschte, Pa würde mir das Pony kaufen! Ich würde es Fliegender Wind nennen und mit ihm über die Prärie reiten. Ich würde Freundschaft mit einem Indianermädchen schließen und ...“
Platsch! Direkt vor ihren Füßen landete etwas Weiches, Braunes und bespritzte ihre Schuhe und Strümpfe mit Matsch. Während Lydiann erschrocken aufschrie und zurückwich, ließ Laura ihr Einkaufsnetz fallen und stemmte beide Arme in die Hüften. „Das war heute schon das zweite Mal!“, rief sie. „Zeig dich, du Feigling!“ Statt einer Antwort wurde im Gebüsch sekundenlang ein brauner Haarschopf sichtbar, dann sauste eine zweite Matschkugel auf sie zu. Laura duckte sich und der weiche Ball sauste über sie hinweg und landete auf dem Weg. Der Modder spritzte nach allen Seiten. Dieses Mal traf er auch ihr Kleid. Das war zuviel für Laura. Mit einem wütenden Aufschrei rannte sie auf das Gebüsch zu, zwängte sich zwischen den Sträuchern hindurch und nahm die Verfolgung ihres Angreifers auf, der sich eilig aus dem Staub machte.
„Lydiann? Laura? Wo bleibt ihr?“
Der Ruf ihrer Mutter ließ Lydiann zusammenzucken. „Ich komme, Ma!“, antwortete sie, nahm das Einkaufsnetz von der Straße und hastete vorwärts. Vor ihr lag die große Wiese, auf der die Planwagen in einem Kreis angeordnet standen. Kleine Kinder spielten Fangen, ein paar größere Jungen übten sich im Hufeisenwerfen. Es würde nur ein kleiner Treck sein, der in den Westen aufbrach, kein Vergleich mit den riesigen Zügen, die in den vergangenen Jahren bis zur Pazifikküste nach Oregon oder Kalifornien gereist waren. „Sie verlegen immer mehr Schienen“, hatte Lydiann vorhin in der Stadt einen Mann sagen hören. „Bald wird die Strecke in den Westen komplett befahrbar sein und dann wird’s keine Trecks mehr geben.“
„Kostet aber 'ne Stange Geld, mit der Eisenbahn zu fahren. Besonders, wenn man sein ganzes Hab und Gut mitnehmen will“, hatte ein anderer erwidert. „Das schon. Ist aber auch wesentlich ungefährlicher.“ Weiter hatte sie die Unterhaltung der beiden nicht verfolgt. Lydiann wünschte, sie könnten noch so lange warten, bis alle Gleise verlegt waren, aber der Doktor, der Ma untersucht hatte, hatte Pa klipp und klar erklärt, dass sie nicht mehr viel Zeit zum Überlegen hatten. „Ihre Frau braucht dringend eine Luftveränderung und zwar dauerhaft. Das feuchte Klima ist nichts für sie. Trockenere Bergluft wird ihr guttun.“
„Da bist du ja!“, begrüßte Ma sie. „Ich habe das Wasser schon aufgesetzt und warte auf das Gemüse, das ihr gekauft habt. Wir müssen es ausnutzen und vor der Reise noch einmal frisches Essen zu uns nehmen.“ Lydiann verzog das Gesicht, als sie an das Pökelfleisch und die eingemachten Bohnen dachte, die Ma für unterwegs eingepackt hatte. Sie winkte Mrs Wagner zu, die ihr Baby in einem Tuch auf dem Rücken trug, während ein etwa dreijähriger Junge sich an ihrer Schürze festklammerte.
„Wo ist deine Schwester?“, erkundigte sich Ma.
„Sie ... musste noch etwas erledigen“, antwortete Lydiann und wich Mas Blick aus. Möglichst unauffällig schaute sie sich um. Wo in aller Welt steckte Laura? Sie hockte sich auf den trockenen Grasboden, nahm das Gemüsemesser und begann eifrig, Möhren zu schaben. Überall auf dem Gelände flackerten jetzt kleine Feuer vor den Wagen und schon bald lag der Duft von Eintopf in der Luft. Plötzlich stürmte Laura über den Platz und ließ sich völlig außer Atem neben ihrer Zwillingsschwester ins Gras fallen.
„Wo warst du, Laura?“
„Auf Verfolgungsjagd, Ma.“ Laura klang kein bisschen kleinlaut wegen ihres Zuspätkommens, im Gegenteil, sie platzte beinahe vor Wut. „Dieser Luke hat uns jetzt insgesamt dreimal mit Schlammkugeln beworfen, Ma! Sieh mal, wie unsere Schuhe aussehen! Leider habe ich ihn nicht erwischt.“
„Es ist gemein von ihm, da gibt es keinen Zweifel“, antwortete Margaret Fisher. „Aber du bist jetzt bald eine junge Dame, Laura, und solltest dich auch so verhalten. Es gehört sich nicht für dich, durchs Gebüsch zu kriechen, um hinter einem Jungen herzujagen.“ Mit dieser Ermahnung zupfte sie ihrer Tochter ein paar Blätter aus den blonden Haaren und wandte sich dann dem Wagen zu, um die Blechteller und das Besteck für das Abendessen zu holen.
„Da kommt er!“, zischte Laura und deutete mit einer Kopfbewegung auf Luke, der auf sie zuschlenderte.
„Ups“, sagte er und versuchte, eine ernste Miene zu machen, „wieso habt ihr denn so schmutzige Schuhe? Hier ist doch gar kein Schlamm, sondern bloß trockenes Gras auf dem Boden.“ Das Funkeln in seinen Augen entging Lydiann nicht, aber beide Mädchen taten, als ob sie nichts gehört hätten. Er ging weiter und pfiff dabei vor sich hin. Laura stand lautlos auf, huschte hinter ihm her und streckte blitzschnell ein Bein aus. Luke stolperte und schaffte es erst in letzter Sekunde, sein Gleichgewicht zu behalten. „Ups“, sagte Laura und lächelte zuckersüß, „wieso stolperst du denn? Hier ist doch bloß trockenes Gras auf dem Boden.“
In diesem Moment schallte ein lauter Ruf über den Platz: „Luke Andrew Peterson! Wo steckst du schon wieder? Wir wollen essen!“
„Ich komme, Ma!“ Luke schickte einen wütenden Blick in Lauras Richtung und lief davon.
Die Zwillinge platzten beinahe vor unterdrücktem Lachen. Ma schaute sie an und sagte: „Ich habe alles beobachtet! Dein Verhalten war alles andere als damenhaft, Laura! Aber in Anbetracht der Umstände ... werde ich es durchgehen lassen. Ich denke, diesen kleinen Denkzettel hatte der junge Mann verdient.“
Die beiden Mädchen beeilten sich mit dem Zubereiten der Möhren und Kartoffeln und schauten zu, wie Ma das Gemüse in das kochende Wasser schüttete. „Es wird noch etwa eine halbe Stunde dauern, bis das Essen fertig ist. Lydiann, du könntest in dieser Zeit Mrs Wagner mit den Kindern helfen, sie sieht sehr erschöpft aus. Und du, Laura, versuchst deinen Pa zu finden und ihn zum Essen zu rufen. Er wollte sich in der Stadt nach einem neuen Kutscher für unseren dritten Wagen umsehen. Aber bitte veranstalte keine Verfolgungsjagden auf dem Weg!“
„Ja, Ma!“, antworteten die Zwillinge gleichzeitig und Laura rannte davon, während Lydiann zu Mrs Wagner hinüberging.
„Ma sagt, ich soll Ihnen mit den Kindern helfen, während Sie das Essen kochen“, sagte sie zögernd.
„Wie lieb von deiner Ma, daran zu denken.“ Mrs Wagner Englisch war gut, allerdings sprach sie mit einem starken, deutschen Akzent. „Wenn du dich um Henry kümmern könntest, wäre das sehr nett. Er hat die ersten Moskitostiche abbekommen und ist heute sehr unleidlich.“ Lydiann lächelte den kleinen blonden Jungen an. Er klammerte sich an seine Mutter und steckte einen Finger in den Mund. „Guck mal, wen wir hier haben“, sagte Lydiann und zeigte auf einen Grashüpfer, der auf einem Stein saß. Das kleine Tier sprang auf den Boden und Henry ließ die Schürze seiner Mutter los und kam neugierig näher. Lydiann spielte mit ihm und er vergaß seine juckenden und schmerzenden Stiche für eine Weile. „Du machst das sehr gut, Lydiann – vielen Dank!“ Mrs Wagner richtete sich auf und das Baby auf ihrem Rücken begann zu strampeln.
„Darf ich Sie etwas fragen, Ma’am?“
„Aber sicher! Was denn?“
„Diese Melodie, die Sie summen wenn Ihr Baby weint … was ist das für ein Lied?“
„Oh, hast du es gehört? Ich wollte euch nicht stören.“
„Nein, nein, es stört gar nicht. Es klingt sehr schön!“
Mrs Wagner setzte sich auf einen großen Stein, der neben ihrer Kochstelle auf dem Boden lag. „Es ist ein Wiegenlied. Ein deutscher Pfarrer hat es gedichtet.“ Mrs Wagner übersetzte den Text der ersten Strophe für Lydiann auf Englisch:
Weißt du, wie viel Sternlein stehen,an dem blauen Himmelszelt?Weißt du, wie viel Wolken gehen, weithin über alle Welt?Gott, der Herr, hat sie gezählet,dass ihm auch nicht eines fehlet,an der ganzen großen Zahl,an der ganzen großen Zahl.
„Das gefällt mir!“ Lydiann lächelte.
„Ich mag den Text auch sehr. Er ist einfach, aber er gibt einem so viel Trost ins Herz. So wie die Sterne in der Dunkelheit leuchten, so gibt Gott uns seine Versprechen, die er in der Bibel hat aufschreiben lassen. Er erinnert uns gerade dann an sie, wenn es dunkel um uns herum ist. Wenn es uns nicht gut geht oder wenn wir uns fürchten.“
„Pa sagt, der Herr Jesus will immer bei uns sein, auch hier in der Prärie. Aber ich habe manchmal trotzdem Angst.“
„Ich auch, Lydiann. Ich frage mich, ob wir wirklich sicher ankommen werden und ob Peter, meinem Mann, nichts passiert ist in der Zwischenzeit.“ Mrs Wagner schluckte. „Ich verstehe dich sehr gut, Lydiann“, fuhr sie schließlich fort. „Aber trotz unserer Angst leuchten Gottes Zusagen wie Sterne. Sie bleiben wahr und wir dürfen ihnen vertrauen. Und wenn uns dieses kleine Lied tröstet, dann wollen wir uns zusammen daran freuen.“ Sie lächelte ihr aufmunternd zu und erhob sich. „Euer Essen ist bestimmt fertig. Sag deiner Ma vielen Dank, dass sie dich geschickt hat. Du warst mir eine große Hilfe!“
„Hach, Lydie, ich glaube, wir werden auf der Treckreise eine Menge Spaß haben!“ Mit diesen Worten schlüpfte Laura abends unter die Decke, die auf der schmalen Pritsche lag, die sie sich mit ihrer Zwillingsschwester teilte. „Es gibt hier so interessante Leute! Wusstest du, dass sogar ein Arzt und seine Frau dabei sein werden? Sie sind heute angekommen. Pa ist mächtig erleichtert wegen Ma, sagt er. Aber dieser Luke! Dem werde ich es zeigen! Es ist wirklich gemein, dass sein Vater eine Pferderanch im Westen haben wird und er später den ganzen Tag reiten darf, während Pa nur Rinder züchten will.“
„Woher weißt du das?“
„Pa hat vorhin mit Lukes Vater gesprochen. Wie es aussieht werden sie später vielleicht unsere Nachbarn.“
Lydiann verzog das Gesicht. Wenn Lukes Familienmitglieder so waren wie er, dann konnte sie getrost darauf verzichten.
„Die Petersons haben ihre Söhne nach den Evangelisten aus der Bibel genannt: Matthew, Mark und Luke“, wusste Laura. „Mr Peterson meint, an den Evangelisten hätten seine Jungs gute Vorbilder. Nach Luke kommt ein Mädchen. Sie heißt Rebecca und ist sieben Jahre alt. Und dann haben sie noch den kleinen Jacob. Er ist vier Jahre.“
„Und warum haben sie ihn nicht John genannt?“, wunderte sich Lydiann. „Das wäre doch der vierte Evangelist.“
„Keine Ahnung.“ Laura zog die Schultern hoch. „Vielleicht haben sie es aufgegeben, weil es bei Luke mit dem guten Vorbild nichts gebracht hat. Aber wart’s nur ab! Dem werde ich es schon noch zeigen!“
Draußen hörte man Schritte und dann ertönte eine leise Melodie. Lydiann lächelte. Mrs Wagner trug bestimmt ihr Baby auf den Armen und wiegte es in den Schlaf. Jetzt kannte sie den Text der ersten Strophe: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt?“
„Nein, Herr Jesus, ich weiß es nicht“, flüsterte Lydiann. „Aber du weißt es. Und das ist gut!“
Niemand bemerkte die Gestalt, die durch die Dunkelheit huschte, sich prüfend umschaute und dann vorsichtig in den Gerätewagen der Fishers kletterte. Sie kauerte sich auf einen freien Fleck am Boden und umklammerte dabei das Bündel in ihren Armen. Ein sanfter Wind strich über die Landschaft und ein weiter, nachtdunkler Himmel spannte sich über die kleine Stadt am Rand der Prärie.
„Unser letzter Tag im Camp!“ Mit diesem Gedanken wachte Laura am nächsten Morgen auf. „Falls es mit dem neuen Treckführer klappt“, fügte sie dann hinzu. Sie schlug die Decke zurück, zog sich leise an und kletterte aus dem Planwagen. Lydiann schlief noch, aber sie war zu aufgeregt, um wieder einzuschlafen. Draußen wurde es hell. Pa war schon auf und hatte bereits ein Feuer entfacht.
„Na, Laura, kannst du auch nicht mehr schlafen?“ Pa hockte mit der Kaffeekanne vor dem Feuer und Laura legte von hinten beide Arme um ihn. Ihre Wange berührte seine und sie lachte, als sie seine rauen Bartstoppeln spürte. „Morgen, Pa! Lydiann schläft noch, aber ich bin zu aufgeregt. Vielleicht dauert es nur noch einen Tag, bis es losgeht! Ich bin so gespannt auf Wyoming!“
„Ich auch, Laura. In den Bergen soll es wunderschön sein. Ich hoffe, unser guter Herr schenkt uns dort ein neues Zuhause.“ Pa hielt Laura seine Kaffeetasse hin. „Möchtest du einen Schluck? Wir dürfen es nur Ma nicht verraten.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Amos Levi Fisher! Was darf Laura mir nicht verraten?“ Mas Stimme kam aus dem zweiten Prärieschoner. Pa stand lächelnd auf und half seiner Frau aus dem Wagen. „Guten Morgen, Liebling! Es wird bestimmt ein wunderschöner Tag heute, meinst du nicht auch?“ Er küsste Ma und sie lachte. „Du willst mich ablenken, Amos, aber ich habe genau gesehen, dass Laura aus deiner Kaffeetasse getrunken hat.“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „Das Kind ist erst elf und viel zu jung für Kaffee! Du solltest lieber die Kuh melken, damit deine Töchter Milch zum Frühstück trinken können.“
Pa küsste sie wieder, nahm Laura die Tasse ab und trank genießerisch seinen Kaffee. Dann griff er nach seinen Hut und machte sich auf den Weg zum Korral, in dem das Vieh gehalten wurde, das ebenfalls den Weg nach Westen antreten würde.
Später am Tag wurden die Zwillinge noch einmal zum Einkaufen losgeschickt, da Mrs Fisher noch einige Dinge eingefallen waren, die sie mitnehmen wollte. Die Stadt war voller Leute vom Treck, die alle ihre letzten Besorgungen erledigten. Während Lydiann im Gemischtwarenladen darauf wartete, dass sie bedient wurde, blieb Laura draußen auf dem Bürgersteig stehen und beobachtete die Leute um sich herum. Frauen mit Kindern an der Hand gingen vorbei. Ein Pferdefuhrwerk versperrte die Straße und nicht weit von ihr prügelten sich zwei Schuljungen.
„Hast du das gelesen? Der Schmuckdieb soll hier in der Nähe gesehen worden sein! Er ist dem Sheriff ganz knapp durch die Lappen gegangen!“
Laura zuckte zusammen. Sie lauschte dem Gespräch der beiden Männer neben ihr und versuchte, einen möglichst unbeteiligten Gesichtsausdruck an den Tag zu legen. Der skrupellose Dieb, der steckbrieflich gesucht wurde, war hier gesehen worden? Sogar die unerschrockene Laura spürte bei diesem Gedanken ein unangenehmes Gefühl im Magen. In seinen Augen auf dem Plakat hatte ein kalter, gefährlicher Blick gelegen. Ihr würde das Herz stehen bleiben, wenn sie ihm begegnen würde.
Die beiden Männer schlenderten davon. „Könnte sein, dass sich die Elster im Treck niederlässt“, war das Letzte, was sie verstand, aber es ergab keinen Sinn für sie. Gerade unterhielten sie sich über den Schmuckdieb und dann redeten sie über Vögel? Laura war froh, dass sie morgen unterwegs sein und nichts mehr von diesem schlimmen Mann mitbekommen würden. Ihrer Zwillingsschwester erzählte sie lieber nichts von dem belauschten Gespräch. Sie würde sich nur noch mehr Sorgen machen.
„Heh! Träumst du mit offenen Augen?“ Eine Hand zog kräftig an ihrem linken Zopf. Laura wirbelte wütend herum. „Lass mich los!“, fauchte sie und schlug die Hand weg. Natürlich war es Luke, der vor ihr stand. „Du hast nicht gehört, als ich dich gerufen habe“, verteidigte er sich. „Deshalb musste ich mir was anderes einfallen lassen.“