Der kleinste Kuss der Welt - Mathias Malzieu - E-Book

Der kleinste Kuss der Welt E-Book

Mathias Malzieu

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Beschreibung

Der Frontmann der französischen Kultband "Dionysos"mit einem Märchen für Erwachsene – über die Liebe

Leseprobe: Ich hatte den kleinsten Kuss der Welt im Théâtre du Renard verloren. Er war mir mitten in der Nacht beim Tanzen von den Lippen geglitten, als mein Blick auf ein blaues Petticoatkleid mit großen weißen Tupfen fiel. Anmut, Sinnlichkeit und Verlockung. Ein Hauch von Geheimnis. Immer, wenn ich mich ihr nähern wollte, entwischte sie mir. Nach einem getänzelten Slalom stand ich endlich der Frau gegenüber, die mich magnetisierte. Ich brachte kein Wort heraus. Aus Angst, die Flut könnte sie abermals davonspülen, küsste ich sie. Der Anflug eines Kurzschlusses. Wir berührten einander kaum. Der kleinste Kuss der Welt. Ein grelles Licht, und dann nichts. Sie war fort. Als wäre ihr Mund ein magischer Schalter – wenn man ihn umlegt, löst sie sich in Luft auf. Ich hörte sie davongehen, hörte ihre Schritte verklingen. Sie war also gar nicht verschwunden, sie war bloß unsichtbar geworden! Wir hatten einander den kleinsten Kuss der Welt gegeben, und sie hatte sich verflüchtigt, abrupt wie ein Stromausfall. Ich musste sie unbedingt wiederfinden.

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Seitenzahl: 119

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Le plus petit baiser jamais recensé bei Flammarion, Paris.

1. Auflage

Copyright © bei Flammarion 2013

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

bei carl’s books, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München, unter Verwendung einer Illustration von © Benjamin Lacombe

Gestaltung der Illustration auf der Titelseite © Benjamin Lacombe

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15930-6www.carlsbooks.de

Für Rosy, die sich mit Unsichtbarkeit auskennt.

»Der kleinste je verzeichnete Schneesturm fand vor einer Stunde in meinem Hinterhof statt. Er bestand aus circa zwei Flocken. Ich wartete darauf, dass mehr Schneeflocken fielen, aber das war’s schon. Der ganze Sturm bestand bloß aus zwei Flocken.«

Richard Brautigan

Die Frau, die beim Küssen verschwindet

er kleinste je verzeichnete Kuss. Eine Tausendstelsekunde, Samt und Flaum inklusive. Kaum mehr als ein Hauch, ein Origami. Der Anflug eines Kurzschlusses. Ein gegen null tendierender Feuchtigkeitsgehalt, eine Substanz wie Schattenstaub. Der kleinste je verzeichnete Kuss.

Wir sahen einander kaum an. Wir berührten einander kaum, sagten fast nichts. Übergroße Augen in ihrem Gesicht aus Porzellan, ein merkwürdig entschuldigendes Lächeln. Ihre Lippen, die dahinschmolzen wie eine winzige Schneeflocke, die sich im Hochsommer an den Strand verirrt hat, und meine Lippen, die sie wie ein übereifriges Eisfach einzufangen versuchten. Ein als Miniaturkuss verkleideter Schneesturm. Elektrisierender als Liebe auf den ersten Blitz. Der kleinste je verzeichnete Kuss. Ein grelles Licht, und dann nichts.

Sie war fort.

So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden. Als wäre ihr Mund ein magischer Schalter – wenn man ihn umlegt, löst sie sich in Luft auf. Zurück blieb nur die asthmatische Melodie ihrer Lungen in d-Moll.

Ich hörte sie davongehen, hörte ihre Schritte verklingen. Sie war also gar nicht verschwunden, sie war bloß unsichtbar geworden! Wir hatten einander den kleinsten je verzeichneten Kuss gegeben, und sie hatte sich verflüchtigt, abrupt wie ein Stromausfall.

Ich musste sie unbedingt wiederfinden. Und sei es nur, um meine Sammlung zu vervollständigen, die bisher nur aus einem einzigen Exemplar bestand. Meine Sammlung kleinster je verzeichneter Küsse.

Gaspard Neige

nsichtbare Frauen sind schwer aufzuspüren, selbst wenn sie gut riechen«, erklärte mir der pensionierte Privatdetektiv, den mir Louisa, meine Apothekerin, empfohlen hatte.

Sie hatte gesagt, dass er wie ein Eisbär mit Brille aussieht und sein Haar und Bart an Wattebäusche erinnern. »Er ist Experte für verrückte Fälle, weil er selbst völlig verrückt ist.«

Wie recht sie damit hatte!

»Mit traditionellen Ermittlungsmethoden kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen eine Art magischen Köder auslegen, um sie anzulocken.«

»Sie hat übrigens eine Frisur wie geschlagener Eischnee«, warf ich ein.

»Mein Lieber, Sie werden viel Geduld brauchen. Die Sirenenjagd ist kein einfaches Unterfangen«, verkündete er. Plötzlich wirkte er nachdenklich. »Sollte uns das Glück hold sein und die junge Dame tatsächlich wieder auftauchen, dürfen Sie sie auf keinen Fall küssen. Sonst ist sie gleich wieder verschwunden.«

Als er mich zur Tür brachte, strich sich der alte Detektiv über die weiße Haufenwolke, die er im Gesicht trug.

»Die Erinnerung an den Kuss ist so real. Mir ist, als würde ich ihre Lippen jetzt gerade spüren. Als würde der Kuss sich jede Sekunde wiederholen.«

»Selbstverständlich. Indem Sie ständig an den Kuss denken, halten Sie ihn am Leben.«

»Es ist noch viel mehr. Alles erinnert mich an ihn! Das leise Klicken eines Lichtschalters, das Rauschen des Windes … Einfach alles!«

»Sie glauben also wirklich, dass diese junge Frau durch einen Kuss unsichtbar geworden ist?«

»Natürlich. Nichts leichter als das. Man muss nur alle Zweifel über Bord werfen. Es ist einfach ein überwältigendes Gefühl. Eine ganz besondere Schwingung, wie Musik.«

»Aha, ich verstehe. Wie sah die junge Dame eigentlich aus?«

»Ich habe sie nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, aber ich weiß, dass sie wunderschön ist.«

»Wirklich?«

»Ja! Sie ist so unumstritten wunderschön, wie die Zeitansage die Zeit ansagt.«

Der Detektiv wirbelte herum, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Das Wort »wunderschön« hatte seine Augen zum Leuchten gebracht.

»Warum sagen Sie das nicht gleich? Dann habe ich genau das Richtige für Sie. Kommen Sie mit.«

Ich folgte ihm durch einen Flur, der eng wie ein Kaminschacht war. Er öffnete eine Tür, und wir betraten einen Raum, offenbar sein früheres Büro. An den Wänden hingen Fotos der atemberaubendsten Schauspielerinnen der Fünfzigerjahre: Rita Hayworth, Natalie Wood, Grace Kelly, Claudia Cardinale, Brigitte Bardot, Liz Taylor. Alle waren sie da, und neben jeder der Schönheiten stand derselbe elegante Mann mit einer weißen Tolle auf dem Kopf und einem Papagei auf der Schulter.

»Sind Sie das auf den Fotos?«

»Ja, das bin ich. Vor langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Galaxie …«

Zwischen dem einzigen Fenster und einer Jukebox aus rot lackiertem Holz stand eine lebensgroße Elvis-Presley-Statue. Der King wirkte wie ausgestopft und blickte ziemlich mürrisch drein. In dem Büro schien die Zeit stehen geblieben zu sein, der Flur war ein Tor, das geradewegs in die Vergangenheit führte. Der Raum hatte etwas von einem Kuriositätenmuseum, hier herrschte eine verwunschene, leicht angestaubte Atmosphäre. Auf dem Schreibtisch stand das Bild eines kleinen Mädchens, das wie eine besorgte Puppe dreinblickte. Daneben hockte auf einem Bücherstapel ein blauer Papagei.

»Darf ich Ihnen die begnadetste Spürnase der Tierwelt vorstellen, meinen treuen Gefährten Elvis!«, sagte er und wies auf den Vogel, der eine Frisur wie ein Indianerhäuptling trug. »Der Papagei ist besser als jeder Schäferhund, der auf Einbrecher abgerichtet ist, nur ist er eben auf wunderschöne Frauen spezialisiert. Mit seiner Hilfe habe ich schon unzählige Fälle gelöst. Vor allem bei Ehebruch ist er unschlagbar. Er kann jeden Orgasmus perfekt nachahmen. Elvis kann auch an Türen lauschen und sogar an doppelverglasten Fenstern. Und seine Verfolgungsjagden durch die Luft sind spektakulär. Sein letzter Einsatz liegt zwar schon ein paar Jährchen zurück, aber …«

Der alte Detektiv senkte die Stimme, als vertraue er mir ein wohlgehütetes Geheimnis an.

»Der Papagei hat eine Vorliebe für sehr lebendige Edelsteine. Mit seiner Hilfe habe ich unzählige ungewöhnliche Frauen verführt (die im Übrigen sehr viel schwerer zu küssen sind als unsichtbare Frauen).« Sein Blick schäumte wie Champagner. »Hören Sie mal!«

Er schnippte dreimal mit den Fingern und flüsterte dem Papagei ins Ohr: »Elvis?«

»Rrrllluuh?«

»Claudia Cardinale!«

Der Vogel stieß eine Reihe von kleinen, spitzen Schreien aus, die zu einem verzückten Crescendo anschwollen.

»Und jetzt Liz. Gib mir die Liz!«

Der Papagei verstummte abrupt und hob dann zu einem heiseren Stöhnkonzert an.

»Danke, das reicht. Wenn ich ihm zu lange zuhöre, werde ich immer nostalgisch.«

»Heißt das, Sie haben …«

»Und nicht nur einmal, teurer Freund, nicht nur einmal! Früher übermittelte ich den Frauen per Papagei Komplimente, Lobpreisungen ihrer vollkommenen Körper, ›Kleine erotische Fantasien‹, wie ich sie nannte. Und wenn ich es schaffte, sie hierherzulocken, nahm Elvis sie heimlich auf.«

»Unglaublich!«

»Wenn Sie den Papagei richtig einsetzen, verleiht er Ihnen magische Kräfte«, flüsterte er mit dem ganzen Stolz des Sirenenjägers, der zu sein er behauptete.

»Und wie funktioniert das?«

»Um eine bereits vorhandene Aufnahme abzuspielen, schnippen Sie dreimal mit den Fingern. Um sie anzuhalten, schnippen Sie ein weiteres Mal. Den Rest der Zeit ist Elvis automatisch im Aufnahmemodus. Allerdings überkommt ihn wie alle Papageien öfters die Lust zu pfeifen und zu tirilieren, und dann kann man ihn leider nicht abschalten.«

»Verstehe.«

»Haben Sie irgendetwas, das Ihrer unsichtbaren Geliebten gehört?«

»Nein, leider nicht.«

»Würden Sie ihr Parfüm wiedererkennen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie keins trägt, und wenn doch, dann nur einen Hauch. So wenig, dass man es für ihren eigenen Duft hält.«

»Mhm … Elvis findet Frauen am schnellsten, wenn er ihr Parfüm schnuppern kann.«

»Das Einzige, was mir zu ihr einfällt, ist der asthmatische Pfeifton ihrer Lungen in d-Moll. Nein, da ist noch etwas: Als sie mich geküsst hat, schmeckten ihre Lippen wie elektrisierte Himbeeren.«

»Gut. Lassen Sie mich nachdenken. Wir brauchen einen Plan. Was sind Sie von Beruf? Haben Sie ein Spezialgebiet?«

»Ich bin deprimierter Erfinder.«

»Was soll das denn heißen?«

»Ich erfinde alle möglichen Dinge, und wenn sie nicht funktionieren, bin ich deprimiert. Zusammengenommen ergibt das einen deprimierten Erfinder.«

»Dann müssen Sie härter an Ihren Erfindungen arbeiten, mein Freund.«

»Am liebsten täte ich den ganzen Tag nichts anderes.«

Vor der unverhofften Begegnung mit der unsichtbaren Frau hatte ich den Weltkrieg der Liebe verloren. Ich hatte überhaupt nicht verstanden und schon gar nicht akzeptiert, was passiert war. Seither kamen sich meine Gegenwart und meine Vergangenheit ständig in die Quere, und in meine Arme oder mein Bett verirrten sich nur Gespenster.

»Darf ich fragen, was Ihre neueste Erfindung ist?«

»Eine Froschpistole.«

»Was ist das denn?«

»Eine Froschpistole eben. In die Trommel passen sechs Laubfrösche. Als Visier habe ich den Sucher einer Einwegkamera genommen, denn schließlich kommt es nicht auf Zielgenauigkeit an.«

»Worauf kommt es denn an?«

»Auf den Überraschungseffekt.«

»Und das funktioniert?«

»Hundertprozentig!«

»Na, sehen Sie! Dann gibt es doch gar keinen Grund, deprimiert zu sein.«

»Da haben Sie eigentlich recht.«

»Jedenfalls müssen Sie Ihrem Erfindergeist Beine machen, wenn Sie die unsichtbare Frau wiederfinden wollen.«

»Wie meinen Sie das?«

Er hob den Zeigefinger, als wolle er die Zehn Gebote des Sirenenjägers verkünden.

»Als Erstes müssen Sie die Melodie ihres Atems und den Geschmack ihrer Lippen festhalten. Elvis braucht diese Hinweise, um sie aufspüren zu können. Als Nächstes müssen Sie Elvis mit Poesie füttern, das ist der allerwichtigste Schritt. Schreiben Sie auf, was Sie für die unsichtbare Frau empfinden und warum Sie sie unbedingt wiedersehen wollen. Lesen Sie dem Papagei die Botschaft vor, und sobald er die Frau gefunden hat, wird er sie aufsagen! Elvis ist der magische Köder, der die Frau zu Ihnen lockt.«

»Man könnte fast meinen, Sie wollten die Frau wiederfinden.«

»Papperlapapp. Also, mit dem Papagei können Sie in die verschiedensten Rollen schlüpfen: Bauchredner, Schlagersänger, Wildtierimitator, Zauberkünstler, ein auf verrückte Fälle spezialisierter Privatdetektiv oder Vollzeiterfinder.«

»Brauchen Sie den Papagei denn nicht mehr?«

»Nein, ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Man könnte sagen, dass auch ich mich auf unsichtbare Frauen spezialisiert hatte«, sagte er und stieß einen Seufzer aus, der schwer wie eine Boulekugel war. »Mittlerweile weiß ich, dass die Liebe meines Lebens für immer verschwunden bleiben wird, trotz meines Papageis. Elvis kann zwar im Alltag Wunder vollbringen, aber selbst er kann die Zeit nicht zurückdrehen.«

Er verstummte und strich dem Vogel über das metallisch blaue Gefieder. Dann fügte er hinzu: »Jedenfalls bin ich froh, dass er mal wieder zum Einsatz kommt.«

Der alte Privatdetektiv, der tatsächlich aussah wie ein Eisbär mit Brille, setzte mir Elvis auf die linke Schulter.

»Ich leihe Ihnen den Papagei.«

Ich fühlte mich, als hätte er mich zum Ritter eines geheimen Ordens geschlagen. Insgeheim fragte ich mich, was ich mit dem Federvieh anfangen sollte, selbst wenn es über magische Fähigkeiten verfügte. Doch die azurblauen Augen des alten Detektivs blitzten vor Stolz, und ich wollte ihn nicht kränken.

Der Dachbodenmensch