Ich liebe das Leben viel zu sehr - Mathias Malzieu - E-Book

Ich liebe das Leben viel zu sehr E-Book

Mathias Malzieu

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Beschreibung

Mathias Malzieu, Rockmusiker und Romanautor, erzählt von dem Jahr, in dem er beinahe an einer lebensbedrohlichen Krankheit gestorben wäre. Nach einem Schwächeanfall wurde bei ihm eine seltene Autoimmunkrankheit festgestellt, die sein Knochenmark beeinträchtigt, sodass er nur noch durch wöchentliche Bluttransfusionen am Leben gehalten werden kann. Von einem Tag auf den anderen ist er aus seinem Alltag herausgerissen und muss auf die Isolierstation. Das Einzige, was ihm bleibt, ist die Kunst des Fabulierens und die feine Beobachtung, wie es sich anfühlt, wenn der Tod plötzlich anklopft. Schonungslos ehrlich, aber auch voller poetischer Bilder und mit seinem ganz eigenen Humor beschreibt Malzieu, wie er zwischen Leben und Tod schwebte und sich seine Perspektive auf die Bedeutung des Lebens in dieser Zeit vollkommen verändert hat. Nach einem Jahr voller Hoffen und Bangen gelingt schließlich eine Knochenmarkstransplantation. Das Jahr seiner Krankheit sieht Malzieu rückblickend als größtes Abenteuer an, das ihm geholfen hat, sein Leben als einzigartiges Geschenk anzunehmen und täglich neu zu feiern.

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Seitenzahl: 205

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Journal d’un vampire en pyjama bei Albin Michel, Paris.
Die Gedichtzeilen hier und hier stammen mit freundlicher Genehmigung aus: Walt Whitman, Grasblätter. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2009.
Copyright © 2016 by Mathias Malzieu Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by carl’s books, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: Shutterstock/Jef Thompson; Irmy Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-20106-7 V002
www.carlsbooks.de

Dieses Buch ist Rosy gewidmet, meiner kämpferischen Rose, sowie meiner Schwester, meinem Vater und allen Superhelden, ob im weißen Kittel oder nicht, die das Schiff während des Sturms nicht verlassen haben.

»Beeil dich, mein Buch! Blähe deine weißen Segel, mein kleines Boot, überwinde die Brecher,Sing weiter, segle weiter, fahre über das endlose Blau von mir zu jedem Meer.«Walt Whitman, Grasblätter

»Sie sind der erste Patient, der auf dem Skateboard kommt.«Prof. Dr. Peffault de Latour

Ich bin durch die Hölle getrampt. Durch die echte Hölle. Nicht die, in der ein paar Typen mit Hörnern mit dem Feuer spielen und Heavy Metal hören, nein, die, bei der man nicht weiß, ob man lebend wieder rauskommt.

Sich poetisch zum Affen zu machen, ist ein wunderschöner Beruf

7. November 2013

»Lass es mal langsamer angehen, du bist nicht mehr zwanzig«, sagten die Leute immer wieder.

Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.

Draufgängertum ist meine Droge. Mein Schädel ist eine prall gefüllte Schatzkammer aus Tausendundeiner Nacht, bei deren Anblick einem die Augen aus dem Kopf springen. Langeweile ist mir fremd, außer wenn ich von anderen ausgebremst werde. In meinem Herzen steigt ein Feuerwerk auf. Ich bin ein Vulkanmensch, durch meine Adern fließt Lava. Ich bin süchtig nach Überraschungen und suche ständig nach neuen elektrischen Zuckungen. Anders kann ich nicht leben.

Ich wollte immer ein Superheld sein. Vor allem, um mich selbst zu retten. Meine Dämonen zu besiegen, wäre keine gute Idee. Ich bin nämlich auf sie angewiesen. Wenn ich ihnen den Todesstoß versetze, gehe ich mit drauf. Obgleich ich schrecklich gern Erfinder, Schnulzensänger, Beinahe-Poet, Magier, Vinylskater, Imitator wilder Tiere oder Liebhaber von Pfannkuchenprinzessinnen wäre, bin ich bloß ein Durchschnittstyp, der unter Schlaflosigkeit, Panikattacken und Gutgläubigkeit leidet. Selbstbetrug ist eine meiner großen Stärken.

Als meine Mutter starb, erreichte meine kreative Bulimie einen ersten Höhepunkt. Danach hat sie sich sogar noch gesteigert. Jeder hat so seine Hilfsmittel, ohne die er nicht überleben kann, meine sind elektrifizierte Kreisel, die immer in Bewegung sein müssen. Die Regeln sind einfach: nicht stehen bleiben, auf keinen Fall bremsen und sich vor allem nicht einsperren lassen, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Sich poetisch zum Affen zu machen ist ein wunderschöner Beruf.

Der Rock ’n’ Roll ist eine Oase aus Adrenalin für verirrte Kinder. Könnte man auf dem Äquator die Welt umrunden, hätte meine Band Dionysos die gut vierzigtausend Kilometer schon viermal zurückgelegt. Wir sind ein paar Freunde, die sich vor zwanzig Jahren zu einer elektrischen Bande zusammengeschlossen haben. Bei Auftritten wachsen meinem Kopf Flügel. Die Reibung der Emotionen ist mein Treibstoff und versetzt mich in Ekstase. Wenn der Jubel des Publikums in meinen Knochen pulsiert, muss ich alles geben. Das Problem ist, dass ich mehr gebe, als ich habe. Ich bin ein Drache ohne Verstand. Ein Drache, der Feuer speit und sich selbst die Flügel verbrennt.

Trotzdem dämmert seit einer Weile das Bedürfnis nach einem ruhigeren Leben am Horizont. Meine Familie im Süden besuchen, sie nicht immer nur backstage nach einem Konzert sehen, mit dem Fahrrad zum Kino radeln, vielleicht sogar Vater werden.

In den letzten Jahren kam alles zusammen, und irgendwann hat es gekracht. Während der Achterbahnfahrt aus Tournee-Film-Buch1 hielt ich meine Erschöpfung für normal. Kein Urlaub seit zwei Jahren, wenig Schlaf, wenig Sonnenlicht, dafür aber ein Dauerzustand wilder Freude. Ich will diesen Ausdauersprint, an dessen Ziellinie mich mein erster Kinofilm erwartete, auf jeden Fall zu Ende bringen! Ich darf nicht aufgeben, dieses wunderbare Geschenk nicht ablehnen. Ich arbeite seit sechs Jahren an der Verwirklichung meines Traums, da kann ich nicht so kurz vor dem Ziel zusammenbrechen. Ausruhen strengstens verboten!

Auf den letzten Hektometern des Sprints drehen ich und meine Band Dionysos den Videoclip Jack et la mécanique du cœur(Jack und das Kuckucksuhrherz), den wir anlässlich der Filmpremiere veröffentlichen wollen. Wir verlassen Paris im Morgengrauen unter einem blassen Sternenhimmel und treffen völlig verpennt im Filmstudio ein. Früh aufstehen und Rock ’n’ Roll passen ungefähr so gut zusammen wie Marmeladenbrote und Whiskey. Alle Gespräche laufen in Zeitlupe. Ich habe Augenringe wie E. T., der Außerirdische. Zum Glück bin ich geschminkt und der Clip wird in Schwarz-Weiß gedreht, da fällt nicht so sehr auf, dass ich hundertfünfzig Jahre alt bin. Ich bin todmüde, aber ich trage meinen eng geschnittenen Anzug und meine spitzen Schuhe. Da kann eigentlich nichts schiefgehen.

Die Kameras laufen, die Scheinwerfer leuchten, der Dreh beginnt. Wir tun so, als spielten wir unsere Songs. Verbiegen uns in alle Richtungen. Das ist total anstrengend und macht Riesenspaß. Ungefähr so, wie am Strand über die anrollenden Wellen zu springen.

Als wir die ersten Szenen im Kasten haben, droht mein Herz zu explodieren. Meine Lungen sind auf die Größe einer Haselnuss geschrumpft, ich atme durch einen verstopften Strohhalm. Jeder Sprung kostet mich ein Vermögen an Luft. Bald bin ich pleite. Mir ist schwindelig. Meine Muskeln verkrampfen sich. Aber wir sind noch nicht fertig. Nach den Totalen stehen die Nahaufnahmen auf dem Programm, und ich bin jetzt schon völlig am Ende. Aber ich sage nichts und versuche, in den Pausen wieder zu Atem zu kommen. Alle sind da, die Band, die Leute von der Plattenfirma, die Filmcrew. Ich kann sie nicht enttäuschen. Ich kann es nicht langsamer angehen lassen. Ich funktioniere nach dem Prinzip »ganz oder gar nicht«. Mir wahre Geschichten auszudenken, macht mich glücklich. Sie mit Leben und Bildern zu füllen und sie mit anderen zu teilen, noch mehr. An diesem Gedanken halte ich mich fest.

Dreißigste Aufnahme: Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, meine wilden Bewegungen etwas sparsamer auszuführen, ohne dass sie an Intensität verlieren. Ich fühle mich seekrank. Niemand merkt etwas. Das beruhigt mich, verstärkt aber auch meine Einsamkeit.

Endlich ist der Tag zu Ende. Alle sind zufrieden. Auf dem Klo fällt mein Blick in den Spiegel, ich bin bleicher als Dracula. Ich sage niemandem etwas. Am nächsten Morgen lasse ich ein großes Blutbild machen.

1 Ich habe meinen Roman Die Mechanik des Herzens unter dem Titel Jack und das Kuckucksuhrherz fürs Kino adaptiert.

Überlebensnotwendig

8. November 2013

Ich betrete einen dieser Orte, die aussehen wie ein Krankenhaus im Kleinformat und die im Volksmund Labor genannt werden. Man verabreicht mir eine Dosis Schweigen, eine Spritze und einen Zuckerwürfel, dann bin ich wieder frei. »Sie sind sehr blass, Monsieur Malzieu. Ist alles in Ordnung?« Die Arzthelferin, die mir das Blut abgenommen hat, lächelt routiniert mitleidig. Ihr Lächeln ist mir unheimlich.

Es ist Freitag, der nächste Montag ist ein Feiertag, ich bekomme die Ergebnisse also erst am Dienstag. Im Schneckentempo krieche ich den Boulevard Beaumarchais hoch. Auf der Place de la République überholt mich eine alte Dame und ein Miniatur-Hund, die beide dieselbe Frisur haben. Ich kaufe mir die Fußballzeitung Équipe und esse Chicken Nuggets, um mehrere Minuten am Stück an nichts denken zu müssen. Das klappt einigermaßen gut.

Dann gehe ich nach Hause. Meine Wohnung ist gleich um die Ecke, aber ich brauche eine halbe Ewigkeit. Ich friere erbärmlich, obwohl ich einen Mantel trage, während die Leute um mich herum im Pulli durch die Gegend spazieren. Schon seit Wochen lasse ich die Treppe links liegen. Heute bringt mich schon das Aufzugfahren außer Puste.

Seit ein paar Monaten höre ich ständig, ich sei furchtbar blass. Die Leute haben recht, ich habe Ähnlichkeit mit einem Vampir. Aber ich war schon mal müder, zum Beispiel auf Tournee. Ich lege mich eine Weile hin, höre Leonard Cohen und fühle mich besser.

Ich rufe ein Taxi, um ins Studio zu fahren, wo unser Videoclip geschnitten wird. Da klingelt das Telefon. Eine unbekannte Nummer.

»Guten Tag. Spreche ich mit Mathias Malzieu?«

»Ja.«

»Doktor Gelperowic am Apparat, ich habe gerade einen Anruf aus dem Labor bekommen. Ihre Ergebnisse sind da.«

»Jetzt schon? Ich dachte, die bekomme ich erst am Dienstag.«

»Zur Sicherheit hat das Labor Ihren Hämoglobinwert sofort überprüft. Er ist sehr niedrig. Sie leiden unter akuter Anämie. Normalerweise liegt die Konzentration bei 14 bis 17 Gramm pro Deziliter Blut. Ihr Wert liegt bei 4,6. Sie brauchen eine Transfusion.«

»Was?«

»Sie haben nicht genug Sauerstoff im Blut. Sie müssen sich sofort in die Notaufnahme begeben.«

»Jetzt gleich?«

»Bei Ihrem Wert dürften Sie sich eigentlich gar nicht mehr auf den Beinen halten können. Vermeiden Sie bitte jede körperliche Anstrengung, sonst droht ein Herzinfarkt.«

»In welches Krankenhaus soll ich gehen?«

»In das nächstgelegene. Und beeilen Sie sich!«

Jeder Satz ist eine Ohrfeige. Mir dröhnt der Kopf.

Ich setzte mich aufs Bett und versuche, meine Gefühle zu sortieren. Meine Gedanken verschwimmen. Tausend Fragen stürzen auf mich ein, Antworten eher nicht. Ich lasse den gestrigen Tag Revue passieren. Ich bin wieder mal durch die Gegend gehüpft wie ein Drache ohne Verstand. Ich hätte mir vor laufender Kamera das Herz verbrennen können.

Wieder klingelt das Telefon. Dieselbe Nummer.

»Noch mal Doktor Gelperowic. Ich habe soeben weitere Resultate reinbekommen …«

»Und?«

»Leider sind alle drei Zellreihen betroffen. Ihr Thrombozytenwert ist ebenfalls extrem niedrig.«

»Thrombozyten? Was ist das noch mal?«

»Blutplättchen. Die sind für die Blutgerinnung zuständig. Sie haben nur sehr wenige davon.«

»Was heißt das?«

»Der Normalwert liegt zwischen 150000 und 450000 pro Mikroliter Blut. Sie haben 11500. Unter 20000 braucht man sofort eine Transfusion. Hatten Sie in letzter Zeit mal Nasenbluten?«

»Ja.«

»Rasieren Sie sich bitte nicht mehr, halten Sie sich von scharfen Gegenständen fern, und laufen Sie nirgendwo gegen. Sie dürfen auf keinen Fall anfangen zu bluten. Und Ihre weißen Blutzellen sind auch betroffen, Monsieur Malzieu.«

»Sind die nicht für das Immunsystem zuständig?«

»Genau. Sie haben 750 neutrophile Granulozyten pro Mikroliter Blut, dabei müsste Ihr Wert mindestens das Doppelte betragen. Das ist sehr beunruhigend.«

»Dann bekomme ich dafür auch eine Transfusion?«

»Dieser Blutbestandteil lässt sich nicht transfundieren. Bis Sie es in die Notaufnahme schaffen, waschen Sie sich bitte möglichst oft die Hände.«

»Was bedeutet das alles?«

»Bevor wir eine Diagnose stellen können, sind weitere Untersuchungen nötig. Wir müssen Ihr Knochenmark analysieren, um herauszufinden, warum Sie unter einer so schweren Blutarmut leiden.«

Mein Herz beginnt zu rasen. Meine kleine Wohnung kommt mir plötzlich riesengroß vor. Hämoglobin, Thrombozyten, Granulozyten, Transfusionen … Die Wörter zucken mir durch den Kopf wie düstere Schatten. Ich gehe ins Internet und tippe »Knochenmark«: »Eines der wichtigsten Organe des menschlichen Körpers. Zuständig für die Produktion von Blutzellen (Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten). Diese werden auch hämatopoetische Stammzellen genannt. Sie sind überlebensnotwendig.«

Überlebensnotwendig?

Duty freaks

9. November 2013

8 Uhr 30 am Morgen. Ich treffe in der Notaufnahme des Hôpital Cochin ein, das mir ein befreundeter Arzt empfohlen hat. Der Wartesaal ist ein Niemandsland zwischen der Außenwelt und der Glastür, durch die eine Armee von Weißkitteln marschiert. Ich komme mir vor wie im Duty-free-Bereich eines Flughafens nach einem Absturz.

Auf einem Schild stehen drei Regeln wie bei den Gremlins2:

3. Falls Sie zu einer Untersuchung hier sind, bitten wir Sie um etwas Geduld. (Die Wartezeit kann mehrere Stunden betragen.)

2. Falls Ihr Zustand bedenklich ist, kümmern wir uns möglichst bald um Sie (Wartezeit: weniger als 30 Minuten).

1. Falls Ihr Zustand potenziell lebensbedrohlich ist, kümmern wir uns sofort um Sie.

Zwei Krankenschwestern eskortieren mich durch die Glastür, man kümmert sich sofort um mich. Alle sind unglaublich ruhig, bis ich meine Blutwerte vorzeige. Dann haben sie es plötzlich sehr eilig. Man stellt mir Fragen, gibt mir Spritzen, stellt mir weitere Fragen, hängt mich an einen Tropf, klebt mir ein seltsames Pflaster auf die Brust. Stellt mir noch mehr Fragen. Lässt mich warten.

Ich bin in einem Kuriositätenkabinett. Ein Mann hat ein drittes Knie auf dem Schienbein, eine Frau ein so echt aussehendes blaues Auge, dass man sie für die Hauptdarstellerin eines Horrorfilms halten könnte, und eine alte Dame ruft in Endlosschleife: »Mein Bein! Mein armes Bein! Man hat es mir amputiert! Es tut so weh!«, obwohl beide Füße unter der Decke hervorragen. Ich liege auf einem Krankenhausbett und warte. Auf meinem Unterarm klebt ein großer Streifen Tesafilm. Ich starre auf die Uhr. Der Minutenzeiger bewegt sich mit der Geschwindigkeit des Stundenzeigers voran. Die Batterien müssen fast leer sein.

Zwei Krankenpfleger tauchen auf und wollen mich in einen Rollstuhl setzen.

»Ich kann laufen«, protestiere ich.

»Wir haben die Anweisung, Sie im Rollstuhl zu transportieren, Monsieur Malzieu.«

Sie wickeln mich in eine Decke, und ab geht die Post. Im Eiltempo durch einen Graupelschauer geschoben zu werden, während deine Liebste auf besorgten Absätzen hinterherstöckelt, ist eine chaplineske Erfahrung. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, wie Rosy zurückfällt. Sie erinnert an ein hilfloses Reh, das über den Asphalt stakst. Zwischen den Gebäuden jagt der Wind die Wolken über den Himmel. Meine Decke fällt zu Boden. Die Krankenpfleger bleiben stehen, heben sie auf und decken mich zu wie ein uraltes Kind.

Schließlich erreichen wir das Achard-Gebäude. Eine Automatiktür öffnet sich langsam. Die Atmosphäre ist so traurig, als würde es im Flur in Strömen regnen. Der Fahrstuhl ist dem »Krankentransport« vorbehalten. Normalerweise nehme ich den Besucheraufzug, ich komme mir fast wie ein Betrüger vor. Endlose Flure ziehen an mir vorbei. Mit jedem Meter steigt meine Angst.

Die Pfleger rollen mich durch eine Tür mit der Aufschrift »Intensivstation«. Alle, denen wir begegnen, tragen einen Mundschutz, einen weißen Kittel und eine Duschhaube auf dem Kopf. Ich fühle mich wie in einem Atomkraftwerk aus einem Science-Fiction-Film. Wir nähern uns dem Reaktor: dem Isolierzimmer. Durch eine Art Gefrierschranktür gelangt man in eine Schleuse. Auf einem Metalltisch liegen Geräte bereit, darüber befindet sich eine Art Dunstabzugshaube wie in einer futuristischen Küche. An Kleiderhaken hängen Chirurgenkostüme. Eine Kontrolllampe wechselt von Rot zu Grün, eine zweite Tür geht auf. Vorsichtig schiebt der Pfleger meinen Rollstuhl hinein. Blaue Wände und Totenstille, unterbrochen von Maschinenbrummen. Was zum Teufel mache ich hier? Das alles erinnert mich an die schlimmste Zeit meines Lebens. Meine Mutter ist in einem ähnlichen Zimmer gestorben. Das Herz rutscht mir in die Hose. Die Tür schließt sich, ich sitze in der Falle. Eigentlich wäre ich jetzt gerade in einem Schnittstudio und würde an dem Videoclip arbeiten.

Wie lange muss ich hierbleiben? Wo ist meine Liebste? Warum lässt man sie nicht zu mir? Was haben die Ärzte mit mir vor? Und was, verdammt noch mal, ist mit mir los? Sie sollen mir ein, zwei Transfusionen geben und mich zurück in die wirkliche Welt entlassen. Instinktiv weiß ich aber, dass es dazu nicht kommen wird. Ich fühle mich, als säße ich in einem Zug, der auf freier Strecke gehalten hat, und es kommt keine Durchsage. Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes passiert.

Die Dunkelheit stiehlt sich durch die Ritzen der Jalousie. Ich bleibe im Rollstuhl sitzen, weil ich Angst vor dem Bett habe. Ich starre auf den schwarzen Bildschirm des kleinen Fernsehers. Das Abendessen wird mir in einer Aluminiumschale serviert.

»Muss ich heute Nacht hierbleiben?«

»Das entscheidet die Ärztin, aber ich denke schon«, antwortet eine maskierte Schwester.

Das Besteck ist eingeschweißt. Eine Pflegehelferin reißt die Verpackung auf und hält sie mir hin, damit sie das Besteck nicht anfassen muss. Ich hätte nie gedacht, dass es in der Hölle so sauber ist.

In der Schleuse tut sich etwas. Ich erkenne Rosys Silhouette. Sie kommt herein und mit ihr ein Hauch von Leben. Rosy macht sich Sorgen, versucht mich aber zu beruhigen. In ihren Armen fühle ich mich geborgen wie in einer Hütte im Wald. In meinem vorigen Buch habe ich mir die wahre Geschichte unserer Begegnung ausgedacht. Darin kittet eine Frau, die verschwindet, wenn man sie küsst, das gebrochene Herz eines depressiven Erfinders, der in Liebeskummerdingen minderbegabt ist. Sie setzt sein Herz mit leidenschaftlicher Geduld Stück für Stück wieder zusammen. Genauso war es. Bis zu dem unbegreiflichen Erdbeben, das mich jetzt aus heiterem Himmel erschüttert.

Rosy beugt sich über mein Bett am Rande des Abgrunds. Sie trägt Kleider aus einer anderen Welt, einer Welt, zu der ich vor wenigen Stunden selbst gehört habe. Farben, Wind, Autos, Bäume stecken auf der anderen Seite des Fensters fest. Ich kann sie nicht mehr sehen, hören oder anfassen. Ich schmiege mich in das Nest meiner Arme, umschlungen von den Armen meiner Liebsten.

Ein Trupp Krankenschwestern kommt hereinmarschiert, bewaffnet mit zwei Tabletts. Auf dem einen befinden sich zwei Flaschen mit Desinfektionsmittel und eine kugelschreibergroße Spritze aus Metall, auf dem anderen liegen eine hübsche Sammlung kleiner Folterinstrumente und ein Stapel Kompressen. Alle Schwestern tragen einen Mundschutz. Eine bittet Rosy hinauszugehen. Eine andere reißt das Pflaster von meinem Brustbein ab. »Es klebt viel zu hoch, so nützt es nichts«, verkündet sie. Sie wischt mir die Brust mit einer kalten Flüssigkeit ab. Immer wieder. Als säubere sie eine Zielscheibe. Eifrig werden Spritzen sterilisiert. Ich wage nicht zu fragen, was sie mit mir vorhaben, ich habe viel zu viel Angst vor der Antwort. Eine Hämatologin mit sanfter Stimme flüstert mir zu, sie müsse »eine Sternalpunktion vornehmen«, das sei etwas unangenehm. Sie würde meinem Brustbein ein wenig Knochenmark entnehmen, um es untersuchen zu können. Auf diese Weise wolle sie herausfinden, warum mein Körper keine Blutzellen mehr produziert.

»Strecken Sie die Arme neben dem Körper aus, atmen Sie tief ein und aus, versuchen Sie sich zu entspannen und bewegen Sie sich auf gar keinen Fall.«

Jetzt kommt die Harpune zum Einsatz. Nur nicht hinschauen, lautet meine Devise. Die Nadel ist dick. Sie ist lang. Ihre Spitze ist schräg angeschliffen, heimtückisch wie ein gezinktes Kartenspiel.

Zwei lauwarme Hände greifen auf beiden Seiten nach meinen. Die Hämatologin mit der sanften Stimme tritt an mein Bett. Sie beugt sich über mich, ihre Waffe im Anschlag. »Achtung, das pikst jetzt etwas.«

Was für eine schamlose Untertreibung! Besser hätte sie gesagt: »Achtung, ich durchbohre Sie jetzt!« Die Ärztin rammt mir das Ungetüm ins Brustbein. Um den Knochen zu durchstechen, muss sie beide Hände nehmen und sich mit ihrem ganzen Gewicht draufstützen. Es fühlt sich an, als versetzt mir ein Torero den Todesstoß. Ich versuche verzweifelt, weiterzuatmen und nicht allzu genau hinzuschauen.

»Achtung, ich sauge jetzt an …« Meine Rippen heben vom Bett ab. Mir ist, als zerfetzt sie meinen Brustkorb. Der Schmerz ist zum Wände hochgehen! Ich bekomme keine Luft mehr, mein Herz gerät ins Stolpern. Endlich zieht die Ärztin ihre Harpune wieder heraus.

»Sie können jetzt wieder atmen, es ist vorbei!«

Kann ich leider nicht, ich weiß nämlich nicht mehr, wie das geht. Ich bin eine Forelle auf dem Trockenen.

»Auf einer Skala von null bis zehn, wie stark war der Schmerz?«

»Sieben bis acht.«

Ich sage nicht »zehn«, um mein Gesicht zu wahren. Die Krankenschwestern halten immer noch Händchen mit mir, ich lasse sie nicht los. Die Hämatologin mit der sanften Stimme hantiert mit dem Gewebe, das sie mir entnommen hat. Sie zerlegt es, damit es im Labor untersucht werden kann. Es sieht aus, als schneide sie Radieschen.

»Monsieur Malzieu, es tut mir sehr leid. Wir müssen die Punktion wiederholen.«

Die Krankenschwestern schauen mich zerknirscht an.

»Was? Das Ganze noch mal?«

»Leider ja. Es ist zu viel Blut im Gewebe. Das könnte die Untersuchung verfälschen.«

Meine Brust ist voller Blut. Unter der Kompresse sprudelt es fröhlich weiter. Die Krankenschwestern tupfen das Blut weg, saugen es auf, aber die Wunde will einfach nicht aufhören zu bluten. Ich habe das Gefühl, meiner eigenen Obduktion beizuwohnen. Die Hämatologin bereitet einen zweiten Spieß vor. Ich bin von einer Horde Sadisten entführt worden, die sich als Frauen mit sanfter Stimme ausgeben! Meine Nerven liegen blank, mein Körper versteift sich von Kopf bis Fuß. Die Hände, die mich schon beim ersten Mal festgehalten haben, sind wieder zur Stelle.

»Versuchen Sie, an etwas Schönes zu denken. An den Strand, die Sonne …«, rät mir eine Krankenschwester. Ich denke vor allem daran, dass ich ein Fleischspieß bin. Wieder beugt sich die Hämatologin über mein Brustbein. Ihr Schatten fällt auf mein Gesicht, ich kneife die Augen fest zusammen.

Zweiter Harpunenangriff. Meine Muskeln sind angespannt wie Flitzebogen. Wieder bin ich eine Forelle auf dem Trockenen. Ich kann nicht atmen, mein Herz hämmert wie ein Presslufthammer.

»Ich weiß, die Prozedur ist leider ziemlich schmerzhaft. Aber anders kommen wir nicht an Ihr Knochenmark heran. Möchten Sie vielleicht ein Beruhigungsmittel?«

»Nein, einen Whiskey-Cola!«

»Tut mir leid, so etwas haben wir nicht«, antwortet die Hämatologin mit ihrer freundlichen Kinderstimme. Dann marschiert der Trupp aus dem Zimmer.

Es dauert eine ganze Weile, bis die Blutung unter dem Pflaster nachlässt. Rosy hat sich mit ihrem federleichten Po auf der Bettkante niedergelassen. Das Leuchten in ihren großen runden Augen wirkt wie Balsam. »Versuch zu schlafen«, sagt sie leise. Ich streichle ihren Unterarm und entspanne mich ein wenig. Wir knutschen ein bisschen, ihr Mund schmeckt wie ein Baiser. Ich konzentriere mich auf die Ruhe nach dem Sturm und versuche, an nichts zu denken.

Ein paar Stunden später ist die Hämatologin zurück. Ich vergewissere mich, dass sie ihr Metalltablett nicht dabeihat.

»Wie geht es Ihnen, Monsieur Malzieu?«

Ihr Tonfall ist vorsichtig. Das verheißt nichts Gutes.

»Wir haben ein erstes Ergebnis … In Ihrem Knochenmark sind keine Blasten nachweisbar, also haben Sie keine akute Leukämie.«

»Leukämie?!«

»Ja. Das können wir ausschließen. Ich wollte Sie vorhin nicht beunruhigen, aber das stand angesichts Ihrer Blutwerte zu befürchten.«

Leukämie! Bei diesem Wort hagelt es Särge auf meinen Kopf.

»Wir müssen weitere Untersuchungen durchführen, bevor wir eine Diagnose stellen und über die Behandlung entscheiden können. Am Dienstag wissen wir mehr …«

»Aber es ist nicht so schlimm wie Leukämie?«

»Darauf kann ich Ihnen vorerst keine Antwort geben, dazu habe ich nicht genügend Informationen. Im besten Fall handelt es sich um einen Vitaminmangel. Allerdings ist das bei so schlechten Blutwerten eher unwahrscheinlich. Im schlimmsten Fall brauchen Sie eine Knochenmarktransplantation.«

»Eine Knochenmarktransplantation! Was ist das?«

»Vereinfacht gesagt, wird Ihr krankes Knochenmark durch das eines gesunden Spenders ersetzt. Die Behandlung ist allerdings eine ziemliche Belastung für den Körper. Aber keine Angst, so weit sind wir noch nicht.«

Die Hämatologin mit der sanften Stimme geht auf Eiern, und die Schalen bekommen immer größere Risse.

»Wollen Sie wirklich kein Beruhigungsmittel, um sich ein wenig zu entspannen?«

»Nein, danke.«

»Nur Mut, Monsieur Malzieu. Wir sehen uns am Dienstag.«

2 In diesem Fantasyfilm von 1984 werden drei Regeln für den Umgang mit einem Gremlin genannt: Er darf nicht nass werden, er darf kein Sonnenlicht abbekommen, und er darf nicht nach Mitternacht fressen.

Kriegserklärung des Körpers

12. November 2013

Aufgrund der Untersuchungsergebnisse, die nach und nach eintrudeln, fällt folgendes Verdikt: »Aplastische Anämie«. Anders gesagt: Knochenmarkversagen. Eine äußerst seltene, lebensgefährliche Blutkrankheit. Sie ist »idiopathisch«, wie man im Fachjargon sagt, das heißt, die Ursache ist unbekannt. Ich äußere die Vermutung, dass meine Exzesse aus Chicken Nuggets, Pfannkuchen und Cola mit einem Spritzer Whiskey schuld sind, aber die Ärzte bestreiten das. Der Rock ’n’ Roll? Die Melancholie? Der Liebeskummer? Die wilde Freude? Die durchwachten Nächte? Die vermurkste Trauerarbeit? Die Unmengen von Nutella? Auch nicht. Es ist wie Lotto, eine Panne der Natur. Es kann jeden treffen, aber es trifft fast niemanden. In Frankreich gibt es jedes Jahr nur gut hundert Fälle. Die meisten Patienten sind Kinder oder alte Leute. Ich bin eine Rarität, ein echtes Sammlerstück.

Wildfremde Leute überbringen mir mit gedämpfter Stimme die schlechte Nachricht, und ihr Einfühlungsvermögen beeindruckt mich. Das Megamenschliche als Antwort auf die kalte Sterilität des Krankenhauszimmers. Ich komme mir vor wie im Gefängnis. Einem ziemlich baufälligen Gefängnis. Das Dach droht über mir einzustürzen und mich zu erschlagen.

»Es ist kein Krebs, obwohl die Symptome dieselben sind wie bei einer Leukämie. Auch die Behandlung ist ähnlich. Wir müssen eine Knochenmarktransplantation ins Auge fassen«, sagt die Hämatologin behutsam.

Ich bin wie versteinert, Rosy klimpert mit den Wimpern.

»Lassen Sie mich erklären. Sie haben keine bösartigen Zellen im Körper. Vielmehr attackieren Ihre Antikörper Ihre Blutzellen. Ihr Immunsystem behandelt das Knochenmark wie einen Virus. Leider wissen wir nicht, warum.«

Ich bin also plötzlich selbst mein schlimmster Feind.

Der Vampir, der mir das Blut aussaugt – das bin ich.