Der Kongreß - Uwe Jochum - E-Book

Der Kongreß E-Book

Uwe Jochum

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Beschreibung

Alle vier Jahre findet in Berlin ein Bibliothekskongreß statt, auf dem sich die deutschen Bibliothekare versammeln, um Fachvorträge zu hören, ihre Karriere zu befördern und den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Bibliotheken (DGB) im Amt zu bestätigen. Diesmal aber ist es anders: Der langjährig-konkurrenzlose Vorsitzende sieht sich mit einer Gegenkandidatin konfrontiert, die ihn aus dem Amt drängen will. Wie das zugeht, wer wen unterstützt, wer welche Leichen in welchem Keller hat und wer schließlich gewinnt, das alles erfährt, wer sich ans Lesen dieses vergnüglichen Buches macht, in dem alles erfunden und dennoch so lebensecht ist, wie es nur sein kann.

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Inhaltsverzeichnis

IMPRESSUM

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Epilog

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Über den Autor

Uwe Jochum

Der Kongreß

ein Gesellschaftsroman

IMPRESSUM

Copyright © 2022 Uwe Jochum

Alle Rechte vorbehalten.

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.

Übereinstimmungen mit bereits verstorbenem oder noch lebendem Personal

wären daher der pure Zufall.

Einbandgestaltung von Uwe Jochum

unter Verwendung eines Bildes von Maurice Müller auf Pixabay:

https://pixabay.com/de/users/mauricebmueller-834210/

Uwe Jochum | Gartenstraße 74 | 78462 Konstanz

https://uwejochum.github.io/5artikel/

[email protected]

Kapitel I

Tizian Kügele ist nicht der Held dieser Geschichte. Na gut, er kommt in ihr immer wieder vor, aber das gilt von anderen Personen auch. Daß er am Anfang steht, hat einen einfache Grund: Ich mußte mit irgendwas und irgendwem anfangen — erstens —, und zweitens ist Tizian Kügele ein derart skurriler Name, daß er in seiner Skurrilität für den Anfang so schlecht gar nicht ist. Von wegen Aufmerksamkeitswert. Und mal ehrlich: Der Name ist so abstrus, daß kein Autor dieser Welt sich sowas ausdenken kann. Bei der großen Ehre meiner erfindungsreichen Autorschaft versichere ich der geneigten Leserin und ihrem mitlesenden Lebensabschnittspartner daher: Der Name ist echt, genauso wie die hinter dem Namen stehende Person.

Mein Freund Jonathan Lottmann sagte mir neulich: »Schreib doch mal was Wahres. All das zusammengeflunkerte Zeug will doch kein Mensch mehr lesen, schon deshalb nicht, weil die Wahrheit viel spannender ist als jede Fiktion.« Jonathan muß es wissen. Er ist nämlich Latinist, d.h. er hat mehr als nur eine Ahnung vom Ablativ, er kennt den Unterschied von Gerundium und Gerundivum, und er versucht seit nun bald dreißig Jahren diese Dinge in die Köpfe junger Studenten hineinzubringen, mit bescheidenen und in den letzten Jahren drastisch zurückgehenden Erfolgsquoten.

Was nicht die Schuld Jonathans, sondern darauf zurückzuführen ist, daß die jungen Leute auf den Schulen immer mehr hippe Sachen lernen sollen, ihnen aber keiner mehr die Grammatik beibringt, die deutsche nicht und eine andere schon gar nicht. Und wenn sie dann in Jonathans Lateinkurs sitzen, stellen sie fest, daß sie nur Bahnhof verstehen, wenn von einer Apposition, einer Beifügung, die Rede ist, einem transitiven Verb, einem Konjunktiv der indirekten Rede undsoweiterundsofort. Kein Wunder also, daß Jonathan im Laufe seines Latinistendaseins zum Realisten gereift ist. Will sagen: Er hält zwanzigjährige Studenten nicht per se für die künftige Elite unseres Landes, und er hält Türkendeutsch nicht für den in Recklinghausen zugelassenen Dialekt. Und weil er also Leistung und ein korrektes Hochdeutsch verlangt, fallen bei ihm in schöner Regelmäßigkeit neunzig Prozent der hoffnungsfrohen Jungakademiker durch die Lateinprüfung. Das ist dem Rektor der Hochschule, an der Jonathan latinisiert, durchaus ein Dorn im Auge, weshalb Jonathan jetzt begründen muß, warum bei ihm die Durchfallquote so hoch ist; und außerdem soll er ausführen, was er zu tun gedenke, um ebendiese Durchfallquote zu senken.

Das alles hat mit der Geschichte, die ich eigentlich erzählen will, womöglich nicht sehr viel zu tun, erklärt aber, warum Jonathan, als Realist, der Wahrheit so unbedingt den Vorzug gibt. Wahrheit, so sagt er stets, sei ein Wert an sich und müsse unbedingt verteidigt werden, auch gegen Hochschulrektoren. Und also verteidige auch ich die Wahrheit, wenn ich sage: Der Name Tizian Kügele ist echt. Und die Person, die zu diesem Namen gehört, auch.

Ich weiß, auf der Rückseite des Titelblatts steht ein »Disclaimer«, wie unsere angelsächsischen Freunde das nennen. Und der »Disclaimer« sagt: Alle Personen und Namen in diesem Buch seien frei erfunden und Übereinstimmungen mit (noch) lebendem Personal der pure Zufall. Lieber Leser: Die Rechtsabteilung meines Verlages wollte das so. Als ich nämlich meinem Lektor das Manuskript gab, rief er stante pede bei Marcel Reich-Ranicki an, um ihn um Rat zu fragen. Das ist schon länger her, denn mein Lektor fragte selbstverständlich den damals noch lebenden RR um Rat. Und was soll ich sagen? RR war begeistert. Aber er rührte sich dann nicht, und als er verstarb, war in seinem Nachlaß das Manuskript monatelang nicht zu finden. Und nun fragst du mich als Autor: Hast du denn keine Kopie deines Manuskripts auf deinem Computer gehabt? Lieber Leser, ich bin doch nicht blöd!

Natürlich hatte ich eine Manuskriptkopie auf meinem Computer, sozusagen die Originalkopie, denn in der Computerei gibt es ja nur Kopien. Aber wie’s der Schreibteufel will, gab just in der Woche, nachdem ich meinem Lektor das Papiermanuskript gegeben hatte, die Festplatte meines Rechners den Geist auf, und ich saß da vor einem Häufchen Datenschrott. Und nein: Ich hatte die Daten nicht irgendwo »in der Cloud« als Backup gespeichert. Wo kämen wir denn da hin, wenn der amerikanische Geheimdienst noch vor meinem Lektor das Buch lesen würde? Der würde davon eine miese amerikanische Übersetzung herstellen lassen — fahnenflüchtige deutsche Akademiker, die für ein paar Dollars alles machen, gibt es in den USA ja genug —, und dann würde das Richard Ford zugespielt werden, und der bekäme für meinen Text dann den Literaturnobelpreis.

Also gut, das Manuskript tauchte dann zwei Jahre später in einer Entrümpelungsfirma, die bei den Reichs und Ranickis gewütet hatte, wieder auf und wurde mir postalisch zugestellt, ein ziemlich zerfledderter und stinkender Haufen Papier, aber doch immerhin ganz klar mein Haufen. »Ich scheiß die größeren Haufen«, sagt der Scout in den »City Slickers«. Also habe ich den ganzen Haufen fein säuberlich abgetippt, auf einem neuen Laptop, habe ein paar Unebenheiten glatt gemacht, und dann ging das wieder an meinen Lektor, der nun aber RR nicht mehr fragen konnte und Farbe bekennen mußte: Toller Text, ganz wunderbar geschrieben, er brenne für das Sujet, aber es sei doch viel zu riskant, einen Roman auf den Markt zu bringen, in dem sich so viele Leute sofort erkennen würden. Also haben wir uns darauf geeinigt, daß ich ein paar Namen ändere und ein paar falsche Spuren lege, und die Rechtsabteilung des Verlages hat dann gesagt, der »Disclaimer« müsse diesmal aber besonders gut sichtbar sein. Sicher ist sicher, sagten die Anwälte. Aber der »Disclaimer« ist natürlich viel fiktiver als alles, was sonst in diesem Buch steht, weshalb es mir eine Freude ist, euch, edle Lesende, allerreinsten Wein einzuschenken und die Wahrheit zu bekennen: Tizian Kügele hat nicht nur gelebt, sondern weilt als Lebender mitten unter uns, wenn auch inzwischen im Ausland. Aber was soll’s: Er ist auch als Auslandsbibliothekar so echt wie du und ich.

Kapitel II

Wie Tizian Kügele zu seinem Namen kam, weiß ich nicht. Wer weiß schon, was in den Köpfen kopulationsfreudiger Eltern vorgeht? Ich jedenfalls weiß es nicht, und ich hatte auch keine Lust, den ganzen Familienhintergrund zu recherchieren, denn Tizians Eltern lebten ja noch vor dem Internetzeitalter, haben also praktisch keine digitalen Spuren im Netz hinterlassen, so daß ich alles erst mühsam durch Reisen zu den Wohnorten der Familie Kügele hätte herausfinden müssen, Gespräche mit den hoffentlich noch lebenden Nachbarn, mit den Vermietern, Durchsicht der Archivexemplare diverser lokaler Tageszeitungen… Alles viel zu umständlich. Und auch in keinem Verhältnis zu der Geschichte stehend, die ich eigentlich erzählen will. Also lassen wir das mit der Herkunft des Namens und der Herkunft der Familie und stellen uns einfach vor, Papa oder Mama Kügele sei ein Tizian-Fan gewesen. Ich meine natürlich nicht, sie seien ein Fan ihres Sohnes gewesen, sondern Fans dieses spanischen Malers. Und warum auch nicht? Es gibt Schlimmeres: All die Uwes (wegen Uwe Seeler), all die Boris’ (wegen Boris Becker), all die Swetlanas (wegen der bosnischen Pflegekraft für die Oma, die dann den Papa pflegerisch beglückt).

Wechseln wir also vom Gebiet der Vermutungen auf das Gebiet der harten Fakten. Tizian Kügele studierte in den 1980er Jahren Kunstgeschichte, weil er sich damals noch für musisch und einen Bohemien hielt, der in den Studentenkneipen dadurch zu punkten versuchte, daß er neben dem Humpen Pils ein Buch von Vasari auf dem Tisch liegen hatte. Das hat aber niemanden interessiert, auch die Mädels nicht, weshalb Tizian im Laufe seines Studiums immer sauertöpfischer und ehrgeiziger wurde. Er hat dann tatsächlich promoviert, nicht über Vasari, sondern über einen vergessenen griechischen Maler, von dem keine zehn Bilder weltweit in irgendwelchen Kleinstmuseen hängen, und natürlich wollte die Promotion dann auch kein ordentlicher Verlag drucken, weshalb er die für die Promotionsurkunde notwendigen Belegexemplare in einem Copyshop ganz billig vervielfältigen ließ, um sich so schnell wie möglich mit dem Doktortitel schmücken zu können. Denn er hatte inzwischen erkannt: Ein Titel macht was her.

Was macht man dann aber, wenn man kein Gymnasiallehrer werden will und zum Lottospiel um einen Professur keine Lust hat — mal abgesehen davon, daß man dann nach der ungedruckten Dissertation eine noch undruckbarere Habilitationsarbeit zusammenzimmern müßte? Richtig, ein Kunsthistoriker, der all das nicht will, wird Bibliothekar im höheren Dienst an einer Hochschulbibliothek. Das zweijährige Referendariat, das man dafür absolvieren muß, ist für leidgeprüfte Kunsthistoriker, denen die Arbeitslosigkeit seit dem ersten Semester im Nacken sitzt, ein Klacks, und wenn man dann noch ein wenig Glück hat, winkt eine schöne Beamtenstelle, auf der man das einst intendierte Bohemeleben auf Staatskosten fortsetzen kann.

Das alles ist wahr und wird ein wenig langweilig, ich weiß. Aber was will man machen, wenn man absolut Wahres schreiben will? Nun, ich bin ja ein einsichtiger Autor und will’s meinen Lesern nicht allzu schwer machen. Kürzen wir daher ab: Tizian Kügele wurde also Bibliothekar, stellte fest, daß sein bißchen Ehrgeiz den seiner Bibliothekarskollegen um ungefähr eintausend Prozent überstieg, weshalb unser Freund zu seinem eigenen Erstaunen rasend schnell Karriere machte: Er fing an als Fachreferent für Kunstgeschichte, wurde schon bald Leiter der Benutzungsabteilung, ging dann von Bamberg, wo er diese schnelle Schrittfolge vorgelegt hatte, nach Bonn, wo man ihn als stellvertretenden Bibliotheksdirektor haben wollte, und von dort aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt für ihn — aber ein großer Schritt für die Menschheit —, als er leitender Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek Passau wurde. Dort hat ihn sein Ehrgeiz freilich nicht festhalten können, und längst ist er ins Ausland entschwunden, auf einen noch höher dotierten Posten. Aus jeder Bibliothek, die er verließ, hörte man erleichtertes Seufzen, und dennoch gelang es ihm, sich als einen dermaßen dynamischen wise guy zu verkaufen, daß ihn jede Bibliothek, an die er wechselte, mit offenen Armen willkommen hieß. So geht’s, wenn man sich die Amtsleiter vorher im Auswahlverfahren schönsäuft. Aber ich vergesse mich und beende das Kapitel, bevor die Rechtsabteilung wieder Zicken macht.

Kapitel III

Ich hatte ja sowieso von den harten Fakten reden wollen. Reden wir also über die wirklich wichtigen harten Fakten im Leben unseres Tizian Kügele. Reden wir, um den Leser nicht wieder zu langweilen, von der kondensierten Form dieser harten Fakten, reden wir von Johanna Lauter.

Johanna Lauter war lange Zeit so etwas wie das Boxenluder des deutschen Bibliothekswesens. Für diese Aufgabe hatte sie sich durch ein Studium in Heidelberg und Konstanz qualifiziert, wo sie für irgendwas Schickes eingeschrieben war, was uns hier nicht weiter kümmern muß, weil es auch Johanna nicht weiter gekümmert hat. Denn sie kümmerte sich viel lieber um irgendwelche Professoren und war daher in Heidelberg längere Zeit die Bettgenossin des bekannten Soziologen Hans Albers, der ein ebenso bekanntes Faible für schmalbrüstig-junge Exemplare des weiblichen Geschlechts hatte. Nach der erfolgreichen Zwischenprüfung ging sie nach Konstanz und legte sich dort zu dem Slavisten Humprecht ins Bett, einem Lebemannn und passionierten Zigarrenraucher. Solcherweise wird man unter den die Dinge beobachtenden Kommilitonen natürlich nicht unbedingt ein Hit. Aber auch sonst wurde es für Johanna mit der Zeit schwierig, denn dank ihres ausschließlich kapazitätsbezogenen Vögelns verscherzte sie es sich auch bei allen universitären Nichtkapazitäten (also der Mehrheit der Professoren, dem akademischen Mittelbau, den Habilitanten und Doktoranden). Und so mußte sie schließlich erkennen, daß unter diesen Umständen eine Karriere in der universitären Wissenschaft von Monat zu Monat unwahrscheinlicher wurde.

In dieser Situation hatte der Zigarrist Humprecht eine zündende Idee: Da ihm Johanna auf die Dauer nun doch zu sehr am Hosenlatz hing und er sie gerne wieder losgeworden wäre, traf es sich gut, daß man in Baden-Württemberg drei Referendare für das Bibliothekswesen suchte, und es traf sich noch besser, daß Humprecht, der mit dem Karlsruher Bibliotheksdirektor Eggmann aufgrund gemeinsamer Zigarreninteressen befreundet war, diesen davon überzeugen konnte, für Johanna beim Ministerium ein zeugnishaft gutes Wort einzulegen und sie also als Referendarin zu empfehlen. Die in Baden-Württemberg für das Referendariat geforderte Promotion erarbeitete sich Johanna in großer Eile, dabei die diversen hilfreichen Spezldienste ihrer verflossenen und noch laufenden Kapazitäten nutzend. Und an einem schönen klaren ersten Oktober des Jahres 1993 (oder war es ein anderer erster Oktober der frühen 1990er Jahre?) war Johanna Lauter Bibliotheksreferendarin im Land Baden-Württemberg.

Da hatte sie nun ein Biotop gefunden, in dem sie dank ihres hervorragenden Talents für liegende Tätigkeiten rasch die Karriereleiter nach oben kletterte, bis sie jene finale und maximale Position erreicht hatte, bei der ihre final-maximale Inkompetenz aufs schönste zutage trat. Mit anderen Worten: Sie zeigte sich als die Null, die sie immer schon gewesen war und deren Wert sich variabel aus der Zahl ergab, an die sie sich dranhängte. Und so endete sie karrieretechnisch nicht als Bibliotheksdirektorin, wie gehofft, sondern als Leiterin der Benutzungsabteilung der Landesbibliothek Detmold.

Der Teutoburger Wald und die erreichte Position waren nun aber nicht das, womit sich Johanna zufrieden geben wollte. All der Einsatz, den sie gezeigt hatte — wegen Detmold? Sie sagte sich also: »Da muß noch was gehen.« Und tatsächlich ging da noch was, und zwar so.

Bibliothekare führen auf Leitungsebene ein einsames Leben und tendieren daher dazu, sich mit anderen Leitungseinsamen zusammenzutun, um als Leitungsrudel gemeinsam die Einsamkeit zu überheulen. Der Ort der Rudelbildung variiert nun zwar, aber zumeist trifft man sich auf einem Bibliothekartag. Das ist — ich werde darüber noch ausführlich zu schreiben haben — eine Mischung aus überdimensioniertem Workshop zwecks Ausbildung spezieller bibliothekarischer Kompetenzen, die außerhalb des Bibliothekswesens kein Mensch für Kompetenzen hält, sondern für Selbstdarstellungsballett — nun also: eine Mischung aus überdimensioniertem Workshop und Ball der Einsamen Herzen, begleitet vom Heulen der Leitwölfe. Und da sagte sich Johanna: »Das ist mein Ding!« Nämlich nicht das Leitwolf-Werden auf direktem Weg,womöglich durch Kompetenz — diese Gabe hatte ihr der liebe Gott nunmal verweigert. Sondern das Leitwolf-Werden durch Leitwolf-Mitheulen auf indirektem Weg, unter sehr direkter Ausnutzung der ihr von Gott geschenkten Gabe. Kurz und gut, Johanna fuhr ab sofort von Detmold aus zu jedem Bibliothekartag von Kiel bis Konstanz und von Aachen bis Frankfurt an der Oder — um was zu tun? Nun ja, sie rudelte sich erwartungsgemäß durch die diversen Bibliothekartage, immer auf der Suche nach einem Wolf in höchster Position.

Und da bei Gott kein Ding unmöglich ist und ich hier schon seit einigen Sätzen ins Theologische gefallen bin, sei es also gesagt: Gott erhörte Johanna und offenbarte ihr Tizian Kügele, der in all seinem Ehrgeiz bislang gar nicht gemerkt hatte, daß ihm etwas Menschliches fehlen könnte, nun aber, in der Begegnung mit Johanna Lauter, überrascht feststellte, daß er sich morgens irgendwie besser fühlte, leichter, lockerer, beschwingter, jugendlicher — menschlicher allerdings nicht unbedingt, denn Menschen wie Tizian Kügele und Johanna Lauter werden ja keineswegs menschlicher, wenn sie Menschliches tun. Aber es reichte doch, damit Johanna und Tizian ein Paar wurden, was in diesem wie in vielen ähnlichen Fällen heißt: Sie wurden eine Zugewinngemeinschaft, bei der Johanna dank Tizian die Position gewann, die sie ohne ihn niemals gewonnen hätte; sie wurde nämlich Bibliotheksdirektorin à l’autrichienne, das heißt sie wurde Frau Bibliotheksdirektor Kügele, behielt freilich ihren Mädchennamen bei (man kann ja nie wissen); und er, der gute Tizian, gewann einen Antriebsmotor, der seinen Ehrgeiz anwarf, sobald der auch nur das geringste Schwächeln zeigte. Und so sprang er dank Johannas körperbetontem Einsatz in jugendlicher Dynamik auf der Karriereleiter eine weitere Sprosse empor, die ihn nun zwar nicht in den Himmel führte, wohl aber, ich schrieb das ja schon, ins Ausland, was, von Passau aus gesehen, ja fast dasselbe ist.

Kapitel IV

Bevor ich über den Berliner Bibliothekartag schreibe — der offiziell ein »Bibliothekskongreß« ist —, muß ich freilich noch das Personal, das dort eine Rolle spielt, vervollständigen.

Auftritt also Andrea Nash, geborene Engländerin, aus einem Ort, der klang wie eine amerikanische Automarke, Plymouth oder so ähnlich. Ihr Vater war Versorgungsoffizier der britischen Streitkräfte gewesen, jedenfalls jenes Teiles, den es nachkriegsweise in das dickschädelige Ostwestfalen verschlagen hatte. So war sie als junges Ding nach Deutschland gekommen, blieb aber in ihrem Herzen — ich weiß, viele meinen, sie habe ein solches Organ gar nie besessen, sondern nur über eine zweckentfremdete Luftpumpe verfügt — jenen aus England mitgebrachten Nationleigenschaften treu, die einst Oscar Wilde so schön besungen hatte und die auch bei Marcel Proust auf viel Gegenliebe gestoßen waren. Doch davon später.

Jetzt wollen wir nur dies festhalten, daß Andrea Nash von Kindesbeinen an stinkefaul war. Das einzige, was sie wirklich zu interessieren schien, war das Herumkommandieren, wie sie es im Regiment ihres Vaters Tag für Tag beobachten konnte. Jedenfalls sah man sie nachmittags und abends in ihrem Spielzimmer auf dem Boden sitzen, um sich herum eine kleine Armee von Zinnsoldaten, denen sie geist- und sinnfreie Befehle erteilte, über die die auf Besuch weilende Verwandtschaft sich freilich entzückt zeigte. »Schau doch«, hieß es da, »ist sie nicht süß, wie sie dem kleinen Liniensoldaten sagt, er müsse dem Korporal den Hintern wischen, andernfalls er geköpft werde. Oder gestern, das war noch vieieiel süüüßer, da gab sie dem Unteroffizier den Befehl, er müsse die Kanoniere dezimieren!« Und dann fragten sich die Kuchen essenden und Tee trinkenden Onkels und Tanten beglückt, von welcher Familienseite die Kleine das wohl habe.

Später dann, in der Volksschule, die damals noch nicht zur Grundschule verkommen war, machte sich Andrea einen Spaß daraus, die schwächeren Kinder zu drangsalieren und dadurch von deren Leistung zu profitieren. Wie sie das machte? Nun, das war recht einfach.

Zum einen war Andrea ein reichlich schwergewichtiges Kind, was damals noch nicht die Regel, sondern die Ausnahme war. Denn dank ihrer Faulheit war sie sich zu fein dafür, von A nach B auf eigenen Beinen zu gehen, ließ sich daher anfangs gerne tragen, später im Kinderwagen herumfahren, und noch später ließ sie sich von den anderen Kindern auf dem Tretroller oder dem Fahrrad schieben, und so kam es, daß sie mangels Eigenbewegung auch nach dem Babyspeckalter im vollsten Babyspecksaft verblieb: mit Pausbäckchen, fleischiger Nase, dickem Hals, mit Oberarmen, die die Kindversion von Witwenflügeln aufwiesen, aus der später dann ohne weitere Metamorphose die Erwachsenenversion derselben wurde. Und dann war da noch der dicke, fette Bauch, der stets größer war als das, was ihr ab der Pubertät als Busen wuchs, zwei kleine Pflaumen, die von Anfang an schlaff herunterhingen und sich auf der Oberbauchfalte ausruhten. Unterhalb dieser drallen Masse wölbten sich zwei Hinterbacken, für die das Wort »dick« bei weitem nicht ausreicht. Es handelte sich bei ihr um eine beidseits des Leibes ausladende Fett- und Gewebemasse, die jeden, auf den sie sich frontal zubewegte, in Angst und Schrecken versetzen mußte, zumal sie, wenn sie sich denn einmal bewegte, das mit aneinanderreibenden Elephantenoberschenkeln tat, die in fleischigen und kaum in Schuhe zu zwängenden Füßen ausliefen, mit denen sie sich auf dem Boden patschend bewegte. Möglicherweise hätte Platon in all dem seine helle Freude gehabt, sofern er in der Lage gewesen wäre, in dem, was da auf ihn zurollte, die runde und in sich geschlossene Urgestalt des Menschenwesens zu sehen, noch vor seiner hälftigen Trennung in Mann und Frau und folglich vor dem Aufkommen des Begehrens, der Sehnsucht und der Liebe, die uns zu dem macht, was wir sind und sein können. Sonst aber fällt mir niemand ein, der die Begegnung mit diesem Wesen nicht als Konfrontation erfahren hätte; und das gilt eben auch schon für Andrea Nashs Mitschüler, die früh erfahren durften, wieviel Drangsalierungspotenzial in ihr steckte.

Zum andern aber zögerte Andrea Nash nicht, ihre körperlichen Sumoringereigenschaften technisch zu erweitern. So hatte sie schon in der zweiten Klasse entdeckt, daß ein Lineal eine vorzügliche Schlagwaffe abgab und ein Zirkel eine exzellente Stichwaffe. Und so faul sie auch war, sie war wendig genug, um ihre Waffenkompetenz stets über dem Niveau ihrer Mitschüler zu halten. Im Gymnasium erst recht, wo sie dem soften Ulf einfach in die Eier trat, als der mal nicht so wollte wie sie, und wo sie dem bekifften Gerhard den Joint auf der Backe ausdrückte. Das alles war noch vor der Zeit, als die Kinder wegen solcher Dinge greinend nach Hause gelaufen kamen und die Eltern einen Anwalt engagierten; damals machten die Schüler das noch unter sich aus, und Andrea konnte daher ungestört von den Interventionen Erwachsener ihre diabolischen Gelüste entfalten. Naja, es war im Grunde nur ein Gelüst, nämlich ein überbordendes Maß von Bosheit, mit der sie ihre selbstsüchtigen Ziele verfolgte, die wiederum eigentlich auf nur ein Ziel zusammenschnurrten: die Menschen, denen sie begegnete, zu Instrumenten ihres Eigenwillens zu machen, der nur eines wollte, nämlich daß die anderen taten, was sie wollte. Dabei setzte sie anfangs auf die etwas groben Instrumente von Lineal und Zirkel, später dann auf die feineren Instrumente von Lüge und Intrige, die sie vor sich selbst und anderen »Taktik« und »Strategie« nannte.

Das waren also die Mittel, die sie benutze, um sich die Leistung anderer anzueignen, sich in der Schule die Hausaufgaben durch einen gequälten Mitschüler schreiben zu lassen oder im Studium von den kleinen Durchstechereien anderer zu profitieren. Natürlich waren das keine Methoden, um eine gute Schülerin oder eine gute Studentin zu werden. Darauf kam es ihr aber auch gar nicht an. Sie wollte nur durchkommen, mit möglichst wenig Aufwand, aber so, daß es dann auf der nächsthöheren Stufe möglichst reibungslos weiterging. Dabei kam ihr einmal der Umstand zu Hilfe, daß sie im Rahmen eines studienbegleitenden Praktikums acht Wochen an der Universitätsbibliothek Lüneburg arbeiten mußte und dort feststellte, daß sämtliche Bibliothekare aller Laufbahnen, Weiblein wie Männlein, weich und unterwerfungswillig waren. Andrea zog daraus den Schluß, daß sie als faules Stück nur den Beruf des Bibliothekars einzuschlagen brauchte, um in dieser Umgebung ihren Eigenwillen vollständig ausleben zu können und dabei dank bewährter Mittel in eine so hohe Position zu gelangen, daß allen anderen gar nichts anderes übrig bliebe, als ihr Achtung entgegenzubringen. Ach, wer weiß: vielleicht sogar Liebe. Denn auch der Teufel träumt eine Ewigkeit davon, einmal in seinem Leben für einen Engel gehalten zu werden.

Kapitel V

Das alles ist reichlich unerfreulich, weshalb ich jetzt doch lieber auf Ottilie Mittler zu sprechen komme, der Frau mit den vier ts. Sie hätte von allen Figuren in dieser Geschichte die unwirklich-romanhafteste sein können, wenn sie nicht so ganz weltlich und gewöhnlich gewesen wäre: Sie war etwas größer als der Durchschnitt, aber ihr breites und gebärfreudiges Becken sorgte dafür, daß ihr Körper auf halbem Weg zwischen unten und oben in die Breite gezogen wurde und dadurch optisch an Größe verlor. Zu diesem optischen Größenverlust trug der auf kurzem Hals sitzende Bubikopf bei, dessen früh ergrautes Haar ihr ein etwas abgestandenes Alter verlieh, ein Eindruck, dem sie mit viel Sport entgegenarbeitete: Mountain-Climbing, Para-Gliding, Rutschbahn-Rutsching und anderes dieser Art.

So groß und stark und breithüftig war sie, daß es für jedes Kind dieser Welt eine Freude gewesen wäre, von Ottilie geboren zu werden. Das hätte, man kann es nicht anders sagen, geflutscht. Aber es hatte niemals geflutscht und würde niemals flutschen, weil sich Ottilies breiter Geburtskanal an seinem vaginalen Anfang sehr beharrlich der Aufnahme des männlichen Geschlechts verweigerte.

Dr. Engelhart von der Rechtsabteilung rief gerade an und meinte, ich solle das so nicht schreiben. Ich erklärte ihm, daß ich das aus streng künstlerischen Gründen genau so schreiben müsse, und wenn die gute Alice in ihrem Kampfblatt schreiben würde, daß ich, nun ja, eine chauvinistische Schreibtischsau sei (sie würde das natürlich anders formulieren, damit Dr. Engelbart nicht bei ihr anrufen würde), dann könne sie mich mal kreuzweise. Engelheart versuchte daraufhin, mich zu beruhigen, aber ich mußte erstmal aufs Klo. Ich muß immer aufs Klo, wenn ich mich aufrege. Ich bin nämlich sensibel.

Das kann man von Ottilie nun gewiß nicht sagen. Sie war mehr so der Holzfällertyp: draufhau’n und schau’n, was übrigbleibt. Sie studierte daher konsequenterweise Forstwirtschaft und promovierte — die Realität macht ja ihre ganz eigenen Scherze — über Tannenzapfen. Danach war guter Rat teuer, denn Deutschland steht zwar voller Wälder, braucht aber keineswegs für jeden Baum einen Förster, weshalb es in Ottilies kleinem Kopf mächtig zu arbeiten begann, bis sie entdeckte, daß es Holz nicht nur in Wäldern, sondern in etwas unfrischerer Form auch in Bibliotheken gab, die, das traf sich damals gut, ihren Nimbus als Pflegeanstalten des Geistes partout loswerden wollten und eifrig nach allem die Hände reckten, was an der geistesabgewandten Seite des Lebens zu liegen schien, meinetwegen auch im Wald. Und so griff man zu, als Ottilie sich etwas ahnungslos in der Universitätsbibliothek Bonn blicken ließ, um sich dort nach einem möglichen Beruf umzutun: Sie verließ das Haus als Referendarin für den Höheren Bibliotheksdienst und wurde dann wegen ihres ungewöhnlichen Studienfaches begeistert durch alle Referendariatsstationen geschoben, um als Bibliotheksrätin an der Universitätsbibliothek Lüneburg zu landen.

Der Leser dieser Seiten wird sich kaum noch an Lüneburg erinnern. Es erinnern sich ja nicht einmal die Lüneburger an Lüneburg. Das ist schade, denn Lüneburg war jener Ort, an dem Andrea Nash ein Licht aufgegangen war: Sie hatte dort verstanden, daß man im Bibliothekswesen sozusagen mit nichts Karriere machen könne. Zu ergänzen ist nun an dieser Stelle unserer Geschichte, daß Andrea Nash in Lüneburg noch ein anderes Licht aufging: Sie stellte fest, daß ihr Männer, die sie in ihrem bisherigen Leben sowieso keines Blickes gewürdigt hatten, viel zu fordernd waren und daß man ganz gut fuhr, wenn man die eigene sexuelle Faulheit und Bindungsunlust als zarte Blüte des Lesbierinnentums darstellte. Auf diese Idee hatte sie während ihres Lüneburger Praktikums Ottilie Mittler gebracht, die trotz ihrer breiten Größe und Körperkraft ein unsicheres Wesen war, das sich nach der männlich-festen Liebe einer Frau sehnte. Und Andrea, die mit einem Blick erkannt hatte, daß in Ottilie einer ihrer Zinnsoldaten zum Leben erwacht war, zögerte keinen Wimpernschlag, Ottilies Sehnsucht zu befriedigen.

Das Ergebnis der sich daraufhin einstellenden Zweisamkeit war eine erstaunliche Doppelkarriere. Andrea Nash stieg auf, indem sie sich das stets neueste Managementkleid anzog, das nun zwar ein dünner Fetzen Stoff war, aber doch immerhin dicht genug gewebt, um ihre wahren Absichten zu verbergen: mit Zirkel und Lineal, mit Lüge und Intrige ihre Ziele durchzusetzen, also ihr beschädigtes Ich als ein alle und alles beschädigendes Ich auszuleben und ihre diabolische Selbstinszenierung als Restrukturierung, Modernisierung, Synergetisierung und was weiß ich noch alles zu verkaufen. Es gehört zu den größten Seltsamkeiten dieses und aller Menschenalter, daß so etwas nach oben hin als Erfolg darstellbar ist, wahrscheinlich deshalb, weil nach oben hin — anders als das Bild suggeriert — nicht der klare Geist zunimmt, sondern der trübe Ungeist.

Und auch Ottilie Mittler stieg auf, nicht auf der Parabel des Ungeistes, sondern auf der kurzen Geraden der Unfähigkeit. Denn wo auch immer sie hinkam, benötigte sie wenig mehr als ein Jahr, um dank absoluter Entscheidungsschwäche, intellektuellem Unvermögen und grotesk übersteigertem Selbstvertrauen ein absolutes Chaos anzurichten, bis am Ende die Bibliotheksorganisation schier ruiniert war. Schließlich blieb auch Ottilie nichts anderes übrig, als das Chaos zu bemerken, aber sie zog daraus nicht den Schluß, daß dagegen nun etwas zu tun sei, sondern ganz im Gegenteil überzeugten sie die anfangs von ihr nicht bemerkten unhaltbaren Zustände davon, die von ihr betroffene Einrichtung so schnell wie möglich zu verlassen. Und da wir die Zeit um die Jahrtausendwende schreiben, war man allgemein von der millenniaristischen Vorstellung umgetrieben, daß das Tausendjährige Reich Der Besseren Frauen unmittelbar bevorstehe, wenn man nur möglichst viele Frauen in Leitungspositionen bugsiere. Und so wurde Ottilie nach jedem glanzvollen Scheitern eine glänzende Stufe weiter oben plaziert, an einer anderen Bibliothek freilich, an der sie als Bewerberin froh und frisch und selbstüberzeugt aufgetreten war und den Eindruck hinterlassen hatte, sie würde als bibliothekarische Försterin das organisatorische Unterholz ausdünnen, um die noch zarten Stämme des Erfolgs dick und fett werden zu lassen. Aber ach, mit Ottilie Mittler kamen Unkraut und Efeu, die binnen kurzem den hoffnungsfrohesten Jungwald erstickten.

Kapitel VI

Wenn man über Berlin, den Ort des Bibliothekskongresses, etwas sagen will, muß man zuvor etwas über Wien sagen. Das meint jedenfalls mein Freund Jonathan Lottmann, der seine Latinistik inzwischen in Wien betreibt, und zwar als Professor. Das kam so.

Als der Rektor der Hochschule, an der Jonathan als akademischer Oberrat jungen Menschen die Grundzüge der lateinischen Sprache beizubringen versuchte — der begabte Leser hat natürlich schon längst bemerkt, daß ich, der ich jeden Namen nenne, um Dinge und Lebewesen ins Sein zu rufen, den Rektor und die Hochschule, die hier gemeint sind, nicht mit Namen nenne und ihnen also das wirkliche Sein verweigere —, als nun also unbesagter Rektor von Jonathan eine Begründung dafür haben wollte, warum bei Jonathans Lateinklausuren die Durchfallquote mit neunzig Prozent so hochschuluntypisch hoch war — sonst erhielten ja neunzig Prozent der Studenten bei den Prüfungen Bestnoten —, also gut, das wird alles zu umständlich und lang, darum jetzt also die Kurzversion: Jonathan stanken Rektor und Hochschule derart, daß er zugriff, als die wirklich exzellente Universität Wien ihm einen Ruf zurief. Natürlich hatten die Wiener die Professorenstelle ordnungsgemäß weltweit ausgeschrieben und damit die auch in Wien geforderte Internationalität des Personals ausschreibungstechnisch erfolgreich simuliert. Das hinderte die klugen Wiener freilich nicht, bei Jonathan anzurufen und ihm zu erklären, er sei der Mann ihrer Wahl, ganz klar, auch als Piefke, man sei ja nicht stur, denn sein Buch über die »Consecutio temporum« sei mit seinen vierhundert Seiten nunmal das Solideste zu diesem eminent wichtigen Thema, undsoweiter undsofort.

Ein deutscher akademischer Oberrat, der in Wien Professor werden soll, hat allerdings ein Problem. Nämlich das Problem, daß der universitäre Aufstieg — Professor statt Oberrat, Weltstadt statt deutsche Provinzstadt — mit einer Entbeamtung verbunden ist, denn Österreich hat vor vielen Jahren schon in einem landesweiten Anfall von Neoliberalismus alle Beamtenstellen abgeschafft. Das war für Jonathan, der eigentlich ganz gerne ein unkündbarer deutscher Beamter war und dem ja nur »sein« Rektor und »seine« verspannte Provinzhochschule gehörig auf den Zeiger gingen — das war für Jonathan wirklich ein Problem. Er stand ja eher schon am Ende seiner deutschen Beamtenlaufbahn, hatte folglich die Kennziffern, die für seine Pensionierung relevant waren, alle im Kopf, mindestens so klar und deutlich wie den Ablativ. Aber das Wunder des Rufes nach Wien konnte und wollte er nicht ignorieren, schon deshalb nicht, weil sich die hochschulweit für ihre schwarzlackierten Fingernägel bekannte Sekretärin des Rektors »seiner« Hochschule inzwischen darum bemühte, Jonathan zu einem Gespräch beim Rektor einzubestellen. Offenbar wollte ihm der Rektor persönlich Daumenschrauben anlegen und ihm den Stiefel zeigen, aus dem er bei fortgesetzter Insubordination den guten alten Schwedentrunk zu nehmen hatte — nicht dieses moderne Milchprodukt natürlich, sondern das im Dreißigjährigen Krieg erfundene Original. Jonathan behandelte das Gesprächsbegehren des Rektors dilatorisch, was erst die Sekretärin des Rektors und dann diesen selbst in Harnisch brachte und von Tag zu Tag die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß der Rektor dem friedliebenden Jonathan den Krieg erklärte. Daß es dazu nicht kam, ist das Verdienst von Barbara.

Barbara Rütten nämlich war Wienerin, und das auch noch aus Überzeugung. Und, ehrlich gesagt, wer Barbara Rütten sah, ließ von jeder eigenen Überzeugung ab, um sofort Barbaras Überzeugungen zu teilen. Diese Begabung zur Überzeugungsübertragung verdankte sich bei Barbara wie auch sonst im wahren und echten Leben nicht der unheimlichen Kraft des besseren Arguments, sondern der viel unheimlicheren Kraft ihres an den richtigen Stellen schwellenden Leibes. Ich kenne einige, die sehr gerne von Barbaras Brüsten erstickt worden wären. Sie allerdings war in diesem Punkt sehr eigen und keineswegs geneigt, alle zu ersticken, die da erstickt werden wollten. Aber sie war nicht einfach nur äußerst wählerisch, sondern sehr skurril-besonders, jedenfalls so besonders, daß sie, als sie im Café Central Jonathan sah, der gerade von einem Gespräch mit dem Dekan der philosophischen Fakultät kam und darüber nachdachte, ob er ein bundesdeutscher Beamter bleiben wollte, der »seinem« Rektor in den Arsch kroch, oder ob er doch lieber Wiener Professor im Angestelltenverhältnis werden sollte, den der bundesdeutsche Rektor im Arsch lecken konnte — nun ja, was man eben so denkt, wenn man im Café Central herumsitzt und auf die Figur von Peter Altenburg schielt, der dort in realitate und in effigie schon seit über einhundert Jahren herumsitzt und es sich wohl sein läßt — also gut: Jonathan schwankte zwischen Trübsal und Wut, als ihn Barbara da so sitzen sah und sich dachte: dem Piefke kann geholfen werden.

Genaugenommen dachte sie das in diesem Moment natürlich noch gar nicht, weil sie weder wußte, daß Jonathan ein Piefke war, noch, daß man ihm helfen müsse. Aber einige Kaffees später, nach Einspännern, Kapuzinern, Goldenen Schalen und anderem Braunen, schlugen ihrer beider Herzen derart heftig, daß dem Übel nur durch körperliche Aktivität beizukommen war, die nicht in Jonathans hellhörigem Hotelzimmer stattfand, sondern in Barbaras noch hellhörigerer Gemeindewohnung, nicht unbedingt zur Freude der Nachbarn, aber doch, das genügt ja, zur beiderseitigen erschöpften Zufriedenheit. Das nur, damit der geneigte Leser versteht, was Jonathan in Wien verloren hatte: seine Unschuld nicht, wohl aber sein Herz. Die Professur nahm er dann einfach noch mit.

Kapitel VII

Wien, sagt nun also Jonathan, der es inzwischen wissen muß, Wien ist eine Weltstadt. Und zwar geplant und gebaut für ein Reich, in dem die Sonne niemals nicht unterging, was dann ein bisserl übertrieben war, aber doch immerhin eine Reichsidee abgab, mit der eine hübsche Anzahl von Völkerschaften irgendwie zurechtkam. Also multikulti, bevor das Mode wurde, und das eben, sagt Jonathan, sei das Besondere an Wien, bis heute: Es ist nicht in Mode, sei noch nie in Mode gewesen und werde niemals in Mode sein. Und zwar deshalb, weil die Wiener einfach ihr Ding durchzögen. Das habe, meint Jonathan, Größe.

Berlin aber? Trotz der großen breiten Straßen, der großen breiten Bürgersteige und sonstiger großer Breiten nichts als provinzielle Kleinheit. Jonathan meint, das liege daran, daß sich Berlin permanent mit allem fülle, was der deutschen Provinz entkommen wolle, wodurch Berlin quasi zur deutschen Provinzhauptstadt werde. Und zwar zur deutschen Jugendprovinzhauptstadt. Denn wer auch immer denke, er sei noch jung und habe sein Leben noch vor sich, der gehe nach Berlin, um dort seiner wahren Bestimmung zu leben, also jung zu sein und zu bleiben und das Leben ein Lebenlang vor sich zu haben.

Natürlich finde dieser lebenslange Jungbleiber in Berlin rein gar nichts, nicht mal Arbeit, dafür aber eine große Zahl von solchen, wie er selber einer sei, also Leuten, die sich was darauf zugute hielten, daß sie auf der Suche seien, unablässig. Und wenn man sie dann frage, was sie so tun täten, täten sie sagen: Sie täten da an einem Projekt arbeiten, das sei noch nicht fertig, aber es sei ungeheuer spannend und so. Also im Grunde sei Berlin die Stadt der Aufschneider und Selbstdarsteller, der Gockel und Hühner, die den ganzen Tag aufgeregt mit den Flügel flatterten — aber niemals ein Ei legten. Das läge daran, daß in Berlin Gockel und Henne seltener zusammenkämen als andernorts, woran nicht die schiere breite Größe der Stadt schuld sei, sondern daß in Berlin die Gockel besonders schön sein wollten, die Hennen aber besonders fad ausfielen, mit dem Ergebnis, daß in Berlin eine große Zahl von Gockeln sich nichts aus den Hennen und eine ebenso große Zahl von Hennen sich nichts aus den Gockeln mache, sondern lieber unter sich bleibe. Und so sei Berlin, sagte Jonathan, das unfruchtbarste Fleckchen Erde, das er kenne.

Spätestens hier wird der geneigte Leser einwenden, was auch ich einwandt: daß Berlin aber doch in einigen seiner Bezirke, Mitte und Prenzlauer Berg, die bundesdeutsche Fruchtbarkeitsmetropole sei. Jonathan lachte: Alles zugezogene Schwaben, kondomfreie Protestanten, jeder Schuß dann auch ein Treffer. Daher diese Scheinblüte in Mitte und Prenzlauer Berg, mit der es bald zu Ende gehen werde. Und dann sei Berlin bald wieder das, was es schon immer war: eine graue, triste Ansammlung von Mietskasernen, mit völlig verschissenen Gehwegen, die dort nur aus Anmaßung »Bürgersteig« hießen, denn in Wahrheit würde sich kein wirklicher, echter Bürger in diese Stadt verirren, sondern nur der hundehaltende Teil der bundesdeutschen Sozialhilfeempfänger.

Woher Jonathan das alles so genau wußte? Nun ja, er hatte darüber mal ein Buch geschrieben, noch vor seinem Standardwerk über die »Consecutio temporum«. Damals war er Doktorand gewesen, den es aus Künzelsau zum Studium nach Berlin verschlagen hatte, weil er dem Wehrdienst entgehen wollte. Das war irgendwann nach der Wiedervereinigung und vor der Epoche des adligen Doktoranden Guttenberg, den es in einer Art Parallelaktion aus Guttenberg über Bayreuth nach Berlin verschlagen hatte, wo er stadtbedingt das ideale Umfeld für seine Aufschneidereien fand, weil in Berlin die über die Bürgersteige und durch die Hundekacke schlurfende Provinz sich enorm gebauchpinselt fühlte, als ein waschechter Baron von und zu unter ihr erschien. Tatsächlich konnte er eine Zeitlang das am besten, was in Berlin alle so gut können wollen: so tun, als täten sie etwas tun. Der Mann hatte wirklich Pech, daß seine unveröffentlichte Dissertation dann doch noch einen Leser fand, und einen obendrein, der es genau wissen wollte. Der stellte dann prompt fest, daß das Dingens nur zum Schein eine selbstgemachte Dissertation war, was den scheinbaren Autor derart grämte, daß er das Amt des Verteidigungsministers, in das man ihn inzwischen gelobhudelt hatte, hinschmiß und sich ins Ausland zurückzog. Möge ihm das Glück dort holder sein als in unserem Vaterland, in dem das Gedächtnis der Menschen von der Unterhaltungsindustrie noch nicht gänzlich ruiniert ist.

Aber was wollte ich jetzt eigentlich sagen? Ach ja: Jonathan hatte also damals dieses Buch über Berlin geschrieben. Das war ihm, anders als der Text seiner Dissertation, grad so aus der Feder geflutscht und hatte auch gleich einen Verleger gefunden, einen dieser typischen Berliner Szeneverlage — ich weiß den Namen jetzt nicht mehr: Möwig, Hansa Berlin oder so, der Leser kann das ja kugeln —, also einen dieser Szeneverlage, die sich einen Spaß daraus machen, die Szene zu ärgern. Und das klappte dann auch sehr gut, besonders wegen der Bemerkungen über die Gockel und Hennen, die ihm, als man herausgefunden hatte, wo er wohnte, vor seinem Haus mit Eiern bewarfen. Das hätte Jonathan ja noch weggesteckt. Nicht aber wegstecken konnte er, daß sein Doktorvater sich von dem Buch beleidigt fand und Jonathan erklärte, er möge sich bitteschön irgendwo anders einen Hetero suchen, der an diesem Mist mit den Zeiten interessiert sei. Da erst ging Jonathan ein Licht auf, und das Licht trug er schleunigst nach Freiburg, wo sich tatsächlich ein neuer Doktorvater fand, der sich weniger für Jonathan als für seine klugen Gedanken interessierte.

Kapitel VIII

In Wien, sagt Jonathan, in Wien sei alles anders. Alles so normal, geradezu langweilig, jedenfalls unaufgeregt. Denn, sagt Jonathan, im wirklichen Zentrum müsse es ja ruhig sein, so ruhig wie im Auge des Sturms. An der Peripherie aber, ja, da sei alles in einem schwindelerregenden Kreiseln begriffen; da glaube man allen Ernstes, Tempo und rascher Wechsel seien cool, megageil, voll kraß oder wie sonst gerade das angesagte Gummiwort das nenne. Alles Quatsch, sagte Jonathan. Als er noch in Berlin gewohnt habe, seien ihm immer die vielen in U- und S-Bahn dösenden Gestalten aufgefallen, die ihre Müdigkeit gleichsam öffentlich zur Schau gestellt hätten, als Ausweis ihres nervös-überarbeiteten Großstadtlebens. In Wien dagegen? In Wien schliefen die Leute brav in ihren Betten, wie sich das gehöre. Und man esse daheim oder in einem Restaurant, gehe zur Unterhaltung ins Theater oder in die Oper und lasse dort das Handy ausgeschaltet. In Berlin esse man auf der Straße beim Gehen einen klebrigen Döner, schreibe im Theater oder in der Oper eine SMS mitten in der Vorstellung und gehe mit wildfremden Leuten ins Bett — kein Wunder also, wenn ein Berliner den öffentlichen Raum nicht mehr von seiner Privatsphäre unterscheiden könne.

So etwas sei in Wien undenkbar, sagte Jonathan. Obwohl Wien ja viel weiter östlich liege als Berlin, sei es viel weniger asiatisch, sondern viel mehr westlich-europäisch. Das würde man schon an der Kleidung der Leute sehen: Die Berliner, egal welchen Alters, trügen Bluejeans. Und zwar diese neumodischen Dinger, die an den Knien aufgerissen seien, oder am Hintern, oder sonstwo. In Wien dagegen trage man Hosen, als Mann, und Röcke, als Frau, und für die, die der Meinung seien, es müsse etwas dazwischen geben, seien die Hosenröcke da. Und wiederum: In Berlin hätten die Männer Zöpfe und die Frauen Bubiköpfe, in Wien dagegen trügen die Frauen Zöpfe und die Männer Männerköpfe.

Natürlich könne man sagen, daß das alles zum Gähnen sei, sagte Jonathan. Aber warum soll man denn nicht mal kommod gähnen, wenn man sich wohlfühlt? Kinder langweilten sich auch den lieben langen Tag, vor allem in den Schulferien, seien aber immer da, wo sie sind, seien nicht mit dem Kopf woanders als mit dem Hintern. Der Berliner aber, sagte Jonathan, sei immer woanders und wolle immer woanders sein, habe im Osten Siedlungsraum erobern wollen, weil ihm der märkische Sand zu sandig war, und nun wolle der Berliner seine Demokratie in irgendwelchen halb- oder ganzasiatischen Ländern verteidigen. Also ihm, Jonathan, wäre es lieber, der Berliner würde zu Hause bleiben. Und wenn sich dann alle Berliner zu Hause zu Tode langweilten — das würde keinen interessieren, das würde keiner merken. Also er, Jonathan, hier in Wien ganz bestimmt nicht, und ganz bestimmt auch kein anderer Wiener.

Kapitel IX

Um es kurz zu machen: Berlin ist der Humus, auf dem der gemeine Sozialhilfeempfänger und der Start-up-Unternehmer wachsen. Letzterer freilich startet niemals up, macht das aber großmäulig in großem Stil und hetzt hinter einer Zukunft her, die er schon verpaßt hat. Das macht Berlin zum denkbar besten Ort für den Bibliothekskongreß als wichtigster Versammlung von Menschen, die mit ihren stylisch-schicken Apollo-Brillen, ihren Deuter-Rucksäcken, an denen kleine Stoff-Teddys baumeln, ihren falschen Banker-Kostümen, ihren Karstadt-Nadelstreifen, ihren Deichmann-Schuhen, ihren aufgeklebten Fingernägeln, ihren Dreitagebärten, ihren — also ich laß das jetzt mal und mach es wirklich kurz: Berlin als Versammlungsort der Bibliothekare! Für den provinziellsten Berufsstand wo gibt! Für angebliche Buchmenschen — der eingeweihte lacht an dieser Stelle ganz laut —, die längst viel lieber mit dem Smart-Phone hantieren und es geil finden, Kafkas »Prozeß« auf einer App der Münchener Schloßbibliothek zu lesen. Was soll man dazu noch sagen? Jonathan sagt: Deutschland, ich trauere um deinen Verstand.

Was für ein Glück, sagte neulich Jonathan, daß du kein Bibliothekar geworden bist. Woraufhin ich Jonathan erzählte, wie meinem Bruder und mir vor dem Einschlafen »Hauffs Märchen« vorgelesen wurden, wie ich dann die »Odyssee« entdeckt hätte, gleichzeitig mit Karl May, mit dem ich rotohrig vor Aufregung durchs wilde Kurdistan geritten sei oder die Nymphe Kalypso besucht hätte, ohne zu Hören, daß Mutter schon dreimal zum Essen gerufen hatte, wie ich später dann den guten Goethe und den besseren Kleist entdeckt hätte, Hölderlin erst während des Studiums, Fontane auch, Nabokov erst nach dem Studium, »Krieg und Frieden« erst als erwachsener Mann, wie ich die Bilder in Schwabs »Sagen des classischen Alterthums« mit Buntstift ausgemalt hätte, an den Büchern gerochen hätte, das Dünndruckpapier nur zart zwischen die Fingerspitzen genommen hätte — »Also zum Glück kein Bibliothekar«, unterbrach mich Jonathan.

Um nun auf Berlin zurückzukommen, diese flache Stadt, deren höchste natürliche Erhebung wahrscheinlich der Telegraphenberg in Potsdam ist. Das alleine schon müßte mißtrauisch machen: daß dort, wo man in Berlin meint, man sei oben, man erstens gar nicht mehr in Berlin ist und zweitens ausgerechnet auf einem völlig lächerlichen Hügelchen landet, dessen Name was mit Medien zu tun hat. Klar, der Telegraph ist nicht das allerneueste Medium. Aber der nach ihm benannte Hügel gibt doch die Tendenz an, die sich da in Berlin und drumherum breitmacht: Erst der Telegraphenhügel, dann ein Rundfunksendeturm, dann ein Fernsehmonsterturm in der Mitte der Stadt, und schließlich der Wald von Sendemasten für unsere Handysmartphonetabletjunkies. Lieber Leser, wenn du jetzt immer noch nicht verstanden hast, warum Berlin die Stadt für den Bibliothekskongreß ist, dann kann ich dir nicht helfen. Dann will ich dir auch gar nicht helfen, denn, ehrlich gesagt, ich schreibe nicht für Leute, deren Birne sechsunddreißig Stunden am Tag blau angeleuchtet wird und die Neusprech sprechen. Ich schreibe nicht für Lesende, sondern für Leser; ich schreibe nicht für Bücherliebende, sondern für Bücherliebhaber, am liebsten natürlich für Bibliophile; und daher schau’mer mal, ob der Verlag, der das hier unbedingt drucken will, sich nicht lumpen läßt und eine dem Geist des Buches kongeniale Form hinbekommt, mindestens mit Fadenheftung und Lesebändchen, und warum nicht auch gleich noch mit einem farbigen Buchschnitt? Ich hoffe mal.

Berlin als Idealstadt für Bibliothekare. So ähnlich wie Brasília die Idealhauptstadt Brasiliens sein sollte. Das ging bekanntlich gründlich daneben, wie alle diese Polit-Gesellschaftsplanerei danebengeht. Warum man es mit dem Stadtplanen in Karlsruhe, Mannheim und Freudenstadt hinbekommen hat, weiß ich nicht. Vielleicht, weil es für diese Art von Planerei einen autoritär regierenden Fürsten braucht, der dem Fußvolk sagt, wo es wohnend hingehört. Aber in einer Demokratie läßt sich doch keine Sau noch was sagen, und folglich gehen all die schönen Pläne, die sich so ein moderner Möchtegernfürst ausdenkt, einfach daneben.

Natürlich haben das die Bibliothekare nicht mitbekommen. In ihrer kleinen Welt, in der alles oben von den Vormündern vorgedacht und nach unten hin befohlen wird, geht es so vormodern zu, daß sich das höchste Glücksgefühl immer dann einstellt, wenn sich möglichst alle Bibliothekare an einem Ort treffen und bei dem Treffen laut voreinander bekunden, daß sie einer Meinung sind, und zwar genau der vormundschaftlich vorgedachten Meinung. Das macht das anstrengende Selbstdenken ganz überflüssig und belohnt mit dem allerschönsten Gemeinschaftsgefühl, das die Evolution zu bieten hat: dem warmnestigen Gemeinschaftsgefühl der in ihrem Bau herumkriechenden Ameise.

Und dieses Ameisengefühl also in Berlin, wo alle denken, sie täten was Besseres als alle anderen, aber in Wahrheit alle dasselbe tun, nämlich, genau besehen, nichts, das aber mit viel Tamtam und von der Nürnberger Arbeitsanstalt finanziert. Oder da, wo’s besonders schick wird, gerne auch finanziert von Microsoft oder Google, was aber dasselbe ist wie die Nürnberger Finanzierung. Warum? Weil in all diesen Fällen keine selbständigen Existenzen herauskommen, sondern arme Würstchen. In Berlin also, wo sonst, holt sich der Bibliothekar das Gefühl ab, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die in einem großen warmen Bau sitzt und jeden Tag geistig oder real Händchen hält.

Nun verstehst du endlich, meine liebe Leserin, warum die jährlich stattfindenden Bibliothekartage in jedem vierten Jahr nach Berlin verlegt werden und dort zum »Bibliothekskongreß« mutieren: zur Sonnenwendfeier für wendehälsige Sonnenblumenkinder und ideologisch strammstehende Ameisen.

Kapitel X

Womit ich endlich bei der Frage wäre, wie es kommt, daß die Bibliothekare in Berlin (und eben nicht in Wien) kongressieren. Das kommt daher, daß die Ameisenkönigin und ihre Drohnen alle vier Jahre eine Duftnote absondern, die — wir sind ja im Bibliothekswesen, das das Druckzeitalter offiziell für überwunden hält — über’s Internet verbreitet wird und faute de mieux »call for papers« heißt. Diese elektronische Duftnote wirkt dann ungefähr so, wie wenn im Ameisenbau erst die Königin und dann alle ihre Offiziere mit den Füßen auf dem Boden zu trommeln beginnen: Ein Schreck fährt durch die Baugemeinschaft, eine kurze Aufmerksamkeitsstarre ergreift alle, doch schon bald macht die Starre einem lärmenden Eifer Platz und jeder bibliothekarische Arbeiter versucht, dem ergangenen Ruf mit einem »paper« zu antworten.

Irgendeine Kommission berät dann über die eingegangenen »papers« und destilliert daraus ein Kongreßprogramm, dessen überraschungslose Gewöhnlichkeit so hübsch verpackt wird, daß man als Bibliotheksameise nur zu gerne glauben mag, es handle sich diesmal wirklich um den kongreßlichen Durchbruch zu einer allesverheißenden Zukunft, zu deren Erreichen es vollauf genügte, wenn endlich alle alle alle in ihrem heimatlichen Bau umsetzten, was man ihnen auf dem Kongreß predigte. Man muß es halt nur glauben und sich dem selbstgemachten Pfingstereignis ganz hingeben, wofür den besonders Hingebungsvollen der baldige Aufstieg auf der Verheißungsleiter versprochen wird, der freilich — viele sind gekommen, doch nur wenige sind berufen — nur einer handverlesenen Schar der nach Berlin Strömenden zuteil wird. Diese Schar aber hält dann besonders zäh an den erworbenen orthodoxen Ansichten fest, ganz so, wie man es ja auch von anderen Glaubensgemeinschaften kennt, die sich das Bekehrungsglück der Menschheit auf die gotteskriegerischen Fahnen geschrieben haben.

Das ist so ungefähr die offizielle Seite der Sache. Die inoffizielle Seite sieht freilich ganz anders aus: Otto Normalbibliothekar fährt zum Bibliothekskongreß nach Berlin, um dort einmal so richtig die bibliothekarische Sau rauszulassen, also sich, nur zum Beispiel, eine ganz neue Apollo-Brille zu kaufen, den Deuter-Rucksack durch die halbe Stadt zu Dusselmann zu tragen, um sich dort einen neuen Lese-Teddy zuzulegen, sich mit anderen Nadelstreifenhörnchen zu treffen und sich gegenseitig die Nadelstreifen zu zählen, die aufgeklebten Fingernägel in den Rücken des Dreitagebartkollegen zu bohren, den man schon seit drei Bibliothekartagen hatte vögeln wollen — naja, das habe ich jetzt natürlich erfunden. Denn Bibliothekare sind bekanntlich, laut »Brehms Tierleben«, eine asexuelle Spezies, die sich alleine durch Parthenogenese fortpflanzt.

Gehen wir also davon aus, daß das inoffizielle Bibliotheksvolk und seine offiziellen Vormünder aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Berlin fahren: die einen zum Netzwerken und Schöntun, die anderen zum Adabeisein und Schöntun. Wobei der Spaß natürlich darin besteht, daß man beim Gros der Kongressierenden nicht so recht weiß, ob man es mit einem netzwerkenden Karrieristen oder einem bloß irgendwie herumstehenden Adabei zu tun hat. Die Rollen wechseln da stündlich. Nur das allseits und sattsam bekannte Führungspersonal, also die bisweilen auch mit einem Mann besetzte Rolle der Ameisenkönigin und die in der Regel sehr solide mit Frauen besetzten Rollen der drohnenden Verbandsoffiziere — nur dieses Führungspersonal also, das sich für bedeutend und unersetzlich hält, und zwar nur deshalb, weil es so unersättlich daran arbeitet, dank charakterlicher Biegsamkeit, prinzipienloser Wendigkeit und ministerieller Hörigkeit auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, ohne auf den schlüpfrige Sprossen abzurutschen — nur dieses Führungspersonal also, von dem hier nur einiges gesagt werden sollte, weil ansonsten über dieses Personal kein Wort mehr zu verlieren ist — nur dieses Führungspersonal also strahlte in seiner selbstgefälligen Präponderanz nichts als eine vollkommene gähnenden Langeweile ab. Man mied diese Leute daher nach Möglichkeit und überließ sie sich selbst und ihren heimlichen Karriereängsten, um, siehe oben, in Berlin die bibliothekarische Sau rauszulassen.

Welches Saurauslassen übrigens dadurch sehr aufgehübscht wurde, daß für das Berliner Kongreßereignis, das in der offiziellen Lesart — und in diesem Punkt waren sich dann natürlich alle Bibliothekare einig — eine Weiterbildungsveranstaltung war und ist, von den meisten Bibliotheken Dienstreisemittel bereitgestellt wurden und werden. Und hier ist natürlich der Spaßhund der ganzen Sache vergraben: Eine ganze Woche lang auf Staatskosten nach Berlin fahren zu dürfen, dort nichts machen zu müssen, aber im heimatlichen Bau nach der Rückkehr erzählen zu können, man habe die Zukunft leibhaftig gesehen und würde an ebendieser Zukunft von nun an mitarbeiten — ja mei, wer würde da nein sagen?

Kapitel XI

Keine Sorge, lieber Leser, ich habe unser Romanpersonal nicht aus den Augen verloren. Sie sind alle noch da, und jetzt sind sie auch in Berlin da, wo sie hingehören.

Dr. Kügele und Dr. Lauter sind da, und Frau Nash und Dr. Mittler sind auch da, und zusammen mit ihnen sind fast dreitausend weitere Bibliothekare da und lassen die Hoteliers der Hauptstadt stille Freudentränen weinen ob der wunderbaren Auslastung ihrer Etablissements. Diese differenzieren sich, wie überall, in ein breites Spektrum von qualitativ und preislich sehr unterschiedlichen Häusern, die jedem Bibliothekar etwas zu bieten haben. Da gibt es die billige Absteige ohne Frühstück, aber mit nachtaktiven Mitgästen, die man sich am Morgen danach ungern näher anschaut; da gibt es das mittlere Segment, das beherbergt, was nächtens halbwegs ruhig schlafen möchte (in Berlin kein kleines Problem); und da gibt es dann auch das gehobene und ganz hohe Segment, das in jeder Hauptstadt der Welt und in jeder Metropole mit derselben Art von Betonklotz vertreten ist, bei der eine am Eingang stehende livrierte Dienerschaft so tun muß, als läge hinter dem Eingang das gute alte 19. Jahrhundert mit seiner großbürgerlich-adligen Lebensart und nicht ein modernes Hightech-Gebäude, das konstruiert wurde, um seine temporären Bewohner auf Schritt und Tritt um des bestmöglichen und allerbequemsten Service willen zu überwachen und auszuhorchen.

Natürlich landen die meisten Bibliothekare in den Etablissements der unteren oder gerade einmal mittleren Klasse, in denen man die nicht sonderlich hohen Dienstreisemittel zusammen mit den vom Lebensabschnittspartner gewährten Zuschüssen verbrät. Aber es gibt unter den Bibliothekaren auch den einen oder anderen Snob, der zu Gehobenem und Höherem, wenn nicht gar zu Höchstem neigt, und es gibt die eine oder andere Verbandsvertreterin (generisches Femininum), die sich sagt: Ich möchte mich nicht nur nach oben geschlafen haben, ich möchte auch weiterhin oben schlafen. Und so kommt es, daß man dann doch einige aus dem Stamm der Bibliothekare in den teuren Häusern verkehren sieht, versprengte Exemplare, die einerseits auf gebührenden Abstand zur Bibliothekarsmasse halten, andererseits aber gerade im Abstandhalten auf die Masse fixiert bleiben und sich folglich den lieben langen Kongreßtag unters Volk mischen, abends und nachts aber eigene Hotelwege gehen.

Kügele, Lauter, Nash und Mittler gehörten in die Klasse der gerade erwähnten Snobs. Das heißt zunächst: Sie bezogen schöne Zimmer in einem schönen Haus unweit des Ku’damms, wobei zimmerbezugstechnisch Folgendes zu vermelden ist: Dr. Kügele und Dr. Lauter bewohnten eine kleine Suite, d.h. ein Doppel aus einem Schlaf- und einem Wohnzimmer, die durch einen kleinen Flur vom Badezimmer getrennt wurden, das, wie immer in einem Hotel, auch einem teuren, innen lag, aber mit viel Lichttechnik und Spiegelei einen tageshellen Raum vortäuschte, der nichts mit jener Betonhöhle zu tun haben sollte, die er allem Blendwerk zum Trotz nun einmal war. Aber gut, so ist das halt mit der modernen Zweck- und Zwergenarchitektur. Das soll uns nicht übersehen lassen, daß Tizian und Johanna sich als Menschen im Hotel ganz wunderbar zueinander bekannten; und das war ja auch nötig, denn obzwar Johanna seit ihrer Heirat gerne die Frau Bibliotheksdirektor gab, sah sie ihren Allerliebsten doch nur selten, hatte also, sooft sie ihn sah, zwischenmenschlichen Nachholbedarf.

Ich sehe gerade, beim Zurückblättern, daß der letzte Satz durchaus erklärungsbedürftig ist, und folglich versuche ich es mal mit dem Erklären. Daß Johanna durch die Heirat mit Tizian zur Frau Bibliotheksdirektor wurde, wird der geneigte Leser noch in Erinnerung haben. Und ebenso, daß der mit der Heirat und ihren leiblichen Umständen verbundene energetische Effekt dazu geführt hatte, daß Tizian die Karriereleiter empor- und auf eine höchstbezahlte Stelle ins Ausland stürmte. Soviel also zur Erinnerung. Du aber, werter Leser, hast vergessen zu fragen, wo denn Johanna bei diesem Höhen- und Auslandsflug abgeblieben war. Du hast es nicht gefragt, ich hab’s dir nicht gesagt, und folglich muß ich nun nachtragen, daß Johanna, Frau Bibliotheksdirektor, durchaus nicht mitgeflogen war. Das hatte mit Johanna nicht das geringste zu tun, ach nein, es lag einfach an den Verhältnissen: Dort, wohin der Flug unseren Tizian gebracht hatte, war man noch nicht auf die glorreiche Idee verfallen, man müsse und solle verpartnerschaftlichtes Personal im Doppelpack einkaufen, nämlich zum einen als die Person, die man beruflich haben wollte und per Stellenanzeige international gesucht hatte, und zum andern als die Person, die an der gesuchten Person dranhing, in welcher emotionalen, Standes- und Rechtsform auch immer. In dem Land, in dem man auf Tizian gestoßen war, war man noch ganz altmodischerweise der Meinung, die Qualifikation einer Person beziehe sich auf ebendiese Person und sonst nichts, also auch nicht auf ihren Anhang, und als man im Parlament und in universitären Gremien auf Deutschland hinwies, das zur Verbesserung der Rekrutierung seiner Führungskräfte überall einen »dual career service« aufbaute, ging ein höhnisches Rauschen durch den Blätterwald jenes Landes. Wo käme man denn da hin, hieß es, wenn man jeden Gschpusi eines Geworbenen gleich noch mitversorgen würde? Mit solchen doch eigentlich mafiösen Strukturen wollte man in dem Land, in dem Milch und Honig flossen, nichts zu tun haben, was für Tizian hieß, daß er Johanna nicht in einem »package« mitverhandeln konnte und diese daher lieber dort blieb, wo sie als Beamtin im höheren Dienst inzwischen ihre Wurzeln durch den harten Boden aus Neid und Mißgunst getrieben hatte. Johanna harrte also an einer Münchener Bibliothek aus, wo man sie nicht mochte, aber wegen der Stellung und des Einflusses ihres Mannes pfleglich behandelte. Sobald jedoch irgendwo eine Tagung oder ein Kongreß stattfanden, zu denen man Tizian geladen hatte, sprang Johanna aus ihrem neidischen und mißgünstigen Münchener Bibliotheksmilieu, sprang in Eisenbahn oder Flugzeug, um am Tagungs- oder Kongreßort ihres Mannes endlich zu werden, was man ihr so schnöde verweigert hatte: Sie wurde Frau Bibliotheksdirektor, und der Beweis für diese Statusmetamorphose war die gemeinsame Hotelsuite, in der zueinanderfand, was der Bibliotheksalltag so viele Tage im Jahr auf Distanz hielt.

---ENDE DER LESEPROBE---