Der Lange Kosmos - Terry Pratchett - E-Book

Der Lange Kosmos E-Book

Terry Pratchett

4,4
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

2070-71: Fast sechs Jahrzehnte nach der Entdeckung des Wechslers, der erstmals das Pendeln zwischen Parallelwelten ermöglichte, floriert auf der Langen Erde eine neue posthumane Gesellschaft. Doch gerät diese in Aufruhr, als eine geheimnisvolle Botschaft aus der Mitte der Galaxie eingeht: MACHT MIT. Die superintelligenten Next entdecken darin die Baupläne für eine künstliche Intelligenz von gewaltigen Ausmaßen. Einmal gebaut, könnte der Computer nicht nur die Position der Langen Erde im Kosmos für immer verändern, sondern auch Antwort geben auf die Frage aller Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Doch niemand kennt den Sender der Botschaft, und niemand weiß, ob seine Absichten friedlich sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 567

Bewertungen
4,4 (12 Bewertungen)
8
1
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



2070–71: Fast sechs Jahrzehnte nach der Entdeckung des Wechslers, der erstmals das Pendeln zwischen Parallelwelten ermöglichte, floriert auf der Langen Erde eine neue posthumane Gesellschaft. Doch gerät diese in Aufruhr, als eine geheimnisvolle Botschaft aus der Mitte der Galaxie eingeht: Macht mit. Die superintelligenten Next entdecken darin die Baupläne für eine künstliche Intelligenz von gewaltigen Ausmaßen. Einmal gebaut, könnte der Computer nicht nur die Position der Langen Erde im Kosmos für immer verändern, sondern auch Antwort geben auf die Frage aller Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Doch niemand kennt den Sender der Botschaft, und niemand weiß, ob seine Absichten friedlich sind.

Terry Pratchett und Stephen Baxter

Der Lange Kosmos

Roman

Ins Deutsche übertragen von Gerald Jung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Long Cosmos« bei Doubleday, an imprint of Transworld Publishers, London.
Copyright © der Originalausgabe 2016by Terry and Lyn Pratchett and Stephen BaxterCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung und Konzeption: UNO Werbeagenturnach dem Originalentwurf von R.Shailer/TWUmschlagmotive: © Shutterstock/bg_knight, Shutterstock/plampy, Shutterstock/lightweavemedia/Shutterstock/Juan AunionDie Konstruktionszeichnung stammt von Richard Shailer.Redaktion: Uta RupprechtSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-20568-3V002www.goldmann-verlag.de

Für Lyn und Rhianna, wie immer

T. P.

Für Sandra

S. B.

Vorwort

Das Projekt LANGEERDE wurde Anfang 2010 im Laufe eines Gesprächs bei einer Dinnerparty geboren, als Terry mir von der Idee zu einer SF-Geschichte erzählte, die schon seit langer Zeit bei ihm in der Schublade lag. Noch vor Ende der Party hatten wir beschlossen, diese Idee gemeinsam weiterzuentwickeln. Ursprünglich waren insgesamt zwei Bände geplant, aber als wir im Dezember 2011 die Rohfassung des ersten Buches (Die Lange Erde) fertiggestellt hatten, waren aus diesem ersten Band bereits zwei Bücher geworden. Dann konnten wir der Idee nicht widerstehen, mit Buch 3 einen »Langen Mars« zu erforschen, und dachten bereits über einen groß angelegten kosmischen Höhepunkt für die gesamte Reihe nach … So kam es, dass wir unseren heldenhaft geduldigen Verlegern den Plan für eine auf fünf Bände angelegte Reihe vorlegen konnten.

Die Bücher wurden im Jahresrhythmus veröffentlicht, aber wir kamen viel schneller voran. Dabei arbeitete die Zeit nicht unbedingt für uns, zumal Terry noch einige andere Projekte verfolgen wollte. Die Bände 1 und 2 der Reihe wurden in den Jahren 2012 und 2013 veröffentlicht (deutsche Ausgaben 2013 und 2015), und im August 2013 war das Konzept der letzten drei Bände der Reihe fertig, einschließlich des vorliegenden Buches. Wir legten die Entwürfe unserem Verlag vor und stellten dann ein Buch nach dem anderen fertig. Im Herbst 2014 sah ich Terry zum letzten Mal, als wir unter anderem an der Passage mit den großen Bäumen in Der Lange Kosmos (ab Kapitel 39) arbeiteten. Mir allein oblag es schließlich, dieses Buch während des Lektorats und bis zur Veröffentlichung zu begleiten.

S. B.

1

MACH MIT

Wenn man unterwegs war, bedeutete »nach unten« immer in Richtung der Datum-Erde. Hinab zu den geschäftigen, trubeligen Erden. Hinab zu den Millionen von Menschen. »Nach oben« bezeichnete die Richtung zu den stillen Welten und der sauberen Luft der Hohen Megas.

Fünf Schritte westlich von Datum-Madison, Wisconsin, stand Joshua Valienté an einem bitterkalten Märztag auf einem kleinen Friedhof neben einem Kinderheim vor dem Grabstein seiner Frau. So weit »unten« war er schon lange nicht mehr gewesen, so niedergeschlagen und betrübt. Helen Green Valienté Doak. »Was ist passiert, Liebes?«, fragte er leise. »Wie konnte es nur so weit mit uns kommen?«

Er hatte keine Blumen dabei. Was auch nicht nötig war, die Kinder pflegten das kleine Grab ausgezeichnet, vermutlich unter der liebevollen Anleitung von Schwester John, einer alten Freundin Joshuas, die das Heim inzwischen leitete. Es war auch Schwester Johns Idee gewesen, diesen Stein aufzustellen als Trost für Joshua, wenn er hierher zu Besuch kam. Helen hatte darauf bestanden, auf der Datum begraben zu werden, an einem viel weniger gut erreichbaren Ort.

Auf dem Stein stand Helens Todesdatum im Jahre 2067. Jetzt, drei Jahre später, stellte Joshua fest, dass er mit dieser grausamen Tatsache immer noch zu kämpfen hatte.

Er war seit jeher gern allein gewesen, zumindest über große Abschnitte seines Lebens hinweg. Sogar seine Erfahrungen am Wechseltag hatte er diesem Verlangen nach Einsamkeit zu verdanken. Inzwischen war es über ein halbes Jahrhundert her, dass ein unverantwortliches Genie namens Willis Linsay die Bauanleitung für einen einfachen, von jedermann ohne große Mühe zu bastelnden Apparat namens »Wechsel-Box« online gestellt hatte. Sobald man sich eine solche Box gebaut und an den Gürtel geschnallt hatte, konnte man, indem man den Schalter auf ihrem Deckel betätigte, wechseln, das heißt, von der alten Welt, die von allen mittlerweile nur noch die Datum-Erde genannt wurde, mit einem Schritt in eine andere Welt hineingehen. In eine stille, von dichtem Wald bedeckte Welt, falls man wie der damals dreizehnjährige Joshua von einem Ort wie Madison, Wisconsin, aus wechselte. Drückte man den Schalter in die andere Richtung, kehrte man an den Ausgangspunkt zurück. Man konnte aber auch, wenn man wie der junge Joshua mutig genug war, noch weiter gehen und Schritt für Schritt von einer Welt in die nächste gelangen … Mit einem Mal stand allen Menschen die Lange Erde offen – eine schier endlose Kette paralleler Welten, einander ganz ähnlich, aber nicht identisch, und alle, bis auf die ursprüngliche Erde – die Datum-Erde – völlig menschenleer.

Für einen Einzelgänger wie den jungen Joshua Valienté war die Lange Erde ein perfekter Zufluchtsort. Aber wohin man auch floh, irgendwann musste man wieder zurückkommen. Und jetzt war er siebenundsechzig, seine Frau war tot und Sally Linsay schon lange verschollen – jene beiden so gegensätzlichen Frauen, die sein Leben bestimmt hatten –, und nachdem sich sein einziger Sohn mehr oder weniger von ihm entfremdet hatte, blieb Joshua überhaupt nichts anderes mehr übrig, als allein zu sein.

Mit einem Mal verspürte er einen stechenden Kopfschmerz, der ihm wie ein Stromschlag durch die Schläfen fuhr.

Und während er noch so dastand, glaubte er, etwas zu hören. Es ähnelte dem Unterschallgrummeln eines tiefen Bebens mit so gewaltigen und dichten Klangwellen, dass man sie eher spüren als hören konnte.

Joshua versuchte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren – den Friedhof, den Namen seiner Frau auf dem Stein, die Plattenbauten auf dieser Nahen Erde, die sämtlich aus Holzwänden und Sonnenkollektoren bestanden. Doch dieses ferne Geräusch ließ ihn nicht los.

Etwas rief ihn. Etwas, das aus den Hohen Megas herüberhallte.

MACH MIT

Und noch viel weiter von der Datum entfernt, in einem leeren, mit Sternen übersäten Himmel an einer Stelle, an der eigentlich eine Erde sein sollte:

»Das ist unmöglich«, sagte Stella Welsh und starrte auf ihr Tablet.

Dev Bilaniuk seufzte. »Ich weiß.« Stella war über sechzig und damit über dreißig Jahre älter als Dev. Zudem war Stella eine Next und damit so intelligent, dass Dev, der mit seinem Doktortitel von der Universität Walhalla auch nicht eben ein Dummkopf war, sofort ausstieg, sobald Stella intellektuell lossprintete und ernsthafte Berechnungen oder Analysen zu irgendeinem Thema anstellte. Allerdings sah sie aus Devs Perspektive gerade nicht besonders intelligent aus, wie sie in dieser riesigen, höhlenartigen Kammer tief im Inneren des Backsteinmondes kopfüber von der Decke hing. In der Schwerelosigkeit stand ihr üppiges graues Haar nach allen Seiten ab.

Außerdem schien sie angesichts der »Einladung«, also der Nachricht, die das Radioteleskop Cyclops soeben aufgefangen hatte, ebenso vor den Kopf geschlagen zu sein wie Dev.

»Zum einen«, stellte sie fest, »ist Cyclops überhaupt noch nicht ganz fertiggestellt.«

»Klar. Aber die Tests der Teilgeneratoren waren bis jetzt erfolgreich. Wir waren gerade dabei, die Zielmuster auszutauschen, als dieses … dieses SETI-Dings … einfach so im Datenstrom auftauchte und sich selbst runtergeladen hat, und …«

»Außerdem haben wir Berichte erhalten, dass andere Teleskope, in erster Linie auf den Nahen Erden und der Datum selbst, dieses Signal ebenfalls aufgefangen haben. Das heißt, auf anderen Wechselwelten. Es handelt sich also nicht einfach um irgendeinen Sender, der hier in unserem Himmel Funksprüche absondert. Es handelt sich um ein Phänomen, das die gesamte Lange Erde betrifft. Wie ist das möglich, verdammt noch mal?«

Zögerlich sagte Dev: »Auch im Outernet kursieren so merkwürdige Nachrichten. Da passiert ziemlich seltsames Zeug in der Langen Erde. Hat nichts mit Radioastronomie zu tun. Dazu komische Sachen im Trollruf …«

Sie schien ihn nicht einmal gehört zu haben. »Und dann diese Entschlüsselung.« Sie schaute wieder auf den Bildschirm des Tablets, auf die beiden einfachen Worte, die dort standen: MACHMIT.

»Unter diesem Grundmuster scheinen noch wesentlich mehr Informationen versteckt zu sein«, sagte Dev jetzt. »Vermutlich können wir erst dann alles herausfischen, wenn das gesamte Cyclops-Spektrum voll funktionstüchtig ist.«

»Die Sache ist doch die«, sagte sie bedeutsam, »dass das, was wir da empfangen haben, seinen eigenen codierten Entzifferungs-Algorithmus schon in sich trug, wie eine Art Computer-Virus. Einen Algorithmus, der dazu in der Lage ist, seinen eigenen Sinngehalt ins Englische zu übersetzen.«

»Und in jede andere Sprache«, sagte Dev. »Menschliche Sprache, meine ich. Wir haben es überprüft. Wir haben das Ding auf das Tablet eines chinesischen Muttersprachlers in unserem Team heruntergeladen …«

Dev hatte sich dafür einen ordentlichen Rüffel der Regierung eingehandelt. Aber das angespannte Verhältnis zwischen China und den westlichen Nationen auf der Datum hatte hier oben, zwei Millionen Welten entfernt, keinerlei Bedeutung.

»Wie soll das bitte gehen?«, blaffte Stella jetzt. »Wieso kann das verdammte Ding mit uns sprechen, ohne zuvor irgendetwas über die Existenz der Menschheit und unserer Sprachen zu wissen? Wir glauben, dass es von einer Zivilisation weit draußen in Richtung des Sternbilds Schütze kommt, viele Lichtjahre entfernt, vielleicht nahe dem Zentrum der Galaxis. Unsere ins All streuenden Radiosignale können unmöglich so weit gekommen sein, nicht mal die von der Datum.«

Der so bombardierte Dev verlor die Nerven. »Professor Welch, Sie sind mir auf diesem Feld jahrzehnteweit voraus. Sie haben die Texte verfasst, mit denen ich ausgebildet wurde. Außerdem sind Sie eine Next. Wieso also fragen Sie mich das alles?«

Sie sah ihn verwundert an, und er sah hinter ihrer gereizten Ungeduld einen Funken Humor aufblitzen. »Sagen Sie mir trotzdem, was Sie davon halten.«

Er zuckte die Achseln. »Im Gegensatz zu Ihnen bin ich daran gewöhnt, meine Welt mit Wesen zu teilen, die schlauer sind als ich. Diese … na ja, Sagittarianer sind noch mal ein Stück schlauer. Auch schlauer als Sie. Sie wollten mit uns in Kontakt treten, und sie wussten auch, wie. Wichtig ist jetzt, wie wir damit weiter verfahren.«

Sie grinste. »Ich glaube, das wissen Sie ebenso gut wie ich.«

Er grinste zurück. »Wir brauchen ein größeres Teleskop.«

MACH MIT

Und noch weiter von der Datum-Erde entfernt:

Eines Tages würde Joshua Valienté diesen älteren Troll Sancho nennen. Dabei hatte er in seiner Trollgruppe bereits so etwas wie einen Namen – aber keinen, den ein Mensch je als solchen erkennen oder aussprechen konnte. Es war eher eine komplexe Zusammenfassung seiner Identität, ein Motiv im endlosen Lied der Trolle.

Jetzt, da er sich im schwindenden Licht eines Vorfrühlingtages gemeinsam mit den anderen an köstlichem Bisonfleisch gütlich tat, wurde Sancho von irgendetwas irritiert. Er ließ sein Rippenstück fallen, erhob sich und suchte den Horizont mit Blicken ab. Die anderen grunzten, ließen sich nur kurz ablenken und widmeten sich alsbald wieder ihrer Mahlzeit. Nur Sancho blieb lauschend und Ausschau haltend stehen, ohne sich zu rühren.

Es war ein guter Tag für diese Trolle gewesen, hier im Herzen eines anderen Nordamerikas. Schon seit mehreren Tagen waren sie einer bisonähnlichen Herde gefolgt, wobei sich das kooperative Gemeinschaftsauge der Trolle recht bald auf ein schon etwas älteres männliches Tier gerichtet hatte, das der Herde deutlich humpelnd mit einem gewissen Abstand folgte. Um unsichtbar zu bleiben, waren die Trolle der Spur des Bisons in ein paar Schritte weit entfernte Parallelwelten gefolgt und hatten sich dabei stets auf die untergehende Sonne zubewegt. Nur ihre Kundschafter waren immer wieder kurz zurückgewechselt, um die Beute nicht aus den Augen zu verlieren, und hatten der Gruppe ihre Beobachtungen dann mittels tänzelnder Bewegungen, Gesten und leisem Heulen mitgeteilt.

Endlich war der Bison gestrauchelt.

Für den Bison selbst war es das Ende einer Geschichte, die schon fast ein Leben lang währte. Schon als Kalb hatte das Tier einen Splitterbruch am Hinterlauf erlitten, der nie richtig verheilt war. Das war ihm jetzt zum Verhängnis geworden.

In der Hitze schwer keuchend, war der Bison zu Boden gegangen und sofort von Jägern umzingelt worden, großen, massigen Humanoiden mit nachtschwarzer Behaarung, Steinklingen und angespitzten Stöcken in den gewaltigen Händen. Sie kamen näher, stachen und schlitzten, zielten auf Sehnen und Gelenke, versuchten Arterien zu durchtrennen und einen Stoß ins Herz anzubringen. Trolle waren auf ihre Art überaus intelligent, jedoch keine begabten Werkzeugmacher. Sie benutzten zurechtgehauene Steine und angespitzte Stöcke, aber sie wussten nicht, wie man ein Opfer aus sicherer Entfernung niederstreckte, verfügten weder über Bögen noch Wurfspeere. Deshalb setzten sie sich mit ihrer Jagdbeute stets unmittelbar und aus nächster Nähe auseinander, in direktem körperlichem Kontakt – mit ihren großen, muskulösen Leibern warfen sie sich auf das Opfer, bis es unter der schieren Kraft der Jäger aufgab.

Der Bisonbulle war alt und stolz, er bellte laut bei dem Versuch, sich wieder aufzurichten und sich zu wehren. Aber unter den unablässigen Angriffen ging er erneut zu Boden.

Sancho hatte den letzten Hieb ausgeführt und dem Bison mit einem großen Stein den Schädel eingeschlagen.

Die Trolle hatten sich um das erlegte Tier versammelt und ihren Triumphgesang angestimmt, ein Lied der Freude über die Aussicht auf eine Mahlzeit, aber auch voller Respekt, weil der Bison ihnen sein Leben gegeben hatte. Dann hatten sie sich darangemacht, den Kadaver auszunehmen, und das Festmahl hatte begonnen: zuerst die Leber, dann die Nieren, das Herz. Bald schon würde die Nachricht von der erlegten Beute in den Trollgesang Einzug halten und auf Tausenden von Welten von anderen Trollgruppen aufgenommen werden. Und er würde für immer im langen Gedächtnis einiger älterer Trolle wie Sancho aufgehoben sein.

Aber jetzt, während dieser fröhliche Tag zu Ende ging, lenkte irgendetwas Sancho von der Beute und dem großen Fressen ab. Er hatte etwas gehört. Oder … nicht gehört.

Was war das? Sein Verstand funktionierte nicht so wie der eines Menschen, aber er war geräumig und voll vager Erinnerungen. Menschenworte waren ihm unbekannt, sonst hätte er das, was er gehört oder gespürt hatte, wohl als »dieEinladung« bezeichnet.

Sancho sah seine Gefährten an, Männchen und Weibchen und die Jungen, die alle zufrieden aßen. Er lebte schon seit vielen Jahren mit dieser Gruppe zusammen, hatte gesehen, wie die Jungen zur Welt kamen und die Alten krank wurden und starben. Er kannte sie so gut wie sich selbst, sie waren seine ganze Welt. Doch jetzt sah er sie als das, was sie eigentlich waren: eine Handvoll Tiere, verloren in einer leeren, endlosen Landschaft. Verletzbare Wesen, die sich in der Dunkelheit aneinanderkauerten.

Und von jenseits des Horizonts kam etwas auf sie zu.

MACH MIT

Und in einer Welt nur wenige Schritte von der Datum entfernt, in einer neuen, aus Steinen erbauten Kapelle am wechselwärtigen Standort einer uralten englischen Gemeinde namens St. John am Wasser:

Nelson Azikiwe war achtundsiebzig Jahre alt und offiziell im Ruhestand. Er war hierher zurückgekehrt, weil seine einstige Gemeinde auf der Datum inzwischen auf einer Welt eingefroren war, die noch immer einen langen Vulkanwinter durchlitt. Und dies war der Ort, an dem er sich in seinem langen und rastlosen Leben am meisten zu Hause gefühlt hatte. Wo sonst sollte er seinen Ruhestand verbringen?

Aber für einen Mann wie Nelson war Ruhestand nicht viel mehr als ein neues Etikett. So wie seit eh und je arbeitete er einfach weiter an seinen unterschiedlichen Projekten, bis an die Grenzen seiner Kraft. Mit dem Unterschied, dass er die Arbeit jetzt Freizeitvergnügen nennen durfte.

Natürlich war es eine große Hilfe, dass die wachsende technologische Infrastruktur auf dieser Nahen Erde ihn mit den Kommunikationsmöglichkeiten ausstattete, die er brauchte, um mit der weiten Welt beziehungsweise den weiteren Welten in Verbindung zu bleiben, ohne sein bequemes Sofa verlassen zu müssen. So verbrachte er jeden Tag geraume Zeit im Austausch mit den Quizmastern, einer Online-Gruppe alternder, mürrischer, paranoider Besserwisser. Er hatte, soweit er wusste, keinen Einzigen von ihnen je persönlich kennengelernt, inzwischen waren sie ohnehin alle über die gesamte Nahe Erde und darüber hinaus verstreut. Trotzdem hatten sie über die Jahrzehnte stets Verbindung miteinander gehalten, notfalls sogar durch den wechselwärtigen Tausch von Speicherbausteinen. Es war schon seltsam, dass auch über ein halbes Jahrhundert nach dem Wechseltag noch niemand herausgefunden hatte, wie man eine Nachricht durch die wechselwärtigen Welten schicken konnte, ohne sie buchstäblich in der Hand hinüberzutragen.

Momentan faszinierte die Quizmaster natürlich das Phänomen, das unter dem Namen »die Einladung« bekannt geworden war. Die Nachricht vom Empfang eines angeblichen SETI-Signals durch ein Radioteleskop in der Lücke war in allen Nachrichtenmedien der Nahen Erde, die ansonsten eher engstirnig, auf die eigene kleine Welt bezogen und von Lokalpolitik und Promigeschichten besessen waren, eine Woche lang DAS große Thema gewesen. Es hatte eine Reihe von sensationsgierigen Reportagen gegeben, eine wahre Spekulationslawine bezüglich der galaktischen Zukunft der Menschheit oder ihres baldigen kosmischen Niedergangs, dann hatte man sich rasch wieder anderen Themen zugewandt. Nicht so die Quizmaster.

Einige waren fest davon überzeugt, dass diese Botschaft genau das war, wonach es aussah, nämlich eine SETI-Nachricht vom Himmel herab: die Erfüllung der Träume einer jahrzehntelangen Suche nach außerirdischer Intelligenz, eine Botschaft, die auf irgendeiner wechselwärtigen Welt in Radioteleskope geflüstert wurde. Andere glaubten, dass es das nun ganz bestimmt nicht sein konnte, einfach deshalb, weil es die naheliegende Erklärung für dieses Phänomen war. Vielleicht handelte es sich um ein streng geheimes Militärexperiment, um irgendein von einem Unternehmen eingeschleustes Computervirus oder um die ersten Anzeichen der längst erwarteten chinesischen Invasion des seit dem Ausbruch des Yellowstone hilflos darniederliegenden Amerika.

Gerade als Nelson die Tagesausbeute zu diesem brennenden Thema durchforstete, erhielt er selbst eine Einladung.

Die Bildschirme seiner sämtlichen Tablets und aller sonstigen Geräte wurden plötzlich schwarz. Nelson lehnte sich erschrocken zurück und dachte sofort an einen Stromausfall, was auf einer Welt, die ihren Strom durch das kontrollierte Verbrennen von Holz gewann, nicht ungewöhnlich war. Dann jedoch hellte sich ein Bildschirm nach dem anderen wieder auf und zeigte ein vertrautes Gesicht – das Gesicht eines Mannes mit kahl geschorenem Kopf, der ihn gelassen ansah.

Nelson verspürte ein freudiges Kribbeln. »Hallo, Lobsang«, sagte er. »Ich dachte eigentlich, du wärst wieder mal von uns gegangen.«

Das Gesicht lächelte zurück, und als es anfing zu sprechen, klangen seine Worte durch die vielen Geräte in Nelsons Zimmer wie ein Gong in einem buddhistischen Tempel: »Guten Tag, Nelson. Ja, ich bin … weg gewesen. Stelle dir meine Anwesenheit einfach nur als eine Art Nachrichtendienst vor …«

Nelson fragte sich, mit wie viel von Lobsang er sich eigentlich unterhielt. Als Lobsang noch voll funktionsfähig gewesen war, hatte er den Großteil der Datum-Erde am Laufen gehalten, daher war gesprochene Sprache für ihn eine vermutlich ungefähr so effiziente Kommunikationsmethode wie gemorstes Jodeln. Wahrscheinlich war dieser Avatar nicht mehr als ein avancierter Sprachgenerator. Trotzdem, überlegte Nelson, hatte Lobsang sich die Mühe gemacht, seinen alten Freund von diesem »Nachrichtendienst« mit einem Lächeln begrüßen zu lassen.

»Ich muss dir etwas mitteilen«, sagte Lobsang. Der Bildschirm des Tablets vor Nelson leerte sich erneut, und Lobsangs Gesicht wurde von dem eines Kindes ersetzt, eines sonnengebräunten Jungen von vielleicht zehn oder elf Jahren. »Das da ist jemand, den ich selbst eben erst entdeckt habe. Eine Fernsonde hat sich zurückgemeldet, mit ziemlicher Verspätung …«

»Wer ist dieser Junge?«

»Er ist dein Enkelsohn, Nelson.«

MACH MIT

Und viel weiter von der Datum entfernt, genauer gesagt, über zwei Millionen Schritte weit draußen:

Die USSCharles M. Duke war nicht Admiral Maggie Kauffmans Schiff. Mit achtundsechzig Jahren war sie viel zu alt für einen Kommandoposten, außerdem befand sie sich längst im Ruhestand. Was sie jedoch nicht davon abhielt, ihre ehemaligen Vorgesetzten und ihre nominellen Nachfolger in den Rängen der US-Flotte – oder was noch davon übrig war – auf Trab zu halten. Auch diese neuerliche Mission in die Tiefe der Langen Erde hinein war ihre Idee, ihr Plan gewesen – ach was, das Ergebnis eines fünfundzwanzig Jahre währenden Einsatzes mit dem Ziel, eine unerledigte Sache endlich zum Abschluss zu bringen.

Doch dieser Abschluss musste wohl noch eine Weile warten, wie sie alsbald erkannte, als Kapitän Jane Sheridan sie von der Nachricht unterrichtete, die soeben aus Datum-Hawaii eingetroffen war.

Trotzdem wehrte Maggie sich erst einmal gegen die schmerzliche Erkenntnis. »Ausgerechnet jetzt, wo ich schon so nah dran bin! Zwei Millionen Welten plus ein paar Zerquetschte!«

»Wobei noch fünfzigtausend vor uns liegen, Admiral, und zwar die gefährlichste Strecke …«

»Pfft! Durch diese gefährliche Strecke könnte ich die Schüssel hier im Schlaf manövrieren.«

»Tut mir leid, aber der Befehl zur Rückkehr ist ziemlich eindeutig. Wir müssen umkehren. Schnelle Verfolgungsschiffe mit solchen Befehlen werden nicht alle Tage losgeschickt. Außerdem gilt die Nachricht Ihnen persönlich. Admiral Cutler verlangt ausdrücklich, dass Sie zurückkommen.«

»Ed Cutler könnte nicht mal eine angeschlagene Badewanne kommandieren.«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Ich bin im Ruhestand!«

»Selbstverständlich, Admiral.«

»Ich muss von diesem elenden Schreibtischhengst keine Befehle mehr entgegennehmen!«

»Aber ich, Admiral«, erwiderte Sheridan leise.

Maggie seufzte und blickte durch die robusten Fenster des Beobachtungsdecks nach draußen auf die aufgewühlte vulkanische Landschaft dieser letzten wechselwärtigen Erde und hinüber zu dem Verfolgungsschiff, einem schlanken Luftschiff, das längsseits der Duke schwebte. »Aber wir sind schon so weit gekommen«, sagte sie traurig. »Und es hat so lange gedauert.« Fünfundzwanzig Jahre, seit sie eine Gruppe Wissenschaftler auf West 247.830.855, einer sehr merkwürdigen Erde, die eher der Mond eines größeren Planeten war, zurückgelassen hatte. Über zwanzig Jahre, seit ein Rettungstrupp festgestellt hatte, dass die Wissenschaftler verschwunden waren. »Es sind meine Leute, Jane.«

»Das weiß ich, Admiral.« Sheridan war erst Ende zwanzig, aber sehr tüchtig und wirkte in ihrem Auftreten deutlich älter. »Aber ich sehe es so: Nach fünfundzwanzig Jahren sind sie entweder tot, oder sie haben eine Möglichkeit zum Überleben gefunden. In beiden Fällen können sie auch noch ein bisschen länger warten.«

»Verdammt noch mal! Sie sind nicht nur lächerlich jung, Sie haben auch noch auf lächerliche Weise recht. Verflucht sei dieser Cutler. Was soll das eigentlich alles? Was denn für eine Einladung?«

»Ich weiß auch nicht mehr als Sie, Admiral.«

Noch während sie sich unterhielten, machte sich die Duke auf ihre lange Heimreise. Das leise, schaukelnde Gefühl des kontinuierlichen Wechselns machte sich wieder bemerkbar. Unter den Fenstern flimmerten ganze Welten dahin, erst eine pro Sekunde, dann zwei, dann vier: Sonne und Regen, Hitze und Kälte, Landschaften und Lebensformen und Klimasysteme, alles blinkte kurz auf und war im nächsten Moment schon wieder weg. Niemand schenkte diesem routinemäßigen Wunder noch große Beachtung.

MACH MIT

Ganz woanders:

An diesem kühlen Märztag wurde der kahl geschorene Novize, der im Schneidersitz hinter einem niederen Schreibtisch saß und an Texten aus dem 8. Jahrhundert nach Christus arbeitete, von einem fernen Laut abgelenkt. Einem schwachen Ruf.

Es war nicht das Gerede und Gelächter der Dorfbewohner in der klaren Himalajaluft, nicht die alten Männer mit ihren qualmenden Pfeifen, die Frauen mit ihrer Wäsche, die kleinen Kinder, die mit ihren selbst gebastelten Holzspielzeugen spielten. Es war auch nicht das Bimmeln der Kuhglocken von den Bergpässen. Es hatte sich eher wie eine Stimme angehört, dachte der Junge, wie eine Stimme auf dem kalten, eisverkrusteten Hang des Berges, der über dem Dorf aufragte, irgendwo tief im alten Tibet.

Eine Stimme, die in seinem Kopf widerhallte.

Leise gesprochene Worte:

… Die Menschheit muss sich weiterentwickeln. Es ist die Logik unseres endlichen Kosmos; letztendlich müssen wir uns seinen Herausforderungen stellen, wenn wir nicht mit ihm untergehen wollen … Stell dir vor: Wir nennen uns die Weisen, aber wie würde wohl ein wahrer Homo sapiens aussehen? Was würde er tun? Ganz bestimmt würde er in erster Linie seine Welt – oder seine Welten – wertschätzen. Er würde zum Himmel blicken und nach anderen intelligenten Lebensformen Ausschau halten. Und er würde das Universum als Ganzes betrachten …

Der Junge rief: »Joshua?«

Der Meister schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und der Junge fuhr erschrocken zusammen. »Konzentrier dich, Lobsang!«

MACH MITMACH MIT

Die Worte regneten aus dem Himmel auf die Lange Erde herab, überall dort, wo es Ohren gab, sie zu hören, Augen, sie zu sehen, und kluge Köpfe, sie zu verstehen.

Joshua Valienté stand vor dem Grabstein seiner Frau und das letzte, das er jetzt wollte, war eine Einladung. »Lasst mich in Ruhe, verdammt noch mal!«, sagte er und wechselte wütend davon.

Die Luft, die in die von ihm hinterlassene Lücke drang, erzeugte eine sanfte Brise, die über die Blütenblätter der Blumen auf dem Grab strich.

Doch die Stimme aus dem Himmel ließ nicht nach.

MACH MITMACH MITMACH MIT

2

Als Bill Chambers am Morgen des letzten Apriltages, an dem Joshua zu seiner neuesten Auszeit aufbrechen sollte, im Büro eintraf, bekam er die Tür kaum auf. Dabei war es die Tür zu seinem eigenen Büro, denn Bill war der derzeitige Bürgermeister von Weiß-der-Kuckuck-wo, wie Joshua verärgert festgestellt hatte.

Joshua befand sich in dem kleinen Bad gleich neben dem Büro, und als er die unterdrückten Flüche hörte, kam er mit nacktem Oberkörper, einem Handtuch um den Hals und Rasierschaum im Gesicht heraus. Die Jalousien waren noch unten, obwohl der Morgen bereits fortgeschritten war, der Raum lag im Halbdunkel. Bill bemühte sich, das Büro zu durchqueren, ohne auf wichtige Teile der Reiseausrüstung zu treten, was nicht ganz einfach war. Joshua hatte nicht nur Bills Klappbett in Beschlag genommen, sondern zudem seine Sachen in langen Reihen und großen Haufen über den Boden und sogar den Schreibtisch verteilt.

»Heilige Mutter Gottes, Josh, was willst’n du alles mitnehm?« Bills Pseudo-Irisch klang jedes Mal, wenn sie sich trafen, noch ausgeprägter. »In Weiß-der-Kuckuck-wo leben wir schon lang nich mehr hinterm Mond, weißte? Ich muss bis Ende der Woche den vierteljährlichen Steuerkram erledigen.«

»Für so was hast du doch einen Computer, Bill.«

Bill sah ihn gequält an. Das heißt, noch gequälter als zuvor. »Solche Sachen kann man nich einfach ’nem Computer überlassen, Mann! Ehrliche Buchhaltung ist die allerletzte Zuflucht des menschlichen Verstandes!«

»Ich habe selbst mal auf diesem Stuhl gesessen, schon vergessen? Außerdem bin ich ja gleich weg …«

»Wie – gleich weg?« Bill versuchte noch, ein Stück weiter ins Zimmer vorzudringen, machte ein paar große Schritte und musste dann auf den ungeschickt platzierten Füßen balancieren. »Also ehrlich, Mann, hier drin riecht’s wie im Sackschutz von ’nem Troll!« Er hatte das Fenster erreicht, zog eine Jalousie auf und zerrte an einer Schnur, um den unteren Teil des Schiebefensters hochzuziehen.

Die kühle Luft, die hereinwehte, duftete nach Staub, Heu und Frühlingsblumen. Anders als auf anderen Welten in diesem Abschnitt der Langen Erde war die Luft hier so kalt, dass es manchmal sogar noch im Juni leichten Frost geben konnte. Joshua hatte das immer als sehr erfrischend empfunden.

Inzwischen war diese Luft für ihn mehr oder weniger die Luft der Heimat. Jedenfalls hatte er an diesem Ort seine wichtigsten Sachen untergestellt. Joshua hatte die Siedlung Weiß-der-Kuckuck-wo weder mitgegründet oder bei deren Gründung geholfen, aber er hatte die Gemeinde jahrzehntelang als seinen Heimatort betrachtet, hier hatte er mit seiner Frau Helen und seinem Sohn Rod gewohnt. Als er hergekommen war, war der einzige Fixpunkt des rasch wachsenden Dorfes die Schmiede gewesen. Da man Eisen zwischen den Welten nicht mitnehmen konnte, war die Schmiede so etwas wie die Reißzwecke, mit der das Dorf an dieser Ausgabe der Erde festklemmte; damals hatte sie sogar als Versammlungsort und Umschlagplatz für Klatsch und Tratsch gedient. Daher war es auch kein Zufall, dass Joshua und Bill und die anderen später genau an dieser Stelle das erste Rathaus von Weiß-der-Kuckuck-wo errichtet hatten. Und am Tag seiner Einweihung hatten sie ein eisernes Hufeisen über die Tür gehängt. Letztendlich war es ziemlich merkwürdig, in einer solchen Welt, auf der es überhaupt keine Pferde gab, Hufeisen zu schmieden, aber die Leute wollten auf diese Glücksbringer einfach nicht verzichten – sie wollten die Schwere, die der eiserne Gegenstand ausstrahlte, das Blut der Erde.

Aber Joshuas Ehe war zerbrochen, und Helen war von hier weggezogen, zurück nach Reboot, in ihre alte Heimat im Getreidegürtel. Dann war sie gestorben, und seitdem sah Joshua seinen Sohn kaum noch. Heute sollte er hier auftauchen, auch wenn Joshua nicht unbedingt darauf wetten mochte … Jedenfalls hatten sie es so ausgemacht.

Bill trat vom Fenster zurück ins Dämmerlicht des Zimmers und stieß sofort gegen eine Leine voll mit Joshuas Hemden und Hosen aus ultraleichtem Material. »Scheibenhonig noch mal! Seit wann hängt’n hier drin ’ne Wäscheleine? Wo hastn die überhaupt festgemacht? Ach, sehe schon, an der Büste der Gründerin dieser Stadt, oben auf dem Bücherregal. Und schön um den Hals geknotet. Genau so hätte sie’s auch gewollt.«

»Tut mir leid, Mann. Ich musste ein bisschen improvisieren. Möchtest du einen Kaffee? Hinten in der Küchenecke steht noch eine ganze Kanne.«

»Du meinst, ob ich eine Tasse von meinem eigenen allerbesten Kaffee haben will, bevor er in deiner Blase hier zur Tür rausspaziert? Ach, is ja auch schon wurscht. Gib mir’n Tässchen.«

Joshua wischte sich die Schaumreste vom Gesicht und goss das Gebräu in den am wenigsten schäbigen Becher, den er in dem kleinen Schrank über der Spüle finden konnte. »Hier, bitte. Ohne Milch und ohne Zucker.«

»Wär ja auch noch schöner.« Bill schob Joshuas Habseligkeiten von einer Ecke seines Schreibtisches weg.

»Prost.« Sie stießen mit ihren Tassen an.

»Weißt du was, Bill? Es gab mal Zeiten, da hättest du nach – wie hast du es immer ausgedrückt? – nach einem Tropfen Stärkung im dünnen Kaffee verlangt. Sogar zu dieser frühen Morgenstunde.«

»Wonach ein echter Mann halt so verlangt …«

»Das fing an, als du vierzehn warst, wenn ich mich recht entsinne, Billy Chambers, und zwar immer, wenn du was in die Finger gekriegt hast. Streite es bloß nicht ab.«

»Na ja, seit damals hab ich mich schon ganz schön verändert. Ist ja auch Jahrzehnte her. Hab ich alles Morningtide zu verdanken.«

»Du kannst von Glück sagen, dass du sie hast. Sie und deine Kinder.«

»Meine Leber gibt dir recht. So wie Helen dein großes Glück gewesen ist.«

»Allerdings.«

Eine verlegene Stille machte sich breit.

»Auf alle, die nicht da sind«, sagte Bill schließlich, und sie stießen wieder mit ihren Tassen an. Dann nahm er vorsichtig einen breitkrempigen Hut vom Stuhl hinter seinem Schreibtisch. »Dieser ganze Scheiß, Mann. Brauchst du das denn alles?«

»Klar.«

»Und alles so fein säuberlich hingelegt.« Er sah sich im Zimmer um. »Sachen für kaltes Klima, aha, also bleibst du’n paar Monate weg. Alle möglichen Karten …« Es waren Karten von Landformationen, die quer durch die Lange Erde anzutreffen waren. Nichts von Menschenhand Geschaffenes wie Städte oder Straßen, sondern die elementaren Berge, Flüsse, Küstenlinien und landschaftlichen Orientierungspunkte. »Rettungsdecken aus Silberfolie – ist da. Wo ist deine zusammenrollbare Matratze?«

»Du bist nicht mehr auf dem Laufenden. Guck mal.« Joshua hielt ein baseballgroßes Päckchen in der linken Hand. »Aerogel – eine komplette Matratze, nicht viel größer als deine Faust.«

»Oder in deinem Fall deine Terminator-Cyberkralle.«

»Ja, ja.«

»Stiefel, Camping-Sandalen. Socken! Socken kann man nie genug dabeihaben. Tabletten zur Wasserdesinfektion. Essen, Trockenfleisch und so weiter – Notrationen, oder?«

»Ich versorge mich unterwegs. Jagen und Fallenstellen.«

»Das hast du nie so richtig gut gekonnt, Alter. Aber du könntest sowieso ein bisschen abnehmen.«

»Danke.«

»Medizin – lass mal sehen: Durchfalltabletten, Antihistamin, Schmerzmittel, Abführmittel, was gegen Pilze, Desinfektionskram, Mückenspray, Vitamintabletten … Was noch? Pfeilspitzen, Bogenschnur, Schlingen, Netze. Leichte Bronzeaxt. Mehr Messer, als der Metzger in seiner Schublade hat. Der übliche elektronische Krempel: Funkempfänger, Tablet, Positionsbestimmer.« Dieses Gerät ersetzte GPS auf Welten, die so weit entwickelt waren, dass sie solche Systeme unterstützten, ansonsten lieferte es immerhin eine einigermaßen genaue Standortbestimmung nach Sonnen- und Mondstand, den Sternen, der Tageslänge sowie anderen zufälligen Ereignissen wie Sonnen- oder Mondfinsternissen. Alles Technologie, in der sich die mühevoll gewonnenen Erkenntnisse jahrzehntelangen Reisens in der Langen Erde bündelten. »Ein Feuerstein. Und Streichhölzer, sehr schlau. Ein Solarofen.« Ein kleiner, umgedrehter Sonnenschirm mit reflektierender Innenfläche, den man auf ein Gestell setzen und so das Sonnenlicht einfangen und bündeln konnte, um Wasser zu erhitzen. »Beutel für den künstlichen Darmausgang. Haftkleber fürs Gebiss.«

»Ja, ja.«

»Dauert nicht mehr lang, Methusalem. Kaffee. Gewürze. Pfeffer! Zum Handeln, natürlich. Ah, und Waffen. Ein paar Bronzerevolver – elektromagnetischer Impuls?«

»Ja.« Joshua wog eine der kleinen Handwaffen in der Hand. »Das Allerneueste. Wird mit Solarkraft aufgeladen, oder indem man eine Weile am Griff pumpt.« Er richtete die Waffe nach unten und drückte ab. In Bills Schreibtisch war ein kleines Loch.

»He, ein bisschen Respekt gefälligst! Der Schreibtisch is ’ne Antiquität.«

»Quatsch. Den haben wir gebaut.«

»Jetzt wird er jedenfalls keine Antiquität mehr werden. Und das alles willst du in deinen Rucksack reinkriegen? Aber du hast da ein ganz paar nette Spielzeuge dabei, Josh, das muss ich dir lassen.«

»Dabei heißt es immer, nach dem Wechseltag hätte es keine neuen Erfindungen mehr gegeben.«

»Aber ein unzerbrechliches Herz hat immer noch keiner erfunden«, erwiderte Bill nüchtern.

Joshua wandte den Blick ab.

»Tut mir leid, Mann«, sagte Bill. »Das war echt lahm. Lahmer als zwei Trolle ohne Beine. Früher hätte ich so was nie gesagt, oder? Wir beide waren richtige Kumpel, du und ich. Gefühle, das war was für die elenden Nonnen, nicht für uns. Tja, ich hab mich verändert. Und du auch. Aber du hast dich … hm … wieder zurückentwickelt.«

Die Worte trafen Joshua ein bisschen. Um es sich nicht anmerken zu lassen, nahm er ein Hemd von der Leine und zog es an. Auf einmal kam ihm Bill, der achtundsechzigjährige Bill, wie er so hinter seinem vollgemüllten Schreibtisch saß und im Dämmerlicht Kaffee schlürfte, wie ein richtiger Bürgermeister vor. Ein reifer Mann. Als wäre der verrückte alte Bill, der Möchtegern-Ire, hinter seinem Rücken erwachsen geworden. Als hätte er Joshua einfach überholt. »Wie meinst du das – zurückentwickelt?«

Bill spreizte die Finger. »Na ja, beispielsweise damals, als es mit diesen Rebellentypen in Walhalla losging und alle Trolle in der Langen Erde auf einmal weg waren, weißt du noch? Und als du und ich von diesem Knallkopp Lobsang das Twain gekriegt haben, damit wir Sally Linsay suchen.«

»Mann, Bill, das muss alles dreißig Jahre her sein.«

»Schon klar. Und soweit ich mich erinnere, haben wir damals kurz drüber geschlafen, dann sind wir einfach los und bis ans Ende der Langen Erde gedüst. Kann mich nicht an so eine irre Packerei erinnern. Und dass wir Socken gezählt hätten oder so ’n Scheiß.«

Joshua sah sich um, betrachtete seine überall verteilte Ausrüstung. »Man muss es richtig angehen, Bill. Man muss vorsorgen, damit man alles dabeihat und es auch funktioniert. Und dann muss man es richtig zusammenpacken …«

»Da hast du’s. Das ist nicht Joshua, der Bürgermeister von Weiß-der-Kuckuck-wo. Joshua, der Vater. Joshua Valienté, der Held der halben verdammten Langen Erde. Das ist Josh, der kleine Junge, den ich damals im Heim kannte, als wir elf oder zwölf oder dreizehn waren. Als du deine Radioempfänger und deine Flugzeugmodelle zusammengebaut hast, genauso penibel, wie du jetzt deine Packliste zusammenstellst. Erst hast du alles fein säuberlich hingelegt, dann hast du die beschädigten Teile repariert …«

»Und alles vor dem Zusammenbauen bemalt.«

»Was?«

»Das hat Agnes immer zu mir gesagt. ›Du bist einer von den Jungs, die immer erst alles bemalen, ehe sie es zusammenbauen.«

»Ja. Ganz genau.«

»Sie hatte eigentlich immer recht. Genau genommen hat sie immer noch recht … Sie wollte doch heute vorbeikommen, und bestimmt hat sie dann auch wieder recht. Also, Bill – wie jetzt?«

»Es gibt immer ein Gleichgewicht, Mann. Man muss das richtige Maß finden. Und, um noch einen anderen Punkt zu nennen, Herr Vorsitzender: Sind Sie inzwischen nicht ein bisschen zu alt, um loszuziehen und wieder mal Daniel Boone zu spielen?«

»Das geht dich nichts an«, knurrte Joshua.

Bill hob die Hände. »Alles klar. Nix für ungut.«

Es klopfte an der Tür.

Bill stand auf. »Vielleicht ist es ja Schwester Mary Stigmata, genau aufs Stichwort. Die überlass ich dann lieber dir. Denn solange du hier nicht raus bist, komm ich mit meiner Arbeit ohnehin keinen Schritt weiter.«

»Bill, ich bin dir wirklich sehr dankbar …«

»Aber an eins solltest du immer denken: Bring irgendwo hoch oben, wo ein Twain es sehen kann, ein verdammtes Zeichen an, eine Rettungsdecke auf einem Felsen oder so, damit sie dich finden, wenn dir endlich die Luft ausgeht.«

»Mach ich.«

Jetzt klopfte es schon energischer.

»Ist ja gut, ich komme schon.«

Vor der Tür stand jedoch nicht Agnes, sondern Joshuas Sohn. Bill Chambers machte sich ganz schnell aus dem Staub.

3

Daniel Rodney Valienté war achtunddreißig Jahre alt. Er war größer als sein Vater, hatte den hellen Teint seiner Mutter, aber sein Haar war so dunkel wie das von Joshua. In einem praktischen Kapuzenoverall stand er im Türrahmen und hatte lediglich eine kleine Ledertasche mit einem Riemen über die Schulter geschlungen. Joshua nahm an, dass er nicht mehr dabei hatte – und wahrscheinlich auch nicht mehr besaß.

Daniel betrat das Büro des Bürgermeisters, ließ den Blick leicht verächtlich über die Gepäckstapel schweifen, räumte Bills Stuhl frei und setzte sich. Alles, ohne ein Wort zu sagen.

Joshua unterdrückte ein Seufzen. In Anwesenheit seines stets ernsten Sohnes verspürte er zuallererst den Drang, sich das Hemd zuzuknöpfen. Dann nahm er Bills halb leere Tasse vom Schreibtisch und brachte sie in die Küche. »Also«, sagte er.

»Also.«

»Willst du einen Kaffee? Es ist noch was in der Kanne.«

Rod, wie er jetzt genannt werden wollte, schüttelte den Kopf. »Ich bin meine Koffeinsucht schon vor einigen Jahren losgeworden. Ein Problem weniger, wenn man sich draußen in den Hohen Megas rumtreibt.«

»Vielleicht ein Glas Wasser? Das Wasser hier ist richtig sauber, seit …«

»Schon gut.«

Joshua nickte, stellte die Tassen ab und setzte sich auf einen Hocker, von dem er erst ein paar Kletterhaken räumen musste. »Freut mich, dass du hier bist.«

»Warum?«

Joshua seufzte. »Weil wir nach dem Tod deiner Mutter nur noch einander haben, du und ich.«

Rod verzog keine Miene. »Du ›hast‹ mich nicht, Dad. Und ich ›habe‹ dich auch nicht.«

»Rod …«

»Und wieso verschwindest du wieder einmal in der Wildnis der Langen Erde? Das hast du schon damals ständig gemacht, als ich noch klein war, immer wieder. Auch zu der Zeit, als deine Ehe mit meiner Mutter in die Brüche ging. Eine kurze Nachricht aus dem Outernet – ›Hallo, ich bin dann mal weg‹ – das reicht einfach nicht, Dad. Abgesehen davon, bist du inzwischen nicht schon zu alt für solche Kapriolen?«

»Du weißt doch, Rod – Daniel –, es kommt mir vor, als würdest du mir das alles schon ewig vorwerfen. Vielleicht macht ja jeder seine Eltern für alles verantwortlich …«

Rod fiel ihm ins Wort. »Ich bin nur gekommen, um mit dir über dein Testament zu reden.«

Joshua seufzte wieder. »Gut. Es ist alles ordentlich beglaubigt und notariell abgesegnet, sowohl hier in Weiß-der-Kuckuck-wo als auch in einer Kanzlei in der Ägide auf Madison West 5.«

»Dieser ganze juristische Kram ist mir egal, Dad. Ich will nichts von dir. Ich will nur sichergehen, dass ich Bescheid weiß, bevor du verschwindest und dir irgendwo in der Wildnis den Hals brichst und ich dich nie mehr wiedersehe.«

»Schön. Du weißt über die grundlegenden Vorkehrungen Bescheid. Abgesehen von ein paar Geschenken, zum Beispiel an das Heim in Madison, hinterlasse ich alles deiner Tante Katie in Reboot oder ihren überlebenden Nachkommen. So einfach ist das …«

Katie war Helens ältere Schwester. Zusammen mit ihren Eltern waren die Geschwister Green zehn Jahre nach dem Wechseltag zu Fuß mit einem Treck in die Lange Erde aufgebrochen und hatten mit den anderen Teilnehmern eine neue Gemeinde gegründet: Reboot, am Rande eines ganzen Bandes fruchtbarer Welten, die man den Getreidegürtel nannte. Nachdem Helen Joshua kennengelernt hatte, hatte sie Reboot verlassen, aber Katie war dort geblieben, hatte geheiratet und ein paar gesunde Töchter aufgezogen – und inzwischen sogar schon etliche Enkelinnen.

Aber diese Geschichte hatte auch eine dunkle Seite. Die Green-Schwestern hatten einen Bruder gehabt, Rodney, einen Phobiker, wie man diejenigen nannte, die nicht in der Lage waren zu wechseln. Als die Familie in die Lange Erde aufbrach, ließ sie Rodney bei einer Tante auf der Datum-Erde zurück. Später hatte Rodney bei der Zerstörung von Madison, Wisconsin, mittels einer tragbaren Atombombe eine Rolle gespielt und daraufhin den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht. Als Joshuas Sohn Daniel Rodney von dieser Familiengeschichte erfuhr, hatte er seinen Kindheitsnamen »Dan« abgelegt und den Namen seines missratenen Onkels angenommen.

»Es gibt doch auf deiner Seite niemanden, dem ich es vermachen könnte, oder?«, fragte Joshua jetzt.

Rod seufzte. »Man nennt es erweiterte Ehe, Dad. Ich bin jetzt einer von fünfzehn Ehemännern. Es gibt achtzehn Frauen und vierundzwanzig Kinder, zumindest bei der letzten Zählung. Es ist alles ziemlich ungeregelt … wir verteilen uns über viele Welten und sind ständig unterwegs. Momentan habe ich eher eine feste Beziehung zu Sofia. Sofia Piper, du hast sie nie kennengelernt und wirst sie auch nie kennenlernen. Ich bin so was wie ein Ziehonkel für ihre Neffen. Oder Stiefonkel, egal, die alten Bezeichnungen stimmen einfach nicht mehr. Unsere Beziehung ist flexibel, aber stabil, und sie passt für Migranten der Langen Erde wie mich ausgezeichnet. Solche Beziehungen gibt es inzwischen schon seit über zwanzig Jahren.«

»Das ist doch alles bloß spinnerter Streunerquatsch, mehr nicht. Außerdem in keiner Weise durch die Gesetze der Ägide anerkannt. Wenn es um die Vererbung von Eigentum geht …«

»Wir besitzen kein nennenswertes Eigentum, Dad. Genau darum geht’s ja.«

»Du scheinst dich bewusst gegen eigene Kinder entschieden zu haben.«

»Soll ich mich an diesem widerlichen alten Massenzuchtprogramm der Wechsler beteiligen?«

»So muss es doch gar nicht ablaufen …«

»Du bist doch selbst das Ergebnis einer arrangierten Paarung, Dad. Und du siehst ja selbst, wie prima das geklappt hat. Deine Mutter ist bei der Geburt gestorben, dein Vater war ein Vergewaltiger und Taugenichts. Eine jahrhundertealte Verschwörung, um selektiv natürliche Wechsler zu züchten! So etwas lässt sich nicht einfach ignorieren. Und dann sieh dir an, was es über die Menschheit gebracht hat – diese vollkommene Destabilisierung seit dem Wechseltag.«

»Ohne das würden wir hier nicht sitzen, Rod. Hör zu – mich hat in dieser Beziehung nie jemand kontaktiert. Daher hat der Fonds wohl schon bereits in meiner Generation nicht mehr funktioniert. Und deine Mutter und ihre Familie hatten überhaupt nichts damit zu tun. Dein eigener Onkel war ein waschechter Phobiker.«

»Quatsch. Man kann der Träger eines Gens sein, ohne dass es bei einem selbst ausgeprägt ist. Ach, ist ja auch egal. So oder so, zumindest wird diese Linie der Familie Valienté mit mir aussterben, zusammen mit unserem verdorbenen Genom.«

»Von mir aus«, blaffte Joshua. Er musterte seinen Sohn, der steif und kein bisschen entspannt im Bürgermeistersessel saß. Er sah aus, als wollte er jeden Augenblick aufspringen und sich wieder davonmachen. »Ihr verdammten jungen Leute glaubt, ihr hättet die Weisheit mit Löffeln gefressen.«

Rod erhob sich. »Ich glaube, wir sind fertig, oder? Ach ja, ich hab dir ein Geschenk mitgebracht. War Sofias Idee.«

Er reichte Joshua ein schmales Etui. Darin lag eine leichte Sonnenbrille. Joshua sah hindurch und kniff die Augen zusammen. »Die ist geschliffen.«

»Genau. Für deine Augen. Hab das Rezept in Moms Unterlagen gefunden.«

»Ich brauche keine Brille …«

»Doch. Ach, setz sie von mir aus auf oder lass es sein. Mach’s gut, Dad.«

Dann ging er nach draußen. Joshua stand noch eine ganze Weile da, die Brille in der Hand, inmitten seiner gut sortierten Ausrüstung, mit der er auf unbestimmte Zeit draußen überleben konnte.

Dann klopfte es wieder.

Schwester Agnes.

4

Praktisch wie immer machte sich Agnes sofort daran, Joshuas Rucksack zu packen. »Ich kann mich erinnern, dass ich dir deine Sachen schon gepackt habe, als du noch klein warst. Na, eigentlich hast du mir eher gezeigt, wie man so was macht. Ersatzhosen ganz unten rein, die weichen Sachen am Rücken, Messer und Pistolen und andere lebenswichtige Geräte ganz oben.« Sie ließ sich eine Tasse Tee machen, verzog aber angesichts der Sauberkeit der Tassen – beziehungsweise des Mangels daran – das Gesicht. »Billy Chambers war schon immer ein schlampiger Junge.«

»Du bist aber nicht den weiten Weg hierhergekommen, nur um mich zu sehen, oder?«

Sie schnaubte verächtlich. »Bilde dir bloß nicht zu viel ein. Ich habe ein paar alte Freunde aus New Springfield besucht. Du erinnerst dich doch noch an Nikos Irwin, der damals die Silberkäfer entdeckt hat? Inzwischen hat er selbst schon Kinder.«

Ihr eigener Rock war sauber und frisch gebügelt, genau wie ihre Bluse und der Cardigan. Schwester Agnes hielt nichts von Nonnentracht, jedenfalls nicht mehr seit ihrer Rückkehr aus New Springfield, wo sie sich mit einem Avatar Lobsangs ein neues Zuhause eingerichtet hatte. Ihr Gesicht war einwandfrei das von Schwester Agnes, dachte Joshua. Obwohl es gruseligerweise viel jünger aussah als beim letzten Mal, als er die echte Agnes gesehen hatte – auf ihrem Totenbett, vor mehr als fünfunddreißig Jahren.

»Weißt du, Agnes, ich bin jetzt siebenundsechzig, schon bald achtundsechzig. Und auf einmal bist du viel jünger als ich.«

»Pff. Du bist jedenfalls noch nicht so alt, dass ich dir nicht sagen darf, was für eine Idiotie das ist, wenn du dich in deinem Alter noch einmal ganz allein in die Wildnis aufmachst. Komm bloß nicht zurück und heul dich bei mir aus.«

»Du bist heute Morgen schon die Dritte, die mir so was sagt.«

»Dein Gewissen mitgezählt?«

»Haha.«

Sie hörte auf, Socken zusammenzufalten, und berührte seine Hand. Die Hand aus Fleisch und Blut, die rechte, nicht die Prothese links. Er sah, dass ihre Haut fast so altersfleckig war wie seine. »Du weißt, dass du bei uns immer willkommen bist. Im Heim. Ich gehe selber ab und zu dorthin, um nachzusehen, ob die junge Schwester John alles richtig macht.«

Die junge Schwester John war ungefähr in Joshuas Alter und leitete das Heim schon seit Jahrzehnten. »Da freut sie sich bestimmt«, erwiderte er trocken.

»Sie hat mir von dem Jungen erzählt, mit dem sie so viel Ärger haben. Jan heißt er, glaube ich.«

»Jan Roderick, ja. Ich habe ihn schon kennengelernt.«

»Genau. Er saugt sämtliche Bücher und Filme in sich auf, die du dem Heim vermacht hast, wie ein Gangster aus Chicago, der sich Crack reinpfeift.«

»Agnes!«

»Ach, sei still. Damit hätten wir schon wieder einen komplizierten kleinen Jungen, genau wie du einer warst. Und ich bin mir sicher, es würde ihm guttun, wenn er dich öfter sehen würde. Denn eins fehlt dem Heim leider nach wie vor: Es gibt dort keine männlichen Vorbilder.«

»Na, ich weiß nicht, ob ich je so vorbildlich gewesen bin … Hör zu, Agnes, ich habe mich in den drei Jahren seit Helens Tod treiben lassen. Ich muss dem ein Ende machen. Ich bleibe nicht lange weg. Das Heim ist bestimmt noch da, wenn ich wiederkomme …«

»Aber ich vielleicht nicht.«

Sie sagte es so rundheraus, dass er wie vor den Kopf gestoßen war. »Agnes, dein Körper ist künstlich, dein Verstand wurde in Black-Corporation-Gel heruntergeladen … du kannst leben, bis die Sonne verglüht …«

»Wer will sich das schon mit ansehen?« Sie strich über die papierne Haut ihrer Wange. »Es muss irgendwann ein Ende haben, Joshua. Diese Lektion habe ich von Shi-mi gelernt, als sie beschlossen hat, letztendlich einfach nur eine Katze zu sein. Ich wollte eine Mutter für Ben sein, und – tja, mehr wollte ich nicht. Dann wäre ich bereit, mein Päckchen niederzulegen. Mein Adoptivsohn ist mittlerweile schon neunzehn.«

»Wirklich?«

»Glaub’s mir. Die Zeit vergeht wie im Flug. Und ich weiß nicht, wie lange ich diese Alterung noch überzeugend simulieren kann. Außerdem ist es eine Frage der guten Manieren. Ich habe das Alter schon einmal durchgemacht, also warum sollte ich wie in einer Schaufensterpuppe weiterleben und so tun, als hätte ich Schmerzen hier und da, und das nur aus Eitelkeit? Obwohl ich weiß, dass ich das Ding jederzeit abstellen kann. Oder, wenn ich will, jederzeit wieder jung werden kann. Nein, ich glaube, meine Zeit sollte eher früher als später kommen. Es ist einfach richtiger so.«

»Hm. Und Ben?«

»Er weiß Bescheid. Er hat ungefähr mit sechzehn begriffen, was wir sind, ›George‹ und ich. Er akzeptiert meine Entscheidung.«

»Hat er denn eine Wahl?«

»Hat denn irgendeiner von uns eine Wahl, Joshua?«

Plötzlich war das alles zu viel für ihn. Er beendete die Diskussion, stand auf und machte sich wieder daran, seine Sachen zu packen.

»Es ist schwer für dich«, sagte sie. »Ich weiß.«

»Für Lobsang auch«, knurrte er.

»Ach, ich glaube, ich habe meine Verpflichtung diesem Mann gegenüber schon vor langer Zeit aufgekündigt. Kommt außerdem darauf an, welchen Lobsang du meinst. Der, den ich geheiratet habe, ›George‹, ist verschwunden, nachdem die Next die Welt von New Springfield abgetrennt hatten. Die ältere Kopie, die du aus der fernen Langen Erde mitgebracht hast, wurde dann sozusagen zur maßgeblichen Ausgabe. Ich weiß, dass sich das Konzept Identität auf Lobsang nicht gut anwenden lässt. Es gibt nie nur einen Lobsang. Er kann seine Identität aufteilen, wieder zusammenfügen, eine Kopie ergießt sich in die andere …«

Lobsang war als künstliche Intelligenz zu Bewusstsein gelangt, ein Bewusstsein, das auf einem Gelsubstrat der Black Corporation lief. Von Anfang an hatte er für sich in Anspruch genommen, ein Mensch zu sein, die Reinkarnation eines tibetischen Motorradmechanikers. Bis heute hat ihm niemand nachweisen können, dass er gelogen hat. Und seit seiner Erweckung war sein Dasein mehr als kompliziert gewesen.

»Die unterschiedlichen Kopien wurden synchronisiert, bevor George nicht mehr von New Springfield wegkonnte«, fuhr Agnes fort. »Die neue Version erinnert sich an mich, an unser gemeinsames Leben. Aber dieser Lobsang war nie mein Lobsang. Außerdem ist er … verschollen.«

Joshua hatte schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu irgendeiner Variante Lobsangs. »Wie bitte?«

»Selena Jones von transEarth hat gesagt, er habe sich in irgendeine virtuelle Umgebung zurückgezogen, wo er sich ›sicher‹ fühlt. Ich will gar nicht wissen, wo das ist. Obwohl seine Identität – es widerstrebt mir, das Wort ›Seele‹ zu benutzen – entfernt wurde, sind seine äußeren Funktionen natürlich nach wie vor intakt. Was gut für die Weiterentwicklung der Menschenwelt ist.«

»Es ist wie ein Muster, stimmt’s, Agnes?«

»Sieht ganz so aus. Eine Zeit lang geht es ihm gut, dann baut sich irgendeine Belastung auf und er zieht sich in eine Muschel zurück. So wie damals, als wir in New Springfield Bauernfamilie spielten. Und dann fängt alles wieder von vorne an.«

»Dann heißt es Abschiednehmen, Agnes?«

»Es muss sein. Ach, wie dumm das alles doch ist, Joshua! Du bist nicht Daniel Boone und bist es nie gewesen. Du warst einfach nur ein Junge, der ein bisschen mehr Platz brauchte …«

»Etwas da draußen ruft mich, Agnes«, platzte es aus ihm heraus. »Ich habe keine Wahl.«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Ich weiß noch, was du als Kind immer gesagt hast: die Stille. Sie ist wieder da, hab ich recht? Als ich diese vielen albernen Berichte über das SETI-Signal gelesen habe, habe ich mich schon gefragt, ob es jetzt wieder losgeht. Ob all diese Merkwürdigkeiten nicht irgendwie zusammenhängen. Meistens ist es ja so.« Sie seufzte. »Ich wünsche mir oft, Monica Jansson wäre noch am Leben. Sie konnte mit dieser Seite von dir viel besser umgehen als ich. Sie hätte dir gesagt, dass du das, was du verloren hast, dort oben niemals finden wirst.« Agnes erhob sich. »Ich habe gesagt, was ich sagen wollte, und nehme Abschied.«

Plötzlich konnte er sie nicht mehr ansehen.

»Ach, Blankauge«, sagte sie mit sanfter Stimme.

Dann drehte er sich um, und sie nahm ihn in die Arme.

5

Schwester John, die Oberin des Heims in Madison West 5, und ihre Mitschwestern dachten oft an Joshua Valienté und auch an Schwester Agnes.

So auch, als es um Jan Roderick ging, einen Jungen, den sowohl Agnes als auch Joshua kennengelernt hatten. Mit zehn Jahren war Jan den Schwestern und Mitarbeitern des Heims ein Rätsel, manchmal gab er sogar Anlass zur Verzweiflung, so anstrengend war die komplizierte, in seinem kleinen Körper schlummernde Persönlichkeit. Schwester John blieb nichts anderes übrig, als zur Geduld zu mahnen. Wozu waren Nonnen, Therapeuten und Lehrer denn gut, wenn sie nicht wenigstens Geduld aufbringen konnten?

Ihr selbst war es allerdings nie besonders schwergefallen, in Jans Nähe ruhig zu bleiben, ohne dass sie sich etwas auf besondere Charaktereigenschaften einbildete. Vielmehr lag es daran, dass Jan, ein schlanker, dunkelhaariger Junge, sie in mancherlei Hinsicht an Joshua erinnerte.

Joshua war jedoch immer sachlich und besonnen gewesen. Vor dem Wechseltag hatte sein Hauptvergnügen in einsamen Wandertouren und der Erkundung der rekonstruierten Prärielandschaften im Arboretum von Madison bestanden, im Heim selbst hatte er Radios gebastelt und Modelle zusammengebaut, was so manchen Rückschluss auf die Persönlichkeit zuließ, die unter seinem schwarzen Haarschopf hauste.

Nach dem Wechseltag war Joshua zu einer gewissen Berühmtheit gelangt, weil er in dieser verwirrenden ersten Nacht, als die Türen in die Wechselwelten mit einem Mal sperrangelweit offen standen und alle anderen – auch viele Erwachsene – ausgerastet waren, Ruhe und Übersicht bewahrt hatte.

Schwester John vergaß niemals, was er in dieser Nacht für sie getan hatte. Sie hatte damals überhaupt nicht verstanden, was mit ihr geschehen war: Ich bin aber in keinen Kleiderschrank reingegangen … Sarah Ann Coates, wie sie damals noch hieß, hatte schon so einige Albträume durchlebt, weshalb sie letztendlich auch im Heim am Allied Drive gelandet war. Aber als sie plötzlich in diesem finsteren wechselwärtigen Wald herumirrte, war es ihr vorgekommen, als stürzten all diese Albträume erneut auf sie ein. Hände, die sich in der Dunkelheit nach ihr ausstreckten …

Sie war einfach durchgedreht.

Joshua hatte sie nach Hause zurückgebracht. Er hatte sie gerettet.

Der Wechseltag hatte zwar Joshuas Leben verändert, aber eigentlich nicht sein Wesen, dachte Schwester John. Er hatte weiterhin seine langen, einsamen Wanderungen unternommen, nur dass er jetzt eben wechselwärts gehen konnte, bis in die Hohen Megas. Er war in allem, was er tat, immer noch äußerst methodisch und genau, aber jetzt baute und reparierte er Wechselboxen, statt Flugzeugmodelle oder Puzzles zusammenzusetzen. Dabei hatte er auch eine unheimliche Seite, denn er war der erste bekannte natürliche Wechsler und schien viel mehr zur Langen Erde als auf die gute alte Datum zu gehören. Trotzdem war er im Prinzip einfach und unkompliziert geblieben. Keineswegs beschränkt, sondern lediglich geradlinig konstruiert, mit einer kurzen und unmittelbaren Verbindung zwischen seinem tief verankerten moralischen Kern und seinem alltäglichen Verhalten.

Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, dass die Tür des Heims immer für ihn offenstand, falls er das Bedürfnis nach Rückkehr verspürte. Es war auch ihre Idee gewesen, einen Gedenkstein für Helen Valienté auf dem wieder aufgebauten kleinen Friedhof des Heims aufzustellen. Es war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.

Wenn Schwester Agnes und die anderen Joshua Valienté damals helfen konnten, ein aufrechter und wahrhaftiger Erwachsener zu werden, dann würde auch Schwester John ihrerseits dem kleinen Jan Roderick helfen können.

Aber Jan war ein echtes Rätsel.

Eines Morgens kam Schwester Coleen, selbst erst knapp über zwanzig, völlig aufgelöst zu Schwester John.

»Was diesem Jungen aber auch immer einfällt!«

»Was denn?«

»Er hört zu.«

»Was ist daran so seltsam? Zuhören hat noch niemandem geschadet.«

»Schon. Aber er belauscht so gut wie jeden. Jeden, der zur Tür hereinkommt. Personal. Besucher.«

»Ich dachte, er bekommt keinen Besuch«, sagte Schwester John.

»Das stimmt. Ich meine die Besucher der anderen Kinder, sogar die der Schwestern. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit setzt er sich daneben und hört zu. Und dann fragt er sie, ob sie irgendwelche guten Geschichten gehört hätten.«

»Geschichten?«

»Reisegeschichten. Ungewöhnliche Vorkommnisse in den Städten. Solche Sachen.«

»Klatschgeschichten aus der Zeitung? Werbespots?«, erkundigte sich Schwester John, die es für angebracht hielt, ernst zu bleiben.

»Vielleicht auch so was. Aber am liebsten sind ihm Sachen, die die Leute selbst erlebt haben. Die schreibt er dann in seinem alten Tablet auf, mit Datum, Uhrzeit und Ort. Wenn die Leute das mitbekommen, kriegen sie es mit der Angst zu tun.«

»Na ja …«

»Und dann seine Fragen. Er fragt die seltsamsten Sachen. Gerade hat er wieder einen von Joshuas alten Filmen gesehen.«

»Aha.« Jans beharrliches Interesse an alter Science-Fiction aus der Zeit vor dem Wechseltag hatte die Schwestern dazu veranlasst, die Sammlung im Heim, die größtenteils noch von Joshua stammte, wieder zugänglich zu machen. Zerlesene Taschenbücher wieder in Ordnung zu bringen war eine Sache, aber es hatte jede Menge technisches Know-how erfordert, um die vielen alten Filme, die teilweise schon hundert Jahre auf dem Buckel hatten, erfolgreich von Videokassetten, DVDs oder veralteten Dateiformaten so zu konvertieren, dass sie sich auf modernen Tablets und Bildschirmen abspielen ließen. Und nach all der Mühe schaute der Junge doch immer wieder dieselbe Handvoll Lieblingsfilme. »Lass mich raten, welchen er sich gerade ansieht: Die erste Fahrt zum Mond.«

»Nein.«

»Avatar … Auch die Kleinen wollen nach oben … Galaxy Quest!«

»Den.«

»Ha! Wusste ich’s doch!«

»Er fing an, Fragen zu stellen, als hätte er den Film noch nie gesehen, und du weißt so gut wie ich, dass er ihn fast auswendig kennt. ›Wie nennt man so was?‹ – ›Das ist ein Planet.‹ – ›Aber wie heißt er? Gibt es ihn wirklich?‹ – ›Den gibt es nur in diesem Film.‹ – ›Kann man da nicht hinfliegen? Was ist denn wirklich da draußen im Weltraum? Gibt es dort Menschen wie uns?‹ Und so weiter. Immer wieder. Dabei traut man sich nicht, ihm eine ungenaue Antwort zu geben, nicht einmal, wenn es um ein Detail aus irgendeinem blöden alten Film geht. Man weiß genau, dass er alles überprüft und einem damit dann später auf die Nerven geht.«

»Dass sich zehnjährige Jungen für den Weltraum interessieren, ist nicht besonders ungewöhnlich.«

»Weiß ich«, seufzte Schwester Coleen. »Aber er ist so … du weißt schon … er ist einfach Jan.«

»Ich rede mal mit ihm.«

So kam es, dass Schwester John sich die Zeit nahm, einen Abend mit Jan zu verbringen. Sie bot ihm an, gemeinsam auf einem alten Sofa zu sitzen und einen von den alten Filmen anzusehen oder eines seiner Bücher zu lesen, ganz wie er wollte.

Sie ließen sich vor einem großen Wandbildschirm nieder, um Contact anzuschauen, einen Film, den sie schon so oft gesehen hatte, dass sie jedes Bild auswendig kannte. Jan machte sich Notizen auf seinem Tablet. Auf der Couch neben ihm lagen ein paar alte Romane. Einer davon war Contact, das Buch zum Film – vielleicht auch das verfilmte Buch – und das andere hieß Ringworld. Schwester John und Jan saßen da, schauten gelassen den Film an und kauten Popcorn.

Gerade war die Radioastronomin Ellie Arroway als Kind zu sehen, mit ihrem Vater. Jan sagte: »Dieser Film ist schon achtzig Jahre alt. So ungefähr. Aber sie reden genauso wie wir heute.«

Was für eine aufmerksame Beobachtung von einem Zehnjährigen! Aber mit solchen Bemerkungen überraschte Jan die Leute ständig. »Ja, stimmt. Warum wohl – was meinst du?«

Er zuckte die Achseln. »Weil wir uns alle immer dieselben alten Filme angucken. Es gibt ja keine neuen mehr.«

Damit hatte er wohl recht. »Ich habe gelesen, dass die Fernsehindustrie nach dem Wechseltag schwer zu kämpfen hatte, weil man nichts von einer Erde zur anderen übertragen kann. Und Yellowstone hat ihr dann den Rest gegeben. Du weißt doch: der große Vulkanausbruch damals in den Vierzigerjahren.«

»Deshalb sehen wir uns alle dieselben Sachen an, immer wieder«, sagte Jan. »Als wäre alles eingefroren.«

Sie lächelte. »Kann sein. Niemand weiß mehr genau, wer eigentlich Papst ist, aber jeder kennt Captain Kirk.«

»Von dem hab ich noch nie gehört.«

»Das kommt noch, Jan, ganz bestimmt. Aber sag mal, wieso gefällt dir dieser Film hier besonders gut?«

»Contact? Mir gefällt, wie sie nach Mustern sucht und so. In dem Signal aus dem Himmel. Die vielen Zahlen. Deshalb wollte ich diesen Film noch einmal sehen, weil jetzt ja wirklich ein Signal aus dem Himmel aufgefangen wurde. In der Lücke. Haben sie schon Zahlen in dem Signal entdeckt?«

»Keine Ahnung«, antwortete Schwester John wahrheitsgemäß. Als das Signal in den Nachrichten erwähnt wurde, hatte sie sich nicht sonderlich dafür interessiert, denn die meisten Informationen dazu waren nicht mehr als wilde Spekulation.

Jan kaute zufrieden Popcorn. »Ich habe ein paar Bücher in der Bibliothek gefunden. Darüber, wie man Muster in Zahlen und so weiter findet. Muster in der Natur. Zum Beispiel, dass es in einer Sonnenblume die gleichen Spiralen gibt wie in einer Galaxis.«