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Erneut schlägt das Verbrechen zu. Und wer, wenn nicht Lord Peter Wimsey, kann den Übeltätern auf die Schliche kommen? In einem Londoner Rauchsalon erzählt man sich mysteriöse Geschichten. In einer davon spielt der scharfsinnige Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey eine tragende Rolle, weil er einen gefragten Kupfer-Künstler bei einem gefährlichen Spiel ertappt … Ein anderes Mal überführt Lord Peter ein Gaunerpärchen wegen grammatikalisch falsch verwendeter Artikel und bewahrt auf diese Weise den englischen Hochadel vor Schlimmerem. Dann ist da noch Mrs. Ruylaender, die sich, als sie das Fehlen ihres Diamantenkolliers und eines Miniaturporträts bemerkt, hilfesuchend an Lord Peter wendet. Und schließlich bekommt Lord Peter noch einen Doppelgänger vorgesetzt. Kann er den Betrüger mit Hilfe einer Weinverkostung entlarven? In zwölf spannenden Kurzgeschichten stellt Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey sein Können unter Beweis!
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Seitenzahl: 482
Dorothy L. Sayers
Der Mann mit den Kupferfingern
und andere Lord-Peter-Geschichten
Aus dem Englischen von Otto Bayer
Ihr Verlagsname
Erneut schlägt das Verbrechen zu. Und wer, wenn nicht Lord Peter Wimsey, kann den Übeltätern auf die Schliche kommen?
In einem Londoner Rauchsalon erzählt man sich mysteriöse Geschichten. In einer davon spielt der scharfsinnige Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey eine tragende Rolle, weil er einen gefragten Kupfer-Künstler bei einem gefährlichen Spiel ertappt … Ein anderes Mal überführt Lord Peter ein Gaunerpärchen wegen grammatikalisch falsch verwendeter Artikel und bewahrt auf diese Weise den englischen Hochadel vor Schlimmerem. Dann ist da noch Mrs. Ruylaender, die sich, als sie das Fehlen ihres Diamantenkolliers und eines Miniaturporträts bemerkt, hilfesuchend an Lord Peter wendet. Und schließlich bekommt Lord Peter noch einen Doppelgänger vorgesetzt. Kann er den Betrüger mit Hilfe einer Weinverkostung entlarven?
Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, und sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des Jahrhunderts.
Der Egotist-Club ist einer der freundlichsten Orte in ganz London. Dorthin kann man gehen, wenn man das Bedürfnis hat, jemandem seinen sonderbaren Traum von gestern nacht zu erzählen, oder kundzutun, was für einen guten Zahnarzt man entdeckt hat. Dort kann, wer will, auch Briefe schreiben, falls er die Gelassenheit einer Jane Austen hat, denn einen Raum, in dem Stille zu herrschen hat, gibt es nicht, und es gilt als Verstoß gegen die Clubregeln, sich beschäftigt oder gedankenvertieft zu geben, wenn ein anderes Mitglied einen anspricht. Von Golf und Angeln zu reden, ist allerdings verboten, und wenn der Ehrenwerte Freddy Arbuthnot bei der nächsten Vorstandssitzung mit seinem Antrag durchkommt (und die allgemeine Stimmung scheint dafür günstig zu sein), wird man künftig auch den Rundfunk nicht mehr erwähnen dürfen. Wie Lord Peter Wimsey schon sagte, als diese Frage neulich im Rauchsalon erörtert wurde, sind dies Dinge, über die man schließlich überall reden kann. Ansonsten ist dieser Club jedoch nicht ausgesprochen exklusiv. Niemand ist per se von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, ausgenommen starke, schweigsame Männer. Kandidaten müssen allerdings gewisse Prüfungen bestehen, deren Natur hinreichend damit erklärt ist, daß ein angesehener Forscher einmal dabei zu Schaden kam, weil er zu einem 63er Portwein eine starke Zigarre annahm und auch rauchte. Hingegen wurde der gute Sir Roger Bunt (der Fisch-, Obst- und Gemüsemillionär, der in einem Preisausschreiben des Sunday Shriek 20000 Pfund gewonnen und damit sein riesengroßes Handelsimperium in den Midlands aufgebaut hatte) wärmstens empfohlen und einstimmig aufgenommen, nachdem er frank und frei erklärt hatte, ihm schmeckten nur Bier und Pfeife. Wie Lord Peter nicht zum erstenmal feststellte, hatte «gegen Ungeschliffenheit niemand etwas einzuwenden, aber bei Grausamkeit muß man eine Grenze ziehen».
An diesem Abend nun hatte Masterman (der kubistische Dichter) einen Gast mitgebracht, einen Mann namens Varden. Varden hatte sein Leben als Berufssportler begonnen, aber sein angegriffenes Herz hatte ihn gezwungen, diese glänzende Karriere aufzugeben und sein hübsches Gesicht mitsamt seiner bemerkenswert schönen Figur im Dienste der Filmleinwand zu Geld zu machen. Er war aus Los Angeles nach London gekommen, um die Werbetrommel für seinen großartigen neuen Film Marathon zu rühren, und entpuppte sich nun als ein recht angenehmer und unverdorbener Mensch – sehr zur großen Erleichterung des Clubs, denn Mastermans Gäste waren meist Glücksache.
Mit Varden befanden sich an diesem Abend acht Männer im Braunen Zimmer. Dieses Zimmer mit seinen getäfelten Wänden, gedämpften Lampen und schweren blauen Vorhängen war vielleicht der gemütlichste und angenehmste von dem runden halben Dutzend Rauchsalons, die der Club sein eigen nannte. Die Unterhaltung hatte ganz belanglos damit begonnen, daß Armstrong eine sonderbare kleine Begebenheit erzählte, deren Zeuge er um die Mittagszeit an der Station Temple geworden war, und Bayes hatte daraufhin gemeint, das sei ja noch gar nichts gegen die wirklich sehr merkwürdige Geschichte, die ihm persönlich eines Abends im dichten Nebel in der Euston Road passiert sei.
Masterman behauptete, in den einsameren Gegenden Londons lägen die Themen für einen Schriftsteller geradezu auf der Straße, und damit gab er seine eigene einzigartige Begegnung mit einer weinenden Frau und ihrem toten Affen zum besten, und dann spann Judson den Faden fort und erzählte, wie er einmal spätabends in einem einsamen Vorortviertel auf die Leiche einer Frau gestoßen sei, die mit einem Messer in der Seite auf der Straße gelegen habe, während in der Nähe ein Polizist gestanden und sich nicht gerührt habe. Er habe gefragt, ob er etwas tun könne, aber der Polizist habe nur geantwortet: «Ich würde mich da an Ihrer Stelle nicht einmischen, Sir; sie hat verdient, was sie gekriegt hat.» Judson sagte, der Vorfall sei ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und dann erzählte Pettifer einen merkwürdigen Fall aus seiner Arztpraxis, als ein ihm völlig unbekannter Mann ihn zu einem Haus in Bloomsbury geführt habe, wo eine Frau mit einer Strychninvergiftung gelegen und sich in Krämpfen gewunden habe. Dieser Mann habe ihm die ganze Nacht hindurch auf die intelligenteste Weise geholfen, und kaum sei die Patientin außer Lebensgefahr gewesen, da sei er geradewegs aus dem Haus marschiert und habe sich nie wieder blicken lassen; und das Komische sei gewesen, daß die Frau, als er (Pettifer) sie nach ihm fragte, höchst erstaunt geantwortet habe, sie habe den Mann ihr Lebtag nie gesehen und für Pettifers Assistenten gehalten.
«Das erinnert mich an etwas noch Komischeres, was mir einmal in New York passiert ist», sagte Varden, «und ich habe nie herausbekommen, ob dieser Mann nun ein Verrückter oder ein Witzbold war, oder ob ich wirklich mit knapper Not davongekommen bin.»
Das klang vielversprechend, und der Gast wurde bestürmt, seine Geschichte zu Gehör zu geben.
«Also, angefangen hatte das eigentlich schon vor Jahren», sagte der Schauspieler. «Sieben Jahre muß es wohl her sein – kurz bevor Amerika in den Krieg eintrat. Ich war damals fünfundzwanzig und arbeitete seit etwas über zwei Jahren beim Film. Es gab da einen Mann namens Eric P. Loder, der zu dieser Zeit in New York recht bekannt war und sicher ein sehr guter Bildhauer gewesen wäre, wenn er nicht mehr Geld gehabt hätte, als ihm guttat – so habe ich es wenigstens von Leuten gehört, die davon etwas verstehen. Er beschickte viele Galerien und veranstaltete selbst exklusive Einzelausstellungen, wohin dann die sogenannten Intellektuellen gingen – er hat viel in Bronze gearbeitet, glaube ich. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört, Masterman?»
«Ich habe noch nichts von ihm gesehen», sagte der Dichter, «aber ich erinnere mich an ein paar Fotos in The Art of To-Morrow. Raffiniert, nur ein bißchen überspannt. Hat er nicht viel von diesem chryselephantinen Zeug gemacht? Nur um zu zeigen, daß er sich das Material leisten kann, denke ich.»
«Ja, das klingt sehr nach ihm.»
«Natürlich – und dann hat er eine sehr schmissige und ebenso häßliche realistische Gruppe namens Lucina gemacht und besaß die Unverschämtheit, sie massiv in Gold gießen zu lassen und in seiner Diele aufzustellen.»
«Ach, dieses Ding! Doch – das fand ich einfach scheußlich, und ich konnte in der ganzen Idee auch absolut nichts Künstlerisches sehen. Realistisch würde man es wahrscheinlich nennen. Ich mag Bilder und auch Skulpturen, die man genießen kann, wenn man sie ansieht, denn wozu sind sie sonst da? Trotzdem hatte dieser Loder etwas sehr Anziehendes an sich.»
«Wie sind Sie ihm über den Weg gelaufen?»
«Ach so, ja. Nun, er hatte mich in diesem Filmchen gesehen, Apollo kommt nach New York – vielleicht erinnern Sie sich daran. Es war meine erste Hauptrolle. Handelt von einer Statue, die zum Leben erweckt wird – einer von diesen alten Göttern, Sie wissen ja –, und wie es ihm in einer modernen Stadt ergeht. Der gute alte Reubenssohn hat das Ding produziert. Also, das war ein Mann, der so etwas mit künstlerischer Vollendung durchziehen konnte. Es war überhaupt nichts Anstößiges in dem Film von Anfang bis Ende, alles ausgesprochen geschmackvoll, und dabei hatte ich doch im ersten Teil nichts weiter an als so eine Art Schärpe – nach der klassischen Statue, Sie verstehen.»
«Apollo von Belvedere?»
«Genau der. Also. Loder schrieb mir, er interessiere sich als Bildhauer für mich, weil ich eine gute Figur hätte und so weiter, und ob ich ihn nicht mal in New York besuchen könne, wenn ich frei sei. Ich habe mich also nach Loder erkundigt und fand, das wäre eine gute Werbung, und sowie mein Vertrag ausgelaufen war und ich ein bißchen Zeit zum Totschlagen hatte, habe ich mich nach Osten aufgemacht und ihn besucht. Er war sehr nett zu mir und lud mich ein, ein paar Wochen bei ihm zu bleiben, solange ich mich umschaute.
Er hatte ein großes, prächtiges Haus, etwa fünf Meilen außerhalb der Stadt, vollgestopft mit Bildern und Antiquitäten und so weiter. Er muß so zwischen fünfunddreißig und vierzig gewesen sein, schätze ich, so ein dunkler, geschmeidiger Typ mit sehr flinken, lebhaften Bewegungen. Er erzählte sehr gut; schien schon überall gewesen zu sein und alles gesehen zu haben und hatte offenbar von der Welt keine allzu gute Meinung. Man konnte stundenlang dasitzen und ihm zuhören; über jeden wußte er Anekdoten zu erzählen, vom Papst bis zu Phineas E. Groot vom Chikagoer Ring. Die einzigen Geschichten, die ich nicht gern von ihm hörte, waren die von der unanständigeren Sorte. Das soll nicht heißen, daß ich nicht auch mal an einer nicht ganz astreinen Geschichte meinen Spaß habe – halten Sie mich bitte nicht für einen Moralapostel, o nein –, aber er erzählte sie einem mit so einem Blick, als hätte er einen im Verdacht, persönlich etwas damit zu tun zu haben. Ich habe schon Frauen gekannt, die das taten, und ich habe Männer so etwas mit Frauen machen und die Frauen sich winden sehen, aber er war der einzige Mann, der mir je dieses Gefühl gegeben hat. Abgesehen davon war Loder jedoch der faszinierendste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Und wie gesagt, sein Haus war auf jeden Fall schön, und er pflegte eine erstklassige Tafel.
Er liebte es, alles vom Besten zu haben. Da war zum Beispiel seine Mätresse, Maria Morano. Ich glaube nicht, daß ich je eine Frau gesehen habe, die an sie herankam, und wenn man beim Film ist, stellt man naturgemäß hohe Ansprüche an weibliche Schönheit. Sie war eine große Frau mit solch zögernden, schönen Bewegungen, sehr sanft und mit einem trägen, offenen Lächeln. Bei uns in den Staaten wächst so etwas nicht. Sie kam aus dem Süden – eine Kabarettänzerin, sagte er, und sie widersprach ihm nicht. Er war sehr stolz auf sie, und sie schien ihm auf ihre Art sehr ergeben zu sein. Er pflegte sie in seinem Atelier vorzuführen, nur mit einem Feigenblatt bekleidet oder so – stellte sie neben eine der Plastiken, die er immer wieder von ihr machte, und verglich sie Punkt für Punkt damit. Es gab an ihr buchstäblich nur einen halben Zoll, der aus der Sicht des Bildhauers nicht absolut vollkommen war – die zweite Zehe an ihrem linken Fuß war kürzer als die große Zehe. Natürlich korrigierte er das an den Statuen immer. Sie hörte sich das alles mit gutmütigem Lächeln an – wohl irgendwie geschmeichelt, obschon ich glaube, das arme Mädchen war es manchmal leid, immerzu so angeglotzt zu werden. Manchmal kam sie zu mir und vertraute mir an, ihr eigentlicher Traum sei es immer gewesen, einmal ein eigenes Restaurant zu führen, mit Kabarett und ganz vielen Köchen mit weißen Schürzen und allen möglichen blitzenden elektrischen Kochgeräten. ‹Und dann würde ich heiraten›, sagte sie, ‹und vier Söhne und eine Tochter haben.› Und dann zählte sie mir die Namen auf, die sie sich schon für ihre Familie ausgesucht hatte. Ich fand das ziemlich rührend. Nach einem solchen Gespräch kam Loder einmal dazu. Er hatte so ein Grinsen im Gesicht, daß ich behaupten möchte, er hatte gelauscht. Ich glaube nicht, daß er das besonders ernst genommen hat, was aber nur zeigt, daß er sie nie so ganz richtig verstanden hat. Ich glaube, er hätte sich gar nicht vorstellen können, daß irgendeine Frau das Leben, an das er sie gewöhnt hatte, aufzugeben bereit sein könnte, und wenn er in seiner Art auch ein wenig herrschsüchtig war, hat er ihr doch wenigstens nie eine Rivalin vorgesetzt. Trotz seines ganzen Geredes und seiner häßlichen Statuen hatte sie ihn fest in der Hand, und das wußte sie auch.
Ich blieb schließlich fast einen ganzen Monat da, und es war eine herrliche Zeit. Zweimal bekam Loder so einen Kunstrappel; da schloß er sich zum Arbeiten in sein Atelier ein und ließ mehrere Tage hintereinander niemanden zu sich. Solche Auftritte liebte er, und wenn es dann überstanden war, machten wir eine Party, zu der alle seine Freunde und Verehrer kamen, um das Kunstwerk zu betrachten. Er arbeitete am Standbild irgendeiner Nymphe oder Göttin, glaube ich, die er in Silber gießen wollte, und Maria pflegte ihm dafür Modell zu sitzen. Abgesehen von diesen Perioden zog er viel herum, und wir bekamen alles zu sehen, was es so zu sehen gab.
Ich muß zugeben, daß ich recht verstimmt war, als das zu Ende ging. Amerika erklärte den Krieg, und ich hatte mich schon vorher entschlossen, einzurücken, wenn es dazu käme. Mit meinem Herzen kam ich für die Front ja nicht in Frage, aber ich rechnete damit, schon irgendeine Aufgabe zu bekommen, wenn ich nur hartnäckig bliebe, also packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg.
Ich hätte nicht geglaubt, daß es Loder so aufrichtig nahegehen würde, von mir Abschied zu nehmen. Ein ums andere Mal sagte er, wir würden uns bald wiedersehen. Ich bekam dann aber doch eine Stelle bei der Sanitätstruppe und wurde nach Europa verlegt, und so dauerte es bis 1920, bis ich Loder wiedersah.
Er hatte mir zuvor schon geschrieben, aber ich hatte 1919 zwei große Filme zu drehen, und es ging nicht. Aber 1920 fand ich mich dann in New York wieder, wo ich für Ein Hauch von Leidenschaft Reklame machte, und da bekam ich ein Briefchen von Loder, in dem er mich zu sich einlud und mich bat, ihm Modell zu sitzen. Nun ja, das war eine Art Reklame, für die er auch noch selbst bezahlte, also nahm ich an. Ich hatte ein Engagement bei Mystofilm für Jake aus dem Totenbusch – diesen Zwergenfilm, wissen Sie, der an Ort und Stelle bei den australischen Buschmännern gedreht wurde. Ich schickte denen ein Telegramm, daß ich in der dritten Aprilwoche in Sydney zu ihnen stoßen würde, und zog mit Sack und Pack zu Loder.
Loder begrüßte mich überaus herzlich, aber ich fand, er war ziemlich gealtert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ganz sicher aber war er alles in allem nervöser. Er war – wie soll ich es ausdrücken? – angespannter – in gewisser Weise auch echter. Seine Lieblingssarkasmen brachte er so, als ob er sie durch und durch ernst meinte, und das immer mehr in einem Ton, als meinte er einen damit persönlich. Ich hatte ja immer geglaubt, seine Zweifel an allem seien nur künstlerische Pose, aber ich bekam allmählich das Gefühl, daß ich ihm da unrecht getan hatte. Er war wirklich unglücklich, das sah ich ihm an, und bald fand ich auch den Grund heraus. Während wir in seinem Wagen zu ihm hinausfuhren, fragte ich ihn nach Maria.
‹Sie hat mich verlassen›, sagte er.
Nun, ich muß sagen, das überraschte mich wirklich. Offen gestanden, ich hatte der Frau nicht soviel Initiative zugetraut. ‹Nanu›, sagte ich, ‹hat sie am Ende wirklich dieses Restaurant aufgemacht, das sie sich so sehr wünschte?›
‹Ach, hat sie Ihnen etwas von einem Restaurant erzählt?› meinte Loder. ‹Ich glaube, Sie gehören zu den Männern, denen die Frauen sich anvertrauen. Nein, sie hat sich nur lächerlich gemacht. Sie ist fort.›
Ich wußte nicht recht, was ich darauf sagen sollte. Er war so offensichtlich in seiner Eitelkeit verletzt, ebenso wie in seinen Gefühlen. Ich murmelte die üblichen Floskeln und sagte, das sei wohl ein großer Verlust für seine Arbeit wie auch sonst. Das bejahte er.
Ich fragte ihn, wann das passiert sei, und ob er denn die Nymphe noch habe fertigstellen können, an der er vor meinem Weggang gearbeitet habe. O ja, sagte er, die habe er noch fertig gemacht, auch noch etwas anderes, ziemlich Originelles, das mir sicher gefallen werde.
Nun, wir kamen also bei ihm zu Hause an und aßen zu Abend, und er erzählte mir, er werde demnächst nach Europa reisen, genauer gesagt, ein paar Tage nach meiner eigenen Abreise. Die Nymphe stand im Eßzimmer in einer eigens in die Wand eingelassenen Nische. Sie war wirklich schön, nicht so protzig wie die meisten Sachen von ihm, und die Ähnlichkeit mit Maria war sehr groß. Loder setzte mich ihr gegenüber, so daß ich sie beim Abendessen sehen konnte, und ich muß wirklich sagen, ich konnte kaum den Blick davon wenden. Er schien sehr stolz darauf zu sein und sagte mir wieder und wieder, wie sehr es ihn freue, daß sie mir gefalle. Mir fiel auf, daß er sich angewöhnt hatte, sich ständig zu wiederholen.
Nach dem Essen gingen wir in den Rauchsalon. Diesen hatte er inzwischen anders einrichten lassen, und das erste, was einem ins Auge fiel, war ein großes Sofa vor dem Kamin. Es war einen knappen Meter hoch und war konstruiert ähnlich wie eine altrömische Liege, mit Kissen und hohem Rückenteil, alles aus Eiche mit eingelegtem Silber gefertigt; aber das, worauf man eigentlich sitzt, wenn Sie mir folgen können, bestand aus einer großen, liegenden nackten Frau aus Silber, lebensgroß, mit zurückgeworfenem Kopf, die Arme entlang den Sofaseiten ausgebreitet. Ein paar große lose Kissen machten es möglich, das Ding wirklich als Sitzgelegenheit zu benutzen, obschon ich sagen muß, daß es nicht gerade bequem war, wenn man anständig darauf sitzen wollte. Als Bühnenrequisit, das Ausschweifung symbolisieren sollte, wäre das Ding großartig gewesen, aber wenn man sah, wie Loder sich an seinem Kamin darauf herumflegelte, konnte man schon einen Schrecken bekommen. Er schien aber mit großer Liebe daran zu hängen.
‹Ich sagte Ihnen ja, daß es etwas Originelles sei›, meinte er.
Daraufhin schaute ich mir das Ding etwas näher an und sah, daß die Figur tatsächlich Maria darstellte, obschon das Gesicht nur ziemlich grob skizziert war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich nehme an, er hielt bei einem Möbelstück einen kühneren Schwung für passender.
Aber mir kam, als ich dieses Sofa sah, doch der Gedanke, daß Loder wohl ein bißchen degeneriert sei. Und in den folgenden vierzehn Tagen wurde mir in seiner Gesellschaft immer unbehaglicher. Diese Art von ihm, einen persönlich anzusprechen, trat von Tag zu Tag deutlicher hervor, und manchmal, wenn ich ihm Modell stand, saß er da und sagte einem die niederträchtigsten Sachen, wobei er einen auf die übelste Weise fixierte, nur um zu sehen, wie man es aufnahm. Auf mein Wort, obwohl er mich über die Maßen verwöhnte, bekam ich langsam das Gefühl, daß mir unter den Buschmännern wohler sein würde.
So, und nun komme ich zu dem komischen Vorfall.»
Alle setzten sich auf und spitzten die Ohren.
«Es war an dem Abend, bevor ich New York verlassen sollte», sagte Varden. «Ich saß –»
An dieser Stelle öffnete jemand die Tür zum Braunen Zimmer und wurde von Bayes mit einer warnenden Geste begrüßt. Der Eindringling ließ sich unauffällig in einen großen Sessel sinken und mixte sich behutsam, um den Erzähler nur ja nicht zu stören, einen Whisky.
«Ich saß im Rauchsalon», fuhr Varden fort, «und wartete auf Loder. Ich hatte das Haus ganz für mich allein, denn Loder hatte den Dienstboten frei gegeben, damit sie in irgendeinen Film oder Vortrag gehen konnten, und er selbst mußte seine Vorbereitungen für die Europareise treffen und war mit seinem Agenten verabredet. Ich mußte irgendwie eingedöst sein, denn es dämmerte schon, als ich plötzlich hochschreckte und einen jungen Mann unmittelbar vor mir sah.
Er sah überhaupt nicht aus wie ein Einbrecher und schon gar nicht wie ein Gespenst. Fast möchte ich sagen, er sah ungewöhnlich gewöhnlich aus. Er trug einen grauen englischen Anzug, einen rehbraunen Mantel über dem Arm, einen Filzhut und einen Stock in der Hand. Er hatte glattes, helles Haar und so eins von diesen ziemlich einfältigen Gesichtern mit langer Nase und einem Monokel. Ich konnte ihn nur groß ansehen, denn ich wußte, daß die Haustür verschlossen war, aber bevor ich mich noch von meinem Schrecken erholt hatte, sprach er schon. Er hatte eine eigenartige, unaufdringliche, etwas heisere Stimme und einen starken englischen Akzent. Zu meiner Überraschung fragte er:
‹Sind Sie Mr. Varden?›
‹Sie sind mir voraus›, antwortete ich.
Er sagte: ‹Entschuldigen Sie, daß ich hier so hereinplatze. Ich weiß, das sieht sehr nach schlechten Manieren aus, aber Sie täten gut daran, so schnell wie möglich aus diesem Haus zu verschwinden.›
‹Zum Teufel, was meinen Sie damit?› fragte ich.
‹Ich meine das in keiner Weise unverschämt›, antwortete er, ‹aber Sie müssen wissen, daß Loder Ihnen nie verziehen hat, und nun fürchte ich, daß er Sie zu einem Hutständer oder einer Stehlampe oder sonstwas verarbeiten will.›
Mein Gott! Ich kann Ihnen sagen, mir war ganz komisch. Er sprach mit so ruhiger Stimme, und seine Manieren waren tadellos, aber was er da von sich gab, hatte weder Hand noch Fuß. Mir schoß durch den Kopf, daß Verrückte doch angeblich ganz besonders kräftig sein sollen, und ich bewegte mich unauffällig auf die Klingel zu – bis mir siedendheiß einfiel, daß ich ja allein im Haus war.
‹Wie kommen Sie hier herein?› fragte ich mit dem Mut der Verzweiflung.
‹Mit einem Dietrich, wie ich leider gestehen muß›, sagte er so gelassen, als entschuldigte er sich nur dafür, daß er keine Visitenkarte bei sich habe. ‹Ich konnte mich nicht darauf verlassen, daß Loder nicht inzwischen wiedergekommen ist. Aber ich finde wirklich, Sie sollten hier so schnell wie möglich verschwinden.›
‹Hören Sie mal›, sagte ich, ‹wer sind Sie eigentlich, und worauf wollen Sie in drei Teufels Namen hinaus? Was soll das heißen, daß Loder mir nie verziehen hat? Was verziehen?›
‹Nun›, sagte er, ‹die Sache – Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich mich hier scheinbar in Ihre Privatangelegenheiten mische –, also, die Sache mit Maria Morano.›
‹Zum Kuckuck, was für eine Sache?› rief ich. ‹Was wissen Sie überhaupt von ihr? Sie ist hier weggegangen, während ich im Krieg war. Was hat das mit mir zu tun?›
‹Oh!› sagte der merkwürdige junge Mann. ‹Ich bitte vielmals um Verzeihung. Vielleicht habe ich mich da zu sehr auf Loders Urteil verlassen. Wie dumm von mir. Aber die Möglichkeit, daß er im Irrtum sein könnte, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Er bildet sich ein, Sie seien Maria Moranos Liebhaber gewesen, als Sie das letzte Mal hier waren.›
‹Marias Liebhaber?› rief ich. ‹Lächerlich! Sie ist mit ihrem Freund abgehauen, wer das auch sein mag. Loder muß doch wissen, daß sie nicht mit mir fortgegangen ist.›
‹Maria hat das Haus überhaupt nie verlassen›, sagte der junge Mann, ‹und wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, garantiere ich nicht dafür, daß Sie es je verlassen werden.›
‹Um Gottes willen!› rief ich, außer mir. ‹Was soll das heißen?›
Der Mann drehte sich um und warf die blauen Kissen vom Fuß des silbernen Sofas.
‹Haben Sie sich schon einmal die Zehen von diesem Ding da angesehen?› fragte er.
‹Nicht so genau›, antwortete ich immer verwunderter. ‹Warum sollte ich?›
‹Können Sie sich erinnern, daß Loder je eine Plastik von ihr mit dieser kurzen Zehe am linken Fuß gemacht hat?› fuhr er fort.
Also, daraufhin habe ich sie mir angesehen, und es war so, wie er gesagt hatte – am linken Fuß war die zweite Zehe kurz.
‹Stimmt›, sagte ich, ‹aber warum eigentlich nicht?›
‹Eben, warum nicht?› meinte der junge Mann. ‹Möchten Sie vielleicht einmal sehen, warum von allen Plastiken, die Loder von Maria gemacht hat, diese hier die einzige mit den Füßen des lebenden Originals ist?›
Er nahm den Schürhaken in die Hand.
‹Passen Sie mal auf›, sagte er.
Mit viel mehr Kraft, als ich ihm zugetraut hätte, ließ er das Ende des Schürhakens auf das silberne Sofa krachen. Er traf einen der Arme der Statue genau am Ellbogengelenk und hinterließ ein gezacktes Loch im Silber. Dann packte er den Arm und riß ihn los. Er war innen hohl, und so wahr ich lebe, sage ich Ihnen, daß ein langer, trockener Armknochen darin steckte.»
Varden legte eine Atempause ein und trank einen kräftigen Schluck Whisky.
«Und?» riefen mehrere atemlose Stimmen.
«Nun», fuhr Varden fort, «ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich aus dem Haus gerannt bin wie das Karnickel aus dem Kohlfeld, wenn es den Mann mit der Flinte kommen hört. Direkt vor dem Haus stand ein Wagen, und der Fahrer öffnete die Tür. Ich taumelte hinein, und da überkam es mich, daß dies eine Falle sein könnte, also sprang ich wieder hinaus und rannte, bis ich an der Straßenbahn war. Aber anderntags fand ich mein Gepäck am Bahnhof vor, ordnungsgemäß nach Vancouver aufgegeben.
Als ich wieder zu mir kam, fragte ich mich dann doch, was Loder wohl von meinem plötzlichen Verschwinden halten würde, doch in dieses Schreckenshaus zurückzukehren hätte ich sowenig über mich gebracht, wie Gift zu nehmen. Ich fuhr am anderen Morgen nach Vancouver ab, und von da an bis zum heutigen Tage habe ich keinen der beiden Männer je wiedergesehen. Ich habe bis heute nicht den blassesten Schimmer, wer dieser blonde junge Mann war oder was aus ihm geworden ist, aber auf Umwegen erfuhr ich, daß Loder tot sei – es muß wohl irgendwie ein Unfall gewesen sein.»
Es trat eine Pause ein, bis Armstrong sagte:
«Das war eine verteufelt gute Geschichte, Mr. Varden.» Armstrong glaubte auf vielen Gebieten mitreden zu können und war der eigentliche Hauptgrund für Mr. Arbuthnots Antrag, das Thema Radio auf den Index zu setzen. «Aber wollen Sie damit vielleicht sagen, daß sich in dieser Silberplastik ein komplettes Skelett befand? Meinen Sie, Loder hat es in die Gußform gelegt, als sie gegossen wurde? Das wäre aber arg schwierig und gefährlich gewesen – die kleinste Panne hätte ihn der Gnade und Barmherzigkeit seiner Arbeiter ausgeliefert. Und die Statue müßte erheblich überlebensgroß gewesen sein, um ein vollständiges Skelett aufnehmen zu können.»
«Mr. Varden hat Sie unabsichtlich in die Irre geführt, Armstrong», sagte plötzlich eine ruhige, heisere Stimme aus dem Schatten hinter Vardens Sessel. «Die Statue war nicht aus Silber, sondern über einer direkt auf den Körper aufgebrachten Kupferschicht mit Silber galvanisiert. Die Dame war sozusagen versilbert. Ich nehme an, daß ihre Weichteile, nachdem der Vorgang beendet war, mit Pepsin oder einem ähnlichen Präparat aufgelöst wurden, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen.»
«Hallo, Wimsey», sagte Armstrong. «Waren Sie das, der da eben reingekommen ist? Und woher diese selbstsichere Behauptung?»
Die Wirkung, die Wimseys Stimme auf Varden hatte, war ungeheuer. Er war aufgesprungen und hatte die Lampe gedreht, so daß ihr Schein auf Wimseys Gesicht fiel.
«Guten Abend, Mr. Varden», sagte Lord Peter. «Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen und mich für mein unhöfliches Betragen anläßlich unserer letzten Begegnung entschuldigen zu können.»
Varden nahm die dargebotene Hand, aber er war sprachlos.
«Wollen Sie sagen, Sie alter Geheimniskrämer, daß Sie Vardens großer Unbekannter waren?» verlangte Bayes zu wissen. «Ach ja», fügte er boshaft hinzu, «nach der lebensechten Beschreibung hätten wir es uns ja denken können.»
«Also, wenn Sie schon einmal hier sind», meinte Smith-Hartington vom Morning Yell, «sollten Sie jetzt auch den Rest der Geschichte zum besten geben.»
«War es nur ein Scherz?» fragte Judson.
«Natürlich nicht», mischte Pettifer sich ein, noch ehe Lord Peter Zeit zum Antworten gefunden hatte. «Wieso sollte es ein Scherz sein? Wimsey hat schon so viele komische Sachen erlebt, daß er es gar nicht nötig hat, seine Zeit zu vertun und extra noch welche zu erfinden.»
«Stimmt allerdings auch wieder», sagte Bayes. «Das kommt davon, wenn man eine detektivische Ader hat und immer seine Nase in Dinge steckt, die man besser in Ruhe ließe.»
«Schön und gut, Bayes», antwortete Seine Lordschaft, «aber wenn ich Mr. Varden an diesem Abend nicht Bescheid gesagt hätte, wo wäre er dann jetzt?»
«Eben, wo? Genau das wollen wir ja alle wissen», sagte Smith-Hartington. «Los, Wimsey. Keine Ausreden. Wir müssen die Geschichte zu Ende hören.»
«Und zwar die ganze Geschichte», fügte Pettifer hinzu.
«Und nichts als die Geschichte», sagte Armstrong, indem er mit einer geschickten Bewegung Whiskyflasche und Zigarren unter Lord Peters Nase wegschnappte. «Heraus damit, mein Alter. Keinen Zug sollt Ihr rauchen, keinen Trunk sollt Ihr trinken, bis daß Jungfer Ellen befreit sei.»
«Scheusal!» beschwerte sich Seine Lordschaft. «Um die Wahrheit zu sagen», fuhr er dann in verändertem Tonfall fort, «möchte ich diese Geschichte eigentlich nicht zu sehr rundgehen lassen. Sie könnte mich in eine sehr unangenehme Lage bringen – Totschlag wahrscheinlich, vielleicht sogar Mord.»
«Mein Gott!» sagte Bayes.
«Das geht schon klar», sagte Armstrong. «Von uns wird keiner reden. Wir können es uns nämlich nicht leisten, Sie als Clubmitglied zu verlieren. Smith-Hartington wird eben seine Schlagzeilengier einmal bezähmen müssen.»
Nachdem von allen Seiten Diskretion gelobt worden war, lehnte Lord Peter sich also zurück und begann seine Erzählung.
«Der sonderbare Fall Eric P. Loder belegt wieder einmal, auf welch seltsame Weise irgendeine Macht jenseits unseres unbedeutenden menschlichen Willens die Geschicke der Menschen lenkt. Nennen wir sie Vorsehung – nennen wir sie Schicksal –»
«Wir nennen das gar nicht», sagte Bayes. «Den Teil können Sie sich sparen.»
Lord Peter stöhnte und begann von vorn.
«Also, das erste, was mich auf Loder neugierig machte, war eine beiläufige Bemerkung eines Mannes im New Yorker Auswanderungsamt, wo ich gerade dieser dummen Geschichte mit Mrs. Bilt nachging. Der Mann sagte nämlich: ‹Was in aller Welt will Eric Loder denn in Australien? Ich dachte immer, Europa wäre mehr sein Fall.›
‹Australien?› fragte ich. ‹Sie müssen sich irren, mein Bester. Er hat mir erst neulich gesagt, daß er in drei Wochen nach Italien will.›
‹Italien, nichts da!› sagte er. ‹Erst heute hat er hier das ganze Haus verrückt gemacht und wollte wissen, wie man nach Sydney kommt und was es da für Formalitäten zu erledigen gibt und so weiter.›
‹Oh›, sagte ich, ‹dann nimmt er wohl die Pazifikroute und will unterwegs in Sydney Station machen.› Aber es wunderte mich, warum er davon nichts erwähnt hatte, als er am Tag zuvor mit mir sprach. Er hatte eindeutig gesagt, er wolle nach Europa fahren und Paris sehen, bevor er nach Rom weiterreise.
Ich wurde derart neugierig, daß ich zwei Tage später hinfuhr und Loder besuchte.
Er schien sich richtig zu freuen, mich zu sehen, und sprudelte förmlich über von seiner bevorstehenden Reise. Ich fragte ihn noch einmal nach seiner Reiseroute, und er antwortete unmißverständlich, er fahre über Paris.
So weit, so gut, und es ging mich ja im Grunde auch nichts an, also wechselten wir das Thema. Er erzählte mir, daß Mr. Varden ihn noch besuchen und eine Weile bei ihm bleiben werde, bevor er fahre, und daß er ihn gerne überreden wolle, ihm Modell zu sitzen, bevor er abreise. Er sagte, er habe noch nie einen so vollkommen gebauten Mann gesehen. ‹Ich wollte ihn schon einmal dafür haben›, sagte er, ‹aber da brach der Krieg aus, und er ging zur Armee, noch ehe ich anfangen konnte.›
Die ganze Zeit lümmelte er sich dabei auf diesem gräßlichen Sofa herum, und als ich mich einmal zufällig zu ihm umdrehte, sah ich ein derart häßliches Glitzern in seinen Augen, daß ich einen richtigen Schrecken bekam. Er streichelte der Figur über den Hals und grinste sie an.
‹Hoffentlich nicht wieder so eine Plattierung›, sagte ich.
‹Nun›, antwortete er, ‹ich hatte schon daran gedacht, gewissermaßen ein Pendant zu dem hier zu machen – Der schlafende Athlet oder in der Art.›
‹Sie sollten die Figur doch lieber gießen›, sagte ich. ‹Warum haben Sie das Zeug so dick aufgetragen? Das zerstört doch die ganzen Feinheiten.›
Das ärgerte ihn. Er hörte es nie gern, wenn man dieses Kunstwerk kritisierte.
‹Das war ein Experiment›, sagte er. ‹Das nächste soll ein richtiges Meisterwerk werden. Sie werden ja sehen.›
Etwa an diesem Punkt der Unterhaltung kam der Butler und fragte, ob er ein Bett für mich herrichten solle, weil es so eine scheußliche Nacht sei. Wir hatten nicht so sehr aufs Wetter geachtet, obwohl es schon etwas bedrohlich ausgesehen hatte, als ich in New York aufgebrochen war. Aber als wir jetzt nach draußen sahen, goß es aus Eimern. Das wäre ja sonst nicht so schlimm gewesen, aber ich war nur in einem offenen kleinen Rennwagen gekommen und hatte keinen Mantel bei mir, und die Vorstellung, fünf Meilen weit durch diesen strömenden Regen zu fahren, war alles andere als verlockend. Loder drängte mich, dazubleiben, und ich war einverstanden.
Ich fühlte mich ziemlich kaputt und ging sogleich zu Bett. Loder sagte, er wolle vorher noch ein wenig in seinem Atelier arbeiten, und ich sah ihn über den Flur fortgehen.
Sie gestatten mir nicht, von Vorsehung zu sprechen, also will ich nur sagen, daß es ein erstaunlicher Zufall war, daß ich gegen zwei Uhr morgens aufwachte und mich in einer Wasserpfütze wiederfand. Der Diener hatte mir eine Wärmflasche ins Bett gelegt, weil es lange nicht mehr benutzt worden war, und an dem gemeinen Ding hatte sich der Verschluß gelöst. Zehn Minuten lang lag ich in meinem nassen Elend da, bevor ich genug Willenskraft zusammenraffen konnte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dann sah ich allerdings, daß es hoffnungslos war – Laken, Decken, Matratze, alles durchgeweicht. Ich sah den Sessel und hatte plötzlich eine großartige Idee. Mir fiel nämlich ein, daß im Atelier ein herrlicher großer Diwan mit einer schönen Felldecke und einem dicken Stapel Kissen stand. Warum nicht dort den Rest der Nacht verbringen? Ich nahm die kleine elektrische Taschenlampe, die ich immer bei mir habe, und machte mich auf den Weg dorthin.
Das Atelier war leer, darum nahm ich an, daß Loder sich auch schon in die Falle begeben hatte. Aber der Diwan stand da, halb verdeckt von einer spanischen Wand, und ich kroch unter die Decke und schickte mich an, wieder einzuschlafen.
Ich war gerade wieder schön schläfrig geworden, da hörte ich Schritte, aber nicht vom Flur, sondern anscheinend von der anderen Seite des Zimmers her. Ich war überrascht, denn ich wußte nicht, daß es in dieser Richtung noch einen Ausgang gab. Ich blieb still auf dem Diwan liegen, und bald darauf sah ich einen Lichtstreifen aus dem Schrank fallen, in dem Loder sein Werkzeug und anderes aufbewahrte. Der Streifen wurde breiter, und Loder kam heraus, in der Hand eine Taschenlampe. Er schloß die Schranktür ganz leise hinter sich und kam durchs Atelier. Vor der Staffelei blieb er stehen und schlug die Decke zurück. Ich konnte ihn durch eine Ritze in der spanischen Wand beobachten. Er stand ein paar Minuten vor der Staffelei und betrachtete eine Skizze darauf, und dann ließ er das häßlichste gurgelnde Lachen ertönen, das ich jemals zu hören das Vergnügen hatte. Wenn ich je ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, ihm meine unbefugte Gegenwart anzuzeigen, so ließ ich ihn spätestens jetzt fallen. Bald darauf deckte er die Staffelei wieder zu und ging durch die Tür hinaus, durch die ich hereingekommen war.
Ich wartete, bis ich sicher sein konnte, daß er wirklich fort war, dann stand ich auf – unerhört still und leise, darf ich sagen. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Staffelei, um zu sehen, was für ein faszinierendes Kunstwerk sich darauf befand. Ich sah auf den ersten Blick, daß es ein Entwurf für die Skulptur Der schlafende Athlet war, und während ich ihn mir ansah, beschlich mich so etwas wie eine entsetzliche Gewißheit. Es war eine Idee, die in der Magengegend begann und sich langsam bis in die Haarwurzeln fortpflanzte.
Meine Familie behauptet immer, ich sei zu neugierig. Ich kann nur sagen, daß keine zehn wilden Pferde mich davon hätten abhalten können, diesen Schrank unter die Lupe zu nehmen. Mit dem Gefühl, daß irgend etwas ganz Abscheuliches mir daraus entgegenspringen könnte – ich war inzwischen ein bißchen überdreht, und es war ein unerfreulicher nächtlicher Zeitpunkt –, legte ich heldenhaft die Hand auf den Türgriff.
Zu meinem Erstaunen war die Tür nicht einmal zugeschlossen. Sie ging anstandslos auf und enthüllte nur einen Satz vollkommen unschuldiger, ordentlicher Regale, zwischen denen Loder sich unmöglich aufgehalten haben konnte.
Inzwischen war natürlich mein Blut in Wallung, also begann ich nach dem Schnappschloß zu suchen, von dem ich wußte, daß es irgendwo sein mußte, und ich fand es auch ohne Schwierigkeit. Die Schrankrückwand schwang lautlos nach innen auf, und ich befand mich oberhalb einer schmalen Treppe.
Ich hatte soviel Verstand, mich zu vergewissern, daß die Tür sich auch von innen öffnen ließ, bevor ich weiterging, sowie mich mit einem kräftigen Stößel zu bewaffnen, den ich auf einem der Regale fand, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Dann schloß ich die Tür und schwebte leichtfüßig wie ein Elfchen diese hübsche Treppe hinunter.
Unten war wieder eine Tür, aber ich brauchte nicht lange, um ihr Geheimnis zu ergründen. Mit einem Gefühl höchster Erregung stieß ich sie kühn auf, den Stößel zur Tat bereit.
Der Raum schien aber leer zu sein. Der Strahl meiner Taschenlampe schimmerte auf etwas Flüssigem, und dann fand ich den Wandschalter.
Ich sah einen großen quadratischen, als Werkstatt eingerichteten Raum. An der rechten Wand befand sich ein breites Schaltbrett, darunter eine Werkbank. Von der Mitte der Decke hing eine große Lampe herunter, die ihr Licht auf eine Glaswanne warf, über zwei Meter lang und etwa einen Meter breit. Ich knipste diese Lampe an und schaute in die Wanne. Sie war mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt, die ich sofort als die übliche Zusammensetzung von Zyanid und Kupfersulfat erkannte, wie man sie zum Verkupfern nimmt.
Die Haken an den Drähten darüber waren leer, aber in einer Ecke des Raumes stand eine halb geöffnete Packkiste, und als ich den Deckel anhob, sah ich darunter Reihen um Reihen von Kupferanoden – genug davon, um eine lebensgroße Figur mit einer über einen halben Zentimeter dicken Kupferschicht zu überziehen. Es stand auch noch eine kleinere Kiste da, die noch zugenagelt war, aber aus ihrem Gewicht und Aussehen schloß ich, daß sie das Silber für die restliche Prozedur enthielt. Ich suchte aber noch etwas, und bald hatte ich es gefunden – eine beachtliche Menge von präpariertem Graphit und ein großes Gefäß mit Firnis.
Natürlich gab es keinen eigentlichen Beweis dafür, daß da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugehen sollte. Es gab überhaupt keinen Grund, warum Loder nicht einen Gipsabguß machen und diesen plattieren sollte, wenn ihm nach so etwas der Sinn stand. Aber dann fand ich etwas, was nicht auf legale Weise hierher gekommen sein konnte.
Auf der Werkbank lag ein ovales Kupferplättchen von etwa vier Zentimetern Länge – das Ergebnis von Loders Nachtarbeit, dachte ich mir. Es war eine Elektrotype des amerikanischen Konsularsiegels, des Stempels, den sie einem auf das Paßfoto drücken, damit man es nicht einfach abnehmen und durch ein Konterfei seines Freundes Jiggs ersetzen kann, der gern außer Landes gehen möchte, weil er bei Scotland Yard so beliebt ist.
Ich setzte mich auf Loders Arbeitsschemel und ging diesen hübschen kleinen Plan in allen Details durch. Ich sah, daß er an drei Angelpunkten hing. Als erstes mußte ich herausfinden, ob Varden die Absicht hatte, in Kürze nach Australien abzudampfen, denn wenn nicht, warf das alle meine schönen Theorien über den Haufen. Und zweitens würde es der Sache sehr förderlich sein, wenn er gleich Loder dunkle Haare hätte, die er, wie Sie sehen, hat – dunkel genug zumindest, um der Beschreibung im Paß Genüge zu tun. Ich hatte ihn nur in diesem Apollo-Film gesehen, und da hatte er eine blonde Perücke aufgehabt. Aber ich wußte, wenn ich lange genug dablieb, würde ich ihn bald zu sehen bekommen, weil er ja eine Zeitlang bei Loder sein würde. Und drittens mußte ich natürlich herausfinden, ob Loder irgendeinen Grund haben könnte, Varden übelzuwollen.
Nun, ich fand, daß ich schon so lange da unten war, wie es gerade noch gesund für mich sein konnte. Loder konnte jeden Augenblick wiederkommen, und ich vergaß nicht, daß eine Wanne voller Kupfersulfat und Zyankali ein bestens geeignetes Mittel sein konnte, sich einen allzu neugierigen Gast vom Hals zu schaffen. Und ich kann nicht behaupten, daß ich allzu große Lust gehabt hätte, für ein Stück von Loders Hausrat Modell zu stehen. Ich habe noch nie Dinge leiden können, die nicht sind, was sie darstellen – Bände von Dickens zum Beispiel, die sich als Keksdosen entpuppen, und ähnlichen Krimskrams; und wenn ich auch kein allzu großes Interesse für mein eigenes Begräbnis aufbringe, hätte ich es doch gern geschmackvoll. Ich ging so weit, alle Fingerabdrücke fortzuwischen, die ich hinterlassen haben mochte, dann ging ich ins Atelier zurück und brachte den Diwan wieder in Ordnung. Ich hatte das Gefühl, Loder würde nicht allzu begeistert davon sein, daß ich da unten gewesen war.
Es gab aber noch etwas anderes, was meine Neugier erregte. Ich schlich auf Zehenspitzen über den Flur zurück in den Rauchsalon. Das Silbersofa glomm im Schein der Taschenlampe. Ich hatte das Gefühl, es noch fünfzigmal weniger leiden zu können als vorher. Aber ich nahm mich zusammen und sah mir die Füße ganz genau an. Von Maria Moranos zweiter Zehe hatte ich natürlich schon gehört.
Den Rest der Nacht verbrachte ich dann doch im Sessel.
Wegen der Sache mit Mrs. Bilt und diesem und jenem und den Erkundigungen, die ich einziehen mußte, kam ich dann erst ziemlich spät dazu, mich in Loders Spielchen einzumischen. Ich bekam heraus, daß Varden ein paar Monate vor dem Verschwinden der schönen Maria bei Loder zu Gast gewesen war. Ich fürchte, daß ich da ein bißchen voreilig war, Mr. Varden. Ich dachte, da sei vielleicht wirklich etwas gewesen.»
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen», sagte Varden lachend. «Filmschauspieler sind doch für ihre Unmoral berüchtigt.»
«Reiben Sie es mir nur kräftig rein», versetzte Wimsey ein wenig gekränkt. «Ich entschuldige mich. Jedenfalls kam es, was Loder betraf, auf dasselbe heraus. Dann gab es noch eine Kleinigkeit, über die ich mir völlige Gewißheit verschaffen mußte. Das Galvanisieren – erst recht bei einer so kniffligen Arbeit, wie sie mir vorschwebte – ist nichts, was sich in einer Nacht bewerkstelligen läßt; andererseits erschien es unbedingt notwendig, daß man Mr. Varden bis zum Tag seiner geplanten Abreise lebend in New York sah. Ebenso klar war, daß Loder es darauf anlegen mußte, beweisen zu können, daß ein Mr. Varden New York planmäßig verlassen hatte und wirklich in Sydney angekommen war. Folglich mußte ein falscher Mr. Varden mit Vardens Papieren und Vardens Paß, in den ein neues Foto einmontiert und getreulich mit dem Konsularsiegel versehen war, hier abreisen und in Sydney sang- und klanglos verschwinden, um sich in Mr. Eric Loder zurückzuverwandeln und mit einem vollkommen echten eigenen Paß weiterzureisen. Nun, und in diesem Falle mußte selbstverständlich auch ein Telegramm an Mystofilm aufgegeben werden, des Inhalts, daß man Mr. Varden mit einem späteren Schiff als angekündigt zu erwarten habe. Diesen Teil der Ermittlungen überließ ich meinem Diener Bunter, der da ungemein tüchtig ist. Dieser treue Geselle beschattete Loder drei Wochen lang auf Schritt und Tritt, und zu guter Letzt wurde das Telegramm in einem Postamt am Broadway, wo man (wiederum dank einer glücklichen Fügung der Vorsehung) extrem harte Bleistifte zur Verfügung stellt, genau einen Tag vor Mr. Vardens vorgesehener Abreise dann auch wirklich aufgegeben.»
«Heilige Neune!» rief Varden. «Ich erinnere mich jetzt, daß man mir etwas von einem Telegramm gesagt hat, als ich da unten ankam, aber ich habe es nie mit Loder in Zusammenhang gebracht. Ich dachte, das sei nur ein dummes Versehen bei der Western Electric gewesen.»
«Eben. Sowie ich das in der Hand hatte, bin ich jedenfalls sofort zu Loder gebraust, in der einen Tasche einen Dietrich und in der anderen eine Pistole. Der gute Bunter kam mit und hatte den Befehl, die Polizei anzurufen, wenn ich nicht um eine bestimmte Zeit wieder draußen sei. Sie sehen also, daß alles ziemlich gut organisiert war. Bunter war der Chauffeur, der draußen auf Sie wartete, Mr. Varden, aber Sie wurden plötzlich mißtrauisch – und ich kann es Ihnen ganz und gar nicht verdenken –, und so konnten wir Ihnen nur noch Ihr Gepäck zum Bahnhof nachschicken.
Auf dem Weg zu Loder begegneten wir Loders Personal, das in einem Wagen nach New York unterwegs war, und das bewies uns, daß wir erstens auf der richtigen Fährte waren und ich zweitens ziemlich leichtes Spiel haben würde.
Mein Gespräch mit Mr. Varden kennen Sie schon. Ich glaube nicht, daß ich es besser wiedergeben könnte als er. Nachdem ich ihn und seine Siebensachen wohlbehalten aus dem Haus wußte, begab ich mich ins Atelier. Es war leer, und so öffnete ich die Geheimtür und sah, wie erwartet, am unteren Ende der Treppe einen Lichtstreifen unter der Tür zur Werkstatt.»
«Dann war Loder also die ganze Zeit da?»
«Natürlich war er da. Ich nahm meine kleine Bleispritze fest in die Hand und öffnete ganz leise die Tür. Loder stand zwischen der Wanne und dem Schaltbrett, schwer beschäftigt – so beschäftigt, daß er mich nicht eintreten hörte. Seine Hände waren schwarz von Graphit, von dem ein Häufchen auf einem Bogen Papier auf dem Boden lag, und er hantierte mit einem langen, spiraligen Kupferdraht herum, der an den Transformator angeschlossen war. Die große Packkiste war offen, und alle Haken waren behängt.
‹Loder!› sagte ich.
Mit einem Gesicht, das nicht mehr menschlich zu nennen war, drehte er sich zu mir um. ‹Wimsey!› schrie er. ‹Zum Teufel, was haben Sie hier zu suchen?›
‹Ich bin nur gekommen›, sagte ich, ‹um Ihnen zu sagen, daß ich weiß, wie der Apfel in den Kloß kommt.› Damit zeigte ich ihm die Pistole.
Mit einem schrillen Aufschrei machte er einen Satz nach dem Schaltbrett und knipste das Licht aus, so daß ich ihn nicht mehr sehen und auf ihn zielen konnte. Ich hörte ihn in meine Richtung springen – dann ein Krachen und ein Platschen – ein Schrei, wie ich ihn noch nie gehört habe – nicht in fünf Jahren Krieg – und wie ich ihn auch nie wieder hören möchte.
Ich tastete mich zum Schaltbrett vor. Natürlich schaltete ich alles andere ein, bevor ich den Lichtschalter fand, aber schließlich ging doch auch das Licht an – gleißendes weißes Flutlicht über der Wanne.
Da lag er und zuckte noch ein wenig. Zyankali ist, wie Sie ja wissen, ungefähr das Schnellste und Schmerzhafteste, was es so gibt. Bevor ich noch einen Finger rühren und etwas tun konnte, wußte ich, daß er tot war – vergiftet und ertrunken. Der Kupferdraht, der ihn zu Fall gebracht hatte, war mit ihm in die Wanne gefallen. Ohne zu überlegen faßte ich ihn an und bekam einen Schlag, der mich fast umgehauen hätte. Da wurde mir klar, daß ich auf der Suche nach dem Lichtschalter den Strom eingeschaltet haben mußte. Ich sah wieder in die Wanne. Im Fallen hatten seine sterbenden Hände den Draht umklammert. Die Windungen lagen fest um seine Finger, und der Strom lagerte methodisch einen Kupferfilm an seinen graphitgeschwärzten Händen ab.
Ich hatte gerade noch soviel Verstand, mir klarzumachen, daß Loder tot war und die Geschichte böse für mich ausgehen könnte, wenn sie herauskam, denn immerhin war ich hingegangen und hatte ihn mit einer Pistole bedroht.
Ich suchte eine Weile herum, bis ich etwas Lötdraht und einen Lötkolben fand. Dann ging ich nach oben und rief Bunter herein, der seine zehn Meilen in Rekordzeit zurückgelegt hatte. Wir gingen in den Rauchsalon und löteten den Arm dieser vermaledeiten Figur, so gut wir konnten, wieder an, dann trugen wir alles in die Werkstatt zurück. Wir verwischten alle Fingerabdrücke und entfernten alle Spuren unserer Anwesenheit. Das Licht und alle Schalter am Schaltbrett ließen wir so, wie sie waren, und fuhren schließlich auf weiten Umwegen nach New York zurück. Das einzige, was wir mitgenommen hatten, war das nachgemachte Konsularsiegel, und das warfen wir in den Fluß.
Loder wurde andern Morgens vom Butler gefunden. Wir lasen in der Zeitung, daß er bei einem Experiment mit Galvanisierarbeiten in seine Wanne gefallen sei. Die grausige Meldung wurde mit dem Zusatz kommentiert, daß die Hände des Toten mit einer dicken Kupferschicht überzogen gewesen seien. Da diese nicht ohne pietätlose Gewaltanwendung zu entfernen gewesen sei, werde man ihn so begraben.
Das war’s. Also, Armstrong, kann ich jetzt bitte meinen Whisky wiederhaben?»
«Was ist denn aus dem silbernen Sofa geworden?» erkundigte Smith-Hartington sich nach einer kleinen Weile.
«Das habe ich auf einer Auktion von Loders Hinterlassenschaft ersteigert», antwortete Wimsey, «und dann habe ich mich mit einem lieben alten katholischen Priester in Verbindung gesetzt, den ich kannte, und habe ihm die ganze Geschichte unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt. Der alte Knabe war sehr verständig und mitfühlend; und so haben dann Bunter und ich das Ding in einer Mondnacht ins Auto geladen und zu seiner Kirche ein paar Meilen außerhalb der Stadt gebracht, wo wir ihm in einer Ecke des Friedhofs ein christliches Begräbnis gegeben haben. Es erschien uns als das Beste, was wir tun konnten.»
Lord Peter Wimseys unprofessionelle Karriere als Detektiv war gesteuert (obgleich das Wort in diesem Zusammenhang nicht recht angebracht erscheint) von einer beharrlichen und geradezu würdelosen Neugier. Seine Angewohnheit, dumme Fragen zu stellen – beim unreifen Jüngling nur natürlich, wenngleich auch irritierend –, war ihm erhalten geblieben, auch nachdem sein untadeliger Diener Bunter schon lange in seine Dienste getreten war, um ihm die Stoppeln vom Kinn zu rasieren und stets für einen ausreichenden Vorrat an Napoleon-Cognac und Villar-y-Villar-Zigarren zu sorgen. Im Alter von zweiunddreißig Jahren wurde er von seiner Schwester Mary einmal als Elefantenjunges bezeichnet. So brachte seine alberne Frage (in Anwesenheit seines Bruders, des Herzogs von Denver, der vor Scham puterrot anlief) nach dem wirklichen Inhalt des «Wollsacks» den damaligen Lordkanzler (und Inhaber dieses symbolträchtigen Sitzes im Oberhaus) dazu, den fraglichen Artikel spielerisch zu untersuchen und in seinen verborgensten Tiefen das berühmte Diamantcollier der Marquise von Writtle zu entdecken, das ihr am Tage der Parlamentseröffnung abhanden gekommen und von einer der Putzfrauen dort sicher versteckt worden war. Und indem er höchstpersönlich dem Chefingenieur von LONDON II mit der Frage in den Ohren lag, was denn Oszillation bedeute und wozu sie gut sei, gelang es Seiner Lordschaft ganz zufällig, den großen Ploffsky-Ring anarchistischer Verschwörer zu entlarven, die sich untereinander mit einem ausgeklügelten System von Heultönen zu verständigen pflegten, mit denen sie (zum großen Verdruß der Hörer britischer und kontinentaleuropäischer Stationen) die Londoner Welle überlagerten, um so ihre Nachrichten über einen Radius von fünf- bis sechshundert Meilen verbreiten zu lassen. Leute mit mehr Muße als Anstand brüskierte er einmal damit, daß er es sich plötzlich in den Kopf setzte, auf dem Weg über die Treppe zur Untergrundbahn hinabzusteigen, obwohl das einzig Aufregende, was er dort jemals fand, die blutbefleckten Schuhe des Mörders vom Sloane Square waren; als andererseits einmal die Kanalisation in Glegg’s Folly herausgerissen wurde, machte er durch ständiges Herumlungern, womit er die Installateure von der Arbeit abhielt, zufällig die Entdeckung, die den verabscheuungswürdigen Giftmörder William Girdlestone Chitty an den Galgen brachte.
Demzufolge kam es für den braven Bunter keineswegs überraschend, als er eines schönen Aprilmorgens von einer plötzlichen Abänderung ihrer Reisepläne in Kenntnis gesetzt wurde.
Sie waren rechtzeitig zur Gare St. Lazare gekommen, um ihr Gepäck aufzugeben. Nach einer dreimonatigen Italienreise, die ausschließlich dem Vergnügen diente, hatten sie zwei rundum erfreuliche Wochen in Paris verbracht, und nun gedachten sie auf dem Heimweg nach England noch dem Duc de Sainte-Croix in Rouen einen Besuch abzustatten. Lord Peter ging eine Weile in der Salle des Pas Perdus auf und ab, kaufte sich die eine oder andere Illustrierte und besah sich die Leute. Sein beifälliger Blick ruhte kurz auf einem schlanken Geschöpf mit Herrenschnitt und dem Gesicht eines echten Pariser gamin, bevor er einräumen mußte, daß ihre Fesseln ein wenig zu stämmig waren. Er war einer älteren Dame behilflich, die dem Verkäufer am Kiosk klarzumachen versuchte, daß sie einen Stadtplan von Paris und keine carte postale haben wolle, nahm an einem der kleinen grünen Tische am anderen Ende einen schnellen Cognac zu sich und fand schließlich, er solle doch lieber einmal hingehen und sich darum kümmern, wie Bunter zurechtkam.
In der letzten halben Stunde hatten Bunter und sein Gepäckträger sich bis an die zweite Stelle in der riesenlangen Schlange vorgearbeitet – denn es war wieder einmal eine der Waagen außer Betrieb. Vor ihnen stand ein aufgeregtes kleines Grüppchen – die junge Dame, die Lord Peter schon in der Salle des Pas Perdus bemerkt hatte, ein etwa dreißigjähriger Mann mit bläßlichem Gesicht, ihr Gepäckträger und der Bahnbeamte, der eifrig durch sein kleines guichet spähte.
«Mais je te répète que je ne les ai pas», sagte der bläßliche Mann hitzig. «Voyons, voyons. C’est bien toi qui les a pris, n’est-ce pas? Eh bien, alors, comment veux-tu que je les aie, moi?»
«Mais non, mais non, je te les ai bien donnés là-haut, avant d’aller chercher les journaux.»
«Je t’assure que non. Enfin, c’est évident! J’ai cherché partout, que diable! Tu ne m’a rien donné, du tout, du tout.»
«Mais puisque je t’ai dit d’aller faire enrégistrer les bagages! Ne faut-il pas que je t’aie bien remis les billets? Me prends-tu pour un imbécile? Va! On n’est pas dépourvu de sens! Mais regarde l’heur! Le train part à 11 h. 20 m. Cherche un peu, au moins.»
«Mais puisque j’ai cherché partout – le gilet, rien! Le jacquet, rien, rien! Le pardessus – rien! rien! rien! C’est toi –»
An dieser Stelle griff der Gepäckträger, genötigt durch die wilden Wutschreie und das Stampfen der Anstehenden und die wiederholten Beleidigungen, die Lord Peters Gepäckträger gegen ihn ausstieß, in die Diskussion ein.
«P’t-être qu’ m’sieur a bouté les billets dans son pantalon», mutmaßte er.
«Triple idiot!» fauchte der Reisende. «Je vous le demande – est-ce qu’on a jamais entendu parler de mettre des billets dans son pantalon? Jamais –»
Der französische Gepäckträger ist ein Republikaner und obendrein schändlich unterbezahlt. Die unendliche Geduld seines englischen Kollegen ist ihm nicht gegeben.
«Ah!» sagte er, wobei er zwei schwere Koffer fallen ließ und sich nach moralischer Unterstützung umsah. «Vous dites? En voilà du joli! Allons, mon p’tit, ce n’est pas parce-qu’on porte un faux-col qu’on a le droit d’insulter les gens.»
Aus der Diskussion hätte sich ein ausgewachsener Streit entwickeln können, hätte der junge Mann nicht plötzlich die Fahrkarten gefunden – wie es der Zufall wollte, befanden sie sich eben doch in seiner Hosentasche –, woraufhin er zur unverhohlenen Genugtuung der Wartenden den Vorgang der Gepäckaufgabe fortsetzen konnte.
«Bunter», sagte Seine Lordschaft, der mit dem Rücken zu der Gruppe stand und sich eine Zigarette anzündete, «ich gehe die Fahrkarten umtauschen. Wir fahren direkt nach London. Haben Sie Ihren Knipskasten bei sich?»
«Ja, Mylord.»
«Den, womit Sie aus der Jackentasche knipsen können, ohne daß es jemand merkt?»
«Ja, Mylord.»
«Machen Sie mir ein Foto von den beiden.»
«Ja, Mylord.»
«Um das Gepäck kümmere ich mich. Schicken Sie dem Herzog ein Telegramm, ich sei unerwartet nach Hause gerufen worden.»
«Sehr wohl, Mylord.»
Lord Peter kam auf die Angelegenheit erst wieder zu sprechen, als Bunter in ihrer Kabine an Bord der Normannia seine Hose in den Bügel spannte. Er hatte sich nur noch vergewissert, daß der Mann und die Frau, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten, als Passagiere zweiter Klasse auf dem Schiff waren, ansonsten war er ihnen sorgsam aus dem Weg gegangen.
«Haben Sie das Foto?»
«Ich hoffe es, Mylord. Wie Eure Lordschaft wissen, ist das Anvisieren aus der Jackentasche heraus nicht immer sehr zielsicher. Ich habe drei Versuche gemacht und hoffe, daß wenigstens einer davon sich als nicht ganz erfolglos erweisen wird.»
«Wie bald können Sie die Dinger entwickeln?»
«Sofort, wenn Eure Lordschaft es wünschen. Ich habe alle Materialien in meinem Koffer.»
«Wie lustig!» rief Lord Peter, indem er sich eilfertig in einen malvenfarbenen Seidenpyjama warf. «Darf ich dabei die Flaschen halten und so weiter?»
Mr. Bunter goß 7 Zentiliter Wasser in ein 20-Zentiliter-Meßglas und reichte seinem Herrn einen Glasstab und ein kleines Päckchen.
«Wenn Eure Lordschaft die Güte hätten, den Inhalt des weißen Päckchens langsam in das Wasser zu rühren», sagte er, indem er die Tür verriegelte, «und, nachdem er sich aufgelöst hat, den Inhalt des blauen Päckchens dazuzugeben.»
«Wie Brausepulver», sagte Seine Lordschaft fröhlich. «Schäumt das auch?»
«Nicht sehr, Mylord», antwortete der Experte, während er etwas Fixiersalz ins Waschbecken schüttete.
«Schade», meinte Lord Peter. «Wissen Sie was, Bunter? Das Zeug braucht ewig lange, um sich aufzulösen.»
«Jawohl, Mylord», erwiderte Bunter gemessen. «Ich finde diesen Teil des Vorgangs auch immer ausnehmend langweilig, Mylord.»
Lord Peter rührte verbissen mit dem Glasstab.
«Warte nur», sagte er gehässig, «bis wir nach Waterloo kommen.»
Drei Tage später saß Lord Peter Wimsey in seinem büchergespickten Wohnzimmer am Piccadilly 110 a. Die langstieligen Narzissen auf dem Tisch lächelten in der Frühlingssonne und nickten im Wind, der durch das offene Fenster hereinfuhr. Die Tür ging auf, und Seine Lordschaft blickte von der schönen Ausgabe der Contes de La Fontaine auf, deren wunderhübsche Fragonard-Stiche er gerade mittels einer Lupe untersuchte.
«Morgen, Bunter. Was gibt’s?»
«Ich habe festgestellt, Mylord, daß die fragliche junge Person in den Dienst der älteren Herzogin von Medway getreten ist. Ihr Name ist Célestine Berger.»
«Sie drücken sich nicht mit der gewohnten Präzision aus, Bunter. Wer von der Bühne kommt, heißt niemals Célestine. Sie hätten sagen sollen: ‹Unter dem Namen Célestine Berger.› Und der Mann?»
«Er hat unter dieser Adresse in der Guilford Street in Bloomsbury Wohnung genommen, Mylord.»
«Ausgezeichnet, mein lieber Bunter. Jetzt geben Sie mir den Who’s Who. War es sehr anstrengend?»
«Nicht übermäßig, Mylord.»