Der Mythos von Lumensphere - Andrea Henning - E-Book

Der Mythos von Lumensphere E-Book

Andrea Henning

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Beschreibung

Obrist Morris Fling und seine Crew aus dem 44. Jahrhundert haben sich dem Schutz der Menschheit über alle Epochen verpflichtet. Als die Zeitreisenden im 21. Jahrhundert eine verlassene Villa von außerirdischen Wesen befreien sollen, treffen sie auf die amnestische Anna. Die außergewöhnliche, junge Frau weckt Morris` Interesse. Um ihre Erinnerungen zurückzuholen, bringt das Team sie für eine Ritual auf den Back-up-Planeten Aroxa Proxìma. Dort wird Anna offenbart, dass sie ein gewaltiges Geheimnis in sich trägt, weit älter als die Menschheit selbst. Morris begibt sich auf die Reise, um ihrem Mysterium auf die Spur zu kommen und sucht nach Antworten, die Anna nicht zu geben vermag. Dabei wird er unversehens ein Teil ihrer Geschichte ...

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In Liebe

für Sebastian,

Roman und Robert

INHALT

PART I: »ERDE«

PART II: »AROXA PROXÌMA«

PART III: »A-TASKEN-QALAN II«

PART IV: »LUMENSPHERE«

PART V: »ERDE NOCH MAL«

Danksagung

Die Autorin

PART I: »ERDE«

Es war ein kühler, dunkler Tag in einem November Anfang des 21. Jahrhunderts, als sich Obrist Morris Fling und seine beiden Begleiter dem verfallenen Anwesen am Ende einer abgelegenen Straße näherten. Die Lämpchen an den Messgeräten, die sie in ihren klammen Fingern hielten, blinkten hell. Leise Pieptöne erklangen.

»Wir hätten auch im Sommer herkommen können«, murrte Ja-Lou und zog den Schal fester um ihren Hals.

»Diese Diskussion hatten wir doch schon«, erwiderte Morris brummig. »Die Wahrscheinlichkeit, die Schattenwesen anzutreffen, ist im November nun mal am höchsten. Die Messgeräte sprechen eine eindeutige Sprache.« Er schaute gebannt auf die Anzeigen des kleinen Geräts.

»Das weiß ich«, sagte Ja-Lou, »aber trotzdem reden wir hier nur von Wahrscheinlichkeiten und nicht von Gesetzmäßigkeiten. Ein Job im Sommer hätte mir definitiv besser gefallen. Und außerdem würde es uns nicht mal fünf Minuten kosten, die beiden Theorien abzugleichen.«

Morris hob seine rechte Augenbraue und schüttelte verständnislos den Kopf. Es war klar, dass er auf diesen Vorschlag nicht weiter eingehen würde. Er war der Kommandant und legte den Ablauf ihres Vorhabens fest. Daran wurde nicht gerüttelt.

Sie gingen weiter.

»Wir beobachten das Haus jetzt schon so lange«, sagte er, »viel zu lange. Heute müssen wir zuschlagen und die Mistviecher endlich vernichten.« Ungeduldig klopfte er auf den Apparat in seiner Hand, dessen Licht viel stärker blinkte, als es hätte sein dürfen.

Wingston zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich an einen Zaun. Kunstvoll blies er den Rauch in die Luft und sah ihm nach. »In einer halben Stunde geht die Sonne unter, hinter welcher Wolke sie auch gerade stecken mag«, sinnierte er vor sich hin. »Dann gehen wir da rein, versuchen unser Glück und wenn wir überleben, liegst du in Windeseile am Strand bei wundervollen 28 Grad.« Er zwinkerte Ja-Lou zu.

»Verdammt, ich glaube, mein Sensor spinnt«, schimpfte Morris zerknirscht und schüttelte sein Messgerät. »Oder auf dem Grundstück sind mehr Schattenwesen, als wir letztes Mal berechnet haben.«

»Na super, dann können wir uns die Sache mit dem Überleben dieses Mal wohl abschminken«, entgegnete Ja-Lou und zog einen Flunsch.

»Niemand hat dir jemals garantiert, dass du nach den Einsätzen noch lebst«, sagte Wingston und grinste breit. »Oder hast du das Kleingedruckte in den Verträgen nicht gelesen?«

Ja-Lou streckte ihre Zunge raus, woraufhin Wingston ihr eine Rauchwolke ins Gesicht pustete. »Bäh, was rauchst du da?«, quiekte sie. »Ist das Aroma Müllkippe oder Hundesch…«

»Könntet ihr bitte diesen Unsinn lassen und euch um die Angelegenheiten kümmern, die wirklich wichtig sind?« Morris war gereizt. Er rieb sich die Stirn und presste die Lippen aufeinander. Seine Crew zankte sich wegen Zigarettenqualms, während er versuchte, die Welt zu retten. Oder wenigstens ein Haus.

Die beiden Streithähne blickten schuldbewusst drein und konzentrierten sich wieder auf ihren Auftrag.

Sie betrachteten das Anwesen.

Eine seit Ewigkeiten unbewohnte Villa aus dem 18. Jahrhundert mit einem Erker und zwei Türmchen stand im Mittelpunkt eines verwilderten Grundstücks. Unkraut wurde hier schon seit Jahren nicht mehr beseitigt. Die Fenster des Hauses waren teilweise zersplittert. Die Reste der Scheiben hielten sich wie bedrohliche Zacken in den Rahmen, als wollten sie vor dem Betreten des Gebäudes warnen.

Die Fassade bröckelte herab. Das moosüberzogene Dach bestand in erster Linie aus Löchern statt aus Ziegeln. Dünne Nebelschwaden zogen um die grauen Wände. Der düstere Ort wurde von einem massiven, jedoch stark rostigen Zaun umschlossen.

»Eigentlich schade um das hübsche Häuschen«, sagte Ja-Lou und seufzte. »Zumindest war es das ja anscheinend mal. Warum suchen sich die Schattenwesen nur immer so schicke Unterkünfte? Wieso kriechen die nicht einfach mal in eine Müllhalde?«

»Das ist den feinen Herren Schattenwesen sicher nicht gut genug«, antwortete Wingston und machte mit den Händen eine graziöse Bewegung, als würde er einer Kutsche samt königlichem Inhalt zuwinken. Ein wenig Spaß gönnte er sich immer, vor allem, wenn nicht klar war, ob das Leben oder der Tod siegen würde. Im 21. Jahrhundert wurde dies als Galgenhumor bezeichnet. Er mochte diesen antiquierten Begriff.

»Also gut, gleich geht es los«, sagte Morris, ohne den Blick von dem Anwesen zu lösen. »Wir bringen rund um die Villa die Patronen an. Fünfzehn Stück sollten reichen, also setzt jeder von uns fünf. Wir müssen schnell sein. Achtet darauf, dass alle Patronen Funkkontakt zueinander haben, damit sie synchron ausgelöst werden können und das Gift gleichmäßig in die Mauern dringt. Wir müssen extrem vorsichtig sein. In dem Haus ist offensichtlich eine ganze Armada der Schattenwesen zu Hause. Wenn die uns entdecken, bevor wir unsere Arbeit getan haben, wird es gefährlich. Ihr wisst, wie schnell die Biester sein können.«

Obwohl Ja-Lou und Wingston die Vorgehensweise bestens kannten, hörten sie Morris aufmerksam zu und nickten artig. Sie wussten, dass er es nicht ausstehen konnte, unterbrochen zu werden. Er verlangte bei jedem Einsatz höchste Konzentration und absolute Professionalität.

»Wie immer haben wir zur Not die hier«, sagte er. Seine Stimme wurde einen Hauch tiefer. Er hielt drei silberne Kugeln so groß wie Murmeln in der Hand und gab je eine an Ja-Lou und Wingston weiter. »Nur in der größten Not zünden, wenn keine andere Möglichkeit mehr besteht.«

Die Kugeln verschwanden in den Jackentaschen. Niemand hatte Lust, sie zu nutzen, doch die bedrohliche Lage machte ihr Vorhandensein notwendig.

Ihre Blicke wanderten wieder zum Grundstück. Das Tageslicht wurde von Minute zu Minute schwächer und die Villa posierte als gespenstische Silhouette im feinen Nebel. In wenigen Minuten würden sie das Anwesen, das wie aus einem Horrorfilm entsprungen vor ihnen lag, betreten.

Trotzdem bereits zig Einsätze dieser Art hinter ihnen lagen, war es jedes Mal aufs Neue beklemmend. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, was sie erwartete, und niemand garantierte für ihre Leben.

Da tauchte eine junge Frau auf, die zielstrebig auf das wuchtige Tor zusteuerte.

»Wo kommt die denn jetzt her?«, fragte Ja-Lou. »Und was will sie da? Sie wird doch nicht etwa da reingehen …?« Sie machte einen Satz nach vorn, wurde jedoch von Wingston am Arm festgehalten.

»Wir dürfen kein Aufsehen erregen!«, flüsterte er.

»Hier ist keine Menschenseele«, zischte Ja-Lou. »Und außerdem … Willst du riskieren, dass der was passiert?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Wingston und schaute sorgenvoll zu dem finsteren Haus hinüber.

»Nur die Ruhe«, erwiderte Morris entspannt. »Sie wird das Tor sowieso nicht aufbekommen.« Er löste den Blick von der Frau und drehte sich zu seinen beiden Gefährten um. »Ich habe es bei unserem letzten Besuch gut gesichert. Es kann nur mit dieser kleinen Taste …«, er präsentierte eine Fernbedienung, »entriegelt werden.«

Doch anstatt zu versuchen, das Tor zu öffnen, schlüpfte die Unbekannte mühelos zwischen zwei Gitterstäben hindurch und verschwand in dem hohen Gras.

»Tolle Sicherung«, brummte Wingston. Er drückte seine Zigarette aus und steckte sein Messgerät in die Tasche. »Was nun, Obrist Chef? Soll ich hinterhergehen?«

»Nein, ich gehe selbst«, sagte Morris hastig und mehr zu sich selbst. Sein Hirn arbeitete fieberhaft daran, die Situation zu umreißen. »Ich werde versuchen, sie herauszuholen, am besten … lebend. Ihr wartet hier.« Er rannte los. »Rührt euch nicht von der Stelle!«, rief er zurück.

»Verdammt, Obrist Fling, komm ja wieder!«, schrie Ja-Lou ihm nach. Sie mochte es nicht, wenn es spontane Planänderungen gab, wenngleich es zum Job dazugehörte.

»Keine Sorge.« Wingston tat entspannter, als er war. »Er macht das ja nicht zum ersten Mal.« Sein Blick verfolgte Morris aufmerksam, und er versetzte sich selbst in höchste Alarmbereitschaft.

Das Schloss am Tor sprang sofort auf, als Morris während seines kleinen Sprints mit der Fernbedienung darauf zielte.

Um sich schauend und weitgehend geräuschlos schlich er über von Zeit und Wetter zerbröckelten Steinplatten zur Villa. Wildgewachsene Büsche streiften seine Jacke. Hohes Gras neigte sich über den Weg. Feine Nebelschwaden zogen wie Zuckerwatte durch den Garten und streiften die grauen Wände des Hauses.

Die Haustür stand sperrangelweit offen. Die Klinke hing bedeutungslos herab.

Der Holzboden knarzte, als Morris das Innere des Hauses betrat. Stöcke, Laub und Steine lagen in den Räumen verteilt. Tapeten mit verblichenen floralen Mustern hingen in Fetzen von den Wänden herunter. Jahrzehntealter, modriger Geruch lag in der Luft.

Morris wagte kaum zu atmen, während er hochkonzentriert durch die Zimmer strich. Seine Blicke huschten von Ecke zu Ecke. Er hatte gelernt, äußerst besonnen und achtsam vorzugehen, in den gefährlichsten Situationen die Ruhe zu bewahren und jedes noch so unscheinbare Indiz zu erspüren. Es war seine Aufgabe, sein Job, seine Passion.

Er wühlte in seiner Jackentasche und fand, wonach er suchte. In der Hand hielt er eine winzige, silbrige Kugel mit einem schwach leuchtenden, blauen Licht. Sofern ihre Funktion ausgelöst war, gab es kein Zurück mehr. Sie konnte alles in die Luft jagen. Nichts als Staub und eine Handvoll Späne würden von dem Haus und allem, was sich in ihm befand, übrigbleiben.

Wenn nichts mehr half, würde Morris sie einsetzen, auch wenn es sein eigenes Ende bedeuten würde. Doch zuerst musste er die Frau finden. Wenn sie wider Erwarten noch lebte, bestand Hoffnung auf ihre Rettung. Hoffnung war das, was Morris stets zuletzt aufgab.

Die angespannte Stille wurde durch ein leises Scharren aus dem oberen Stockwerk durchbrochen. Schnell änderte Morris seine Suchrichtung und stieg konzentriert, Stufe um Stufe, die Treppe hinauf. Er achtete darauf, nicht zu nah an die Wände zu kommen, in denen sich die Schattenwesen gern aufhielten. Altes Holz ächzte unter seinen Schuhen. Das Messgerät, das in seiner Jackentasche steckte, blinkte und piepte immer heftiger.

Die obere Etage teilte sich in einen linken und einen rechten Flügel. Die ehemals robusten Türen waren bereits zu spröden Holzfragmenten zerfallen.

Ein schwaches Geräusch drang aus dem Raum, der rechts von der Treppe lag.

Mit klopfendem Herzen und bis zum Haaransatz mit Adrenalin gefüllt ging Morris in das Zimmer. Dieses war riesig, geisterhaft dunkel. Die Wände waren von Schimmel und Moos bedeckt. Das Holz der Fenster splitterte und das zerbrochene Glas in den Rahmen hielt sich nur noch kraftlos darin.

Weit hinten in dem Raum hockte die junge Frau auf dem Boden und ordnete ein paar Blumen in einer Vase. Vor ihr stand das leicht vergilbte Lichtbild einer Frau in einem schlichten Bilderrahmen. Drumherum waren Kerzen drapiert. Weitere Fotos lagen verstreut auf den Dielen, manche sorgfältig aufgebaut und geschmückt, andere hatte die hohe Luftfeuchtigkeit über die Jahre gewellt und ihnen die Farbe geraubt.

Das Messgerät sprang vor Aufregung fast aus der Jackentasche.

»Hi«, sagte Morris so ruhig, wie es ihm angesichts der heiklen Situation möglich war.

Die Unbekannte drehte sich ruckartig um und starrte ihn an. Für einen Augenblick hielt sie den Atem an. Sie war so tief in ihrer Tätigkeit versunken gewesen, dass sie alles um sich herum ausgeblendet hatte. »Du hast mich erschreckt«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Entschuldige, das wollte ich nicht.« Morris versuchte, einen ehrlichen Gesichtsausdruck zu zeigen, und machte eine beruhigende Handbewegung. »Ich bin Morris, Morris Fling. Darf ich fragen, wie du heißt?« Er musste schnellstmöglich Vertrauen aufbauen, was erfahrungsgemäß gut gelang, wenn er seinen Namen nannte und Interesse am Gegenüber vorgab. So konnte er schon einige Male Unbehagen und Misstrauen aushebeln. Panikmache war unangebracht.

Die Unbekannte entspannte sich nur leicht. Offenbar fühlte sie sich gestört. Eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen deutete darauf hin, dass sie alarmiert war und die Störung unerfreulich fand. »Schon okay«, murmelte sie reserviert. »Es ist nur etwas ungewöhnlich, dass noch jemand hier ist. Ich … ich bin Anna. Du besuchst sicher auch jemanden.«

Sie wollte sich wieder umdrehen, vermutlich, um nicht den Eindruck zu erwecken, an einem tieferen Gespräch interessiert zu sein, doch Morris ließ sich davon nicht beirren. »Besuchen? Wen soll ich denn besuchen?«, fragte er.

»Ich dachte, du hättest auch jemanden verloren …« Anna schaute irritiert. Sie warf sich an dieser Stelle bereits vor, so schnell ihren Namen preisgegeben zu haben, und biss sich auf die Lippen.

»Nein, habe ich nicht«, meinte Morris. »Ich bin nur hier, um einen letzten prüfenden Blick in die Räume zu werfen.« Sein Gehirn zimmerte wie bei fast jedem seiner Einsätze flugs eine kleine Lügengeschichte zusammen.

»Ich bin von der Baubehörde. Dieses Haus gilt als akut einsturzgefährdet und muss in Kürze abgerissen werden. Ich werde es gleich mit Flatterband absperren und muss dich daher bitten, die Räumlichkeiten umgehend zu deiner eigenen Sicherheit zu verlassen.«

»So ein Quatsch.« Anna schüttelte den Kopf. »Das Haus steht schon seit Jahren hier rum, ohne dass sich irgendjemand jemals um dessen Bausubstanz gekümmert hat. Wenn es abgerissen werden sollte, dann würde ich es sicher wissen. Draußen steht ja nicht mal ein Schild.«

Langsam näherte sich Morris der Frau, während das Messgerät hysterisch wurde. »Korrektur: Draußen steht noch kein Schild. Die Informationen zum Abriss wurden bewusst zurückgehalten. Die Pläne dafür werden seit Monaten hinter verschlossenen Türen entworfen. Wir als Behörde müssen uns mit dem Unmut von Denkmalschützern, Interessengemeinschaften und Historikern auseinandersetzen. Auch waren die Eigentumsverhältnisse lange nicht geklärt.

Das Gebäude ist leider nicht mehr zu retten und stellt eine große Lebensgefahr für die Bevölkerung dar. Immer wieder werden Kinder oder diese Lost-Places-Typen in dieser Ruine gesehen, die ein Abenteuer suchen. Niemand kann und will mehr die Verantwortung tragen für das, was unter diesem Dach passiert. Daher müssen wir jetzt anfangen. Also bitte komm jetzt sofort mit nach draußen.«

»Niemand würde um dieses Haus trauern«, erwiderte Anna. »Keine Denkmalschützer oder Historiker, das kann ich mir nicht vorstellen. Zu viel Leid und Trauer werden von dessen Wänden umhüllt.« Sie schaute auf das Foto.

»Deswegen bin ich ja hier«, sagte Morris so mild, als würde er mit einem scheuen Rehkitz sprechen. »Zu wenige kehren lebend aus diesem Gebäude zurück.« Bei dem letzten Satz biss er sich auf die Zunge.

»Das weiß ich selbst«, erklärte sie verstimmt und runzelte die Stirn. Über ihre Augen zog ein trüber Schatten und ein Kloß kroch in ihren Hals.

»Dann nichts wie raus hier.« Er war nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt.

Angesichts seines Näherkommens sprang sie auf und baute sich mit geballten Fäusten vor ihm auf. »Komm mir ja nicht zu nahe«, warnte sie bissig. »Wenn du der Grund bist, warum hier niemand lebend rauskommt, dann mach dich darauf gefasst, dass du heute Abend mit gebrochenen Knochen und ohne Zähne deine Suppe löffelst. Ich habe mehrere Kampfsportarten gelernt und den schwarzen Gurt im Kickboxen.« Eine kühne Abwehrhaltung gepaart mit einer beachtlichen Portion Wut hatten blitzschnell den Schleier der Trauer in ihren Augen verdrängt.

Morris hob die Hände und machte eine beschwichtigende Bewegung. »Alles gut, ich will dir nur helfen. Ich will dich retten. Ich bin von der Baubehörde und kein Serientäter. Ehrenwort! Diese Villa ist hochgefährlich. Ehrlich gesagt bin ich erstaunt, dass du noch …«

»Was?«, zischte sie zwischen ihren aufeinandergepressten Zähnen hervor.

»… lebst.« Er war stehengeblieben, um die aufgebrachte und misstrauische Anna nicht weiter zu verunsichern.

Einen Moment lang lag eine unheimliche Ruhe in dem Raum. Nur eine nervöse Anspannung knisterte in der Luft.

Morris wollte das Gespräch wieder behutsam in Gang bringen. Sein Blick fiel auf das Foto und blieb dort hängen. Eine Ablenkung könnte helfen. »Wer ist das?«, fragte er.

»Lore«, antwortete Anna knapp, ließ jedoch die Arme sinken und öffnete die Fäuste. Die Anspannung in ihren Muskeln behielt sie bei, um rasch wieder in die Verteidigung gehen zu können, wenn es notwendig werden würde.

»Lore«, wiederholte Morris langsam. »Ein hübscher Name. Wer ist das?«

»Sie war meine beste Freundin.«

»Und sie verschwand in diesem Haus?« Morris bewegte sich nun so unauffällig wie möglich vorwärts.

»Ja, vor langer Zeit«, sagte Anna leise. »Seitdem komme ich mehrmals in der Woche her, bringe Blumen und denke an sie.«

»Was?« Morris war erstaunt. »Du kommst so oft her? Und dir ist noch nie etwas passiert?« Er schaute auf das Foto und die Blumen. Er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal auf diesem Grundstück gesehen zu haben. Allerdings war er bisher auch immer in verschiedenen Jahrzehnten hier gewesen, nur selten in diesem.

»Nein, was sollte mir passieren? Ich passe gut auf.«

»Mit Aufpassen hat das eigentlich nicht viel zu tun«, entgegnete er und schielte auf die silberne Kugel in seiner Hand. »Wer sind eigentlich all die Menschen auf den Bildern?«, fragte er, obgleich er die Antwort bereits kannte.

»Weiß ich nicht. Die Leute kenne ich nicht und auch nicht die, die die Bilder hergebracht haben. Ich habe noch nie jemand anderen hier getroffen. Als ich anfing, herzukommen, nahm ich an, dies sei ein Gedenkort, ein Ersatz für einen Friedhof. Niemand, der jemals hier verschwand, konnte beerdigt werden, weil niemals eine Leiche gefunden wurde. Nie.« Annas Blick war nachdenklich und trüb. »Trotzdem bin ich immer nur allein hier und bringe Blumen.«

Vorsichtig machte Morris noch einen weiteren kleinen Schritt nach vorn. In diesem Moment war das Messgerät mucksmäuschenstill.

»Hm?« Obrist Fling steckte die kleine Silberkugel zurück in die Jackentasche und griff nach dem Messgerät. Ungläubig starrte er darauf und schüttelte es. »Was ist denn jetzt los? Warum zeigt es nichts mehr an?« Er schüttelte es noch einmal und ohne sich dessen bewusst zu sein, setzte er einen Schritt zurück. Sofort blinkte und piepte es wieder. »Na bitte, geht doch«, knurrte er zufrieden und ging erneut einen Schritt vorwärts.

Unverzüglich schwieg das Messgerät. Auf seine Ausrüstung hatte er sich bisher stets verlassen können. Bevor er einen Auftrag ausführte, wurden jedes Mal sämtliche Hilfsmittel und technische Installationen vom kleinsten Schraubenzieher bis zum Transporter auf Herz und Nieren geprüft.

Jetzt bewegte er sich auf seinen Füßen unrhythmisch vor und zurück und das Messgerät reagierte entsprechend auf den Abstand zu der Frau. Machte er einen Schritt auf sie zu, verstummte das Piepen und die Lichter erloschen. Entfernte er sich nur um wenige Handbreiten von ihr, konnte es sich vor Aufregung kaum bremsen. Ein Wackelkontakt konnte faktisch ausgeschlossen werden.

Das, was er beobachtete, überstieg schlicht seinen Intellekt.

»Bling, bling«, sagte Anna schnippisch. »Will dein Spielzeug nicht so wie du?«

»Das ist unmöglich«, murmelte er mehr zu sich selbst und drückte auf ein paar Tasten.

»Ich geh dann mal und lass dich mit dem Ding allein«, sagte sie und lief über den knarzenden Boden Richtung Tür.

»Warte mal!«, rief er. »Darf ich kurz was testen? Dauert nur ein paar Sekunden.«

Sie blieb stehen, drehte sich um und zeigte ein Gesicht, das alles andere als Begeisterung ausstrahlte.

»Ich kenne dich nicht und du erzählst Lügen, dass du von der Baubehörde bist. Was, glaubst du, ist meine Antwort?« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie sich als scheue, misstrauische Frau ausgegeben, die nur in Ruhe gelassen werden wollte. In diesem Moment jedoch umgab sie ein hauchzarter Schleier von Überlegenheit und Courage. Die anfängliche Zurückhaltung musste dem Schreck über den ungeplanten Besuch geschuldet gewesen sein.

Morris zog die Stirn kraus und hob seine Augenbraue. »Warum glaubst du, dass ich lüge?«

»Baubehörde? Ernsthaft? Du rennst mit diesem merkwürdigen Kästchen rum, das aussieht wie ein Spielzeug für achtjährige Kinder, und freust dich, wenn es blinkt. Ich denke eher, du bist selbst einer von diesen schrägen Typen, die heimlich in alte Häuser gehen und irgendein abgefahrenes, paranormales Signal suchen.«

Morris sah ein, dass er mit der Geschichte von der Baubehörde gestrandet war. Sie hatte ein überaus feines Gespür für seine Täuschung bewiesen. Eine weitere Lüge würde den dünnen Draht zu ihr komplett kappen. Vielleicht machte ein Schritt nach vorn ja den besseren Eindruck. »Wenn ich dir die Wahrheit sagen würde, hieltest du mich erst recht für verrückt. Deshalb habe ich dich belogen, was mir sehr leidtut.«

Er ließ die Arme sinken und gab ein Bild ab, das Ehrlichkeit ausstrahlen und Vertrauen erwecken sollte. Sein Blick grub sich dabei tief in ihren. Kein Zwinkern oder Blinzeln stand zwischen ihnen. Reglos und stumm standen sie sich gegenüber.

Dieses kurze Verweilen im Moment sollte einer leichten Hypnose dienen. Auch das hatte Morris in seiner Ausbildung gelernt und bereits mehrfach erfolgreich einsetzen können. Im Normalfall war dieses Mittel hochwirksam, nebenwirkungsfrei und brachte Menschen schnell dazu, seinem Willen zu folgen.

»Ich mag verrückte Geschichten«, sagte Anna unbeeindruckt von seinem Versuch einer Manipulation. Doch ihr Interesse an ihm und seiner Geschichte war geweckt. Erwartungsvoll schaute sie diesen Mann an, der in Tarnkleidung und mit dunklen, wuscheligen Haaren vor ihr stand.

Als er mit seinen dunkelbraunen Augen in ihre geschaut und vergeblich versucht hatte, sie zu beeinflussen, hatte sich in den Tiefen ihres Herzens ein freundliches, vertrauliches Gefühl geregt.

»Erzähle mir doch, wer du bist und was du für die Wahrheit hältst.« Sie lockte ihn süffisant aus der Reserve, und er musste sich zügig etwas anderes einfallen lassen.

Morris blinzelte, brachte sich in die Realität zurück und atmete tief ein und aus. Vielleicht hatte Ja-Lou recht und sie sollten ihr Glück im Sommer versuchen.

Aber nein, er wollte diesen Auftrag unbedingt heute, an diesem mistig-grauen Novembertag, erledigen. Nun kämpfte er mit einem irritierten Messgerät, einer erfolglosen Hypnose und um das Leben einer Unbekannten, die anders war als die Menschen, denen er sonst begegnete. Irgendwas lief gerade gewaltig schief.

Was soll’s? Zur Not hatte Ja-Lou noch das Spray, das Erinnerungen an die letzten erlebten Minuten löschen konnte. Wenn er seiner Ehrlichkeit freien Lauf ließ, würde sie damit die neu erworbenen Informationen zurücknehmen können. Zu dumm, dass er es nie selbst dabeihatte.

»Mein Name ist Morris …«

»Das hatten wir schon …«

»Das war aber zumindest der Teil mit der Wahrheit. Ich komme aus der Zukunft, aus einer sehr weit entfernten Zukunft der Erde. Nach vielen grausamen Ereignissen, die die Menschheit an den Rand der Vernichtung gebracht haben, ist die Bevölkerung dort fünf großen Weltorganisationen unterstellt. Die halten zwar einen wackligen, aber immerhin seit vielen Jahrzehnten andauernden Frieden.

Eine dieser Weltorganisationen hat unter dem Deckmantel der Wissenschaft die Möglichkeit der Zeitreisen entwickelt und die die Time Traveller Organisation gegründet. Dort arbeite ich zum Schutz der Erde. Mein Job ist es, außerterrestrische Wesen zu vernichten, die für Menschen gefährlich sind und einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass unsere Auslöschung schon fast besiegelt war. Ich kann die kommenden Katastrophen nicht verhindern, aber ich kann sie mildern.«

Erneut atmete er hörbar und schwer. Anna lächelte und verschränkte ihre Arme. Es war absurd, sie so amüsiert zu sehen, während er lediglich versuchte, ihr Leben zu retten.

Er durfte keine Zeit verlieren und sprach schnell weiter. »Dieses Haus ist von den kleinsten, aber auch von den gefährlichsten Kreaturen dieses Universums befallen. Sie sind so winzig, dass sie in Ritzen und Fugen leben und sogar in Wänden Platz finden. Wir nennen sie Schattenwesen, da Sonnenlicht ihre Struktur zersetzt und sie darin sterben können. Eine minimale Population in Gebäuden ist normal und vollkommen ungefährlich, da sie sich in der Regel von kleinen Tieren ernähren, so was wie Spinnen, Fliegen, Holzwürmer …

Doch unter gewissen Umständen vermehren sie sich schlagartig und fallen dann sogar über Menschen her. Sie fressen sie in Sekundenschnelle komplett auf, sodass nicht mal ein winziges Hautschüppchen übrigbleibt. Das Opfer ist dann wie vom Erdboden verschluckt und gilt mithin als spurlos verschwunden. Ich muss leider vermuten, dass deine Freundin Lore diesen Wesen zum Opfer gefallen ist.«

»Was für eine blödsinnige Story«, meinte Anna und schüttelte leicht den Kopf. »Fantasie hast du, das muss ich dir lassen. Vielleicht solltest du mal einen Roman darüber schreiben. Mich hat hier noch nie irgendwer angefallen, und außer, dass Lore tatsächlich spurlos verschwand, kann ich in deiner Geschichte keinerlei brauchbares Zeug entdecken. Du hast zwar einen Knall, scheinst aber sonst eher harmlos zu sein. Das wars dann auch schon.«

Die Wände knackten. Es hatte den Anschein, dass sie dunkler wurden.

»Das sind sie«, flüsterte Morris. »Sie kommen näher. Sie haben Hunger. Ich flehe dich an, verlasse dieses Haus und kehre nie wieder zurück!«

»Die Wände sind alt, das Haus ist alt, alles hier ist alt. Es knackt eben ab und zu.« Anna machte nicht die geringsten Anstalten, den bittenden Worten Folge zu leisten.

Das Knacken wurde lauter und der Raum verdunkelte sich weiter.

Morris griff in seine Tasche und holte die silbrige Kugel heraus. »Damit kann ich die Villa sprengen, wenn die Schattenwesen aus den Wänden springen und unsere Leben bedrohen. Wir hatten einen anderen Plan für die Villa, und ich würde dein Leben so gern retten, aber ich werde die Zündung starten, wenn es keine andere Option mehr gibt … Ich bitte dich noch einmal: Verschwinde einfach.«

»Was heißt denn auf einmal Wir hatten einen anderen Plan? Wer ist wir? Bist du nicht allein unterwegs? Hast du noch mehr verrückte Leute aus der Zukunft dabei?« Sie machte unerschrocken einen Schritt auf Morris zu.

Umgehend hörte das Knacken in den Wänden auf und der Raum wurde wieder heller, so hell es an einem frühen Novemberabend eben sein konnte.

»Wir sind zu dritt«, erklärte Morris und sein Blick wechselte zwischen Messgerät und Anna. »Draußen warten Ja-Lou und Wingston. Ich wollte sie nicht unnötig in Gefahr bringen.« Allmählich glaubte er ernsthaft, dass die Schattenwesen einen Bogen um die Frau machten. In ihrer unmittelbaren Nähe zeigte sein Messgerät nicht eine einzige Gefahrenquelle an. Doch kaum war er wenige Zentimeter von ihr entfernt, glühte das Metallkästchen förmlich.

»Deine komischen Freunde und du solltet besser keinen unschuldigen Leuten mehr auflauern und diese belästigen«, sagte Anna bissig. Ihr Lächeln war verschwunden. »Ich gehe jetzt, aber nicht, weil du es willst, sondern weil ich dich ein klitzekleines bisschen merkwürdig finde.«

»Warte mal!«, rief Morris.

»Ach, auf einmal soll ich warten?« Sie runzelte die Stirn und presste die Lippen aufeinander.

»Du bist möglicherweise etwas … Besonderes«, versuchte Morris stockend die Situation zu retten. »In deiner Nähe kann mein Messgerät keine Schattenwesen orten. Anscheinend gehst du ja in diesem Haus ein und aus, ohne dass jemals etwas passiert ist. Das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich dieses Phänomen systematisch und sorgfältig untersuchen könnte, fände ich vielleicht eine Lösung, einen Schutz für die gesamte Menschheit.«

»Eine Nummer kleiner als die gesamte Menschheit gab es wohl nicht«, sagte Anna spöttisch.

»Nein, hör mal. So etwas habe ich noch nie erlebt, und ich reise schon lange, sehr lange herum. Ich versichere dir, dass kein Mensch je älter geworden ist als ich, und niemand hat mehr gesehen. Ich weiß, wovon ich rede.«

»So? Wie alt bist du denn?«

»Das glaubst du sowieso nicht.«

»Wie anmaßend von dir«, erwiderte Anna spitz. »Du unterstellst mir einfach etwas. Sag es doch und dann finden wir zusammen heraus, was ich glaube und was nicht.«

»Ich bin sehr, sehr alt.«

»Wie alt? lautete meine Frage!«

Morris fragte sich, zu welchem Zeitpunkt Anna die Kontrolle über dieses Gespräch erlangt und wie sie das angestellt hatte. Bei allen, wirklich allen Einsätzen bisher war er derjenige gewesen, der federführend durch eine Unterhaltung lenkte. »Du willst wirklich die Wahrheit wissen?«

Anna nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, sodass auch der begriffsstutzigste Mensch des Universums erkennen konnte, dass ihr die Antwort im Grunde vollkommen egal war.

»Ich bin weit über zweitauseneinhundert Jahre alt … Ich reise durch die Zeit. Währenddessen nimmt mein Körper kosmische Strahlung und sogenannte Chrono-Partikel auf, die im Weltall herumschwirren. Da ich mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit durch sie hindurchreise, nehme ich Unmengen mehr auf als beispielsweise eure heutigen Astronauten. Sie sind zwar absolut harmlos, lassen mich jedoch wesentlich langsamer altern als jeden anderen Menschen.«

»Ich wiederhole mich ja nur ungern, aber: Du bist verrückt … oder bescheuert … oder beides. Such dir was aus.« Entnervt schüttelte Anna den Kopf, lief die Treppe hinunter und verließ das Haus. Mit leichten Füßen flog sie über den Weg und zog die Jacke fest um sich. Eisige Kälte lag über dem Grundstück.

Die Wände hinter Morris färbten sich tiefschwarz. Das Krachen im Mauerwerk wurde ohrenbetäubend laut. Ein übler Gestank von Moder, Fäulnis und Tod breitete sich aus.

Morris’ Halsschlagader pulsierte, seine Augen flogen hin und her. Wenn er jetzt nicht sofort den Rückzug antreten würde, würde die gefräßige Bande der Schattenwesen gnadenlos über ihn herfallen. »Mistviecher«, fluchte er und rannte so schnell er konnte die Treppe hinab.

Ja-Lou hatte ihren Blick nicht eine Sekunde von der Villa gelöst. Nun beobachtete sie, dass die junge Frau durch das geöffnete Tor lief, während von ihrem Chef weit und breit nichts zu sehen war.

Ungestüm ergriff sie Wingston am Ärmel und zog ihn mit sich. »Los, du schaust nach Morris und ich halte das Mädchen auf.«

Mit allzu deutlichem Unmut folgte Wingston Ja-Lou. »Wir sollten uns nicht von der Stelle rühren«, maulte er und schaffte es nur mit Mühe, seine Zigarette auszutreten. Doch erstens war ihm klar, dass Morris Unterstützung brauchte, und zweitens, dass Ja-Lou das Kommando hatte, solange der Chef nicht in Reichweite war.

»He!«, rief Ja-Lou der Unbekannten hinterher. »Warte doch mal!«

»Was ist denn nun schon wieder?« Die Angesprochene rollte mit den Augen und blieb nur widerwillig stehen.

»Ich bin Ja-Lou und warte hier auf jemanden. Hast du in dem Haus zufällig einen Mann getroffen? Er heißt Morris und …«

»Ach, dann gehörst du zu diesem komischen Typen? Ist der aus einer Irrenanstalt ausgebrochen oder so? Musst du auf den aufpassen?«

Der Hinweis auf den komischen Typen reichte Ja-Lou, um zu wissen, dass die beiden sich begegnet waren. »Ja, ganz richtig. Ich muss auf ihn aufpassen«, sagte Ja-Lou schnell, die die Chance einer Kontakterhaltung witterte. Sie arbeitete lange genug mit Morris zusammen, um zu spüren, dass sie die Frau nicht fortgehen lassen durfte.

»Dann ist er also noch in der Villa. Könntest du mir bitte helfen? Es dauert auch nicht lange. Mein Helfer Wingston ist schon unterwegs, um ihn da rauszuholen …«

»Dachte ich mir schon, dass er nicht von der Baubehörde ist … Dafür ist sein eigener Dachschaden viel zu groß. Allerdings verstehe ich nicht so recht, wie ausgerechnet ich dir helfen sollte.«

»Sage ich dir gleich.« Sie schaute sich um und sah Wingston mit Morris am eisernen Tor der Villa stehen. Sie sprachen aufgeregt miteinander. Wingston machte nebenbei verschiedene Zeichen mit seiner linken Hand, eine der vielen wortlosen Varianten, mit denen sie verschlüsselt kommunizieren konnten.

So las und verstand Ja-Lou, dass sie die Frau, die laut der hastigen Zeichensprache Anna hieß, wie sie bereits erwartet hatte, nicht gehen lassen sollte, aber auch zum Tor kommen sollte. »Na toll, klingt ja wie immer total einfach«, murrte sie. »Lass das Mädchen nicht gehen und komm zu uns. Kann ich vielleicht zaubern?«

Laut an Anna gerichtet sagte sie: »Bitte warte kurz. Nur ganz kurz! Ich muss nur kurz die Situation umreißen und bin gleich wieder bei dir. Du würdest mir echt sehr helfen, ja?«

Anna zuckte widerwillig mit den Schultern, blieb dennoch stehen.

Ja-Lou ging los. Immer wieder drehte sie sich zu Anna um und lächelte krampfhaft, während sie auf ihre beiden Freunde zulief. Es war eine überaus heikle Situation, einer fremden Frau zu vertrauen, dass sie Ort und Stelle nicht verließ, sich gleichzeitig von dieser zu entfernen und obendrein einen Plan mit Morris und Wingston auszuhecken.

Den schwierigen Umständen entsprechend teilte Morris flink seine neuerworbenen Kenntnisse und warf eine gewagte Idee in den Raum, die vorsah, erst einen Test zu wagen und je nach Ergebnis einen Schritt weiter zu gehen. Seine Freunde nickten.

Warum Anna stehen blieb, wusste sie selbst nicht. Diesen Morris sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben und er hatte ihr eine überaus absonderliche Geschichte aufgetischt. Zukunft, Schattenwesen, Baubehörde, sein utopisches Alter … Das klang nach üblen Hirngespinsten.

Doch so seltsam sich dies auch anfühlte, und so sehr sie sich dagegen wehrte, auch nur ein Wort für die Wahrheit zu halten, so sehr verspürte sie gleichfalls eine gewisse Neugier und eine Art Anziehungskraft. Tief, sehr tief in ihrem Innern vergraben, zart, gütig und kaum wahrnehmbar flüsterte eine Stimme ihr zu, sie möge warten.

Fröstelnd zog sie die Schultern nach oben, steckte die Hände in ihre Jackentaschen und sah sich um.

»Wir bringen ihn jetzt nach Hause«, sagte Ja-Lou, die zu Anna zurückgekehrt war.

»Gut«, antwortete Anna und wollte gehen. Insgeheim spürte sie überraschend eine leichte Enttäuschung, dass dieses kuriose Treffen doch schon vorbei sein sollte.

Umständlich kramte Ja-Lou das Spray hervor, mit dem sie die Erinnerungen an Morris, seine Worte und den anderen Geschehnissen der letzten Minuten löschen wollte.

»Allerdings muss ich dich noch ganz schnell desinfizieren«, erklärte Ja-Lou und betätigte die Taste, ohne auf eine Zustimmung von Anna zu warten.

Der feine Sprühnebel umgab für einen Augenblick Annas Gesicht.

»Riecht gar nicht wie Desinfektion«, sagte sie. »Ich bin auch nicht sicher, ob das notwendig war. Morris hat doch nichts Ansteckendes, oder?«

Ja-Lou schielte auf das Haltbarkeitsdatum der Sprayflasche. Mit diesen Worten hatte Anna sich auf jeden Fall für den zweiten Teil von Morris’ Plan qualifiziert. Er hatte vorgeschlagen, ihr die Erinnerungen zu nehmen, und wenn das nicht funktionierte, sollte Ja-Lou versuchen, sie an die Crew zu binden.

Die Hypnose, die Morris versucht hatte, war erfolglos geblieben, und ebenso erging es nun dem Einsatz des Sprays. Der Gedanke, diese Anna könnte etwas Außergewöhnliches sein und ihnen eventuell bei einer Lösung für die Schattenwesen behilflich sein, schien gar nicht so abwegig.

Gleichgültig zuckte Ja-Lou die Schultern und stürzte sich umgehend in den zweiten Teil des Vorhabens. »Morris hat gesagt, dass er dich mag, und nun würde es Wingston und mir sehr helfen, wenn du uns kurz begleiten und ihn ein wenig beruhigen könntest. Er ist ein wenig aufgewühlt von eurem Treffen und es wäre gut, wenn ihr euch nett voneinander verabschieden würdet. Ich verspreche dir, es ist nicht weit.«

»Was? Ich weiß nicht recht …« Anna zögerte. »Ich kenne ihn doch gar nicht. Warum sollte er zu mir mehr Vertrauen haben als zu euch? Außerdem hast du mich doch gerade erst desinfiziert, weil ich Kontakt zu ihm hatte. Nun soll ich wieder zu ihm gehen? Das begreife ich gerade nicht.«

Die drei Crewmitglieder hatten gelernt, genau hinzuhören und Andeutungen, so dezent sie auch gestreut sein mochten, ausfindig zu machen. Ja-Lou spürte in diesem Ich weiß nicht recht keine direkte Ablehnung, sondern sehr wohl eine Chance.

»Es ist wirklich nicht weit«, wiederholte sie deshalb. »Er hat von diesen seltsamen Schattenwesen gefaselt und davon, dass du sie von ihm fernhältst. Wir müssen ihm nur seine Medikamente geben und ihn ins Bett legen, dann erinnert er sich später nicht mehr an dich.«

Sie sprach so gutmütig, als wäre sie tatsächlich eine Pflegekraft, die in großer Sorge um ihren Patienten sei und alles für diesen tun würde. Es fehlte nicht viel daran, dass über ihrem Kopf ein Heiligenschein aufgeleuchtet hätte.

Ja-Lous Version hielt Anna für kaum weniger verrückt als das, was dieser Morris ihr aufgetischt hatte. »Wo wohnt er denn?«, fragte sie dennoch seufzend, ohne sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.

»Die Straße da vorn links rein, bis zum Ende gehen und dann gleich rechts«, erklärte Ja-Lou. »Dauert nur ein paar Minuten.«

»Da ist ein Acker!«

»Und das Heim von Morris.«

Noch immer haderte Anna mit sich, denn ihr Verstand gab zu bedenken, dass die drei Gestalten besonders schräge Typen waren und vielleicht sogar gefährlich sein konnten. Nicht einzeln, aber womöglich in Summe.

Doch ihr Herz versuchte diese Gedanken permanent zu durchkreuzen und benahm sich stattdessen wie ein Magnet vor einer riesigen Menge Eisen. Angst hatte sie nicht.

»Ich habe den schwarzen Gurt in Kickboxen«, sagte Anna unschlüssig. »Wenn ihr irgendeine fiese Nummer vorhabt, dann mache ich Kleinholz aus euch.«

Mit Engelszungen brachte Ja-Lou Anna dazu, sich der kuriosen Gruppe anzuschließen und Morris in sein vermeintliches Zuhause zu bringen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie gelogen hatte und die Wahrheit alsbald ans Licht kommen würde. Dies konnte ein wackelig aufgebautes Vertrauensverhältnis schnell wieder zerstören.

In einem sicheren Abstand begleitete Anna die drei, redete freundlich, aber reserviert mit dem angeblichen Kranken, der sich kein bisschen wie ein Kranker benahm, sondern aufgeweckt und freundlich einen Dialog mit ihr führte.

Ja-Lou und Wingston, die Morris als seine Crew bezeichnete und immer mal wieder von einem aufmerksamen Blick von Anna bedacht wurden, liefen dicht hinter ihnen, mischten sich nicht ins Gespräch ein, hörten jedoch zu.

Beide trugen die gleiche Tarnkleidung wie ihr Chef. Ja-Lou oder zumindest deren Vorfahren stammten aus dem asiatischen Raum. Sie war klein, zierlich und hatte schwarze, halblange Haare.

Wingston, der Größte im Bunde, machte einen entspannten, gutmütigen Eindruck. Seine Wurzeln lagen in der Karibik, wie Morris berichtete. Anna stellte sich vor, wie er mit bunter Strickmütze und cooler Sonnenbrille aussehen würde. Das hätte mindestens genauso gut zu ihm gepasst wie der olivfarbene Anzug. Bei diesem Gedanken musste sie ein Grinsen unterdrücken.

Nur wenige Minuten später standen sie wie von Ja-Lou vorausgesagt auf einem der Jahreszeit optisch entsprechenden Feld. Dunkel, kalt, kahl.

Wingston holte einen winzigen Gegenstand aus seiner Tasche, schaute zunächst auf Anna, um sich ihrer Aufmerksamkeit sicher zu sein, und zielte dann auf eine Stelle mitten auf dem Acker.

Als wenn ein Vorhang weggezogen worden wäre, stand dort ein metallenes Fluggerät.

»Wie hast du das gemacht?« Anna staunte mit offenem Mund und großen Augen.

»Ganz einfach«, antwortete Wingston grinsend. »Ich habe den Tarnschild deaktiviert.«

»Tarnschild? Und was ist das? Ich meine, was ist das für ein Gefährt?«

»Unser Schiff.«

In Annas Kopf brodelte eine undefinierbare Suppe, während die anderen drei zielstrebig auf das Fahrzeug zugingen.

»Komm schon«, forderte Ja-Lou sie auf. »Wir beißen nicht und wir haben die Sache mit dem schwarzen Gurt nicht vergessen.«

Schritt für Schritt näherte sich Anna dem Fluggerät, als hätten sich ihre Füße selbständig gemacht. Wie ein Magnet zog das Gefährt sie an. Tausende Stimmen wisperten in ihrem Kopf wild durcheinander. Keine einzige ergab Sinn, keine einzige war klar, keine einzige war dominant.

Morris öffnete lautlos eine Tür. Er und Wingston stiegen in das Schiff. Ja-Lou blieb davor und lächelte Anna an. »Willst du mal reinschauen?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf ins Innere.

Mit pochendem Herzen stieg auch Anna ein. Was sie erblickte, verschlug ihr den Atem. Mehrere große Bildschirme und Apparate hingen oder standen in der Mitte eines kleinen, halbrunden Raumes ohne Fenster. Zahlreiche bunt blinkende Lämpchen erhellten ihn. Die Wände waren übersäht mit Anzeigen, Schaltern, Hebeln und Tastaturen.

Auf zwei der Sitze, mit denen sich der jeweilige Pilot frei zwischen den Armaturen an der Wand und denen in der Mitte bewegen konnte, saßen Morris und Wingston. Ja-Lou war hinter Anna eingestiegen und stand lässig mit verschränkten Armen in der Tür. Sie alle versuchten, einen möglichst lockeren Eindruck zu vermitteln, und hielten einen sichtbaren Abstand zu ihr ein.

Anna sollte auf keinen Fall den Eindruck bekommen, bedrängt zu werden oder in eine Falle zu tappen. Ein freies Gefühl, jederzeit selbst entscheiden zu können, wie lange und bis zu welchem Punkt die Entdeckungstour gehen soll, standen im Vordergrund.

Diese guten Absichten kamen jedoch nicht dagegen an, eine grauenhafte Explosion in Annas Schädel auszulösen. Zu den bereits vorhandenen Stimmen hatten sich schlagartig dunkle, blasse Gedanken an Gebäude, Gesichter, Melodien gesellt. Bunte Bilder und sanfte Töne überlagerten sich zu einem undurchdringlichen Gewimmel.

Doch was stellten diese Gebäude, Gesichter und Melodien dar? Woher kamen diese? Was bedeuteten sie?

Für einen Moment hielt Anna die Luft an. Dann drehte sie sich ruckartig um und rannte ohne ein weiteres Wort ins Freie. Als würde sie verfolgt werden, hastete sie über den Acker in die Richtung, aus der sie vor wenigen Augenblicken gekommen waren. Sie verschwand zwischen den Häusern.

Die drei sahen ihr nach, ohne ihr zu folgen.

»Die haben wir verloren«, stellte Ja-Lou nüchtern fest und schob sich einen Kaugummi in den Mund. »Und mein tolles Zauberspray hat auch nicht geholfen. Sie nimmt alle Erinnerungen an heute mit.«

»Mist«, fluchte Morris. »Sie hätte uns so nützlich sein können.«

»Warum hast du sie nicht hypnotisiert?«, fragte Wingston.

»Ich habe das schon in dem Haus versucht, das sagte ich bereits. Es ging nicht … es ging einfach nicht. Glaubst du, es wäre hier im Schiff anders gelaufen? Das ist mir noch nie passiert.«

Morris schlug mit der flachen Hand auf die Armatur.

»Dann sollten wir sie erst einmal vergessen und uns unserem eigentlichen Auftrag zuwenden«, sagte Ja-Lou beschwichtigend. »Morris, du hast selbst gesagt, dass die Villa komplett mit den Schattenwesen verseucht ist. Es besteht also akute Ausbreitungsgefahr. Eine Rettung des Gebäudes halte ich deshalb für illusorisch. Unser Gift wird sie nicht wegräuchern können. Lasst uns das Ding einfach in die Luft jagen. Ich habe keine Lust, wegen dieser Viecher draufzugehen.«

»Sehe ich genauso«, meinte Wingston. »Wir haben also zwei von drei Stimmen. Was sagt der Chef?« Er schaute zu Morris.

»Ich denke auch, das ist das Beste«, antwortete der zerknirscht. Sein Ziel bei jedem Auftrag war es, zu retten. Menschen, Tiere, Pflanzen, Gebäude, egal was, nichts und niemand sollte überstürzt sterben müssen oder zerstört werden.

Es ärgerte ihn über die Maße, dass er sich dieses Mal nicht daran halten konnte und es für das Haus keine andere Option gab.

»Wir suchen die Sachen zusammen und legen wie gewohnt in der Nacht los. Da ist die Chance am größten, dass uns niemand beobachtet. Morgen Abend führen wir noch einmal Kontrollmessungen durch, ob die Viecher wirklich vernichtet sind. Dann gehts ab nach Hause in die 28 Grad.«

Ja-Lou ließ bei dieser Ankündigung fröhlich eine Kaugummi-Blase platzen.

Als der Wecker morgens um halb zwei klingelte – Morris liebte diese altmodischen Dinger aus dem 20. Jahrhundert – sprangen die drei vollständig angezogen aus ihren Betten. Dies war die Zeit, in der statistisch gesehen die meisten Menschen in ihren Betten lagen und sie keine Zuschauer fürchten mussten.

Nach einem heißen Kaffee trabten sie zum Grundstück mit der infizierten Villa. Nach einem raschen Gebäude-Scan, der ihnen bestätigte, dass sich kein irdisches Leben darin aufhielt, positionierten sie rundherum an verschiedenen Stellen der Außenwände kleine, schwarze Kugeln. In den Händen hielten sie ihre Messgeräte, die unbändig blinkten und piepsten.

Niemand war auf der Straße zu sehen, als Morris die Vernichtung des Hauses einleitete, indem er den Countdown startete. In einem riesigen Feuerball verglühte gleich darauf alles, was sich auf dem Grundstück befand. Die Bäume, die Wege, der verwitterte Gartenteich, die riesige Villa selbst mit Dach und Keller verrauchten in wenigen Sekunden. Dies alles geschah nahezu geräuschlos. Nichts als ein gedämpftes Knistern war zu vernehmen. Als die letzten Funken erloschen, übernahm eine Totenstille die einsame Trauer um das Vergangene.

Das Grundstück sah aus, als hätte nie ein Haus darauf gestanden. Unscheinbar und stumm lag es unter dem fahlen Mondlicht.

»Wingston, mach schon!«, flüsterte Ja-Lou ungeduldig. »Wirf den Erinnerungsschock, damit ich endlich zurück ins Warme komme!«

»Der wird endgültig dafür sorgen, dass wir Anna nie wiedersehen werden«, sagte Morris betrübt.

»Berufsrisiko«, entgegnete Wingston gleichgültig. »Falls es hilft: Ich denke ja, dass sie viel weniger spannend war, als du dir einbildest. Wer weiß, ob nicht vielleicht doch alles ein unglaublich großer Zufall war.«

Er riss einen durchsichtigen Plastikbeutel auf, in dem sich eine faustgroße, glibberig-grüne Kugel befand. An einer Seite drückte er mit dem Daumen ein Plättchen ein und warf sie sofort auf das Grundstück.

Ein grüner Schleier legte sich von der Kugel ausgehend über die Fläche, wie ein Tuch, das ein Geheimnis verbergen sollte. Und das tat es auch. Schon morgen würde sich niemand mehr daran erinnern, dass sich an dieser Stelle eine mysteriöse, gruselige Villa befand, in der Menschen spurlos verschwanden. Lediglich die drei Zeitreisenden waren aufgrund der hohen Konzentration von Chrono-Partikeln in ihren Körpern immun gegen den Wirkstoff. Sie würden dieses besondere Gebäude nie vergessen.

Nach erfolgreicher Arbeit stiefelten die drei zurück zu ihrem Schiff.

»Ist trotzdem krass ungewöhnlich, dass diese Anna in dem Haus ein- und ausgehen konnte, wie sie wollte«, sagte Wingston und zündete sich eine Zigarette an. »Mein Messgerät ist fast durchgedreht, so hoch war die scheiß Konzentration. Ich bin froh, dass ich da nicht rein musste.«

»Feierabend, Leute!« Ja-Lou gähnte herzhaft. »Aktiviert den Tarnschild und dann nichts wie ab ins Bett. O Mann, was freue ich mich darauf, nach Hause zu kommen. Diese Kälte ist einfach widerlich.«

Der nächste Morgen begann mit den ersten Nacharbeiten zu dem Auftrag. Morris und Ja-Lou waren bereits früh mit den Analysen der Messungen, die sie an der Villa vorgenommen hatten, beschäftigt. Sie starrten auf Monitore, grübelten, diskutierten und gaben Zahlen in die Computer ein.

Wingston dagegen ging ein paar Mal zu dem Grundstück, um Messungen vorzunehmen. Sie alle fielen negativ aus. Das bedeutete, dass er keine Anwesenheit von Schattenwesen feststellen konnte. Und das wiederum war äußerst positiv.

Ebenso erfolgreich schien der Einsatz des grünen Nebels verlaufen zu sein, der sich mittlerweile verflüchtigt hatte. Keine der wenigen vorbeilaufenden Personen wunderte sich über das fehlende Gebäude. Niemand warf einen skeptischen Blick darauf.

»Muss ja auch mal was klappen«, brummte Wingston und ging zurück zum Schiff.

Am Nachmittag saßen sie zusammen im Kontrollraum, tranken heißen Kaffee und besprachen die letzten Tätigkeiten in dieser Zeitphase. Die Rückreise in ihre Epoche stand unmittelbar bevor.

Da klopfte es an der Tür.

»Wingston, hast du vergessen, den Tarnschild zu aktivieren?«, fragte Ja-Lou ärgerlich.

»Quatsch, das vergesse ich nie!«

Morris sah auf einen Monitor. »Wingston hat recht«, sagte er. »Das Tarnfeld ist aktiv. Aber wenn ich das richtig erkenne, steht Besuch vor unserer Tür.« Er grinste Ja-Lou an und zeigte auf die Tür. »Mach doch mal auf.«

Ja-Lou zog die Stirn kraus, stiefelte zur Tür und öffnete diese. »Hm?« Es verschlug ihr umgehend die Sprache.

Vor der Tür stand Anna.

»Hi … ähm …« Sie stotterte, als könne sie selbst nicht begreifen, warum sie zurückgekehrt war. »Ist es okay, wenn ich kurz reinkomme?«

Der Einlass wurde ihr umgehend gewährt und sorgte allerseits für große Augen. Zunächst etwas unbeholfen schauten sie einander an. Keiner wusste so recht, ob und was sie voneinander erwarten konnten, oder ob es überhaupt eine Erwartung gab.

»Wie hast du unser Schiff sehen können?«, fragte Morris.

»Ich habe es nicht gesehen«, erklärte Anna. »Ich erinnerte mich lediglich daran, dass es hier stand, und außerdem enden an einem bestimmten Punkt alle Fußabdrücke im Ackerboden. Also habe ich mich langsam herangetastet und dann an der Stelle in die Luft geklopft, an der ich die Tür vermutet habe. Hat ja geklappt. Tut mir leid, wenn ich störe.«

»Du störst nicht, kein bisschen«, sagte Morris schnell. »Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«

Anna lehnte den Kaffee ab und nestelte an ihrer Jacke.

Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen.

»Das Haus ist weg«, murmelte Anna. »Ihr habt es wirklich komplett zerstört.«

»Was? Du erinnerst dich daran?« Wingston hob die Augenbrauen.

Anna überraschte die Frage. »Ja, natürlich, wir haben uns doch erst gestern davor getroffen. Aber keine Sorge, deswegen bin ich nicht hier.«

Ja-Lou, die ihre erste Verblüffung überwunden hatte, schob ihrem Gast einen Stuhl hinüber, setzte sich selbst und nickte Anna aufmunternd zu. Wer einer Hypnose und ihrem Zauberspray widerstehen konnte, der konnte anscheinend auch einen Erinnerungsschock ignorieren.

»Wir sind ganz Ohr«, sagte Morris und lehnte sich zurück. Nach außen hin wirkte diese Position entspannt, doch in ihm lief alles auf Hochtouren.

Anna atmete tief ein und aus.

Sie blickte sich verloren in dem Schaltraum des Raumschiffs um. Alles sah so wahnsinnig echt aus, dass sie die Geschichte, die drei kämen aus der Zukunft, glaubte. Natürlich klang es bizarr, doch über Nacht hatte sich der Wunsch, zu ihnen zurückzukehren, tief in ihre Gedanken gegraben und sie nicht mehr losgelassen.

Sie hatte wach in ihrem Bett gelegen und versucht, ihre Emotionen zu sortieren. Jeder andere Mensch hätte das Raumschiff samt Crew zu einem Hirngespinst erklärt oder angenommen, er sei in einen schlechten Scherz mit einer versteckten Kamera geraten.

In Annas Kopf dagegen hatte sich eine Melodie festgesetzt, die fremd und vertraut zugleich erschien und sie bis zum Sonnenaufgang nicht mehr losließ. Irgendetwas in ihr verband diese Melodie mit Morris, seinem Raumschiff und einem Bruchstück ihrer Vergangenheit.

Mit klopfendem Herzen hatte sie sich auf den Weg zu dem Acker gemacht. In ihren Hirnwindungen war die Frage herumgekrochen, was sie tun würde, wenn das Raumschiff nicht mehr da sei oder sie es nicht finden würde. Sie war nicht fähig gewesen, sich eine Antwort darauf zu geben.

»Es ist seltsam«, begann sie stockend. »Ich kenne euch nicht und trotzdem vertraue ich euch … irgendwie … jedenfalls. Morris, deine Worte gestern klangen wie die Worte eines Idioten … Entschuldige bitte! Und dennoch haben sie in mir etwas ausgelöst. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht …

In der alten Villa sind zig Menschen verschwunden. Niemand weiß, wie viele es sind. Vielleicht zwanzig, vielleicht neunzig, vielleicht mehrere hundert … Trotzdem habe ich ehrlich gesagt nie die Sorge gehabt, dass mir das Gleiche passieren könnte. Niemals. Meine Freundin Lore …«, sie schaute zu Morris, »die junge Frau auf dem Bild … Du erinnerst dich sicher … Lore jedenfalls war ziemlich waghalsig, manchmal sogar direkt lebensmüde, eine Draufgängerin wie sie im Buche steht.

Eines Tages hat sie mich dazu überredet, gemeinsam in die Villa reinzugehen, uns in Ruhe umzusehen und vielleicht ein wenig Spurensuche nach Vermissten zu betreiben. Sie hielt die Geschichten von den verschwundenen Leuten für Märchen, etwas, mit dem man kleine Kinder erschrecken kann. Sie war so sehr davon überzeugt, dass ihr nichts passieren konnte.

Also schlichen wir uns hinein. Ich langweilte mich bald. Das Haus bereitete mir keine Furcht. Es stank nur widerlich. Außerdem gab es rein gar nichts zu entdecken. Die Räume waren alle leer und die Wände voller Schimmel. Genug Gründe, es einfach schnell wieder zu verlassen.

Lore wollte sich noch kurz in der oberen Etage umsehen, während ich unten wartete. Plötzlich hörte ich einen entsetzlichen Schrei. Einen Schrei so laut …« Anna stockte. Sie rieb ihre Finger aneinander.

»Ich rannte so schnell ich konnte nach oben. Aber da war nichts. Einfach nichts und niemand. Na ja, fast nichts. Auf dem Boden verstreut lagen diese vielen Fotos und vertrocknete Blumen. Ich rief Lores Namen und suchte das ganze Haus, jeden Winkel und das Grundstück nach ihr ab. Gefühlte Ewigkeiten lief ich umher, doch ich fand weder sie noch eine Spur von ihr. Es dauerte viele Tage, Wochen, ehe ich begriff, dass …«

Eine winzige Träne hatte sich aus Annas Augen gelöst und lief über ihre Wange. »Ich habe sie nie wiedergesehen.«

Sie senkte den Kopf. Die Erinnerungen an jenen furchtbaren Tag raubten ihr schier die Luft.

»Das ist eine schreckliche Geschichte«, flüsterte Ja-Lou. »Es tut mir so leid, dass du das erleben musstest.«

»Ja-Lou hat recht«, entgegnete Morris und nickte. »Und doch steckt so viel Hoffnung in deinen Worten, denn du hast überlebt. Du bist diesen Wesen entkommen und bist ihnen ja offenbar auch danach noch viele Male begegnet, ohne dass sie dir was angetan haben.«

»Deswegen bin ich hier«, sagte Anna und hob ihren Kopf wieder. »Ihr habt gesagt, ich könnte vielleicht helfen. Die Villa, in der Lore verschwand, ist für immer fort, aber wenn es, wie ihr sagt, noch mehr von diesen Wesen gibt, dann würde ich gern helfen, damit nie wieder jemand so etwas erleben muss.«

Wingston holte eine Tasse mit heißem Kräutertee und gab sie Anna, die diese dankend annahm. Er tätschelte sanft ihre Schulter.

»Ich … ich habe nur keine Ahnung, was ich tun soll … Keine Ahnung, wie ich helfen könnte«, sagte Anna seufzend und wurde allmählich ruhiger. Sie sah die drei mit feuchten, aber doch entschlossenen Augen an. In ihr war der Wille gekeimt, sich an den Mördern von Lore zu rächen.

Die Crew aus dem fernen Jahrhundert schien sich mit diesen Schattenwesen auszukennen. Die Hoffnung, Lore aus dem Reich der Toten zurückzuholen, schwang mit. Wenn es stimmte und sie in der Zeit reisen konnten, sollte dies ihrer Ansicht nach kein Problem darstellen. Doch diesen Gedanken behielt sie vorerst für sich.

Irgendwie musste Morris starten, um Annas Geheimnis, sofern es eines gab, auf die Spur zu kommen. Da er keine Idee hatte, wo er ansetzen sollte, versuchte er es mit psychologischer Puzzlearbeit.

Er gestand sich ein, dass sein Einsatz im 21. Jahrhundert nun doch länger dauern könnte als geplant, und Ja-Lou nicht so schnell in die sommerlichen Temperaturen zurückkehren würde, wie sie es sich wünschte. Diese unsichere, junge Frau, die vor ihm saß, war in allem, was er von ihr wusste, beeindruckend.

Wenn sich herausstellte, dass sie ein Schlüssel war, um die Schattenwesen ein für alle Mal von der Erde zu vertreiben oder zumindest im Zaum zu halten, mussten andere Dinge zurückstecken. Er seufzte und hoffte, dass er sich nicht in seiner Begeisterung verrannte.

»Wenn du helfen willst, dann sollten wir als Erstes anfangen, dich kennenzulernen«, brach Morris die Stille. »Erzähl doch einfach mal etwas über dich. Wie lebst du? Wo arbeitest du? Was machst du den ganzen Tag?«

»Ich arbeite in einem Supermarkt«, antwortete Anna zögernd. »Nichts Besonderes eigentlich. Da habe ich auch Lore kennengelernt. Wir haben zusammen Regale gefüllt und wurden dabei beste Freundinnen. Wir gehörten einfach zusammen und verstanden uns auch ohne Worte.«

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in Anna aus. Sie wusste selbst nicht, welche Richtung dieses Gespräch einschlagen würde, und was ans Licht käme.

»Okay. Das ist ein Anfang.« Morris nickte aufmunternd, als Anna nicht weitersprach. »Und nun geh weiter zurück.«

»Was meinst du mit zurück?«

»Ich meine zeitlich gesehen. Erzähle uns von dem, was noch weiter zurückliegt, von deinen ältesten Erinnerungen und Spuren. Zum Beispiel: Wann und wo bist du geboren? Wer waren deine Eltern?«

Anna runzelte ihre Stirn, als hätte sie den Begriff Eltern noch nie zuvor gehört. »Keine Ahnung«, sagte sie stockend und schüttelte verlegen den Kopf.

Morris hob seine Augenbraue, stellte seine Verwunderung jedoch erst einmal hinten an. Er wollte rasch vorankommen und wagte sogleich die nächsten Fragen. »Hast du Geschwister?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo bist du aufgewachsen?«

»Äh … Weiß ich auch nicht.«

»Hast du irgendeine Erinnerung an deine Kindheit?«

»Nein … äh … tut mir leid. Nein, nichts.«

»Hast du Freunde, Bekannte, Nachbarn, irgendjemanden, der uns weiterhelfen könnte?«

Anna presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

»Das ist mehr als ungewöhnlich«, meinte Morris und zog die Augenbrauen zusammen, bis eine kleine Falte über der Nase entstand.

Anna zuckte matt mit den Schultern. »Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.« Sie trank einen großen Schluck Tee.

Erst hier in diesem Raumschiff, auf einem Acker, mit Menschen aus einem fernen Jahrhundert, stellte sie sich selbst zum ersten Mal die Frage, warum sie noch nie über ihre Herkunft nachgedacht hatte. Warum erinnerte sie sich an nichts?

Morris, Ja-Lou und Wingston warfen sich verwunderte Blicke zu.

Die nächsten Minuten verbrachten sie damit, in Annas Hirnwindungen einen kleinen Fetzen ihrer Vergangenheit freizulegen, der brauchbar sein könnte. Doch sie fanden nicht den winzigsten Anhaltspunkt.

Das Unbehagen aller Beteiligten wuchs auf der einen Seite, weil jede Frage in einer Sackgasse endete und auf der anderen Seite, weil das Gefühl, helfen zu können, von Minute zu Minute schwand.

Morris stand auf und lief ungeduldig hin und her, so weit es der begrenzte Platz in der Kabine zuließ. Ja-Lou und Wingston kannten ihren Chef gut genug, um zu wissen, dass er etwas ausbrütete.

In Morris’ Kopf entstand eine Idee, die sich mehr und mehr festigte. Er wartete zunächst, sie preiszugeben, da sie Annas Privatsphäre verletzen würde. Es könnte passieren, dass sie erschrocken ablehnen oder sogar die Flucht ergreifen würde. Ein behutsames Vorgehen war daher mehr als angebracht.

Geduldig stellte Ja-Lou noch zwei weitere Fragen zu Annas Leben, die jedoch ebenfalls unbeantwortet blieben. Da konnte Morris nicht anders und riskierte den Schritt nach vorn.

»Wäre es denn für dich in Ordnung, wenn wir uns in deiner Wohnung mal umsehen?«, fragte er. »Vielleicht finden wir Fotos oder Zeugnisse oder andere interessante Unterlagen, die uns weiterhelfen.«

Tiefe Bedenken umschwirrten seine Worte fast hörbar. Auch Ja-Lou und Wingston hielten für einen Augenblick den Atem an. Ihnen war bewusst, wie heikel eine derartige Frage zu diesem Zeitpunkt war.

Und tatsächlich zögerte Anna. Da sie nicht wusste, wohin sie blicken sollte, schaute sie in die halbvolle Teetasse und schaukelte diese hin und her. In ihrem Kopf geisterten allerhand Gedanken herum. »Ich habe echt keine Ahnung, warum ich das mache«, sagte sie und seufzte, ohne den Blick vom dem mittlerweile kalten Getränk zu lösen. »Also gut, kommt mit zu mir. Aber erwartet bloß nicht zu viel.«

Auf den erneuten Hinweis, sie hätte den schwarzen Gurt in einer fernöstlichen Kampfsportart, verzichtete sie dieses Mal. Es stimmte sowieso nicht. Das Schicksal hatte irgendetwas mit ihr vor. Das spürte sie deutlich. Aber was?

Keine halbe Stunde später standen die vier in einer beengten Wohnung eines alten Mehrfamilienhauses, die selbst für eine Person kaum genügend Platz bot. Von einem spärlich eingerichteten Wohnzimmer ging es in eine ebenso karg möblierte Kammer, die zum Schlafen genutzt wurde. Lediglich zwei kleine Schränke, ein Regal, ein Stuhl, ein wackeliger Tisch und ein altes Sofa befanden sich im Wohnzimmer. Der Raum wirkte ernst und dunkel.