Der Ozean steigt - Hedi Wyss - E-Book

Der Ozean steigt E-Book

Hedi Wyss

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Elsa ist tot: Elsa, die ihrer kleinen Tochter Anna mitten auf der Straße einen Grabstein setzte, dort, wo sie von einem Laster angefahren worden war. Elsa, die unter freiem Himmel Bäume pflanzen wollte, als alle Bäume längst gestorben waren. Sie, die Kontakt hatte zu «denen in den Bergen», den Abtrünnigen ... Ihre Freundin, eine ältere Frau wie Elsa selbst, fährt zum Begräbnis. Im Gegensatz zu Elsa hat sie sich immer bemüht, «in der Mitte des Stroms zu bleiben, getragen von der Zustimmung der anderen», hat sich nicht gewehrt, als ihr Mann an Strahlenkrebs starb, als ihr Enkel auf die Welt kam und nicht sprechen wollte, als ihr Schwiegersohn spurlos verschwand. Zwei ungleiche Frauen – zwei ungleiche Reaktionen auf eine Welt, in der Vorkommnisse dieser Art nicht Einzelfälle, sondern die Regel sind. Es ist nicht unsere Welt; aber es ist eine Welt, die vielleicht schon bald die unsere sein könnte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hedi Wyss

Der Ozean steigt

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Daß alles so weitergeht, [...]Die Beerdigungen meines Lebens [...]

Daß alles so weitergeht,

das ist die Katastrophe.

Walter Benjamin

Die Beerdigungen meines Lebens fanden immer bei schönstem Wetter statt. Im Frühling meist. Osterglockengelb und Asche. Das Frösteln beim Warten am Grab. Die Kühle an meinen Beinen. Ein Vogellied über einem grasgrün glattgetrimmten Gärtnerrasen und die Stille zwischen den dunklen Zypressen vor der Betonmauer des Krematoriums.

Ich bin müde. Eine helle Müdigkeit. Die Leichtigkeit des Alters. So als hätte ich mich schon fast aufgelöst. Der Tod, das Alter, der Frühling. Und das Bild von Elsa, so unscharf und blaß. Im zitternden Fenster, im rhythmischen Stampfen, das mich durch die Gegend trägt. Ich fühle mich leicht. Die Einsamkeit, dieses Fast-nicht-Vorhandensein entrückt mich der Trauer. Manchmal bin ich jetzt so. Alle Fäden abgeschnitten. Kein Spiegel da, kein Gegenüber. Nur die Welt, so wie sie für mich immer war. Und ich nicht darin. Ausgenommen von allem sehe ich durch ein Guckloch hinein. Bilder, die sich verschieben vor mir, so wie sich jetzt der spitze Turm des Münsters über dem Horizont vor mir durchschiebt. Beruhigend. Alles so stetig und still. Der helle blaue Himmel hinter den Dächern der Stadt ist dünn und wie angemalt. Wie die Wolken jetzt fliegen! Lautlos und elegant hinter dem Fenster, das alle Töne verschluckt.

Das Blut pulsiert in meinen Waden. Schmerzhaft. Und die Scham in meinem Hinterkopf. Die Scham über diese Ruhe in mir. Die Verluste sind so zahlreich, die Schläge so pausenlos niedergegangen, daß ich jetzt glücklich und wie betäubt bin. Das ist das Alter. Das Leben wird dünn wie Wasser mit etwas Blau darin. Der Himmel der Wirklichkeit nichts mehr als ein leichthin aufgetragener Pinselstrich auf einem dieser Landschaftsaquarelle, die sich in Wartezimmern von Ärzten, in Aufenthaltsräumen von Altersheimen so häufig finden.

Die Wälder sind grün, mit einem leichten Stich ins Braun. Ich habe fast sehnsüchtig auf ihr Verschwinden gewartet, auf ihren Untergang. Jetzt, da der Zug durch die sich jagenden milden Schatten zwischen den hellen Stämmen rast, scheint alles in echtes Frühlingsgrün getaucht. Unverwüstlich, beruhigend. Dazu die Stimmen der beiden jungen Männer aus dem Abteil vor mir. Ein Glanz von braunem Haar über der Lehne. Wörter, die ich nicht verstehe, weil ich dem Gespräch nicht folgen will. Kaskaden von Gelächter, das Stillerwerden und wieder Anschwellen der Stimmen. Hinten muß, wie immer in diesen Eisenbahnwagen, eine Frau mit Kind sitzen. Ein kleines Kind, hell gekleidet, die typische Art, wie winzige Kinder mit den Armen rudern. Sein Schreien, das Verstummen dazwischen, die Stimme der Frau.

Die Welt steht still, und ich fahre mit rasender Geschwindigkeit durch sie hindurch, vom Anfang bis zum Ende. Ich könnte den Tag austauschen, irgendeinen Frühlingstag vor dreißig Jahren mit dem hier. Die Welt ist erstarrt, sie bewegt sich nicht, wenn man sie mustert, ihr Gesicht ist verschlossen, wie das einer Schauspielerin in einem lebenden Bild, wenn der Scheinwerfer sie streift.

Ich habe versucht, zu begreifen, was geschehen ist. In der Nacht habe ich es versucht. Ich wachte auf, die Dunkelheit war durchsichtig, der Widerschein der Straßenlampe auf meinem Bett beruhigend fahl. Stille draußen, oder das, was ich Stille nenne, nur die Geräusche von der Straße her, das leise Rieseln der Stimmen und das Pochen, das mir unerklärlich ist, dessen Ursprung ich nicht herausgefunden habe bis jetzt, das Pochen, das sowohl ein Pochen von Tropfen sein könnte, irgendwo aus der Dachrinne herunter, wie auch das Pochen eines Herzens. Manchmal ist mir das so vorgekommen: Das Haus hat ein Herz, und in der Nacht, wenn alles schläft, wenn der Atem der Winde einen Augenblick aufhört, hört man es pochen.

Ich stand auf, mein helles Nachthemd war hochgerutscht. Ich strich es schnell über die Beine herab. Ich fühlte mich leicht und gar nicht müde. Hellhörig wie meistens in der Nacht, wenn ich schlaflos bin, hellhörig und lebendig. Wie immer ging ich in die Küche, machte mir einen Tee, schaltete nur die kleine Lampe im Wohnzimmer ein gleich über dem Tisch, setzte mich in dieses sichere Rund von Licht und trank. Ich dachte an Elsas Tod, an die Wörter, hinter denen ich vor mir selbst diesen Tod versteckt hatte. Nur Wörter waren es gewesen, seit ich die Nachricht bekam. Erst die Wörter auf der Anzeige, dann die Wörter von Irma am Telefon. Da, den Hörer in der Hand, hab ich den Schrecken gefühlt: Ich stand da und sah auf die Wand mir gegenüber, auf diese dumme Konsole mit der kleinen grünen Vase darauf, die so unnütz, vor aller Augen und vergessen dasteht. Irma sagte das von der Gewalttat. Wahrscheinlich eine Gewalttat. Sie wurde getötet, und die Kleine ist verschwunden. Kannst du so etwas begreifen. Elsa, ausgerechnet Elsa.

Einen Augenblick lang war der Schrecken da, der Schmerz. Diese dumpfe Leere, die Tage, die sich so sicher aneinanderreihten, hatten plötzlich eine Lücke, die Kette der Gewohnheiten, die mich hält und das Leben so schmerzlos vorüberziehen läßt, war gerissen. Ein Schmerz und eine Intensität des Gefühls, die mich stark machten. Eine Welle von ungeheurer Lebendigkeit in mir angesichts der Leere, des Blutes, dieses abrupt zerreißenden Todes da, wo Elsa gewesen war. Und dann wieder der Schleier darüber. Und die grüne Vase, die einen Augenblick lang von aufdringlich harter Körperlichkeit gewesen war, schnellte wieder zurück in den Hintergrund, wurde zum Dekor unter all den anderen Lebensdekors.

Und das ging so weiter, immer weiter bis gestern nacht. Ich sah mir zu, wenn ich Gläser durch den Flur trug, wenn ich eine Zeitung zusammenlegte, wenn ich die Gabel in die Hand nahm und mir Essen zum Munde führte. Ich schwebte in der Kette der Tage. Elsa, am Boden liegend in ihrem Blut, war nichts als ein weggeschobenes Bild, ganz blaß, hinter Wörtern und Sätzen in meinem Ohr, hinter Wörtern und Sätzen auf dem Papier verborgen.

In der Nacht, über der Tasse, holte ich die Bilder herauf, suchte sie herzuzwingen. Die Gefühle, die Gerüche. Eine Sehnsucht war in mir, von einer Heftigkeit, wie ich sie längst schon vergessen hatte. Diese Sehnsucht nach Wirklichkeit und dem Pochen in mir. Das Pochen draußen, das Haus- und Wasserpochen wollte ich in mich nehmen, ganz in mich hinein. Ich wollte das Leben haben und den Tod. Ich wollte fühlen, wie die Wirklichkeit gewesen war. Ich wollte den Schmerz wieder, ich wollte abstürzen in diese Entsetzlichkeit eines gewaltsamen Todes wie ihn Elsa erlitten hat.

Ich weiß, daß ich nahe dran war. Eine sehr kurze Zeit lang. Genauso stark und wirklich war ich, so in mir und in der Zeit, wie in seltenen Augenblicken meines Lebens. In meinem Bauch war ein entsetzliches Ziehen, ein Krampf, dieser Lebens- und Todesschmerz. Ich hatte ihn vergessen gehabt. Den Schmerz bei einer Geburt, den Schmerz, wie ich ihn fühlte, als Rolf starb. Obwohl Elsas Tod, anders als der von Rolf, dessen entsetzlicher Geruch eines langsam lebendig verwesenden Körpers in seinen letzten Wochen mich ganz durchdrungen hatte, so fern war, so flach und dünn und fremd, war ich einen Augenblick ganz drin. Ich konnte schreien, und die Lähmung wich etwas von mir. Ich schrie, und die Erde bewegte sich unter mir, sie war wie ein Tier, lebendig und atmend und sich windend als bekäme sie keine Luft, als könnte sie, wie ich, sich nicht erheben über diese Fluten von Schmerz, diese Drohung, die alles fesselte und zu zerreißen sich anschickte.

Der Tag wurde blasser, als ich erwartet hatte. Ich erwischte mit Mühe den Zug, war atemlos noch eine Weile, als ich im Abteil saß.

Jetzt bin ich wieder ruhig. Abgelöscht, flach, zufrieden, glücklich.

 

Es ist unbegreiflich, sagte Irma. Wer konnte nur so etwas tun. Sie sagte: Die Beamten sind nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht doch selbst getötet hat. Aber das ist Unsinn.

Ich habe Elsa lange nicht mehr gesehen. Mindestens vier Monate sind seit meinem letzten Besuch vergangen.

Irma verdächtigt die Kleine. Die ist verschwunden. Das genügt. Wer abhaut, ist schuldig. Ich spürte die Genugtuung in Irmas Stimme, ihre Freude. Ihren Haß, der endlich wieder eine Richtung gefunden hatte. Sie fühlte sich, das merkte ich, gut.

Elsa erschießt sich nicht, sagte sie. Elsa doch nicht. Als hätte sie sie so gut gekannt. Irma, die kleine Schwester, endlich rannte sie nicht mehr hinter Elsa her, endlich war der Neid nicht mehr da auf Elsas unerklärliche Sicherheit, endlich mußte sie sie nicht mehr verpetzen, mußte nicht mit betonter Rechtschaffenheit eine Mauer zwischen sich und sie bauen. Die Überlebende sein, das war ein Triumph. Der gewaltsame Tod eine Rechtfertigung für die Feigheit von Menschen wie Irma und mir.

Pistolen sind Männerwaffen, sagte ich, Männer erschießen oder erhängen sich. Frauen nehmen Tabletten ein, trinken sich zutode, gehen ins Wasser.

Irma hat mich am selben Tag, abends, noch einmal angerufen. Ihre Stimme fröhlich fast, von alter Geschäftigkeit. Sie brauchte meine Hilfe. Jemand von der Pfarrei würde kommen, sie müßte helfen, einen Lebenslauf aufzusetzen. Ich sollte ihr Sachen erzählen, die über das hinausgingen, was sie wußte. Eine Würdigung, Intimes vielleicht. Ich spürte ihre Eifersucht wie damals als Kind. Du warst doch ihre beste Freundin, sagte sie. Du hast sie so gut gekannt.

Ich war nicht Elsas Freundin. Ich war ihr Schatten. Weil ich stumm blieb, konnte sie schreien, weil ich mich fallen ließ, konnte sie sich bewegen. Wir brauchten einander, und ich weiß nicht mehr, ob wir uns haßten oder uns liebten. Wir hingen aneinander. Ich wußte nichts zu erzählen, als was nicht allgemein schon bekannt war. Während ich redete, war Elsa ein Bild für mich, erstarrt, aber ein Gefäß für meinen Neid.

Ich werde ihm sagen, daß er erwähnen soll, wie sehr Elsa Idealistin gewesen ist, sagte Irma. Idealistin. Ich schwieg einen Augenblick. Das Wort war so altmodisch. Unsere Eltern hatten solche Wörter gebraucht. Damals war dieses Wort noch klar und drückte Bewunderung aus. Nach dem Krieg, als ich noch ein Kind war, war dieses Wort auch für mich klar und stark, ein Lob. Ein Idealist, eine Idealistin, jemand, der sich uneigennützig für etwas einsetzt. Damals wußte ich noch nicht, wie entwertet und zweideutig es schon geworden war. Und jetzt Irma: Eine Idealistin. Ich schluckte leer. Das Wort «Idealistin» schien mir wie Hohn aus dem Munde von Irma. Hohn, jetzt gedämpft durch die fatale Höflichkeit angesichts des Todes.

Irma und ich, wir leben noch. Der Beweis, wie recht wir haben.

Ich konnte einen Augenblick nichts sagen vor Haß.

Irma wird dafür sorgen, daß die Blumenarrangements hübsch angeordnet werden. Sie hat sicher ein angemessenes Leichenmahl bestellt. Sie hat nicht vergessen, alle Verwandten zu benachrichtigen, und die Freunde. Alles in schönster Ordnung.

Ich habe mein altes dunkelblaues Kleid angezogen. Ich bin vor dem Spiegel gestanden, habe mir noch einen lackschwarzen Gürtel umgebunden, habe die letzten Fusseln von dem dunklen Stoff entfernt.

Auf den Hügeln ein blendender Fleck Weiß. Schnee, vielleicht doch Schnee. Zwischen zwei dunkeln Polstern des Waldes. Und die Linien der Erde wie immer so rund und genau gezeichnet.

Ich fahre gern Zug. Die Fenster setzen die Landschaft in Rahmen. Den Bauernhof da drüben kenne ich. Auch wenn der Zug jetzt ruckt, unerklärlicherweise auf der Strecke sich verlangsamt, fast hält, wenn dieser Schlag mir durch den Körper geht, weil irgend etwas auf etwas anderes aufprallt, so bleibt mir doch die beruhigende Geradheit der schimmernden Gewächstunnel auf dem Acker davor.

Mir ist es lieb, wenn die Oberflächen klar sind. Sauber. Nichts, das nicht mit einem Blick zu erfassen wäre. Dann fühl ich mich in Ruhe gelassen. Ich bin da nicht anders als die andern, nicht anders als Irma. Ich weiß es. Nicht die Kahlheit schreckt mich, nicht die Stummheit dieser Landschaft, die langsam, wie ein Filmstreifen, an mir vorübergleitet, sondern ein Bild wie das von Elsas Tod: Das Blut, Elsas gekrümmter Körper am Boden, all die Dinge, die um sie her verstreut gewesen sein müssen. Ausgelaufenes, Zerbrochenes, aufgeschlagene Bücher, deren Blätter sich im Luftzug leise bewegen, Zerknülltes, blauer Samt, auf dem das Blut dunkle Flecken zurückgelassen hat. Ich habe von Elsas Tod erst erfahren, als alles schon aufgeräumt war. Der Boden, auf dem sie gelegen hat, wird aufgewischt sein, gesäubert, die Bücher in die Regale zurückgestellt, das Zerbrochene, Verschüttete zum Verschwinden gebracht. Der blaue Stoff gewaschen und zusammengefaltet. Und mein lächerliches Bild, dieses Bild von einer Leiche, die kein Gesicht hat, dieser Körper, den ich nie so liegen sah, hat die Haltung jener künstlichen Toten, denen ich immer wieder auf dem Bildschirm begegne.

Es wird mir warm. Ein offenes Fenster, blau spiegelt sich darin ein Stück Himmel. Dann eine Hauswand, die so nah vorüberzischt, daß ich zurückweiche. Gläser und Bilder darin, verzerrt. Blindes Glas. Glattes Glas. Die Kälte in mir rührt vom Glas her. Ich sehe auf die Hände in meinem Schoß und ich fühle das Glas an meinen Händen.

 

Mein kleiner Bruder hinter Glas damals. Ich stand auf Zehenspitzen, und da lagen die Babys, ich wußte nicht, welches mein Bruder war. Und jemand stand hinter mir und sagte, siehst du, wie schön er ist, so einen hübschen Bruder hast du. Und die Arme der Babies zuckten, sie ruderten in der Luft. Wie Käfer auf dem Rücken lagen sie da. Münder mit roten Zahnfleischrändern wie offene Wunden, und eine Schwester ging von Bett zu Bett, und das Schreien schien nicht aus diesem Zimmer zu kommen, sondern von weit her. Die Luft war zerschnitten zwischen mir und diesen kleinen Wesen, das Glas machte die geschäftigen, schnellen Bewegungen der Schwester unhörbar. Sie hatte eine weiße Maske vors Gesicht gebunden. Sie nahm einen Säugling wie ein Paket aus seinem Bettchen, hielt ihn hoch, und er wand sich. Wenn ich wenigstens die Schreie gehört hätte! Das Glas war wie an mein Gesicht gebunden, ich konnte mich, auch wenn ich den Kopf wandte, nicht davon befreien.

Milchglas an den Fenstern der Aborte, über den Gucklöchern, dort wo sich Geheimnisvolles, Blutiges tut. Das Glas der Gucklöcher an den großen Schirmbildwagen, die auf den Schulhöfen auf uns warteten. Das Frösteln, die Hände, die einen packten und, während man den Atem anhielt, an eine Glasplatte drückten. Schirmbildblau, Flimmerblau. Organe pulsieren auf diesem Blaugrau, die Schatten wischen durch die Röhren und Höhlen des Körpers, die Kälte des Blaus macht alles körperlos.

 

Eine Frau lehnt aus dem Fenster, so daß das Frühlingslicht auf ihren Oberkörper fällt. Sie reibt das Glas mit einem hellen Lappen, ein Schimmer fällt auf ihr Gesicht, wenn der Fensterflügel sich leise dreht. Immer reiben im Frühling die Frauen die Fenster sauber. Ich tue es auch, jedes Jahr. Man reibt die winzigen Exkremente der Fliegen weg, Fliegen sind die einzigen Lebewesen, die sich auf diesen glatten Flächen halten können.

 

Ich nehme den Mantel vom Haken. Langsam gleiten wir in die Bahnhofhalle ein. Nichts hat sich geändert, seit mir mein Bruder hinter Glas gezeigt wurde, seit dieser frühen Zeit voller Durst nach Wärme. Da saß ich und sah zu, wie meine Mutter den Säugling hielt, wie sie, mit weißer Schürze geschäftig sich über sein Bett beugte, ihn herausnahm, mit geschickten Bewegungen sich hinsetzte, während er suchend seinen Mund an ihrem nackten Unterarm rieb, wie sie ihn zurechtrückte, seinen Kopf gegen ihre Brust drückte, ihn in die Ellenbogenbeuge lagerte, seine kleine Hand zwischen ihrem und seinem Körper festklemmte und die andere hielt mit der freien Hand. Wie sie dann die Flasche seinem Gesicht näherte und ihm die Gummizitze in den Mund stieß. Ich saß, ich hielt die Beine still, ich wußte, so winzige Säuglinge durfte man nicht berühren, überall lauerte der Schmutz, die Krankheiten, die er bekommen könnte, er war ein Patient, sein Weinen, sein Suchen, sein Sich-Stoßen an der Glätte der Sauberkeit um ihn her war notwendig, unvermeidlich war sein Rudern in der Luft mit diesen in weiße Säckchen gepackten Händen, unvermeidlich dieses Glucksen und Quäken, das jetzt verstummte und einem heftigen Schnüffeln und Schmatzen Platz machte. Wenn ich meiner Mutter in die Augen sah, war da ein Vorhang, zugezogen. Und eine unüberwindliche Verzweiflung in mir, die mit der Trauer in ihren Augen übereinstimmte. Jedes Leben hierzulande beginnt damit, verzweifelt in der Kälte zu rudern, um am Leben zu bleiben, weiter zu atmen, während der Durst nach Leben langsam getilgt wird. Die Entwöhnung.

 

Ich könnte jetzt über die Banklehne greifen, nach dem braunen Schopf des jungen Mannes im nächsten Abteil, könnte mit gespreizten Fingern durch sein Haar streichen. Ich tu es nicht.

Vor mir steigt die Frau mit dem Kind aus. Dann die jungen Männer. Während ich an der offenen Tür warte, ist die Hand des einen ganz nah vor meinem Gesicht. Die Adern, dieser leicht bläuliche Schimmer an der Innenseite. Es ist, als dränge Wärme durch die dünne Schicht Luft, die mich von diesem Handgelenk trennt, in mich hinein.

Das halbe Leben mit Sehnsucht nach dem Leben verbracht. Nicht einmal auf die Lippen beißen muß ich mir. Keine Tränen, deren dumpfer Druck mir wohltut hinter meiner Stirne. Meine Beine bewegen sich, der Geruch des Bahnhofs, dieses Hallen zwischen den Geleisen, und immer noch, obschon doch alles glatter und leichter geworden ist, mit mehr Glanz und künstlich abgerundeten Flächen versehen, immer noch diese Schwärze, die sich auf alles legt, der Schmutz, der zwischen den glattpolierten Metallteilen in den Ritzen liegen bleibt. Ich bin so sicher: Elsa hat sich selbst getötet. Eine Zäsur in diesem Fließen und Entgleiten der Zeit.

An einem solchen Tag – war es nicht warm und mild schon die ganzen beiden letzten Wochen –, an einem solchen Tag, in Anbetracht dessen, daß alles wieder beginnt, daß der Kreis wieder sich dreht und das Jahr, indem es nach unten in den Sommer hineinstürzt, diese entsetzliche Geschwindigkeit erhält, hat sie versucht, alles anzuhalten. Sich so vor dem Tod retten, vor dem langsamen Fortschreiten der Zerstörung.

Sie hat geschossen, das ist ganz logisch. Eine Explosion im Kopf, ein Weggeschleudertwerden aus der Welt, von einem Knall begleitet, der mit einem Schlag alles aus dieser Vagheit, aus diesem Gleiten reißt. Wenn diese riesige Halle hier, unter der ich entlanggehe, leise getragen von den mobilen Bändern, das Summen im Kopf von der Welt, die sich um mich herum bewegt, das Pulsieren über mir auf dem großen Bildschirm, wo im blauen Dämmer die Zahlen zucken, wenn dies alles von einem einzigen Schuß, von einem Knall zerrissen werden könnte!

 

Vor mir eine junge Nonne. Bei jedem Schritt wirft sie mit dem schwarzglänzenden Absatz das Kleid. Sie geht auf dem Band, eilig, ein wenig vornübergebeugt. Schmal ihre Schultern. Wie täuschend genau sie sich zurechtmachen! Ich trete hinter ihr vom Band, sie bleibt einen Augenblick stehen und blickt zu den großen Tafeln auf, wo die Zahlen flirren. Ich trete neben sie, eine dünne Strähne ringelt sich aus der Haube an ihrer Schläfe. Sie hat sogar eine Brille aufgetrieben, wie ich sie kenne aus meiner Kindheit. Meine Tante, die Nonne, trug so eine Brille, alle Nonnen, wie ich mich erinnere, bevorzugten damals diese hellen Gestelle aus Plastik, die die ausgewaschene Bläße des Gesichts noch unterstreichen. Das einzige, was dieses Mädchen von einer echten Nonne unterscheidet, ist ihre Haut, diese jugendliche Frische, das gibt dem ganzen die Unwirklichkeit, das Spielerische. Sie sieht mich an, mit diesem milden Lächeln, das nicht mich meint, dieser im Namen-Gottes-Freundlichkeit, und ich bin wie immer irritiert, ich weiß, daß es Spiel ist, aber wie alle Menschen meiner Generation bin ich einen Augenblick aus der Fassung gebracht.

Dann lächle ich zurück. Das Kreuz auf ihrer Brust baumelt. Sind echte Kreuze von Nonnen wirklich so groß? Der Stoff über der Brust ist gefältelt, kaum gewölbt. Ich wende mich ab. Nein, sie wollte nichts zu mir sagen. Manchmal, in anderen Verkleidungen, verwickeln die Jugendlichen einen in Gespräche, suchen zu provozieren. Diese kleine Nonne ist sanft wie die Rolle, die sie spielt.

Ihr Lächeln tut mir gut. Ich bin dankbar dafür. Ich werde nicht böse. Rolf mußte ich jedesmal beschwichtigen, wenn wir einem von ihnen begegneten. Ich glaube, sie machten ihm Angst. Als Marc damit anfing, war Rolf außer sich. Jahrelang hatte Marc gar nichts getan. Er wollte nicht arbeiten, keinen Beruf ergreifen. Er schlief nur immer. Schlief bis mittags, aß dann und zog sich wieder in sein Zimmer zurück. Und dann, eines Tages, Rolf war schon krank, aber er arbeitete noch, erschien Marc zum Mittagessen, hatte einen richtigen Anzug an, die Haare geschnitten, stellte eine Aktentasche neben den Stuhl. Zuerst dachte ich, es sei Rolfs Aktentasche, dann sah ich, daß sie neu war, aber genau dieselbe. Marc aß. Rolf sah ihn halb erfreut, halb unsicher an. Er räusperte sich, er fragte ganz vorsichtig, redete um den Brei herum. Er glaubte wohl, Marc hätte jetzt wirklich irgendwo etwas angefangen, eine richtige Arbeit. Und Marc antwortete ihm, ernsthaft, in richtigen Sätzen, höflich, nichtssagend: Von einer Konferenz war die Rede, von Verträgen. Marc gebrauchte Wendungen, wie Rolf sie immer benutzte, äffte selbst seinen Tonfall nach, räusperte sich genauso bedeutungsvoll wie Rolf. Ich weiß nicht mehr genau, was dann passierte. Ich glaube, Rolf versuchte Marc zu schlagen, und Marc sagte etwas wie: Ihr begreift nicht mal das! Wenn man euch den Spiegel vorhält, sogar dann begreift ihr nichts. Sie brüllten sich an. Nein, ich glaube, Marc blieb ganz ruhig, nur Rolf brüllte.

Seitdem kam Marc nicht mehr nach Hause, wenn Rolf da war. Erst an seiner Beerdigung tauchte er auf. Er trug einen Pullover, den ich ihm noch gekauft hatte, Hosen aus seiner Teenagerzeit und hatte seine alte, abgegriffene Schulmappe dabei. Er kam, verkleidet als Kind seines Vaters, und ich sah, daß er weinte.

 

Jetzt ist das Wetter richtig schön geworden. Vor dem Bahnhof diese Helle. Ich finde die Nonne plötzlich passend. Sie paßt zum See da hinter den Bäumen. Zu den sauber gefegten Trottoirs. Zu der Kirchturmsilhouette hinter den Bäumen. Der Bahnhofplatz ist leer, meine Augen halten sich an dem leisen Wippen der Blätter im Wind, dahinter wie ein Schatten die Wand des Hauses an der Schifflände, immer noch dasselbe Haus. Ich trage die Brille nicht, immer seltener trage ich sie jetzt, da sie mich beim Lesen in der Nähe hindert. Ohne Brille wirken die Bäume verschwommen. Aber am Grün, am Wippen der Blätter erkenne ich doch, was ich eigentlich gar nicht sehen will. Früher standen da Kastanienbäume. Roßkastanien mit ihren riesigen, fünffingrigen Blättern, die bei Regentagen auf dem Asphalt klebten. Kastanien gibt es nicht mehr. Die neuen Bäume, die so schnell gewachsen sind, sind gar nicht häßlich. Mir sind die dunklen Bohnen, die im Herbst auf den Straßen liegen, jetzt vertraut. Was tut es, daß die braunglänzenden Kugeln verschwunden sind, die wir als Kinder sammelten. Wir warfen die Schultornister in die Äste hinauf, und die Kastanien tanzten auf der Straße wie Bälle. Viele noch in ihren hellgrünen Kapseln, die aufgeplatzt mit weißen Lippen klafften. Wir nahmen sie mit zu den Hirschen im Tierpark, zu den Büffeln hinter der Mauer, die uns bis ans Kinn reichte, und sie angelten sie mit ihren dunklen Zungen, an denen weiß ein bißchen Speichel klebte, zu sich hin. Wir bastelten mit Zündhölzern und Watte kleine dickbauchige Männchen aus den Kastanien, und vierbeinige Tiere, die immer zur Seite stürzten.

Dieser Platz ohne Kastanienbäume. Ich möchte wissen, was die Kinder auf den Schulhöfen heute mit den langen schwarzen Bohnen machen. Verfüttern sie sie den Katzen, die so gefräßig geworden sind, daß man sie an manchen Tagen überall miauen hört, oder basteln sie Ketten daraus, schwarze Girlanden, binden sie sie zu einem winzigen Floß zusammen, das dann mit einem Blatt als Wimpel in der Badewanne schwimmt?

Beim Schiffsteg, neben dem kleinen bronzenen Denkmal der Gemüsefrau, lehnen Jugendliche am Geländer: Ein Mädchen mit Kopftuch in langen, weiten Röcken, barfuß, zerlumpt, die Kleider in verblichenen Braun- und Grautönen. Sie spricht mit einem jungen Mann in Uniform, eine Art Kampfanzug ist es, aus dem Vietnamkrieg vielleicht, GJ. Er trägt grobe Stiefel, harte Gamaschen unter der weiten Hose. Jetzt pfeift er, und von der Brücke kommen zwei auf ihn zu, einer im Mafialook mit hochgeschlagenem Mantelkragen und dunkler Brille, der andere mit Schnurrbart und Vatermörder, blutjung ist der und faszinierend in seiner Blässe. Er geht so aufrecht und gemessen, daß man meint, seine gelackten spitzen Schuhe knarren zu hören. Manchmal dreht sich jemand um nach ihnen, starrt sie an. Das Schauspiel ist allmählich alltäglich geworden. Viele sind fasziniert von ihnen, wie ich, anderen muß die Stummheit des Spiels bedrohlich erscheinen, abends, im Halbdunkel etwa, wenn sie im Licht einer Straßenlampe einem zulächeln, vielsagend, frech, mit einem verzweifelten Triumph im Blick.

 

Ich sehe mich nach einem Taxi um. Die Lautlosigkeit, mit der ein heller Wagen neben mir hält, erschreckt mich. Mein Gehör ist schlecht geworden. Die Welt ist gedämpft, wie Watte, in der ich versinke. Und dieses ständige Trällern in der Luft, diese Stimmen und Klänge von überall her sind wie Wasser, das die Watte in einen unwegsamen Sumpf verwandelt. Man hat den Lärm bekämpft. Aber richtige Stille ist nirgends. Nur die Lautstärke hat man zurückgedreht, weil es tausend neue Töne gibt. In den Bahnhöfen haben die Züge das Stampfen und Rattern verlernt, die Förderbänder arbeiten fast lautlos, die neuen Stadtautomobile sind viel leiser als die alten Wagen mit Benzinantrieb.

Der Fahrer hält mir die Türe auf. Er lächelt. Er ist so unglaublich jung, daß ich einen Augenblick zögere.

Ich setze mich, ich starre auf seinen kindlichen Nacken. Er wartet darauf, daß ich sage, wohin ich gefahren werden will. Ich muß mich einen Augenblick besinnen. Es könnte sein, daß ich nicht ernstgenommen werde, daß er irgendwo mit mir nur im Kreis herum fährt. Aber nein, er nickt, als ich den Namen des Friedhofs nenne, ich sehe sein eines Auge wie abgeschnitten im Rückspiegel. Langsam gleitet mit diesem beruhigenden Surren die Scheibe neben mir hoch, und die Musik als Zeichen dafür, daß das Antriebssystem eingeschaltet ist, beginnt an mein Ohr zu trällern. Plötzlich ein Gesicht neben mir, eine Hand hält die Scheibe offen. Ein bärtiges Kinn, daneben Vogelaugen, schwarzglänzend, knopfrund, künstlich, der spitze Schnabel eines Stelzvogels, reiherähnlich, helle Federn zitternd wie vom Wind zerzaust. Ein Vogellied, durchdringend wie in meiner Kinderzeit das Flöten der Amseln, das mich unbarmherzig aus dem Schlaf riß, wenn die Zweige vor meinem Fenster helle Schatten in meine letzten Fetzen Traum hineinwarfen. Ein freches Grinsen unter einem grünen Hut. Ich weiche zurück, schüttle mich. Es ist ein Gefühl wie damals als Kind, im Garten, wenn plötzlich in meiner Hand ein Erdklumpen sich bewegte, das aufdringliche weiche Ringeln eines Wurms meine Haut berührte, wo ich nichts Lebendiges erwartet hatte. Die Scheibe geht langsam hoch, der Wagen gleitet weg, das bärtige junge Gesicht bleibt zurück. Ich drehe mich um. Er geht mit großen Schritten auf dem Trottoir, langsam, ein Ellbogen angewinkelt, Schuhe, genagelt und hoch, Schuhe, wie sie vielleicht mein Vater noch trug in den fünfziger Jahren, ein grüner Hut mit Feder und eine enge Jacke aus verschossenem hellbraunem Tuch.

Er hat mich erschreckt, und ich bin erstaunt darüber. Das war doch so unbeholfen. Amsellied und Reiherkopf. Könnte es sein, daß er nicht einmal weiß, daß es andere Vögel gab als Amseln, daß es jetzt natürlich auch noch andere gibt, selten zwar, aber es gibt sie; und daß dieses aufdringliche Flöten kaum Symbol für etwas ist, dem man nachtrauern müßte.

 

Ich lehne mich zurück. Die Musik gleitet mit meinem Blick über das Blaugrün des Wassers drüben, vor dem andern Quai. Das mit dem Vogel ist nicht neu. Damals, als sich die ersten Jugendgruppen formierten, gab es viel phantasievollere Aktionen. Sonntags, wenn die Familien mit den Kindern auf dem Rücksitz im Auto zum Ausflug starteten, blockierten sie die Einfahrten der Autobahnen mit Trauerzügen, zogen durch die Städte, empfingen die Leute, die aus den Kirchen kamen, als riesige schwarze Vögel verkleidet. Stumm wanderten sie werktags durch die belebten Straßen in den Zentren. Den Lärm der brummenden Motoren verstärkten sie durch Bandaufnahmen: Flugzeugheulen, Motorradgeknatter, Alarmsirenen dröhnten überlaut aus Lautsprechern, die sie mit sich trugen. Neben dem Trauerzug hüpften junge Papagenos und Papagenas, bunt mit Federn geschmückt kurvten sie lächelnd zwischen den Passanten durch und hielten ihnen kleine Wiedergabegeräte ans Ohr. Unvermittelt hörte man dann Vogelgesang, unnatürlich laut für einen Augenblick, dann sofort wieder entrissen. Manchmal griffen die Sicherheitskräfte ein, oft wurde es geduldet als eine Art Volksbelustigung, ein Kostümplausch unter freiem Himmel.

Mit Rolf bin ich auf dem Marktplatz gestanden, als so ein Zug vorbeikam. Voraus trugen sie ein Plakat: «Wir haben den stummen Frühling.» Das erinnerte mich an irgend etwas. Mit Elsa hatte es zu tun, mit unserer Jugend. Dieser Satz. War es eine Geschichte, die mir Elsa erzählt hatte? Ich wußte nur, daß da die Rede davon war, daß die Vögel von der Erde verschwinden würden. Eine Weissagung war das, ein Märchen aus einer Zukunft, die für mich im Unbestimmten lag. Ich sah mich mit Elsa am See, wie wir redeten. Ich erinnerte mich an ein Gefühl in mir, als stünde ich vor einem Abgrund. Ich weiß, wie ich Elsa in der Dämmerung sah, wie ihre Haut schimmerte an den Nasenflügeln, weil von irgendwoher Licht darauf fiel. Ich hatte Angst, tief in meinem Bauch war die Furcht, und sie tat weh. Aber ich wünschte zugleich, wir könnten immer so sitzen und sprechen und die Luft an den Armen fühlen und das Wasser, das aussah wie Metall, leblos, tückisch und künstlich, würde nie aufhören, gegen die Betonblöcke am Ufer zu schlagen.

Das alles kam mir in den Sinn, als ich diesen Satz wieder las. Ich stand, und ein dummes Wort war in meinem Kopf: die Weissagung ist wahr geworden, dachte ich. Aber ich fühlte nichts. Einige Leute lachten, viele standen stumm. Eine junge Frau in einem roten, wippenden Kostüm mit Federn wie wildes Haar auf dem Kopf sah mich im Vorbeigehen an. Sie war sehr schön, und ich beneidete sie um ihre Jugend.

Es stimmt nicht, sagte Rolf, das mit dem stummen Frühling. Sie übertreiben. Und in der Tat, es gibt ja auch jetzt noch, nach diesen langen Jahren, Vögel. Auch draußen, nicht nur in den Gärten. Dort drüben, über dem Turm zum Beispiel kreist eine Möwe. Jetzt in diesem Augenblick. Weissagung war nur ein Wort in meinem Kopf. Aber ich stand damals und wußte, daß Rolf nicht recht hatte. Es ist anders geworden, alles ist anders. Aber wie anders, das ist schwer zu sagen für mich.

 

Wir gleiten jetzt, zu leiser Musik, zwischen blühenden Büschen durch. Viel helles Rosa, eine japanische Zierkirsche, die unter freiem Himmel besonders gut gedeiht, und das ewige grelle Gelb der Forsythien.

Ich bezahle, ich fasse meine Tasche, schließe den goldenen Knauf am Bügel mit einem beruhigenden trockenen kleinen Knall. Gehe langsam die Treppenstufen hinauf. Sie sind aus fast glatten, hellgrauen Platten. In den Fugen zittern ein paar grüne Halme wie verstohlen und einige winzige freche, weißliche Polster, die aussehen wie Moos.

Und dann, plötzlich, dieses Gefühl zu fallen, es ist als hätte sich vor mir ein Abgrund aufgetan. Ein Abgrund in meinem Kopf. Neben der Treppe ist diese Wölbung von hellem Gras, scharf abgetrennt davon ein Blumenbeet, darin die Stengel einiger hoher, sehr dunkler Tulpen, die Blätter glänzend wie die Blätter jener Zimmerpflanzen, von denen ich als Kind nicht wußte, ob sie aus Plastik waren oder echt. Öfter hab ich das jetzt, dieses Gefühl, daß nichts mich mehr hält. Mir macht es nicht angst. Ich fühle, daß es stimmt. Es gehört dazu. Ich habe meinem Arzt davon erzählt. Er hat mich untersucht. Es ist nichts. Ich bin gesund.

Ich greife nach der Mauer. Alles hält, ich kann der Erde vertrauen, ich kann einen weiteren Schritt tun. Ich sehe meinen Schuh, die glänzende Schuhspitze aus schwarzem Leder, darüber, am Rand, das Fleisch auf dem Fußrücken, das leicht hervorquillt. Plötzlich weiß ich, wie alles zusammenhängt, dieser Knall, der Elsas Kopf zerrissen hat, und daß ich in jenem Augenblick tief geschlafen haben muß. Weit weg war ich und habe tief geschlafen. Vielleicht war ich leicht angesäuselt. Mein Schlaftrunk, dieses angenehme Hinübergleiten dann, und die Träume, die mich dennoch bedrängt haben müssen. Ich weiß, wie alles zusammenhängt, ich sehe das Gesicht dieser Kleinen, wie sie lächelt – an jenem Abend hätte ich es wissen müssen. Ich stehe und schwanke, der Rasen ein Abgrund, ich müßte die Konzentration, diese ungeheuerliche Kraft aufbringen, um alles in Sätze zu fassen und laut herauszuschreien, und dann würde endlich, endlich dieses Entsetzen greifbar, veränderbar, faßbar. Dann könnte alles neu erwachen.

Ich trete auf, ich schiebe meinen Fuß vor, ich trete neben dem glattgetrimmten Rasen auf die schimmernde hellgraue Schieferplatte. Ich ziehe den anderen Fuß nach.

 

Da drüben in der Eingangshalle, hinter der Wand aus getöntem Glas, steht Irma, herausgeputzt, und neben ihr andere Frauen. Die Türe zur Abdankungshalle ist offen. Irma umarmt mich. Die anderen lächeln, begrüßen mich. Gesichter darunter, die mir zuerst fremd sind, die sich langsam mit meiner Erinnerung verändern. Ein Lächeln, und das Gesicht des Kindes erscheint, das ich gekannt habe, der jungen Frau, mit der ich, zusammen mit Elsa, irgendwann irgendwo auf einer Terrasse gesessen bin.

Ich gehe und höre meinen eigenen Schritten zu, dem Knirschen auf dem Betonboden, und wo der weiche Kunststoffboden anfängt, wird das Geräusch flacher und hat einen Nachhall, als klebte der Schuh.

Die Kapelle ist sehr weiß und die Stirnwand abgeschrägt und hoch. Ich sitze und sehe an Kopfsilhouetten vorbei nach vorn auf die Blumen. Leuchtendes Gelb, ein aufdringliches Rosa, blaue Iris, so groß, wie künstlich, und wirklich, nein, das ist nicht zu fassen, auch Flieder, irgendwoher kommt dieser Flieder.

Jemand muß ein Vermögen bezahlt haben, um Flieder zu ergattern. Ich schnuppere in die Luft. Am liebsten stürzte ich jetzt nach vorn, würde meine Nase, mein Gesicht in diesem Flieder begraben. Der Duft von Flieder! In meinem Garten wuchs Flieder, früher. Er blühte, etwas versteckt, am Rand des Gartens, seine Äste schwankten nur leise vom Luftzug, wenn ein Auto vorüberfuhr. Er blühte kurz. Manche Jahre nahm ich ihn nur beiläufig wahr: Eines Morgens vielleicht, wenn ich aus dem Haus trat, sah ich ihn an, pflückte vielleicht einen Ast, stellte ihn im Wohnzimmer in eine Vase. Und dann, plötzlich, in der Dämmerung, beim Nachhausekommen, sah ich seine Äste in der Luft, und die Dolden waren schon verblüht.

Jetzt gibt es keinen Flieder mehr in den Gärten. Man kann ihn kaufen, selten, aber er ist teuer. Ich jedenfalls kann mir keinen Flieder mehr leisten.

Die Pfarrerin ist nicht mehr jung. Sie sieht in die Runde, als müßte sie uns zählen. Sie trägt ein langes, braunes Kleid. Die dunklen Locken haben graue Strähnen. Sie schweigt bedeutungsvoll. Und während sie das Stoffband langsam zwischen den Seiten der Bibel strafft, trifft mich ein Räuspern im Rücken. Eine Welle geht durch mich, diese Wärme, die mir in die Wangen steigt. Wie konnte ich nur vergessen. Er hat natürlich den Flieder gekauft. Für Elsa. Auch für mich würde er Flieder kaufen. Sogar jetzt, ich bin sicher, würde er hingehen und mir Flieder schenken, wenn ich ihn darum bitten würde. Damals, als es draußen noch Flieder gab, kaufte er Rosen für mich im Winter, und Gerbera im Frühling. Teure Sträuße, Ton in Ton, schenkte er mir, die Blüten in dünne, durchsichtige Plastikfolie gehüllt.

Mir kommen die Tränen. Nicht wegen Kurt, nicht wegen dem Flieder. Und nicht wegen dem, was die Pfarrerin sagt. Die Tränen haben nichts zu tun mit Traurigkeit. Sie passen. So wie der schwarze Hut der Frau da vorn zum Kleid. Oder wie der Ton der Violine zu dem Kranz aus gewachsten grünen Blättern.

Jetzt kommt der Lebenslauf und dann die kurzen Gebete, das Amen und das Murmeln in der Menge.

Er räuspert sich wieder. So wie er sich oft im Treppenhaus geräuspert hat, wenn ich ihn kommen hörte.

Manchmal träume ich von ihm, keine Begebenheiten, an die ich mich morgens erinnern könnte. Nur seine Gegenwart in meinem Schlaf. Und, weil er körperlos ist, weil er ein Hauch aus meinem Traum ist, ist die Unruhe nicht da, diese leise Furcht, die Unsicherheit, die mich in seiner Gegenwart gefügig machte. Ich bin ganz frei. Und doch ist er da. Und ich kann tun mit dieser Gegenwart, was ich will.

Die Pfarrerin verliest Elsas Lebenslauf, und er paßt sich den Blumen an und den Kirchenfenstern da hinten. So blaß und unschlüssig in seiner Gefälligkeit. Es stimmt, was sie sagt. Alles stimmt. Und nichts.

Die Kinderzeit, die Jugendzeit, das geht ja noch. Das ist so fern. Die Daten genügen, die freundlichen Adjektive. Schnell ist das abgetan, gefällig und gut. Und dann die junge Frau. Erschreckend wie dieses Leben anderen gleicht. Die Jahre, die auch meine Jahre sind, zerfließen zu einem eintönigen Brei. Und dann die «Schicksalsschläge». Die Pfarrerin hält die Scheidung, den Tod Annas von sich weg. Sie macht kurze Pausen zwischen den Sätzen und schließt den Mund. Und man horcht. Und ihre Stimme wird leiser. Und dann ein paar Sätze, Andeutungen, die nur die verstehen, die Elsa nahestanden: Ihre Unruhe, ihr Sinn für Gerechtigkeit, so nennt die Pfarrerin das, und dann der Satz: «Recht spät im Leben brach sie auf zu neuen Ufern.» Ein unpassendes Bild kommt mir dazwischen: Ich sehe Meerblau und weißen Sand und Elsa, wie sie watet, ans neue Ufer klettert. Lächerlich wirkt sie, mit dem geblümtem Rock über ihrem Hintern, ihre weißen Waden, die mit der Zeit von blaßblauen Venen gezeichnet waren.

Zu neuen Ufern. Ich kann mir vorstellen, daß Irma lächelt. Stolz. Elsa ist tot, sie wehrt sich nicht.