Flügel im Kopf - Hedi Wyss - E-Book

Flügel im Kopf E-Book

Hedi Wyss

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Beschreibung

Was ist aus den Hoffnungen der Frauen auf Veränderung geworden? Eine Frau um die vierzig versucht, sich neu zu orientieren. Aus Erlebtem, Erinnertem, Vorgestelltem entwirft sie sich Bilder anderer Frauen, immer auf der Suche nach neuen Wegen, nach Verwirklichung von Träumen, nach Möglichkeiten des Glücks. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Hedi Wyss

Flügel im Kopf

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Flügel im Kopf [Teil 1]Flügel im Kopf [Teil 2]

Das Bild ist nicht ganz scharf, aber man sieht es doch deutlich: Sie bohrt in der Nase. Das vorderste Glied des kleinen Fingers stülpt das rechte Nasenloch hoch, so daß die Lippen über den gebleckten Zähnen schiefgezogen sind.

Unglaublich dünne Arme. Die Schulterknochen rund und vorgeschoben, die Augen nur dunkle Schattenschlitze. Vor dem Bug, auf den sich Karl mit seinen Armen stützt, sind die Reflexe auf dem Wasser scharf. Immer hat sie sich an einen Hintergrund erinnert. An die Berge, die den See wie in freundlich-strenger Umklammerung halten. Blau hat sie gesehen, Dunkelsamtgrün der Wälder auf den Berghängen. Die blaugrauen Felsflanken dazwischen wie die gefurchten Stirnen der Geister und Helden aus den Alpensagen. Aber auf dem Bild ist kein Hintergrund. Schon gar nicht Farbe. Schwarzweißfotowasserspiegel, der wegen mangelnder Tiefenschärfe hinter dem Paddel, das der Vater ins Wasser taucht, wie Nebel aussieht. Ruth muß acht gewesen sein. Sie selbst sechs. Ruths Arme sind noch dünner. Zu lang, mit eckigen Ellbogen, wie ins Kraut geschossenes Gemüse.

Da bist du kleiner als ich, sagt Kaspar. Und du bohrst in der Nase.

Die Fotoecke rechts unten ist kaputt. Wenn Kaspar mit seinem Finger aufs Bild tippt, wippt die ganze Familie im Kanu ein bißchen: Karl mit seinem fast kahlgeschorenen Jungenkopf, Vaters breite nackte Brust, der Schatten, der von seinem Kinn wie ein schwarzer Fleck schräg aufs Hals- und Schlüsselbein fällt, Mutters Lachen.

Und das, sagt Kaspar, ist Großmama. Und das Großpapa, da hat er noch gelebt.

»Und du bohrst in der Nase.« Karl hat das immer gesagt, Ruth auch, wenn sie das Bild ansahen. Loisl hat Kaspar darauf aufmerksam gemacht, nachdem sie ihm das Album vom Regal geholt hat.

Deshalb erinnert sie sich so gut an das Bild. An das Blaugrün des Wassers, den Gummigeruch der Faltboothaut, an das Vierwaldstätterseeferienblau. An die Sonne, die sie offensichtlich blendet.

Alle haben sie auf dem Bild die Augen zugekniffen, nur Mutter nicht. Helles Haar hat sie. In der Erinnerung ist es grau. Das Foto macht es in der Vorstellung golden.

Älter als ich ist sie da, denkt Katharina, die Haut bronzefarben wie heute noch. Vater hat sie »Loisl« genannt damals. Das Lachen, die Kette, die sie um den Hals trägt und die türkisfarben gewesen sein muß, erinnern Katharina an diesen Namen.

Kaspar schiebt die durchsichtigen Schutzblätter zwischen den Kartonseiten gegen die Buchmitte und schlägt sie mit der flachen Hand über den Bildern um.

Loisl im Kostüm mit hochgebundenem Turban neben Vater mit Hut und Mantel im Schnee.

Katharina und Ruth mit Schottenröckchen, die bis über die Knie fallen, nackte Beine, Bergschuhe, Alpenblumen.

Und das bist du, sagt Kaspar, und das und das.

Du, auf dem Topf, mit einem dicken Babygesicht, den Mund zum Weinen verzogen, eine Puppe mit dem Gesicht nach unten neben dir auf dem Boden.

Mit O-Beinen in gestrickten dunkelblauen Hosen, auf Skiern.

Mit weißem Vorhangschleier über der Brust drapiert (satinblau war die Schleppe, die auf dem Foto nicht zu sehen ist), Prinzessinnenlocken mit der Brennschere gemacht.

Mit Ruth und Franziska vor den Gladiolen im Garten. Auf dem Kopf hochgebauschter Tüll. Weißer Organdy wölbt sich über der flachen Brust. Katharina hat noch das Gebetbuch in der Hand. Sie erinnert sich, wie sie bei der Prozession das Lachen verbeißen mußte, wie sie sich geschämt hat, daß diese Lachlust nicht zu bezähmen war. Sie erinnert sich an die Angst, vor dem Pfarrer plötzlich laut herauszuplatzen, ihm gar, wenn sie es nicht mehr aushielte, Reste der Oblate ins Gesicht zu prusten. Das Lachen, so glaubt sie, hatte keine Ursache. War vielleicht nur Stolz auf den Organdy, war Eitelkeit, Teufelseitelkeit auf die Zapfenlocken und den Brauttüll auf dem Kopf, war Versuchung, der sie jedoch im kritischen Moment widerstand.

Nur Franziska lächelt, freundlichwarmes Lächeln. Franziska hat auf diesem einzigen Bild, das es von ihr im Album gibt, weiße Schleifen im Haar. Immer hatte sie Schleifen, rote, blaue, hellblaue, um die sie von Ruth und Katharina beneidet wurde.

Auf dem Bild daneben Loisl mit Tante Elisabeth, beide mit Hut. Tante Elisabeth band Franziska jeweils die Schleifen ins Haar. Jeden Tag eine neue, frisch gewaschen und gebügelt.

Und das, sagt Kaspar, und sein Finger steht einen Augenblick in der Luft über den beiden Mädchen mit Krawatte und Pfadihemd: das bist auch du, nein das. Und er lacht wie erlöst, als sie nickt. Die Ähnlichkeit. Die Wölbung der Stirn, das Lachen unter dem Schatten, der übers Gesicht fällt, noch erkennbar.

 

Ja, das bin ich, denkt Katharina.

Ich, so wie ich mich nie gesehen habe, die Beine durchgedrückt, die Socken heruntergerutscht, eine Hand an der Säule vor dem Schultor.

Ich im Profil, das Haar vom Wind in Strähnen über die Wange geblasen, Sandalen an den Füßen, soviel ich sehen kann, an die ich mich aber nicht erinnere.

Wie alt warst du da? fragt Kaspar. Sie weiß die Jahreszahl nicht. So vierzehn, fünfzehn, vielleicht. Schon runde Formen wie eine Frau, soweit der Rock, der nach vorne geweht ist, das erkennen läßt.

Der Tag entschwunden, an dem sie so gestanden ist, das Bild fremd. Das Bild, das ihre Augen damals wahrgenommen haben, muß ein ganz anderes gewesen sein. Verlorenes Bild. Es ist in sie zurückgefallen, irgendwo im Kopf steckt es noch, aber es schläft. All die Tage, die Jahre schlafen in ihr drin und machen doch den Menschen, die Frau, die sie jetzt ist.

Kaspar blättert über die Seite von Landschaftsbildern hinweg, die Vater gemacht hat. Bergseen, Karl ganz klein auf einem Felsen mit Blick auf die Serpentinen einer Paßstraße.

Ruth mit Sonnenhut und Heugabel, deren Stiel weit über ihren Scheitel hinausragt, auf einer Bergwiese.

Nein, das bist doch du, sagt Kaspar. Und sie beugt sich vor. Ja, das bin ich, ich habe mich getäuscht. Das Bild gleicht nur so sehr dem andern Bild von Ruth, zwei Seiten weiter.

Schwestern, zum Verwechseln.

Ich verwechsle mich selbst am leichtesten, nämlich mit mir selber. Wer ist das Mädchen da auf den Bildern, dessen Ähnlichkeit mit mir immer wieder verwischt wird und sich je nach Beleuchtung wieder zeigt?

Dieses Mädchen, das da auf dem Stein sitzt, in der Sonne (die Schnappschüsse haben die Jahre zu einem einzigen Ferienabenteuer zusammengerafft. Immer in den Ferien, wenn die Sonne scheint, stehen sie, sitzen sie, räkeln sie sich, lächeln sie in die Kamera), die Mütze tief in die Stirn gezogen, die nackten Beine hochgestellt. Das Buch auf den Knien, ein Frotteetuch halb über den nackten Rücken hinuntergerutscht. Der rechte Daumen zwischen den Zähnen, als nagte sie vor Aufregung daran?

Keine Ahnung, was sie da liest, diese Fremde, die ich bin.

 

»Katharina – Sommer 1952. Ferien am Zugersee«. Vater malte mit weißem Stift Blümchen zwischen die Fotos auf den dunklen Karton.

In den Namen hineingeschlüpft wie in den Körper. Fremder Name, fremder Körper. Weitergereicht aus der Vergangenheit wie die Gesichtszüge, die bei Loisl wiederzufinden sind, bei Kaspar auch, manchmal, je nachdem, wie er die Stirne runzelt und beim Lachen die Zähne zeigt.

Ich bin Katharina. Ich bin die, deren Rücken da auf dem Foto mir zugekehrt ist, deren Hinterkopf mit dem Glanzlicht auf dem Haar Gedanken birgt, die längst vergessen sind.

Unverwechselbar. Die Linie am Hals, die Kniekehlen halb noch sichtbar unter dem Rock, die Hand in die Seite gestützt und die helle Haut am Vorderarm, die der hochgekrempelte Ärmel freiläßt. Nicht unverwechselbar.

Ich bin Katharina. Ich bin fremd und doch unverwechselbar. Meine Geschichte und meine Gedanken sind abzulesen aus den Bildern und den Erinnerungen. Ich finde sie und erfinde sie dabei immer neu.

Ich wähle aus und bin auf die Zufälle meiner Erinnerung, auf die spärlichen Blitzlichter aus all den Jahren angewiesen.

Wie auf dem Foto jeweils nur ein Blickwinkel, eine Geste, eine Szene aus allen verschwundenen, denkbaren, zu erträumenden und neu hinzuzufügenden Szenen.

Ich wähle, ich erfinde die Vergangenheit und die Gegenwart, damit ich mir näherkomme. Ich ergründe meine Wirklichkeit in dieser Welt, indem ich Sätze mache, indem ich Bilder aneinanderreihe, indem ich andere Bilder zudecke.

Katharina und Kaspar sitzen auf dem ledernen Stuhl, der zu schmal für beide ist, so daß Kaspars Gesäß auf ihre Hüfte drückt, sein Rücken ihr immer wieder den Blick aufs Fotoalbum versperrt. Kaspar tippt mit dem Finger auf die Fotogesichter, und Katharina lächelt sich zu.

Ich wähle dieses Bild, wie mein Vater die Bilder fürs Album ausgewählt hat. Ich wähle den Namen für Katharina und versuche den Raum, in dem sie lebt, den Zeitraum, den Gedankenraum, für sie, für mich auszuloten. Katharina ist mein Bild, das ich mir aus den Buchstaben baue, das ich in diesen Buchseiten als ein Ich, ein Du, ein Wirklichkeitsbild und ein Traumich wiederfinden will.

Ich ziehe die Konturen dieses Porträts nach, so wie ich sie in diesem Augenblick sehe, ich zeichne den Hintergrund dazu, wie er sich meiner Vorstellung zeigt.

 

Als ich klein war, waren die braunen Namen noch dunkler. Obschon auch die Mutter die deutsche Schrift nicht mehr richtig entziffern konnte, blieb doch der Namenszug »Katharina« wie ein Engramm in ihr Gedächtnis eingeprägt.

Die hellen Fenstervierecke spiegeln sich im Glas vor dem vergilbten Papier. Der Fuß des Stammbaums ist naturalistisch gezeichnet, mit knorrigen Wurzeln, die in einem nichtvorhandenen Erdreich verankert sind, mit winzigen Ästchen, die spielerisch und zufällig aus ihm hervorsprießen. Aber die Linien werden bald gerade. Mit Lineal gezogen die Äste, auf denen Namen wie Blüten sitzen. Die Männernamen: Jakob, Vinzenz, Josef, Paul, Julius, Candid. Mit winzigen Doppelringen an sie gekettet sind ihnen Frauennamen beigesellt. Namen, die wie aus dem Leeren kommen, abgeknipste Ästchen von andern Bäumen: Aloisia, Sophie, Karolina, alle von irgendwoher aufgetaucht, ohne Geburts- und Todesdaten meist. Katharina und Katharina, Ururur- und Ururgroßmutter, die Namensschwestern. Franziska Katharina, die Urgroßmutter, die erste, deren Lebenszeit von achtunddreißig Jahren Katharina kennt.

Katharina hat Kleider rascheln gehört, Röcke, die gerafft wurden, Lachen hinter den mit den Jahren blasser werdenden Schriftzügen.

Die Großmutter heißt Anna Katharina. Ihr Gesicht auf den Fotos ist bräunlich wie die Tinte auf dem Stammbaum. Katharina hat ihr Gesicht weiß in Erinnerung. Die Haut samtig-knittrig wie die von Tante Elisabeth. Sie kennt sie nur als alte Frau, leidend, streng, fast immer ohne Lächeln. Klein und schon vom Tod gezeichnet ist sie fremder als die andern, von denen Katharina nur die Namen weiß. So hält sie sich an die Urururgroßmütter, leiht sich ihren langen altmodischen Namen mit den offenen As aus. Bei den Katharinas ist alles noch möglich im nachhinein.

Von der Geburt, die nicht festgelegt ist, bis zum Tod, den es nicht gibt, nichts, das die Träume der Urenkelin einschränken könnte. Ich, denkt Katharina und fühlt sich ohne Anfang und Ende wie die Urururgroßmütter. Im Nichts verlorene Lebenszeit.

 

Katharina geht auf dem Trottoirrand, meidet sorgfältig die Ritzen zwischen den Steinen. Einer nach dem andern schieben sich ihre Füße unter ihr vor, Füße in Kinderlackschuhen, Füße in hochhackigen Frauenstiefeln. Haar baumelt ihr ins Gesichtsfeld. Ganz allein mit dem Stein, mit den Pölsterchen aus hellgrünem Moos, das aus der Ritze wächst. Mit dem braungetrockneten, zum Zylinder zusammengezogenen Blatt, das leise knirschend bersten wird, wenn sie sich dazu entschließt, es mit der Fußspitze zu berühren. Dieses Ganz-allein-mit-dem-Leben-Sein, das spurlos verschwindet, wenn du stirbst.

Katharina hat sich den Namen ihrer Urururgroßmütter zugelegt, weil sie fühlt, wie das für immer Versunkene in ihr weiterpocht. Kannst du den Fuß heben, wenn die Uhr in dir immer weitertickt? Kannst du das Blatt zertreten? Du trittst, und alles löst sich in Staub auf, in trockenen Blätterstaub, der vom nächsten Windstoß in die Luft gewirbelt wird.

 

In den Jahrzehnten von Katharinas Lebenszeit ist die braune Tinte noch blasser geworden. Die Pünktchen zwischen den Namen sind kaum mehr zu unterscheiden von den Spuren, die Fliegen auf Briefpapier hinterlassen. Schattenbildervergangenheit, nun nur noch wie Fliegendreck, zurückgenommen, vom Licht allmählich aufgesogen, vom Licht, das jeden Tag wiederkehrt, unerbittlich, uferlos.

Katharina errät die Namen noch dort, wo sie inzwischen fast ausgewischt sind. Kaspar sieht sie nur ungläubig an und spricht die Namen langsam, geistesabwesend nach.

 

Katharina drückt den Kaugummi zwischen Zeigefinger und Daumen zu einem flachen, runden Plättchen zusammen.

Ja, sagt sie, Tante Elisabeth und Alice Schwarzer. Beide tot. Und im Traum schien mir das so logisch.

Der Zweig mit den schlanken Blättern schwankt leise im Wind. Katharina dreht am Telefonkabel, fährt mit den Fingern der glatten Plastikspirale nach und sieht das Fensterviereck plötzlich als Rahmen, das Himmelblaugrau als sanften Aquarellgrund, das helle Wölkchen in der Ecke als Farbgleichgewichtsfleck.

Der Hörer schmerzhaft warm an der Ohrmuschel. Ruths Lachen wie ein lebendiges Tier am Ohr.

Katharina klebt den Kaugummi auf die schwarze Fläche neben dem Telefon.

Das Bild im Fenster.

Du bist beide, sagt Ruth, Tod als Voraussetzung für Neues vielleicht. Zwei Seiten deines Wesens zurückgenommen, gewissermaßen vereint.

Es war kein trauriger Tod. Glück irgendwie. Glückliche Melancholie. Alice Schwarzer sanft und blond und die weiße, immer saubere Schürze von Tante Elisabeth. Gar keine Gegensätze. Im Gefühl wenigstens nicht.

Katharina klaubt den Kaugummi vom Tischchen und macht ein rundes Kügelchen daraus, versucht den letzten Spalt daran zu glätten. Ich war überrascht. Sie waren eine Person und doch zwei. Der Kaugummi ist jetzt glatt, sieht aus wie maschinengefertigt, aus Kunststoff. Katharina gibt ihm einen Stoß, und er rollt bis zum Notizbuch, wirft auf dem Lackschwarz einen ovalen Schatten.

Die weiße Schürze von Tante Elisabeth. Die Deckchen, die immer am selben Platz lagen. Der Geruch in der Küche und im Schlafzimmer, der Geruch, der an der Wäsche haftete, glatte, weiche, immer saubere Wäsche.

Lavendelwasser, sagt Ruth. Eau de Lavande.

Katharina denkt an das Zweigbild im Fenster. Sie dreht sich um, setzt sich auf den kleinen Stuhl neben dem Sessel, sucht mit den Augen die Handtasche auf dem Teppich.

Das Zweigfensterbild ins Notizbuch schreiben: Beim Sehen Bilder machen aus der Welt. Ein Zweig gerahmt, ein Himmel als Hintergrund. Das einzige, denkt Katharina, das bleibt, das einzige, was nicht abgeblättert ist, nicht zusammengefallen an Glück ist dies: In Bildern sehen, ein Blatt, das Zittern eines Zweiges ganz für sich allein.

Hörst du überhaupt zu?

Katharina findet in ihrem Kopf noch das Ende des letzten Satzes. – Vielleicht, hat Ruth gesagt, liegt’s daran, daß wir schon zu alt sind, um an Erneuerung zu glauben. Ich meine, wir wissen, daß alles sich wiederholt, daß wir im Kreis herumgehen, daß wir wie auf einer riesigen Spirale dabei nur wenige Meter nach oben vorrücken.

Alice Schwarzer, blaß und die Hände gefaltet.

Ich habe beim Aufwachen gelacht, sagt Katharina. Ich war nicht deprimiert.

Sie sinkt in den Sessel, zieht die Schuhe aus, sieht auf die Uhr. Ruth lacht, und plötzlich spürt Katharina das Bedürfnis, getröstet zu werden, befreit von dem Gefühl, das sie nun doch am Grund des Traums wiederfindet: Schreckgefühl, Mutlosigkeit.

Sie stimmt ein in Ruths Lachen. Versucht sich an dieser hellen Oberfläche zu halten.

Hunger, Durst, eine Leere im Körper, ein flacher Schmerz, über den das Lachen nur eine leichte, durchsichtige Decke legt.

Du müßtest den Traum weiterspinnen, sagt Ruth, herausfinden, was mit den beiden weiter geschieht. Du kannst sie wieder trennen, du kannst sie wieder stark und lebendig machen, du kannst sie als Einheit ein neues Leben beginnen lassen. Es liegt nur an dir. Mit der Wirklichkeit komme ich nicht zurecht, sagt Katharina. Und sie drückt den Kaugummi flach, reiht Fingerabdrücke nebeneinander. Mäander, ihre Lebensfurchen, die sich immer in der Mitte zu einer Woge aufbäumen.

Du bist anders, sagt Katharina, du gibst nicht auf.

Hast du eine Ahnung. Wir sind beide nicht stur genug, wir beide sehen aus den Augenwinkeln alles andere noch mit. Immer geradeaus vorwärtsgehen kann nur, wer nicht rechts und nicht links schaut.

Katharina sieht auf die Uhr. Das Reden vertreibt die Zeit. Sie reichen einander die Wörter hin und her, schieben sie sich wie kleine Leckerbissen gegenseitig in den Mund. Schlucken, die Wärme im Körper fühlen, den Trost, der die Leere im Kopf langsam zurückdrängt.

So haben sie sich als Kinder an den Händen gehalten, Ruth und Katharina, beide in dunklen Matrosenkleidern, die nackten mageren Knie unter den Röcken nicht ganz auf derselben Höhe, weil Ruth immer größer war. So sind sie gerannt, Katharina außer Atem. Die Handfläche schmerzte vom Druck. Den Boden unter den Füßen schon fast verloren, die abschüssige Straße und die viel zu großen Schritte. Keine Zeit mehr, die Füße richtig aufzusetzen. Bei jedem Sprung wäre sie fast gestürzt. Ruths Hand nicht loslassen. Durchhalten, nochmals ein Sprung und noch einer, und immer der Zug nach vorn, die Unmöglichkeit anzuhalten, ohne hinzufallen. So haben sie sich nach vorne gebeugt, die Hand auf den Bauch gedrückt, damit das Seitenstechen nachließ. Ruths Zöpfe baumelten neben ihrem Gesicht herunter, schleiften über den Boden und fielen dann, wenn sie sich aufrichtete, um Luft zu holen, von ihren Händen nach hinten geschleudert, in einem Halbkreis zurück auf ihren Rücken.

Und jetzt stolpern sie beide noch immer fast bei jedem Schritt, mehr denn je sogar, und obschon Katharina wie damals versucht ist, sich einfach hinterherziehen zu lassen, darauf zu vertrauen, daß irgendwann irgendwo ein Ziel ist, an dem man ankommen, sich vorbeugen und tief aus- und einatmen kann, bis das Stechen im Leib vergeht, so weiß sie doch, daß Ruth längst nicht mehr so sicher in einer bestimmten Richtung vorwärtsrennt.

Doch durch den Plastikdraht teilen sich ihre Stimmen das Glück der Übereinstimmung mit, die kleine trügerische Zufriedenheit, wenn alles sich scheinbar so klar ineinanderfügt.

Wie in deinem Traum war das, sagt Ruth. Ich habe Klara das Tarot gelegt. Da lag der Tod über der Kaiserin, und wir erschraken erst, und plötzlich merkten wir, daß er verkehrt herum lag. Zum Glück! Klara hat genau begriffen, worum es geht.

Hinter Ruths Stimme die Geräusche in ihrem Haus. Musik, zu abgebrochenen kleinen Schnörkeln gedämpft, ein Surren in einem Raum, das rhythmisch wächst und verebbt.

Jetzt, da Klara schon fast erwachsen ist, sagt Ruth, merke ich, wie ähnlich sie denkt, wie ähnlich sie empfindet.

Die Türe bewegt sich, der Türspalt wird größer. Eine schwarze Pfote schiebt sich durch den Spalt, dann der Katzenkopf, das Goldschimmergelb der Augen.

Schön, eine große Tochter zu haben, sagt Katharina und denkt ans Rennen über den Asphalt, an die fliehenden Zöpfe.

Ja, manchmal, sagt Ruth.

Die Katze setzt sich auf Katharinas Schoß zurecht. Katharina möchte aufstehen, umhergehen, aber die Katze dreht sich noch einmal, läßt die Augen langsam zu Schlitzen werden und schnurrt.

Das Bild ist da, das Fensterbild und Tante Elisabeth und Alice, beide wohlaufgehoben, aufgebahrt, milde geworden und leise.

Katharina sollte Gegenstände in die Hand nehmen, herumtragen, Schüsseln klappern lassen, Tücher falten und aufeinanderlegen.

Aber die Katze schläft nun. Katharina sieht zu, wie sie das schmale Katzenkinn nach oben dreht, wie die Pfoten wie Hände über die Augen gleiten.

In ihr ballen sich die Gedanken und Wörter des Gesprächs zu einem warmen Knäuel. Eine Kugel, die rollen will, Bilder, die, ins Auge gefaßt, klar werden können. Die Konturen und Farben nur ein bißchen verschwommen.

Den Traum aufschreiben, das gerahmte Fensterbild fassen. Die warme Katze so rund behalten, wie sie sich jetzt in den Schoß schmiegt.

Katharina sieht ihrer Hand zu, wie sie sich auf dem Katzenbauch hin und her bewegt, der Katzenfellwärme nachspürt. Über den Fingerknöcheln ist die Haut knittrig, wirft Falten. Am Handgelenk sind die Linien tiefer geworden. Der Ring mit dem großen grünen Stein ist wie ein Auge, das reglos blickt.

Die Gedanken ordnen. Das Bild einfangen. Katharina krümmt die Finger, bis die Falten über den Knöcheln verschwunden sind. Sie macht ein rundes Traggefäß aus ihren Händen und hebt die Katze hoch, um sie auf einen andern Stuhl zu betten.

Katharina schält Karotten und denkt in die hauchdünnen orangegoldenen Schnitzel hinein an die Geschichte von Tante Elisabeth und Alice Schwarzer, und ihr ist, als hätte sie erst im Erwachen das alles umgemünzt in einen Tod.

Nicht gestorben sind die beiden im Traum, sondern sie haben sich in Pünktchen aufgelöst. Ihre Namen sind blasser geworden, von der Zeit gebleicht, haben sich übereinandergeschoben, einander angeglichen. Sie hat, so erinnert sie sich, am Telefon das Wort »Versöhnung« gebraucht, selbst ein bißchen überrascht.

 

Mit dem Finger reibt Katharina einen Kaffeefleck vom Tisch, legt die Zeitung mit Reagans lächelndem Gesicht auf die Schreibmaschine, dann die Frau im violetten Sommerkleid (jugendlich, nur Fr. 49.80), die das linke Bein wie zum Polkatanzen hebt, den Zettel mit den hingekritzelten Namen und Telefonnummern in Heiners steiler, ausgreifender Schrift, Kaspars angefangene Roboterzeichnung, den gelben Postzettel, das Glanzauto vor grünem Hintergrund. Alles aufeinandergestapelt, bekommt sie praktisch mit einem Griff den Eßzimmertisch frei.

Sie schneidet die Zitrone entzwei und drückt die eine Hälfte zwischen den Fingern zu einem flachen Oval. Sie leckt den sauren Saft von ihren Fingern, riecht Katzengeruch an ihrer Hand.

Eine Geschichte von einer Frau wie Tante Elisabeth müßte sie schreiben. Wie sie Tücher in Falten legt, wie sie die Schürze umbindet. Die Fältchen in den Augenwinkeln, die einzelnen Härchen, die sich aus dem straffen Knoten befreien. Die kleine dunkle Warze auf der Wange, die Katharina als Kind immer fasziniert hat: wie sie die Mundbewegungen verkleinert mitmachte, das Lächeln und das Lippenspitzen.

Die Wäschestapel müßten vorkommen und die Falten im Tischtuch, die wie schmale Hügelrücken wirkten. Katharina hatte die Augen in Tischkantenhöhe und sah die langen Faltenhügel, sah den Schatten auf der einen Seite. Das Schneeweiß, das sie mitriß zu Traumfahrten – winzige Katharinas, die Hügel herunterkurvten, mit eleganten Sprüngen über Brotkrumen setzten und heimlich durch die kleinen braunen Lachen wateten, die unter dem Tellerrand schon fast angetrocknet waren.

Wäschekreislauf, denkt Katharina, während sie Schüsseln aus dem Schrank holt und eine nach der andern auf den Fußboden schichtet. Der Kreislauf der Dinge, die bei Elisabeth alle ihren Platz hatten, die ruhig und geordnet auf ihren Auftritt warteten, sich zum Gebrauch gehorsam in die Hände fügten und dann zurückgenommen wurden, in Wasser getaucht, gereinigt und getrocknet, im alten Glanz wieder bereitlagen.

Eine Frau wird immer kleiner, und die Tischtücher, die Schüsseln, die silbernen Löffel, die glänzendgetrockneten Gläser wachsen dank der guten Pflege, durch all die Kraft, die in sie fließt, immer schneller. Die Wäschestapel reichen bis zur Decke, weil die Leintücher so schwer und satt sind. In den Gläsern dehnt sich der Glanz zu Spiegelseen aus. Das Silber wird wie Blei, die Löffel sind riesige Schaufeln. Die Frau hat winzige Hände, die Warze in ihrem Gesicht ist das einzige, das nicht kleiner wird. Ihr Lächeln wird dünn, verblaßt allmählich, weil dahinter auch das Gesicht langsam im Dunst verschwindet. Das Alter saugt das Fleisch aus den Gliedern. Von Armen und Beinen, von den Fingern, die sich jeweils so emsig krümmten, bleiben nur die Bewegungen übrig. Es ist ohnehin kein Platz mehr. Die Stühle haben die Menschen, die auf ihnen gesessen sind, allmählich zur Seite gedrängt. Die Gabeln stechen jetzt ganz alleine zu. Die Zimmerpflanzen, seit Jahren stetig begossen, füllen mit ihren glänzenden Gummiblättern alle Ecken an der Decke aus und filtern das Licht, das sich noch zwischen den Vorhängen durchstiehlt, zu einem undurchdringlichen Unterwassergrün.

Katharina leckt sich Mayonnaise von den Fingern und sieht Elisabeth als winziges Persönchen zwischen frischaufgeschüttelten Kissen den langen beschwerlichen Weg über eine Wolldecke antreten. Drüben, am Ende des Bettes, verschwindet sie in der Fuge zwischen Bettstatt und Matratze.

Einfach aufstehen eines Morgens, denkt Katharina und duckt sich, weil der Dampfkochtopf so gefährlich zischt, als sie sich dem Herd nähert, um den Schalter zu drehen, das Fenster aufmachen, die Wolke sehen, die wie ein rundes Schiff aussieht, wie ein bläulich geflügeltes Pferd, und davonfliegen.

Überleben, denkt Katharina, nur um die täglichen Verrichtungen sorgfältig ausführen zu können, die es zum Überleben braucht.

Es zischt und dampft, die Brille beschlägt sich. Die Welt verschwimmt, keine Klarsicht mehr.

Sie weiß genau, jedenfalls hat sie die Stimmung im Augenblick in sich, wie sie Elisabeths Geschichte schreiben wird.

Nicht ganz beklemmende, deprimierende Bestandsaufnahme, nicht ganz Ironie, eine Spur wirklicher Lebenslust ist dabei. Lust an der Sauberkeit, Lust an der Glätte, Lust an den Bewegungen der Hände, die geschickt und flink sind. Den ganzen Zwiespalt verarbeiten. Das Staunen darüber, wie alles wie von selbst seinen Lauf nimmt. So als wären sie alle in ein unsichtbares Netz eingefügt. Jede nur eine Masche darin. Nur die Farbnuance jeweils ein bißchen anders. Die Bewegung aber immer in Übereinstimmung mit den weiten Bewegungen, dem Ausgeworfen- und wieder Eingeholtwerden zu einem Zweck, den die kleine einzelne Masche nicht überblicken kann.

Aber eigentlich müßte ich über die Tochter schreiben, denkt Katharina und nimmt die Salatschüssel vom Tisch, sieht grünen Glanz auf den Blättern, rötliche Lachen von Essig um die gelben Ölperlen geschmiegt. Über Franziska. Die Masche im Netz, die sich nicht mehr bewegt.

Eine Geschichte von einer Frau, die sich selbst zerstört, indem sie nichts anderes tut, als sich an das zu halten, was wir alle als Kinder an Moral und Anstand gelehrt worden sind. Eine Frau meiner Generation, die alles wörtlich genommen hat: die Hingabe, die Bescheidenheit, das höfliche Lächeln – zum Trost der andern, selten zum eigenen Trost. Die vertrauensvoll glaubte, daß es nichts anderes gibt als dieses Ziel: Wärme, Freundlichkeit, ein kleiner Kreis, in dem alles stimmt und alles so glatt und ordentlich ist wie die Falten von Elisabeths schön gestapelter Wäsche. Franziska, eine Frau wie ein schlanker Fisch im Netz, der sich still hält, damit er sich an den Maschen nicht verletzt, der ganz steif wird mit der Zeit und das Schwimmen verlernt. Der leidet und zittert und glaubt, es sei alles seine Schuld, der nie versucht, mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse das Netz zu zerreißen.

Katharina sieht ihre Kusine Franziska vor sich, fühlt die Mischung von Abneigung, Sympathie, Mitleid und Furcht, die sie empfindet, wenn sie Franziska lächeln sieht, ihr die Hand schüttelt, ihre freundlichen Worte freundlich erwidert. Eine Art Fluchtimpuls fühlt sie, als müßte sie sich dagegen wehren, in einen Sog mit hineinzugeraten, der irgendwo hinter Franziska seinen Ursprung hat.

Franziska ist geheilt. Keine Ausbrüche mehr, keine Verweigerung, keine Versuche, die starken Gefühle, die Sehnsüchte und die Verzweiflung in einer Flut von Alkohol oder im eigenen Blut zu ertränken. Keine Hilferufe mehr. Nur blasse Narben sind an ihren Handgelenken geblieben, und vorsichtig nippt sie an ihrem Mineralwasser. Sie ordnet die Blumen auf der Kommode im Elternhaus, sie stützt Tante Elisabeth, wenn sie die Treppe hinaufgehen, sie trägt frischgebügelte Blusen und assortierte Tücher dazu. Sie lächelt, wenn man sie fragt, wie es ihr geht, und bedankt sich. Franziska hat alles ernst genommen, was sie uns gesagt haben. Sie ist fast daran gestorben, und jetzt ist sie geheilt, aber wie tot.

Ein kleines Mädchen, das willig lernt, leise zu sprechen, die Tränen zurückzuhalten, an seinem Platz seine Arbeit zu tun, und das erstickt ist an den Worten und den Tränen, die es verschluckt hat.

Katharina muß herausfinden, warum in dem versöhnlichen Traum nicht Franziska vorgekommen ist, sondern Elisabeth. Alice und Elisabeth.

Klar, wird Ruth sagen, es sind Gegensätze, nicht Extreme, es sind zwei mögliche Arten, ein menschliches Wesen zu sein, nicht Krankheitszustände. Beide sind stark auf ihre Art, Elisabeth und Alice.

Warum will ich nicht über Alice schreiben? Nicht auf dieselbe Weise wie über Franziska? Keine Geschichte mit Anfang und Ende, die sich anbietet. Keine Figur, die ich von außen schildern könnte, deren Weg so eindeutig scheint. Kein Opfer, das in die Enge getrieben wird und dessen Leiden eine Ursache hat, die ich denunzieren kann.

Die Alice in mir? Aus dem Traum heraufgestiegen, aufgewacht aus dem Schlaf hat sie sich verwandelt, ist nicht blaß, nicht blond, lächelt Katharina wie ein Spiegelbild aus dem schimmernden Schlafteich an.

Der Tod im Traum ist ein Dornröschenschlaf, ein Kräfteholen zum Aufwachen, dessen ist sich Katharina nun beinahe sicher.

Wie ein Film würde das, wenn sie über Alice-Katharina schriebe: eine Frau unterwegs, immer wieder. Fast mit denselben Bewegungen kommt sie um die Ecke auf die Kamera zu, mit großen Schritten, die Absätze setzt sie mit Nachdruck auf den harten Steinboden (so geht ein Mann, kein Mädchen, haben früher die Mütter, die Lehrerinnen gemahnt). Sie hat einen Stoß Flugblätter unter dem Arm, eine Zeitung. Die Tasche hat sie über die Schulter gehängt, und sie schlägt bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Manchmal lächelt sie, als wüßte sie etwas, das andere nicht wissen, manchmal hat sie diesen abwesenden Blick, der über die Autos streift, und einen mürrischen Zug um den Mund. Ihr Haar rutscht ihr aus dem Band heraus, mit dem sie es im Nacken zusammenhält, und wenn sie am Randstein steht und wartet, bis die Lastwagen vorübergedonnert sind, flattert ihr Rock im Luftzug.