Keine Hand frei - Hedi Wyss - E-Book

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Hedi Wyss

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Beschreibung

Es beginnt wie eine Idylle. Ursula wohnt mit ihren kleinen Kindern am Rand der Stadt. Liebevoll wendet sie sich allem zu, was lebt und Pflege braucht. Kindern, Tieren, Pflanzen, in der Hoffnung, in diesem kleinen abgeschirmten Raum eine neue, glücklichere Welt für Jonas und Carla, ihre Kinder, zu schaffen. Aber je intensiver Ursula die Beziehung zu ihren Kindern erlebt, desto fremder wird ihr die Berufs- und Erwachsenenwelt, in der ihr Mann lebt. Und doch werden gerade dort Entscheidungen getroffen, die auch das Leben der Mütter und Kinder bestimmen. Aber wer an jeder Hand ein Kind hält – bleibt dem überhaupt noch eine Hand frei, um an einer Welt mitzuarbeiten, in der Kinder besser leben könnten? Selten sind die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste von Müttern und Kindern so intensiv, mit soviel Einfühlungsvermögen beschrieben worden. Selten wurde aber auch ihre Problematik in einer wohlmeinenden, aber teilnahmslosen Umwelt mit solcher Schärfe gesehen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 325

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Hedi Wyss

Keine Hand frei

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Susi, Trudi, Gertrud, [...]123456789101112131415

Für Susi, Trudi, Gertrud, Jeannie, Frauke, Marlies, Marianne, Verena, Vreni, Bea, Beatrice, Elisabeth, Anita, Monika, Regula, und die Millionen anderer Hausfrauen und Mütter.

1

Die Geranien haben vereinzelt schon gelbe Blätter. Sie lassen sich leicht entfernen. Auch die verwelkten Blüten, an denen nur da und dort noch ein Blütenblatt karmesinrot leuchtet und deren winzige Fruchtansätze spitz und schmal sind, brechen genau an der Stelle ab, wo sie mit dem Stengel verbunden sind. Ursula knüllt die Blätter und Blütenstengel in der Hand zusammen. Zwischen den Blättern sucht sie wie immer die neuen Blütenansätze, die kurz und ganz zusammengekrümmt sind. Knospen, Embryos, fein behaart, noch ganz zu. Die Überraschung, da und dort eine neue zu entdecken oder eine andere schon aufgeschossen zu sehen, mit leicht geschlitzten Knospen, wo das Blütenrot schon durchschimmert.

Wöchentlich werden die Geranien gedüngt. Mit flüssigem Dünger, der in die kleine grüne Kanne aus Plastik gespritzt wird. Schön wie deine Geranien blühen, hat Daniel früher immer gesagt. Meine kleine Frau mit dem grünen Daumen. Das war früher. Jetzt sagt er es nicht mehr, und Ursula würde auch nicht mehr diese Wärme in sich hochkommen fühlen, diese Wärme in einem Ich, das auf solche Bestätigungen angewiesen war. Das Verlangen ist immer noch da. Aber Daniels Lob wäre jetzt wie eine Schachtel aus Karton, die trotz der goldenen Aufschrift keinem Druck standhält, die zerknüllt werden kann wie die welken Blumen und Blätter hier.

Zwischen den Geranienblättern sieht Ursula die Frau, die drüben neu eingezogen ist. Nein, nicht neu. Die Kinder, schwarzhaarig und blaß, klein und flink wie die meisten Italienerkinder, sind längst in die Bande integriert und haben auch schon in Ursulas Küche an Sirupgläsern genippt. Nur die Frau sieht Ursula so selten. Jetzt streicht sie die Leintücher, die sie abgenommen hat, über den angewinkelten Armen zurecht, zupft noch an den Ecken, wenn sie sie zusammengefaltet in den hellgrünen Plastikkorb gelegt hat. Behende, genau und wie gehetzt arbeitet sie. Ihr Gesicht ist jetzt blaß wie das ihrer Kinder. Das letztemal, als Ursula ihr zunickte, war es rot von der Hitze und feucht von Küchendampf, das schwarze Haar unter einer weißen Haube versteckt. Im Selbstbedienungsrestaurant im Supermarkt brutzelt Frau Vitalini Pommes frites in riesigen Pfannen und schöpft mit großen Kellen Teigwaren auf die Teller, die sie dann unter die Infrarotstrahler an der Durchreiche schiebt.

Hinter der flatternden Wäsche als große grüne Silhouette der Baum. Die Linde hat ihre Blätter noch. In einem Monat schon wird das Geäst kahl sein und der Giebel dahinter verschwunden. Oder muß die Linde auch weg, auch wenn sie, wie Ursula sich zusammen mit Jonas vergewissert hat, ganz sicher außerhalb der imaginären Linie steht, die man sich zwischen den Bauprofilen aus graugegerbtem Holz denken muß?

Die Geranien gießen und den Männern zusehen, die die Kehrichteimer in die Kippe leeren. Zusehen. Die Frauen lehnen aus den Fenstern. Nicht nur Ursula, auch drüben eine oder zwei. Und unten stehen die Kinder, verfolgen mit den Augen die Handgriffe, die die Kehrichtmänner mit ihren dicken Lederhandschuhen so gewandt, kraftvoll und wie nebenbei ausführen. Der Mann, der immer, sommers und winters, denselben graubraunen Filz auf dem Kopf trägt, auch dann, wenn er nur ein Leibchen unter der Schürze anhat und seine Arme nackt sind, wirft mit Schwung die letzten Säcke in den Kehrichtwagen. Jonas drückt sich zwischen die Buchsheckchen und die leeren Kübel. Sein Scheitel, dunkel glänzend. Sein großer, aufmerksamer Kinderkopf. Jonas muß enttäuscht sein, weil er nicht schnell genug gewesen ist, um wenigstens einen der grauen Kehrichtsäcke in die Nähe des Autos schleppen zu können. Jonas will, wie alle Kinder, den Erwachsenen helfen, auch dem Mann, der jetzt auf den Tritt aufspringt und mit ein paar Griffen heraushängende Papier- und Kehrichtfetzen vom Spalt wegzupft und hineinwirft, während der Wagen schon fährt. Nun wird, das weiß Ursula, die ganze Kinderhorde, einige auf Rollern und Rollschuhen, johlend und lachend dem Wagen folgen. Auch Jonas und die Kinder von Frau Vitalini. Viertel nach neun. Sie wird bald nach Jonas rufen müssen, damit er sich rechtzeitig auf den Schulweg macht. Jonas und auch Sophie.

Regines Zug hat jetzt die halbe Strecke schon zurückgelegt.

 

Damals, im ersten Jahr, hatte sie den Salat hinter die Tomatenstauden gepflanzt, so daß er zuwenig Sonne hatte, und weil sie nicht ahnte, wie hoch und wie schwer die mit Früchten behängten Stauden werden würden, knickten ihr zwei der drei mitsamt den viel zu schwachen Pfählen um. Die Gurken kriegten Mehltau, und es gab deshalb davon nur ein kleines Einmachglas voll. Als die Schnecken die zweite Saat Pflücksalat gleich beim Keimen aufgefressen hatten, streute sie Körner und sah dann nur noch die schleimig glänzenden Netze, die die Schnecken in ihrem Todeskampf zurückließen. Damals war Jonas noch nicht zwei Jahre alt, und wenn sie in der Gemüseecke arbeitete, mußte sie darauf achten, daß er die kleinen, hochgiftigen Körner nicht aß.

Sie nahm sein Händchen in ihre großen Hände und klaubte die trockenen Würstchen daraus hervor. Sie sperrte ihm, während sein Gesicht naß war vor Tränen, mit Gewalt den Mund auf und holte, Panik im Nacken, Brösel von seiner Zunge, von denen sie nicht wußte, ob es Sand war oder Schneckengift. Aber auch der Humus aus den Blumentöpfen vor der Terrassentür, in denen die Oleanderbüsche wuchsen, konnte giftig sein, weil Ursula sie eifrig düngte. Ohne Dünger brachte man sie nicht, nach der Winterpause im Keller, jedes Jahr wieder zum Treiben. Vor allem, wenn es im Frühsommer zu naß war und die Töpfe für die Sträucher allmählich zu klein wurden.

Daniel war großzügig. Er rechnete ihr nicht nach, wieviel sie für Dünger, für Blumenzwiebeln, Samen und Pflanzenschutzmittel ausgab, obschon sie damals knapp dran waren. Die Miete fürs Haus lag an der oberen Grenze ihrer Möglichkeiten, weil Daniels Ausbildung nicht ganz beendet war und er den versprochenen vollen Lohn noch nicht erhielt,

Das gehört zu deinem Wesen, sagte Daniel zärtlich. Hegen und Pflegen. Blumen und Pflanzen, Lebendiges betreuen. Kinder aufziehen und Blüten aus dem kahlen Boden zaubern. Und Ursula legte ihren Kopf auf seine Schulter, roch im Dunkeln seinen Geruch, seine Haut, fühlte, den Finger auf seiner Kehle, die Vibration seiner Stimme. Das war es, was sich geändert hatte, seit sie verheiratet waren: daß er nun seine Hand schützend über sie breitete, über Ursula und das Kind. Daß solche kleinen Wörter für sie beide wichtig wurden, daß Ursula die Zeit der Tage auch danach bemaß, wie lange es jeweils noch dauern würde, bis er wieder aus der »Welt«, aus der Stadt zu ihnen zurückkehrte, sich zwischen ihre Blumen setzte, an ihren Tisch, sich zurücklehnte und mit Wohlwollen bedachte, was sie im Laufe des Tages getan hatten: Jonas’ erste Schritte, die kleinen Begebenheiten, von denen sie erzählte, die Dinge, die sie in das Bild ihres Heims neu hineingefügt hatte. Sein Wohlwollen äußerte sich in Lächeln, in Berührungen. Eine neue Lampe, ein neues, gut zubereitetes Gericht, ein Buch, von dem sie ihm erzählte, ein Wort, das Jonas neu gelernt hatte, die Ärmchen, die er Daniel entgegenstreckte, das alles waren Gaben an ihn, die er freundlich entgegennahm, die mit Leben und Wärme den Rahmen füllten, den er jeden Tag mit seiner Arbeit neu schuf und ergänzte.

Als Jonas damals nichts als ein Gedanke war, unwirklich, ohne Gesicht noch, trotz der Tatsachen, die ihn ankündigten, trotz der Gespräche, die sich nun um ihn drehten, hatte Ursula nicht gedacht, daß alles einmal so werden würde und daß es auch mit ihrem Gefühl, ihren Wünschen, ihren Bedürfnissen übereinstimmen könnte. Ein Kind bekommen, das war, als ihr Bauch noch flach war, nur ein Ausblick auf Jahre, deren Farbe und Geruch sie nicht ausmachen konnte. Jahre mit einem Wesen, dessen Schultern nur in ihrer Vorstellung dieselbe Neigung wie diejenigen Daniels hatten.

Und dann kamen die Momente, da sich das Wesen in ihr regte, kamen die Gerüche, die intensiver wurden, die guten und die schlechten. Die Farbe einer Blume konnte sie überwältigen, eine Vogelstimme trieb ihr Tränen in die Augen. Sie wohnten damals noch in der Stadt, und wenn sie die Fenster der Wohnung öffnete, morgens, wenn Daniel weg war und sie Ordnung machte, schienen die Schwaden der Autoabgase sichtbar zu ihr emporzusteigen.

Sie hatte mehr Zeit damals, sie schonte sich. Sie arbeitete nur noch nachmittags, damit sie genug schlafen konnte. Obschon sie sich stark fühlte und rund. Sie hatte mehr Zeit. Zeit, wieder wie als Kind langsam durch die Straßen zu gehen, stehenzubleiben und eine Mauer zu betrachten, vormittags in der Frühlingssonne auf dem Balkon zu sitzen und auf die Geräusche zu achten: die Gesprächsfetzen in der Stille zwischen den Motoren, Autotüren, die zuschlugen, Schritte auf dem Trottoir, die sich beschleunigten und verlangsamten. Sie begann sich die Menschen vorzustellen, die zu den Schritten gehörten, bevor sie in der Lücke zwischen der Hauswand drüben und der Baumgruppe auftauchten. Gesichter überraschten sie dann, Rücken und Schultern, die nicht zum Klang eines Schrittes, einer Stimme paßten.

In der Nacht fühlten sie beide nach dem Kind in ihrem Bauch, das wuchs. Daniel verpaßte seine ersten Bewegungen, und auch später hielt es oft gerade dann inne, schien in tiefen Schlaf zu fallen, wenn Ursula seine Hand auf ihren Körper legte, der nicht mehr nur der ihre war.

Damals schon entschlossen sie sich dazu, ein Haus zu suchen, ein Haus im Grünen, in reiner Luft, weitab von großen Straßen. Ein Haus für ihre Kinder.

Ein Haus für meine Kinder, sagte Daniel. Und Ursula fühlte, wie in diesem Satz all das enthalten war, was jetzt erst, durch das Kind in ihr wuchs.

Die Angst davor, sich festzulegen. Die Zurückhaltung Daniel gegenüber oder, besser, ihre Neigung, sich nicht ganz zu identifizieren mit dem, was geschah, war weg. Noch bei der Heirat hatte sie das Gefühl von Unwirklichkeit gehabt, das immer in ihr lauerte, wenn eine »Schwelle in ihrem Leben« überschritten wurde. Die Zeremonie, weiße Schleier, Tränen im Taschentuch ihrer Mutter, Glockengeläute und das Strahlen der Menschen, die sie umringten und ihr und Daniel mit Küssen »Glück« wünschten, alles wie ein Traum, ein inszeniertes Spiel, das ebensogut plötzlich wieder auseinanderfallen, durch eine einfache Übereinkunft wieder aufgehoben werden konnte. Theater des Lebens, abhängig davon, daß alle ihre Rolle durchielten, jederzeit ja dazu sagten, immer wieder neu. Abhängig davon, daß einer plötzlich andere Worte brauchte, als man von ihm erwartete, oder sich abwandte, aus der Rolle fiel. Auch Ursula sagte »ja«, lächelte und hatte den Eindruck, durch eine Geste, ein Wort alles ungeschehen machen zu können.

Dann, durch das Kind, änderte sich das. Endgültigkeit in Fleisch und Blut. Ein Körper, der wuchs, aus ihrer beider Körper gewachsen, greifbar und unwiderruflich das Ja, die Verbindung. Nicht nur mit Daniel, sondern auch mit dem Leben, der Wirklichkeit. Die Schwangerschaft machte aus Ursula ein Wesen aus Fleisch und Blut, ein Glied in der Kette der Generationen. Geboren werden und sterben. Zweifel und Angst erst, weil sie einen Blick tat in die Abgründe des Lebens und des Todes. Das Wesen in ihr gehörte zu den Neuen, zu jenen, die nach ihr kamen, für die der Tod der Alten wichtig war.

Aber dann, als es zu dem Kind wurde, das von der Nahrung lebte, die sie auswählte, zubereitete und langsam kaute, von dem Schlaf, der sie jetzt immer mit großer Tiefe einsaugte, war die Gewißheit um die Endgültigkeit dieses Neuen, das in ihr wuchs, auch die Gewißheit von Sicherheit, von Verwurzelung in diesem Leben.

Ursula war es, die von dem Haus im Grünen zu sprechen begann. Mit der Erde verbunden sein, sich einrichten, ein Nest bauen.

Ihre Mutter holte sie ab an den Vormittagen, und sie gingen zusammen durch die Kaufhäuser – Leintücher und Decken, Wärmeflaschen und Kopfkissen. Sie verglichen und wählten, und Ursula ließ sich von ihrer Mutter führen und beraten, wie seit ihrer Kindheit nie mehr. Das Passende zum Passenden, Farben, die sich ergänzten, Garnituren, die vollständig erstanden, alles abrundeten. Sie bauten mit weichen Unterlagen und warmen Hüllen eine Höhle, einen Unterschlupf für das Kind, das kommen sollte.

Es konnte vorkommen, daß Ursula an einer Auslage vorbeiging und beim Anblick winziger Erstlingsschuhe von einer Welle der Rührung überflutet wurde. Sie wehrte sich dagegen – und doch, ihre Schwangerschaft machte sie anfällig dafür, »Niedliches« zu sehen, darauf mit Gefühl und Freude zu reagieren.

Ihre Arbeit im Büro war keine Belastung mehr, die Eintönigkeit eingeschränkt dadurch, daß das Ende absehbar war. Sie würde hinüberwechseln aus der Welt der Karteien, der Ordner und klappernden Rechenmaschinen in das Nest, in dem die Wärme neuen Lebens durch die Decken, die sie mit ihrer Mutter ausgesucht hatte, geborgen war.

Sie würden aus der Wohnung, gleich über der Kreuzung, ausziehen. Mit dem Kind, über das sie jetzt oft, wenn sie saß, ihre Hand hielt auf ihrem Bauch, würde sie in das Haus im Grünen ziehen, in dem es wachsen würde.

Damals, als sie schwanger war, hatte sie den ersten kleinen Oleanderbusch gekauft, den mit den blutroten Blüten.

 

Jonas ist nicht zu sehen. Aber Carla taucht auf, an der Ecke des Häuserblocks gegenüber. Dort ragt ein Teil der niedrigen Teppichstange in Ursulas Blickfeld, auf der die Frauen der Mietwohnungen ihre Türvorleger sauberklopfen. Kleine Mädchen baumeln dort, unter ihnen Carla, abwechslungsweise, Kopf nach unten, ziehen sich dann mit einem Ruck wieder hoch, lassen der nächsten den Platz. Jetzt streifen Carlas blonde Haare den Asphalt, sie läßt eine Hand los, schwingt sich dann wieder hoch. Ursula ruft nochmals: Jonas.

Die Tür geht, sie dreht sich um. Im Wohnzimmer, auf dem hellen Viereck, das die Morgensonne auf den Teppich zeichnet, steht Sophie, rot im Gesicht und sagt: Ich habe Durst.

Und als Ursula, statt zu antworten, sagt: Ihr müßt doch zur Schule, du und Jonas, steht Sophie da, stampft mit dem Fuß und schreit nun plötzlich wie ein kleines Kind, das trotzt:

Wenn ich aber Durst habe, mußt du mir zu trinken geben, sonst sag ich’s meiner Mami.

Und Ursula nimmt das Kind bei der Hand. In der Küche stehen die Teller vom Frühstück noch neben dem Ausguß, und die Gläser von gestern abend tragen eingetrocknete rote Krusten am Grund. Ursula spült so ein Glas notdürftig aus, weil sie nicht nach einem sauberen ins Wohnzimmer laufen will, und füllt es mit Wasser. Aber Sophie will kein Wasser.

Ich hab keinen Sirup mehr, und damit basta, sagt Ursula. Wenn du das nicht trinkst, so hast du auch keinen Durst. Sie sieht wieder auf die Uhr: schon fünf vor halb zehn. Sie muß Jonas rufen, läßt Sophie vor dem vollen Glas auf dem Küchentisch stehen und hört nun erst, als sie sich wieder zum Schlafzimmer hinausbeugt, aus der Küche das unterdrückte, herzzerreißende Schluchzen. Sophie weint. Und Regine wird jetzt, in einer Viertelstunde, schon in Genf aus dem Zug steigen. Sophies Weinen hat nichts damit zu tun. Und doch.

Jetzt taucht Jonas auch bei der Teppichstange auf. Er scheint Ursula gehört zu haben. Sophie trösten. Mutter sein. Sophie auf den Schoß nehmen. Kein Unterschied zum eigenen Kind. Aber die Hilflosigkeit wird bleiben, denn Sophie läßt das nicht zu. Windet sich aus Ursulas Armen, eines ihrer langen Kinderbeine immer noch auf dem Boden, biegt den Oberkörper weg, nimmt die Fäuste nicht von den Augen, gibt diese Laute von sich, die Ursula so gut kennt, die so tönen, als söge sie ihr Schluchzen, ihr Leid in sich hinein. Kein Tränenstrom wie bei Jonas oder Carla, sondern nur dieses In-sich-Hineinziehen allen Leides. Ursula kann nichts tun, als stillhalten, Sophie auf dem Knie, zusehen, wie sie sich löst, wie sie auf die Küchentür zugeht, darauf warten, daß draußen wieder irgendein Wutanfall folgt.

Sophies Mund hat, wenn sie wütend ist und wenn sie weint, dieselbe Furche, die sich zwischen Regines Mund und Wangen hinzieht. Sie wird sich wie bei Regine mit der Zeit, mit den Erlebnissen, mit den Wutanfällen und den Enttäuschungen vertiefen.

Die Kinder wiederholen das Schicksal ihrer Eltern. Nein, denkt Ursula, so muß es nicht sein. Woher denn dieser Satz in ihrem Kopf? Die Kinder wiederholen das Schicksal ihrer Eltern.

 

Das Haus war noch im Rohbau, als sie es zum erstenmal sahen. Bretter über dem aufgerissenen, vom Regen aufgeweichten Boden. Die Scheiben, mit einem weißen S gezeichnet, waren schon eingesetzt. Sie konnte es sich nicht richtig vorstellen, wie es später aussehen würde. Jonas saß auf ihrer Hüfte, streckte sein Ärmchen aus, das Äffchen an ihrem warmen Körper, und Daniel vor ihr, schon an der Tür, blickte zu ihr zurück. Unser Haus, sagte Daniel, und das Gefühl von Unwirklichkeit wich. Damals war auch der Wohnblock gegenüber noch nicht gebaut. Vom Wohnzimmer aus sah man auf die Wiese, die an dem Tag als Kuhweide genutzt wurde. Dahinter die Linde und der Giebel des Bauernhauses.

Und Ursula am Fenster, Daniels Hand auf der Schulter, Jonas auf der Hüfte.

Da, sagte Daniel, werden unsere Kinder über die Wiese laufen und im Stall beim Bauern die Kälber streicheln.

Eine glückliche Kindheit. Vielleicht hatten sie das nie so genau mit Worten ausgedrückt. Aber sie meinten beide dasselbe damals.

Das Nest. Das Haus im Grünen. Wenn Ursula im ersten Jahr in der Sonne stand und die Wäsche ans Seil hängte, so tat sie das ruhig und zufrieden. Das Grün des Rasens war ganz frisch. Die Oleanderstöcke vor dem hinteren Eingang hatten neue Triebe. Jonas im Sandkasten, seine weichen, dicken Füßchen warm in ihren Händen, wenn sie sie sauberwischte, um ihm die Socken wieder überzuziehen. Was wünschte sie mehr als das, ihr lächelndes, rundes, glückliches Kind und die Sonne auf ihren Blumen?

Die Welt war neu für sie beide. Jonas tastete sich mit unsicheren Schritten an den Hecken und Rinnsteinen entlang. Sie steckte die Steine in ihre Taschen, die er vom Boden aufhob und ihr entgegenstreckte. Luii, sagte er, und sie wußte, was das alles hieß: Erstaunen, Freude, Mitteilung über eine Welt voller Möglichkeiten und Wunder. Das Glück war so nahe für Ursula und für ihr Kind. Das Leben in der Sonne. Jonas war, das sagten auch die Babymütter, ein »Goldkind«, ein besonders zufriedenes, ruhiges, aufmerksames Baby. Jonas lächelte, wenn sie sich über ihn beugten, keine Angst in seinen Augen, kein Argwohn hinter seiner Stirn. Und in Ursulas Macht lag es, Angst und Argwohn gar nicht aufkommen zu lassen. Mit Behutsamkeit das Kind durch die Straßen führen, ihm die Worte freundlich vorsagen, welche die Dinge bezeichneten, die es betastete mit seinen winzigen Fingern; es hochheben, damit es an einer Blume riechen, ein Blatt berühren konnte. Sie half ihm, der Kuh die Grashalme hinzuhalten, die es von der Böschung gerissen hatte, und der Katze so übers Fell zu streichen, daß sie auch dablieb und sich an ihn schmiegte.

Als Jonas auf seinen Beinen stehen konnte, als er, vornübergebeugt und immer noch schwankend, seine ersten Schritte machte, die Ellbogen angewinkelt, die Händchen erhoben, da war es, als hätte sie selbst eine neue, nie mehr zerstörbare Leistung vollbracht. Ihr Kind, das ging wie ein Mensch. Daniel hielt Jonas’ erste Schritte im Bild fest. Filmte weiter, wie Ursula die Arme ausbreitete, ihren winzigen Sohn darin auffing, hochhob, ihn lachend auf die Hüfte setzte, sein Händchen nahm und damit gegen die Kamera winkte.

Aber in dieser Zeit sagte Jonas auch seine ersten Worte. Und in Ursula war schon ein Bedauern, daß alles so unausweichlich war, daß er ihre Sprache, ihre Worte übernehmen würde. Er hatte unverkennbar ihren Tonfall, als er die ersten Sätze formte. Die Melodie der Stimme, die Wortwahl, wenn auch erst nur im Lautbild nachgeahmt.

Ihre Mutter lachte darüber. Genauso war dein Bruder, sagte sie.

Die Fotos im Album zeigten ein Babygesicht, das Jonas wirklich sehr glich. Das Lächeln, die breite Stirn, die Wangen, die rund und dick waren.

Kinder lernen vor allem durch Nachahmung, das hatte Ursula gelesen, und sie wußte auch, daß Jonas war wie ein Schwamm, bereit, alles aufzusaugen: In seinem Bewußtsein würden sich nun all die Wörter einprägen, die sie ihm vorsagte, Bilder und Wörter, Wörter und Bilder. Ein Hund beißt. Die Sonne ist warm, Pferde sind groß, Blumen nicht abreißen, Händchen nicht schmutzig machen, Steine nicht in Fenster werfen.

Uund, sagte Jonas und zeigte auf die graue Katze, die auf dem Mäuerchen saß und langsam ihren Kopf mit den halbgeschlossenen Augen nach ihm drehte.

Nein, sagte Ursula, das ist kein Hund, das ist eine Katze.

Atze, sagte Jonas und ging auf die Katze zu.

Ja, sagte Ursula, das ist eine Katze.

Er glaubte ihr. Die Welt tat sich ihm auf, so wie sie sie ihm zeigte. Das sind Geranien, dort steht mein Oleander. Die Fensterscheiben sind aus Glas. Das ist unten, und das ist oben. Jonas verwechselte noch eine ganze Zeitlang unten und oben.

Es gab Wörter, die sie beide gemeinsam erfunden hatten und die nur sie verstanden. Es gab Bezeichnungen, die Jonas gewählt hatte und die sie, obschon sie niemand anderes verstehen würde, nicht korrigierte.

Ein Anfang. Ein Neubeginn. Der Ansatz zu einer Sprache, die nur ihnen gehören würde. Zwei Kinder, so las Ursula in der Zeitung, Zwillinge, lernten bis zu ihrem sechsten Altersjahr nicht sprechen, das heißt, sie hatten es nicht nötig, die Sprache der Erwachsenen zu lernen. Sie verständigten sich untereinander in einem Idiom, das sie für sich erfunden hatten.

Daniel blieb weg, tagsüber und abends. Die Miete für das Haus war hoch, die Ausbildung würde noch einige Jahre dauern. Jonas sah Daniel manchmal morgens, trippelte um seine nackten Beine herum, wenn er vor dem Spiegel stand und sich rasierte, bückte sich und berührte mit seinen Fingern die nackten Zehen seines Vaters. Daniel lachte, hob Jonas hoch, kitzelte ihn und reichte ihn schnell wie ein lästiges Paket Ursula zurück, wenn er merkte, wie spät es schon war.

Sie blieben zurück in den leeren Räumen, zwischen den Möbeln und Teppichen und den Blumen, die alle stumm waren.

Sie würden, wie die beiden Kinder, wenn sie wollten, eine neue Sprache erfinden, sie zwei eine neue Sprache und damit eine neue Welt. Nichts war vorgezeichnet. Die Worte auswechseln, die Bezeichnungen verändern. Die Blätter sind grün. Nein, die Blätter sind blau. Wer wußte, daß jemand, der »grün« sagte, auch diese Farbe meinte? Die Blätter sind blau, der Himmel ist rot. Unter mir dunkeln die Sterne.

Jonas stand an der Tür zum Schlafzimmer, eine Hand am Türrahmen, in der anderen zwischen zwei Fingerchen etwas Winziges. Er streckte es ihr entgegen, strahlte, betrachtete es eingehend von neuem. Sie ging ihm entgegen, erwartungsvoll, die Kostbarkeit zu bewundern. Es war eine tote Fliege oder, besser, nur ein Bruchstück davon. Ein durchsichtiger Flügel an einem Körpersegment. Ein Ungezieferrest, wie er sich in den Ritzen des Parketts oder auf den Fenstersimsen fand, Schmutz also, tote Überreste eines lästigen Eindringlings.

Jonas brach in Tränen aus, als sie ihm den Fliegenrest aus der Hand nahm, seine Fingerchen sauberblies. Er schrie, wippte auf den nackten Fußspitzen, klammerte sich an ihre Hosenbeine, versuchte mit emporgerichtetem Gesicht um seinen Fund zu kämpfen. Das ist schmutzig, wollte sie sagen, aber sie hielt den Fliegenflügel in der hohlen Hand, Jonas vors Gesicht und sagte: Die ist tot. Das ist nichts.

Er versuchte das winzige, zerbrechliche Ding wieder zu fassen, tippte es mit den Fingerspitzen an. Die zwischen den einzelnen Äderchen gegliederte durchsichtige Fläche schimmerte im Licht mit blauem und rotem Glanz. Schön, sagte Jonas.

Mit einem kleinen Kind, das noch nicht eingeführt ist in die Sprache derer, die zu wissen meinen, was schön und sauber, schmutzig und häßlich ist, könnte alles umgekrempelt werden. Wunderschöne tote Fliegen. Grausliche saubere Küchenböden. Ursula, in der Mitte eines langen grauen Nachmittags in der Landschaftsstille, im Vakuum ihres Hauses, in das nur leise das Brummen der Autos von der Straße dringt. Mit Jonas auf dem Teppich, der Schnitzel von alten Zeitungen zu kleinen Häufchen schichtete und kichernd den Inhalt einer ausgeleerten Zuckerdose durch die Fingerchen rieseln ließ. Zucker ist weiß, und wenn man darauf spuckt, klebt er an der Haut. Man kann ihn mit Wasser zum Verschwinden bringen und damit Spuren auf den Teppich zeichnen.

Zucker ist zum Süßen da. Zucker ist zum Sandspielen da. Nein, Sand ist zum Sandspielen da. Iß deinen Zucker schön. Iß keinen Sand. Pfui, mit Dreck spielt man nicht. Laß das, das ist nicht zum Spielen da, nimm deine Spielsachen, die sind sauber und lustig.

 

Abends, wenn Jonas schlief, ging Daniel, nachdem er gegessen hatte, oft noch auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, um seinen Sohn wenigstens im Schlaf zu betrachten. Sie standen da, auf beiden Seiten des kleinen Gitterbettes, und sahen auf ihn herab. Er hatte, auch jetzt noch, da er schon fast kein Baby mehr war, diese gewölbten Lider, als wären seine Augen noch zugewachsen wie bei einem Jungtier, das kein Nestflüchter ist. Auch seine Fäuste waren immer fest geschlossen im Schlaf und die Beine auf der Decke angezogen wie bei einem Äffchen, das in den Ästen des Urwalds kauert.

Manchmal denke ich, sagte Ursula ins Dunkel hinein, es ist ein Zufall, daß er ausgerechnet bei uns zur Welt gekommen ist. Daniel schwieg. Berührte mit seiner Hand Jonas’ Händchen. Ich meine, sagte Ursula, es ist ein Zufall, daß gerade wir seine Eltern sind und ihn lehren, was wir wissen. Jetzt könnte er noch alle Sprachen lernen, die es gibt. Er könnte ein Zigeunerkind werden oder ein Mohammedaner, und er würde das alles ganz natürlich finden.

Daniel wußte, was sie meinte. Der Neubeginn. Er kannte diese Gedankenspiele, er spann sie auch weiter. Er erzählte von dem Wolfskind, das ein französischer Arzt im neunzehnten Jahrhundert gefunden hatte und das durch sein Aufwachsen unter Tieren im Wald geprägt worden war. Kultur, sagte Daniel, Kultur, die sich im Laufe der Generationen verändert, Verhaltensweisen, die nicht einfach vorgeprägt sind, wie bei den meisten Tieren, können nur weitergegeben werden, wenn am Anfang des Lebens alle Möglichkeiten offenstehen. Wenn der Mensch nicht so formbar wäre, so gäbe es keine Geschichte. Wir pflanzen uns fort, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, mit unserer Sprache und dem, was wir richtig und falsch finden.

Sie schwiegen, das Licht spielte auf dem Gesicht des Kindes.

Ich merke erst jetzt, durch Jonas, sagte Ursula, daß ich nicht sicher bin, ob ich weiß, was richtig und was falsch ist.

Aber Daniel lachte leise ins Dunkel hinein, ergriff ihre Hand, zog sie ins helle Wohnzimmer hinüber. Mach uns einen Drink, sagte er, stellte den Fernseher an und ließ sich in den Sessel fallen. Leise zog sie die Tür zum Kinderzimmer zu.

Ursula dachte an das, was sie noch sagen wollte, was nicht so glatt und einfach formulierbar war wie das, was Daniel gesagt hatte.

Ein Zufall. Oder war das nicht das richtige Wort? Es ging nicht nur darum, daß Jonas, so wie er jetzt war, noch alle Sprachen dieser Welt lernen, daß er, gäbe es sie noch, jetzt ebensogut in die Welt des Mittelalters wie ins technische Zeitalter hineinwachsen konnte. Es ging auch darum, daß sie durch ihn merkte, was eigentlich möglich wäre, jetzt bei Jonas und bei jedem Kind wieder neu. Alles von vorn beginnen. Nicht nur die Sprache, auch die Lebensweise. Auswählen, was wichtig war und was nicht. Nur weitergeben, was stimmte, was Wärme, Zukunft und Freude verhieß.

Jedes Kind eine Chance, die Welt neu zu beginnen.

Sie nippten an ihren Gläsern. Daniel hatte die Schuhe ausgezogen. Ursula kauerte auf dem Teppich. Sie saß gern so, mit angezogenen Beinen, die Hände um die Knie geschlungen.

Du vergißt, sagte Daniel und blickte jetzt wieder auf den Bildschirm, du vergißt, daß Kinder eben viel länger als andere Säugetiere von ihren Erzeugern abhängig sind, abhängig zum Überleben. Und die Erzeuger sind schon geformt, sind eingespannt in ihre Sprache, in die Vorstellungen, die sie übernommen haben. Sie können ihm nur helfen, sich dieser Welt anzupassen, sich darin zurechtzufinden.

Das Jesuskind in seiner Krippe. Ursula mochte es nicht aussprechen. Sie waren nie zusammen zur Kirche gegangen, hatten nie über Religion gesprochen. Diesen Teil ihrer Kindheit hatten sie beide abgelegt gehabt wie ein altmodisches Hemd. Aber irgendwann, ganz am Anfang, als Jonas in ihren Armen lag, hatte sie einen Augenblick geglaubt, verstanden zu haben, was mit diesem Bild vom Erlöser gemeint war: Diese Möglichkeit des Neubeginns.

Das ist Carla, die unten schreit. Ursula legt den Telefonhörer wieder auf, obwohl es schon geklingelt hat. Carla schreit genauso wie in den schlimmsten Zeiten. Panik, Schmerz. Also muß der Anruf warten. Obschon nicht sicher ist, ob Kurt nachher noch erreichbar sein wird. Bald ist es zehn, und er hat um den Anruf vor halb elf gebeten. Jetzt, da endlich Sophie und Jonas auf dem Weg zur Schule sind, braucht Carla Trost. Ihr Schreien hallt nun schon im Flur und dazu ihre eiligen trippelnden Schritte auf den Fliesen. Jetzt drückt sie die Klinke hinunter, gleich wird ein nasses, verschwollenes Kindergesicht dahinter auftauchen.

Seit sie Babys waren, kennt Ursula die Stimmen ihrer Kinder von weither aus all den andern Kinderstimmen heraus. Diese Stimmen, dieses ganz besondere Schreien von Carla und Jonas rührt nicht nur an ihr Ohr, es rührt an ihren ganzen Körper. Als sie Babys waren, ist Ursula oft aufgewacht, bevor sie schrien, mitten in der Nacht, schon die Geräusche vorher, den veränderten Atemrhythmus, bevor das Weinen begann, hat sie gehört, nein gespürt, durch die Zimmerwand hindurch.

Carla rennt auf sie zu, Ursula setzt sich auf den Stuhl am Tisch, Carla zwängt sich zwischen ihre Knie, ihre Worte sind vom Weinen entstellt, so daß Ursula nichts verstehen kann. Die Hand hat sie an die nasse Schläfe gedrückt, und Ursula muß sie wegnehmen, nachschauen, ob Spuren von dem Schlag auf der Haut zurückgeblieben sind. Dann nach dem Taschentuch in ihren Jeans suchen, weil Carla keins hat, die Flut von Tränen und Rotz wegwischen, damit das Kind sich beruhigen und erzählen kann und auch Ursulas eigene Angst beschwichtigt ist (die Angst, die beim Schreien eines ihrer Kinder immer wieder in ihr hochkommt), die Angst, daß nun etwas Schlimmes, nicht wieder Gutzumachendes geschehen sein könnte. Ein Zahn herausgeschlagen, eine Wunde im Kopf oder noch Schlimmeres, nicht Auszudenkendes, etwas, das für immer das Lachen, den wachen Blick ihrer Kinder zerstören könnte. Ursula ist auch immer erst beruhigt, wenn sie wie jetzt, in ihren Armen spürt, wie die Spannung in dem Kinderkörper sich löst, und das Weinen in glucksendes Lachen übergeht, weil sie das Kind kitzelt oder etwas sagt, was den Schrecken in Spaß wandelt.

Carla zieht geräuschvoll die Nase hoch, reibt sich mit dem Handrücken die Augen, auf ihrer Wange glänzen Tränen. Ihre winzigen Zähne werden nun von ihren rosigen Lippen freigegeben. Schon wieder gut, sagt Ursula.

Carla spielt mit den Knöpfen an Ursulas Hemd, lächelt und bettelt, als Ursula sie sanft wegschieben will, weil sie doch diesen Anruf noch erledigen sollte. Ich möchte aber da drin bleiben, mit dir. Erzähl mir eine Geschichte, Mama.

Ursula will sich mit einem: Später dann, geh jetzt noch ein bißchen raus, es ist ja schönes Wetter heute, befreien, da klingelt das Telefon, und Carla läuft ihr nach bis ins Wohnzimmer.

Daniel.

Ja, sagte Ursula und ist selbst erstaunt, wie gefaßt und nüchtern ihre Stimme klingt. Sachlich, ruhig, freundlich auch, denn wer ist schließlich schuld, wer? Das hat Daniel gestern abend gesagt: Wer hat es so gewollt? Du mußt die Verantwortung dafür übernehmen. Auch den Kindern gegenüber.

Ich komme also doch schon um fünf, sagt Daniel. Die Besprechung habe ich verschoben. Bin jetzt ohnehin nicht in der Stimmung. Bist du dann zu Hause?

Ja, sagt Ursula. Obschon das doch nicht sicher ist. Sie will Regine abholen. Sie muß wissen, wann Regine zurückkommt. Regine wird sie nötig haben heute. Sie müßte also Daniel sagen: Ich weiß nicht. Ruf später wieder an. Oder: Du mußt dich vielleicht ohne mich zurechtfinden. Aber sie sagt es nicht. Sie sagt nur ja. Carla hält sich an ihren Jeans, hält sich an ihr wie früher als Kleinkind. Ja, sagt Ursula, und als das Klicken im Apparat sie von der Stimme Daniels trennt, ist dieses Bedauern in ihr und wieder eine Spur von dem Angerührtsein wie früher, von dem Angerührtsein von seiner Stimme.

Geh jetzt doch hinaus, will Ursula zu Carla sagen, denn erst muß noch das Geschirr gewaschen werden, nein, vorher noch den Anruf an Kurt, jetzt gleich. Dann ein bißchen Ordnung gemacht. Und dann …

Aber Carla hat sich schon gelöst, rumort im Zimmer, kommt heraus, schleppt hinter sich den Puppenwagen her, aus dem nicht Puppenbeine, sondern die Räder eines Lastwagens, Sandschaufelstiele und der kaputte Pfeilbogen von Jonas herausragen. Ich geh zu Martina, sagt Carla.

Ursula blickt ihr nach, die ersten Teller schon in der Hand. Carla läßt die Tür offen, scheppert dafür das Gartentor unnötig laut zu und Ursula muß ihr nach, die Türe schließen. (Jetzt muß Regine schon angekommen sein.) Kakao, vermischt mit roter Konfitüre rinnt über Ursulas Hände, als sie den Teller, den Carla wie immer voller Reste zurückgelassen hat, in den Korb der Abwaschmaschine einordnet.

Vielleicht ruft Regine jetzt bald an, wie sie vereinbart haben. Sie wird es nötig haben. Vielleicht. Fast hätte Ursula den Anruf an Kurt vergessen. Sie läßt die Abwaschmaschine offen stehen und läuft zum Telefon. Nein, Kurt ist eben weggegangen. Kann er Sie zurückrufen? fragt die Sekretärin.

Unzuverlässig. Nicht effektiv arbeitend. Die Sache eilt doch, hat Kurt gesagt. Ruf mich bis morgen um zehn an, wenn’s klappt. Ja, er soll zurückrufen, sagt Ursula und gibt der Sekretärin die Nummer.

Kurt hat auch Kinder. Oder besser, seine Frau hat sie. Er würde es sich verkneifen, ärgerlich zu sein, und es doch nicht verstehen, wenn sie sich entschuldigt: Ich wollte dich anrufen, schon um viertel vor zehn, gewiß, aber da mußte ich erst Carla trösten, weil einer von Kistlers Jungen sie verhauen hat.

 

Nicht nur dieses Gefühl, daß mit ihnen alles neu beginnen könnte, überraschte Ursula so an ihren Kindern. Da war auch diese Erfahrung körperlicher Kommunikation, die vor der Sprache stattfand, und die genauso intensiv war wie die besten Erfahrungen körperlicher Liebe. Körper und Geist: Ihre Brüste füllten sich mit Milch, wenn sie irgendwo, vielleicht weit weg, an ihre Babys dachte, das Weinen eines Kindes hörte oder ein junges Tier sah, das sich mit geschlossenen Augen durch die Welt tastete.

Der Mutterinstinkt. Ein Mythos, anerzogen, sagten Frauen wie Regine. Ursula hatte erst spät gewagt, von diesen Erfahrungen mit ihr zu sprechen. Und sie war erstaunt gewesen, daß Regine Ähnliches erzählte.

Aber das heißt doch nicht, hatte Regine gesagt, daß das, was die Natur wohlweislich so eingerichtet hat, damit kleine Menschlein überhaupt überleben, dann zur Erklärung von allem hinhalten muß. Auch zur Rechtfertigung dafür, daß wir Frauen nicht nur allein Kindertränen trocknen, sondern auch noch die schmutzigen Windeln und die Socken der Männer waschen sollen. Das ist es doch: wir lieben unsere Kinder. Wir können nicht anders, weil wir sie körperlich erleben. Wir können nicht anders, von dem Augenblick an, wo wir sie in den Armen halten. Und damit, mit dieser Liebe, hat man uns seit Jahrhunderten erpreßt, weil dort auch unsere Schwäche ist. Ich glaube, wenn Männer sich möglichst davor drücken, mit Säuglingen in engen körperlichen Kontakt zu treten, so wissen sie warum. Sie würden schwach, sie könnten benutzt werden wie wir. Sie könnten sich auch nicht mehr wehren.

Damals allerdings, als die Kinder so klein waren, gab es noch keine Regine für Ursula. Und damit auch keine Sätze, die das bezeichnen konnten, was sie fühlte. Sprachlos war sie damals. Einsam vielleicht, ohne daß sie es merkte. Einsam zusammen mit den Kindern. Entrückt in einer Welt, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hatte, mit der Wirklichkeit der Erwachsenen, in der, wie Regine sagte, die Entscheidungen getroffen werden, die auch unser Leben bestimmen.

Daniel wollte ein guter Vater sein. Aber es war unausweichlich, daß er ausgerechnet in dem Jahr, da Carla geboren wurde, den Aufenthalt in Amerika absolvieren mußte. Andere nahmen die Familie mit. Aber Ursula wollte nicht mit. Carla, bei Daniels Abreise nur wenige Wochen alt, war ein schwächliches Baby, schreckhaft und überempfindlich. Nicht so ausgeglichen und freundlich wie Jonas gewesen war. Und Ursula suchte für sich und ihre Kinder damals instinktiv Stabilität. Auch damals, wie jetzt, weigerte sie sich, mitzugehen, um der Kinder willen. Und damals schien es Daniel auch fast recht zu sein.

Vielleicht waren das die entscheidenden Monate gewesen. Plötzlich, obschon die Kinder viel Zeit brauchten, hatte sie eine Art Spielraum, ja, es war »Spielraum« im echten Sinne des Wortes, den sie nie gekannt hatte. Sie hatte das Haus für sich allein. Die Regelmäßigkeit, die durch Daniels Arbeitsrhythmus, sein Weggehen und seine Heimkehr bestimmt gewesen war, fiel weg. Die Kinder brauchten keine Erwachsenenmahlzeiten. Das Baby Carla wurde dann gestillt, wenn es schrie. Jonas machte seine ersten großen Ausflüge in die Umgebung. Er war von ungeheurem Tatendrang erfüllt. Sie machte ihm etwas zu essen, wenn er Hunger hatte. Sie genoß es, ihn schlafen zu lassen, wie das Baby, wenn er schlafen wollte. Er breitete seine Spiele im ganzen Haus aus, und weil keine Gäste kamen, weil kein Hausherr nach Hause kam, räumte sie abends nicht weg, ließ seine Phantasietürme stehen, damit sie am nächsten Tag weiter in den Himmel wachsen konnten. Sie blieb, das Baby im Arm, morgens länger im Bett liegen, wenn Jonas auch zu ihr kroch. Niemand wartete darauf, daß sie Kaffee kochte und die Wohnung aufräumte.

Sie begann, die Hausarbeiten aufzuschieben. Wenn Jonas die Sessel im Wohnzimmer und die Kissen, die dazugehörten, zu Häusern umfunktioniert hatte, so brachte sie es nicht übers Herz, gegen seinen verzweifelten Protest, alles wieder »in Ordnung zu bringen«. Auf dem Vorplatz sammelten sich die Steine und Holzstücke, die Jonas von ihren Spaziergängen nach Hause brachte. Ein weißer Einschluß in einem Kieselstein, eine glänzende Ader entzückten ihn. Er bewahrte in Schachteln, die sie ihm gab, Fetzen von buntem Einwickelpapier, zerknüllte, getrocknete Blätter aus dem Garten, Wurzelstücke und Glasscherben auf, Flaschendeckel, Perlmutterknöpfe und die Gebilde, die er aus Klebeband zusammengeknüllt hatte, seine Tiere.

Er breitete seine Schätze zu Ornamenten auf dem Fußboden aus, die wie Feuerstellen aussahen oder wie Kultstätten fremder Religionen. Sie waren meist symmetrisch oder rund, immer auf ein Zentrum, das in einem Hügel oder in einem Turm bestand, ausgerichtet.

Er legte, von ihrer Gartenarbeit angeregt, mit abgerissenen Blättern und Zweigen Miniaturgärten neben ihren Beeten an, die sie sorgsam schonte, bis sie von selbst verdorrten und wieder ins Nichts zurückfielen. Zwischen den Büschen und hochstengligen Blumen, die sie pflanzte, war auch Raum für Jonas. Ihr Garten sollte, außer der Ecke, in der sie Gemüse zog, für ihre Kinder kein Tabu sein.

Du bist, sagte ihre Mutter, die öfters zu Besuch kam, doch auch ein bißchen allein hier, nicht wahr?

Aber Ursula fühlte das nicht. Die Besuche ihrer Mutter störten sie jetzt fast.

Die Dinge mußten dann an ihren Platz zurückgestellt werden, und wenn sie am Tisch saßen und Kaffee tranken und Jonas vor ihnen stand, wenn er sich recken mußte, damit er mit dem Arm ein Stück Kuchen erreichen konnte, das auf dem Tisch lag und um das er erst betteln mußte, da schienen die Kinder, von denen sie dauernd redeten, doch nur wie Gäste in einer nicht für sie geschaffenen Welt.

Ja, Ursula war einsam. Ich habe die Kinder, sagte sie. Ich kenne ein paar Frauen hier. Mit den Frauen wechselte sie ein paar Worte, wenn sie auf den Bänken beim Spielplatz saßen, der zur Siedlung gehörte. Sie verglichen die Fortschritte ihrer Kinder und sprachen über die Gewohnheiten ihrer Männer.