Der Patient - John Katzenbach - E-Book
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Der Patient E-Book

John Katzenbach

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Beschreibung

Ein Psychiater auf der Jagd nach einem Psychopathen: Im packenden Psychothriller »Der Patient« verwandelt sich das Leben des New Yorker Psychiaters Dr. Frederick Starks in einen Alptraum. Am Abend seines 53. Geburtstages findet Dr. Frederick Starks im Wartezimmer seiner Praxis einen äußerst geschmacklosen Brief: »Willkommen am ersten Tag Ihres Todes!«, lautet der Betreff, unterzeichnet ist das Ganze mit »Rumpelstilzchen«. Natürlich hält der Psychiater den Brief zunächst für einen üblen Scherz, doch schon bald wird er auf grausame Weise eines Besseren belehrt. Der Unbekannte zwingt Starks zu einem teuflischen Spiel: 15 Tage lässt er seinem Opfer, um herauszufinden, wer »Rumpelstilzchen« in Wahrheit ist. Sonst stirbt Starks Familie, einer nach dem anderen – es sei denn, der Psychiater gibt auf und opfert sein eigenes Leben. Starks hat nicht die leiseste Ahnung, wer ihn so sehr hassen könnte – doch aufzugeben kommt für ihn nicht infrage … Der amerikanische Bestseller-Autor John Katzenbach gilt nicht umsonst als »Meister seines Fachs.« (WDR): Seine düsteren Psychothriller zeigen, wie zerbrechlich unsere Realität und sogar unser sicher geglaubtes Leben sein können. Der Psychiater Dr. Frederick Starks hat einen weiteren Auftritt im Psychothriller »Der Verfolger«.

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Seitenzahl: 863

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John Katzenbach

Der Patient

Psychothriller

Aus dem Amerikanischen von Anke Kreutzer

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Widmung

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Teil II

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Teil III

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Leseprobe »Die Familie«

Für meine Angelkumpels:

Ann, Peter, Phil und Leslie

Teil I

Der unwillkommene Brief

1

In dem Jahr, in dem er gänzlich mit dem Leben abgeschlossen hatte, brachte er wie die meisten seiner Tage auch seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag damit zu, sich anderer Leute Klagen über ihre Mütter anzuhören. Gedankenlose Mütter, grausame Mütter, sexuell aufreizende Mütter. Tote Mütter, die in den Köpfen ihrer Kinder weiterspukten. Lebende Mütter, die ihre Kinder lieber tot gesehen hätten. Besonders Mr. Bishop, aber auch Miss Levy und der wahrhaft vom Schicksal geschlagene Roger Zimmerman, der seine Wohnung an der Upper West Side und – so schien es – seine ganze Existenz, im Wachen wie in seinen lebhaften Träumen, mit einer hypochondrischen, manipulativen und zänkischen Dame teilte, die nicht ruhen und rasten würde, bis jedes noch so zaghafte Unabhängigkeitsstreben ihres Sohnes im Keim erstickt war. Zimmerman also und all die anderen Patienten ließen an diesem Tage keine Sekunde ihrer Sitzungen aus, um über jene Frauen Gift und Galle zu speien, durch die sie das Licht der Welt erblickt hatten.

Schweigend nahm er die Wogen mörderischen Hasses zur Kenntnis und warf nur gelegentlich eine verhaltene, gütige Bemerkung ein, ohne ein einziges Mal den von der Couch gespienen Furor zu unterbrechen, auch wenn er sich die ganze Zeit wünschte, dass wenigstens einer seiner Patienten Atem holte, in seiner Rage innehielt und sie als das erkannte, was sie war: Wut auf sich selbst. Aus langer Berufserfahrung wusste er, dass sie alle, selbst der geplagte Roger Zimmerman, wenn sie in der eigentümlich losgelösten Welt der Psychoanalytiker-Praxis über die Jahre ihr Pulver verschossen hatten, von allein zu dieser Erkenntnis gelangen würden.

Dennoch warf sein Geburtstag, der ihn unabweislich an seine eigene Sterblichkeit erinnerte, die trübselige Frage auf, ob ihm wohl genügend Zeit beschieden war, einen von ihnen bis zu diesem Moment der Akzeptanz – dem Heureka des Analytikers – begleiten zu dürfen. Sein eigener Vater war, nachdem er sein Herz jahrelangem Stress und Kettenrauchen ausgesetzt hatte, mit Anfang dreiundfünfzig gestorben – eine Tatsache, die heimtückisch dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins lauerte. Und so kam es, dass er dem Jammern und Klagen des unangenehmen Herrn Roger Zimmerman in diesen letzten paar Minuten der abschließenden Sitzung an ebendiesem Tag nicht ganz die gebührende Aufmerksamkeit schenkte, als nebenan im Wartezimmer dreimal verhalten die eigens dort angebrachte Klingel schellte.

Die Klingel war das Zeichen für das Eintreffen eines Patienten. Jeder Neuzugang wurde vor dem ersten Termin angewiesen, beim Betreten der Praxis zweimal kurz und einmal lang zu läuten. Dies diente zur Unterscheidung von eventuellen Handwerker-, Zählerableser-, Nachbars- oder Lieferantenbesuchen.

Ohne seine Sitzhaltung zu verändern, schielte er auf seinen Terminkalender, der neben der Uhr auf dem Tischchen hinter dem Kopfende der Couch lag und somit für den Patienten nicht zu sehen war. Für achtzehn Uhr gab es keinen Eintrag. Auf dem Zifferblatt war es zwölf vor sechs, und Roger Zimmerman schien sich auf der Couch zu verspannen.

»Ich dachte, ich wäre immer der Letzte.«

Er antwortete nicht.

»Bis jetzt ist noch nie jemand nach mir gekommen, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Nicht ein Mal. Haben Sie Ihren Terminplan geändert, ohne es mir zu sagen?«

Wieder antwortete er nicht.

»Ich mag es nicht, wenn jemand nach mir kommt«, sagte Zimmerman entschieden. »Ich will der Letzte sein.«

»Und können Sie sich dieses Gefühl erklären?«, fragte er endlich zurück.

»Der Letzte zu sein ist praktisch so, als wäre man der Erste«, erwiderte Zimmerman, so schroff, als wollte er damit sagen, das sähe doch wohl jeder Idiot.

Er nickte. Zimmerman hatte eine faszinierende und durchaus richtige Feststellung getroffen, wenn auch, wie bei dem armen Kerl nicht anders zu erwarten, wieder einmal im letzten Moment der Sitzung statt zu Beginn, was ihnen die verbleibenden fünfzig Minuten für eine sinnvolle Diskussion darüber gelassen hätte. »Versuchen Sie, diesen Gedanken morgen einzubringen«, sagte er. »Das wäre ein guter Anfang. Für heute ist unsere Zeit leider um.«

Zimmerman zögerte, bevor er sich erhob. »Morgen? Wenn ich mich nicht irre, ist morgen der letzte Tag, bevor Sie wie jedes verdammte Jahr in Ihren blöden Urlaub fahren. Was hab ich also davon?«

Wieder schwieg er nur und ließ die Frage über dem Kopf des Patienten im Raume stehen. Zimmerman schnaubte laut vernehmlich. »Der Typ, der gerade gekommen ist, interessiert Sie sowieso viel mehr als ich, hab ich recht?«, sagte er bitter. Dann schwang er seine Füße von der Couch und sah zu seinem Therapeuten auf. »Ich mag es nicht, wenn etwas anders ist«, sagte er in schneidendem Ton. »Ganz und gar nicht.« Im Aufstehen schleuderte er dem Arzt einen vielsagenden Blick entgegen, lockerte die Schultern und verzog bösartig das Gesicht. »Es sollte immer gleich sein. Ich komm rein, leg mich hin, fang zu reden an. Grundsätzlich als letzter Patient. So sollte es sein. Keiner mag Veränderungen.« Er seufzte, allerdings nicht resigniert, sondern ziemlich wütend. »Na schön, also bis morgen. Letzte Sitzung, bevor Sie nach Paris, Cape Cod oder zum Mars abhauen und mich im verdammten Regen stehen lassen.« Zimmerman machte abrupt auf dem Absatz kehrt, schritt zielstrebig durch die kleine Praxis und zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Einen Moment lang blieb er in seinem Sessel sitzen und lauschte auf die Schritte des erbosten Mannes draußen im Flur. Dann stand er auf – nach dem stundenlangen Sitzen hinter der Couch spürte er ein wenig die Last seines fortgeschrittenen Alters in den verspannten Muskeln und steifen Gliedern – ging zu der zweiten Tür, die in sein bescheidenes Wartezimmer führte. In mancherlei Hinsicht war der ungewöhnliche Zuschnitt dieses Raums, in dem er vor Jahrzehnten seine Praxis eingerichtet hatte, einmalig und auch der einzige Grund, weshalb er kurz nach seiner Zeit als Assistenzarzt diese Wohnung gemietet hatte und seit über einem Vierteljahrhundert geblieben war.

Das Sprechzimmer verfügte über drei Türen: eine zur Eingangsdiele, in der er sein winziges Wartezimmer eingerichtet hatte; eine zweite, die direkt auf den Hausflur führte; und eine dritte in den Wohnbereich mit kleiner Küche und anschließendem Schlafzimmer, dem restlichen Teil der Wohnung. Sein Sprechzimmer war somit wie eine private Insel, mit Zugängen zu den übrigen Welten. Oft betrachtete er sie als eine Art Anderwelt, eine Brücke zwischen verschiedenen Realitäten. So gefiel es ihm, denn er war der Überzeugung, dass die Abschottung der Praxis von der Welt da draußen ihm seine Arbeit irgendwie erleichterte.

Er hatte keine Ahnung, welcher seiner Patienten ohne Termin zurückgekommen sein könnte. Auf Anhieb fiel ihm kein einziger derartiger Fall in seiner ganzen Laufbahn ein.

Genauso wenig konnte er sich vorstellen, welcher Patient womöglich in einer Krise steckte, die ihn zu einem solch drastischen Schritt in der Beziehung zu seinem Therapeuten hätte treiben können. Er vertraute auf Routine, Routine und Langlebigkeit, auf das Gewicht der Worte, die im Allerheiligsten der Praxis am Ende einen Weg zur Erkenntnis bahnten. Da hatte Zimmerman recht. Veränderung ging nicht nur ihm gegen den Strich.

Und so durchquerte er in gespannter Erwartung zügig den Raum, auch wenn ihn der Gedanke, etwas Dringliches könnte die allzu eingefahrenen Gleise seines Lebens erschüttern, zugleich ein wenig irritierte.

Er öffnete die Tür zum Wartezimmer und starrte hinein.

Der Raum war leer.

Einen Augenblick lang war er verwirrt und dachte, er hätte sich das Klingeln vielleicht nur eingebildet, doch dann wurde ihm bewusst, dass Mr. Zimmerman es ebenfalls gehört und aus dem dreimaligen Schellen geschlossen hatte, dass jemand Bekanntes im Wartezimmer war.

»Hallo?«, sagte er, obwohl ganz offensichtlich niemand da war, der ihn hätte hören können.

Er spürte, wie sich seine Stirn in Falten legte, und rückte sich die Nickelbrille auf der Nase zurecht. »Seltsam«, sagte er laut. In dem Moment bemerkte er den Briefumschlag auf dem Sitz des einzigen Stuhls, den er für Patienten bereit hielt, die warteten, bis sie an der Reihe waren. Er atmete langsam aus, schüttelte ein paarmal den Kopf und fand, dass dies hier doch allzu melodramatisch war, selbst für seinen derzeitigen Patientenstamm.

Er ging hin und nahm den Brief, auf dessen Vorderseite in Druckschrift sein Name stand.

»Wie sonderbar«, sagte er laut. Er zögerte, bevor er den Umschlag öffnete, und hielt ihn sich dann so wie Johnny Carson bei seiner Nummer als Carnac der Großartige an die Stirn, während er zu raten versuchte, welcher seiner Patienten ihn hinterlassen hatte. Doch zu keinem der ungefähr ein Dutzend Menschen schien ein solcher Schritt zu passen. Sie alle genossen es, ihm ihre Beschwerden über seine vielen Fehler und Unzulänglichkeiten häufig und direkt ins Gesicht zu sagen, was zwar manchmal irritieren konnte, aber dennoch ein fester Therapiebestandteil war.

Er riss den Umschlag auf und zog zwei dicht beschriebene Blätter heraus. Er las nur die erste Zeile:

Herzlichen Glückwunsch zum 53sten Geburtstag,

Herr Doktor. Willkommen am ersten Tag Ihres Todes.

Er schnappte nach Luft. Von der abgestandenen Atmosphäre in der Wohnung wurde ihm plötzlich flau, und er griff nach der Wand, um Halt zu finden.

 

Dr. Frederick Starks, der sich von Berufs wegen der Nabelschau anderer Menschen widmete, lebte allein.

Er ging zu seinem kleinen, antiken Ahornschreibtisch hinüber, einem Geschenk, das ihm seine Frau vor fünfzehn Jahren gemacht hatte. Drei Jahre waren seit ihrem Tod vergangen, und wenn er sich an diesen Schreibtisch setzte, dann hatte er das Gefühl, als könnte er immer noch ihre Stimme hören. Er breitete die beiden Seiten des gedruckten Briefs vor sich auf der Schreibtischunterlage aus. Ihm fiel plötzlich ein, dass es ungefähr zehn Jahre her war, seit ihm das letzte Mal etwas richtig Angst eingejagt hatte, nämlich die Diagnose, die der Onkologe seiner Frau eröffnet hatte. Jetzt war ihm dieser von damals vertraute trockene, saure Geschmack auf der Zunge ebenso unangenehm wie seine erhöhte Herzfrequenz.

Er wartete geduldig, bis sich das Hämmern in seiner Brust nachhaltig beruhigt hatte. In diesem Moment war er sich seiner Einsamkeit nur allzu bewusst und hasste die Verletzlichkeit, die sie mit sich brachte.

Ricky Starks – nur selten gab er zu, wieviel lieber er den Spitznamen aus Kinder- und Studententagen als das volltönende Frederick hörte – war notgedrungen ein Mann der Ordnung und Routine. Er zelebrierte eine Pünktlich- und Regelmäßigkeit, die beinahe ans Religiöse, auf jeden Fall aber ans Obsessive grenzte. Das Korsett der Vernunft, in das er seinen Alltag zwängte, konnte, so hoffte er, dem Aufruhr und Chaos, mit dem ihn seine Patienten unentwegt bedrängten, einen Sinn abtrotzen. Er war um die eins fünfundsiebzig groß, von eher leichtem Körperbau und schmaler, asketischer Figur, die er – verbunden mit dem standhaften Verzicht auf Eis und andere Süßigkeiten, für die er eine Schwäche hegte – in seiner Mittagspause täglich mit Walking trainierte.

Er trug Brille, was für einen Mann seines Alters nichts Ungewöhnliches war, auch wenn ihn seine niedrigen Dioptrienwerte mit einigem Stolz erfüllten. Stolz war er auch darauf, dass sein Haar, wenngleich ein wenig schütter, immer noch wie der Weizen auf dem Feld senkrecht vom Kopf abstand. Er hatte das Rauchen aufgegeben und trank nur ganz selten abends ein Gläschen Wein vor dem Schlafengehen. An seine Einsamkeit hatte er sich gewöhnt – ein dinner for one in einem Restaurant konnte ihn nicht mehr schrecken, und auch bei einer Broadway-Show oder einem neuen Kinofilm war er sich selbst Gesellschaft genug. Er fühlte sich geistig und körperlich in bester Verfassung und an den meisten Tagen bedeutend jünger, als er war. Dennoch konnte er die Tatsache nicht verdrängen, dass sein Vater das Alter, in dem er jetzt war, nicht überschritten hatte, und aller Logik zum Trotz hatte er nicht recht daran geglaubt, selbst älter als dreiundfünfzig zu werden, als sei schon die Hoffnung darauf ungehörig, ja geradezu vermessen. Aber, widersprach er seiner düsteren Prognose, ich bin noch nicht bereit zu sterben. Dann las er langsam weiter und hielt bei jedem Satz inne, so dass die aufkeimenden Sorgen und Ängste Zeit fanden, sich in seinem Innern einzunisten.

Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit.

Sie haben mein Leben zerstört. Auch wenn Sie vielleicht nicht wissen, wie und weshalb oder auch nur, wann, so ist es trotzdem der Fall. Über jede Sekunde meines Daseins haben Sie Desaster und Unglück gebracht. Sie haben mein Leben zerstört. Und jetzt bin ich fest entschlossen, Ihres zu zerstören.

Ricky Starks schnappte noch einmal nach Luft. In seiner Welt waren leere Drohungen und falsche Versprechungen an der Tagesordnung, doch ihm wurde augenblicklich klar, dass die Worte, die er vor sich hatte, mit den endlosen Tiraden, die er täglich zu hören bekam, nicht zu vergleichen waren.

Zuerst dachte ich, dass ich Sie einfach umbringen sollte, um meine Rechnung mit Ihnen zu begleichen. Doch mir wurde sehr schnell klar, dass das zu einfach wäre. Sie geben eine geradezu lächerlich leichte Zielscheibe ab, Herr Doktor. Tagsüber schließen Sie Ihre Tür nicht ab. Von Montag bis Freitag laufen Sie dieselbe Route. Am Wochenende sind Sie nicht weniger berechenbar, bis hin zu Ihrem kleinen Spaziergang sonntagmorgens, um sich in dem angesagten Café zwei Straßen Richtung Süden die Times, ein Zwiebel-Bagel und einen Haselnusskaffee zu besorgen – mit zwei Würfeln Zucker, ohne Milch.

Viel zu leicht. Ihnen zu folgen und Sie zu töten, wäre kein Kunststück gewesen. Und so leicht, wie dieser Mord zu bewerkstelligen wäre, war ich mir nicht sicher, ob er die nötige Befriedigung mit sich bringen würde.

Ich bin daher zu dem Schluss gekommen, dass ich es vorziehe, wenn Sie Selbstmord begehen.

Ricky Starks rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. Er fühlte, wie von den Worten vor seinen Augen heiße Wogen aufstiegen, die ihm sacht um Stirn und Wangen strichen wie die Wärme eines Kaminfeuers. Seine Lippen waren trocken, und er leckte sie vergeblich mit der Zunge.

Bringen Sie sich um, Herr Doktor.

Springen Sie von einer Brücke. Pusten Sie sich das Hirn mit einer Pistole weg.

Springen Sie auf einer Geschäftsstraße vor einen Bus. Oder werfen Sie sich vor eine U-Bahn. Drehen Sie das Gas auf und blasen die Stichflamme aus.

Suchen Sie sich einen passenden Balken und hängen Sie sich daran auf. Die Methode bleibt ganz Ihnen überlassen.

Doch das ist Ihre beste Chance.

Ihr Selbstmord ist den genauen Umständen unserer Beziehung außerdem am angemessensten. Und für Sie zweifellos eine weitaus angenehmere Methode, Ihre Schuld bei mir zu begleichen.

 

Hier also die Regeln unseres kleinen Spiels: Ab morgen früh um sechs Uhr gebe ich Ihnen genau fünfzehn Tage, um herauszufinden, wer ich bin. Wenn Sie es schaffen, müssen Sie eine dieser kleinen Anzeigen unten auf der Titelseite der New York Times schalten und darin meinen Namen drucken lassen. Weiter nichts: Lassen Sie nur meinen Namen drucken.

 

Falls Sie das nicht tun, dann … nun ja, hier liegt der eigentliche Reiz. Sie werden feststellen, dass auf dem zweiten Blatt dieses Briefs zweiundfünfzig Namen aus Ihrer Verwandtschaft aufgelistet sind. Sie umfassen alle Altersstufen, von einem Neugeborenen, gerade mal sechs Monate alt, dem Kind Ihrer Urgroßnichte, bis zu Ihrem Cousin, diesem Wall-Street-Investoren und ausgemachten Kapitalisten, der genauso langweilig und vertrocknet ist wie Sie. Falls Sie es nicht schaffen, die Anzeige wie oben beschrieben aufzugeben, dann bleibt Ihnen nur eine Wahl: Bringen Sie sich augenblicklich um, oder ich vernichte einen dieser unschuldigen Menschen.

Vernichten.

Welch ein faszinierendes Wort! Es könnte den finanziellen Ruin bedeuten. Oder einen gesellschaftlichen Scherbenhaufen. Oder auch psychische Vergewaltigung.

Es könnte aber auch Mord bedeuten. Darüber mögen Sie sich den Kopf zerbrechen. Es könnte jemand Junges oder jemand Altes treffen. Männlich oder weiblich. Reich oder arm.

Ich verspreche nur so viel, dass es ein Schlag sein wird, von dem er – oder seine nächsten Angehörigen – sich nie mehr erholt, egal, wie viele Jahre er in der Psychoanalyse zubringt.

Und egal, was es ist, Sie werden jede Sekunde von jeder Minute, die Ihnen noch auf Erden bleibt, mit der Gewissheit leben, dass allein Sie das verschuldet haben.

 

Es sei denn, Sie entschließen sich zu dem ehrenvolleren Schritt und nehmen sich das Leben, bevor es dazu kommt, und bewahren meine Zielperson vor ihrem Geschick.

Sie haben also die Wahl: meinen Namen oder Ihre Todesanzeige. Natürlich in derselben Zeitung.

Als Beweis dafür, wie weit mein Arm reicht und wie gründlich alles vorbereitet ist, habe ich heute mit einem der Namen auf der Liste in Form einer höchst bescheidenen kleinen Nachricht Kontakt aufgenommen. Ich kann Ihnen nur dringend raten, herauszufinden, mit wem und auf welche Weise. Dann können Sie sich morgen früh unverzüglich an Ihre eigentliche Aufgabe machen.

Natürlich rechne ich nicht wirklich damit, dass Sie herausbekommen, wer ich bin.

Um Ihnen daher meinen Sportsgeist zu zeigen, habe ich beschlossen, Ihnen im Lauf der kommenden fünfzehn Tage den einen oder anderen Tipp zu geben. Nur, um die Sache spannender zu machen, auch wenn ein ausgefuchster, intuitiver Typ wie Sie davon ausgehen dürfte, dass dieser ganze Brief voller Hinweise steckt. Wie dem auch sei, hier schon mal ein Vorgeschmack, gratis und franko.

Mit Vater, Mutter, kleinem Kind,

Die Stunden einstmals glücklich sind.

Dann aber segelt der Vater fort,

Vorbei ist’s mit dem trauten Hort.

Poesie ist nicht gerade meine Stärke.

Hass dagegen schon.

Ich gewähre Ihnen drei Fragen. Ja- oder Nein-Fragen, bitte schön. Gehen Sie dabei vor wie beschrieben, mithilfe von Kleinanzeigen auf der Titelseite der New York Times.

Ich werde sie binnen vierundzwanzig Stunden auf meine Weise beantworten.

Viel Glück. Sie sollten sich auch schon mal die Zeit nehmen, Vorkehrungen für Ihre Beisetzung zu treffen. Einäscherung ist vermutlich einem aufwendigen Trauergottesdienst vorzuziehen. Ich weiß, wie sehr Ihnen Kirchen zuwider sind. Ich halte es für keine so gute Idee, sich an die Polizei zu wenden. Die würden Sie nur auslachen, womit Sie, von sich eingenommen, wie Sie nun mal sind, Ihre Schwierigkeiten haben dürften. Wahrscheinlich würde es mich außerdem noch wütender machen, und im Moment können Sie sich wohl noch kein rechtes Urteil darüber bilden, wie labil ich eigentlich bin. Ich könnte auf unberechenbare und ziemlich böswillige Art und Weise darauf reagieren.

Auf eines allerdings dürfen Sie sich hundertprozentig verlassen:

Meine Wut kennt keine Grenzen.

Der Brief war in Großbuchstaben unterschrieben:

RUMPELSTILZCHEN.

Ricky Starks fuhr mit dem Oberkörper zurück, als hätten ihn die Worte auf dem Blatt wie ein Fausthieb getroffen. Er rappelte sich auf, ging ans Fenster, öffnete es einen Spalt und ließ den Großstadtlärm mit einer für Ende Juli ungewöhnlichen Brise – vielleicht dem ersten Vorboten eines abendlichen Gewitters – in das stille, kleine Zimmer dringen. In der Hoffnung, diese Hitze, die ihn plötzlich erfasst hatte, zu kühlen, atmete er tief ein. Er hörte das schrille Aufheulen einer Polizeisirene ein paar Straßenzüge entfernt und die stetige Kakophonie von Autohupen – das endlose weiße Rauschen in Manhattan. Noch zwei, drei tiefe Atemzüge, dann machte er das Fenster zu und verbannte alle Geräusche normalen städtischen Lebens.

Er richtete sein Augenmerk erneut auf den Brief.

Ich bin in Schwierigkeiten, dachte er. Wie tief, konnte er in diesem Moment noch nicht sagen.

Ihm war bewusst, dass er ernstlich bedroht wurde, doch die Bestimmungsfaktoren dieser Bedrohung lagen noch im Dunkeln. Ein Teil von ihm bestand darauf, das Dokument auf dem Schreibtisch zu ignorieren. Sich diesem ganz und gar nicht spaßigen Spiel schlicht zu entziehen. Er schnaubte einmal verächtlich, während dieser Gedanke Gestalt annahm. Seine gesamte Ausbildung und Berufserfahrung legte nahe, dass dies die vernünftigste Vorgehensweise war. Schließlich stellt der Analytiker immer wieder fest, dass es am klügsten ist, sich gegenüber den provozierendsten und haarsträubendsten Verhaltensweisen eines Patienten in Schweigen zu hüllen und gar nicht zu reagieren, um so zu deren tieferen psychologischen Wurzeln vorzudringen. Er stand auf und lief, wie ein Hund, der einem ungewöhnlichen Geruch nachschnüffelt, zweimal um den Tisch.

Am Ende der zweiten Runde blieb er stehen und starrte erneut auf das beschriebene Blatt.

Er schüttelte den Kopf. Das wird nicht funktionieren, wurde ihm klar. Für einen Moment überkam ihn so etwas wie Bewunderung für die Raffinesse des Schreibers. Ricky begriff, dass er ein schlichtes »Ich werde Sie töten« vermutlich mit an Langeweile grenzender Distanz zur Kenntnis genommen hätte. Immerhin blickte er auf ein recht langes, recht gutes Leben zurück; einem Mann in den mittleren Jahren mit dem Tod zu drohen, dachte er, hieß somit nicht allzu viel. Doch nicht damit war er konfrontiert. Die Bedrohung war indirekt. Jemand anders sollte büßen, wenn er nichts unternahm. Jemand Unschuldiges, und höchst wahrscheinlich jemand Junges, da die Jungen viel gefährdeter als die Alten sind.

Ricky schluckte schwer. Ich würde mir die Schuld dafür geben und mich den Rest meines Lebens damit quälen.

Da lag der Schreiber absolut richtig.

Oder stattdessen Selbstmord begehen. Er hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Selbstmord stand in schärfstem Gegensatz zu seiner ganzen Lebensphilosophie. Er vermutete, dass die Person, die sich Rumpelstilzchen nannte, das wusste.

Mit einem Schlag fühlte er sich wie vor Gericht.

Wieder fing er an, in seinem Sprechzimmer auf und ab zu marschieren. Eine mächtige Stimme in seinem Innern wollte die ganze Sache herunterspielen, diese Botschaft mit einem Achselzucken beiseite schieben, sie feierlich zu einer maßlosen Ausgeburt der Phantasie ohne jede Grundlage in der Realität erklären, musste aber erkennen, dass er dazu nicht in der Lage war. Ricky ging mit sich selbst ins Gericht: Nur weil dir etwas Unbehagen bereitet, darfst du es noch lange nicht ignorieren.

Andererseits kam ihm keine vernünftige Idee, wie er reagieren sollte. Er blieb stehen und kehrte dann zu seinem Stuhl zurück. Wahnsinn, dachte er, Wahnsinn allerdings, der Methode hat, da er mich zwingt, darauf einzugehen.

»Ich sollte die Polizei einschalten«, sagte er laut. Dann überlegte er. Und was soll ich sagen? Neun, eins, eins wählen und irgendeinem begriffsstutzigen, einfallslosen Bürohengst erklären, dass ich soeben einen Drohbrief erhalten habe? Und mir anhören, wie der Mann sagt, Na und? Seines Wissens lag bislang keine Gesetzesübertretung vor. Es sei denn, es verstieße schon gegen das Gesetz, jemandem Selbstmord nahezulegen. Nötigung? Um was für eine Art Mord könnte es sich handeln?, überlegte er. Ihm kam in den Sinn, einen Anwalt anzurufen, dann wiederum wurde ihm klar, dass die Situation, in die Rumpelstilzchen ihn stürzte, kein juristisches Problem darstellte. Er war auf dem Gebiet herausgefordert, das er kannte. Es ging, so war dem Brief zu entnehmen, um ein Spiel der Intuition und der Psychologie; es ging um Emotionen und Ängste.

Er schüttelte den Kopf und sagte sich: In der Arena kann ich mich behaupten.

»Was weißt du bereits?«, fragte er laut in das leere Zimmer hinein.

Jemand kennt meine Gewohnheiten. Weiß, wie ich die Patienten in die Praxis lasse. Weiß, wann ich Mittagspause mache. Was ich am Wochenende unternehme. War auch clever genug, um eine Liste mit Verwandten aufzustellen. Dazu gehört schon einiges an Findigkeit.

Weiß, wann ich Geburtstag habe.

Erneut zog er heftig den Atem ein.

Jemand hat mich beschattet, ohne dass ich es bemerkt habe. Mich taxiert. Jemand hat eine Menge Zeit und Mühe darauf verwandt, dieses Spiel in Szene zu setzen, und mir nicht viel Zeit für meine Gegenzüge eingeräumt.

Seine Zunge blieb trocken und seine Lippen ausgedörrt. Er hatte auf einmal großen Durst, aber keine Lust, das Refugium seiner Praxis zu verlassen, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen.

»Was habe ich getan, dass mich jemand so sehr hasst?«, fragte er.

Diese Frage saß wie ein Tiefschlag in der Magengrube. Ricky räumte ein, dass er die arrogante Auffassung vieler Menschen in betreuerischen Berufen teilte, er habe in seinem bescheidenen Rahmen – indem er die Menschen verstand und so akzeptierte, wie sie waren – Gutes getan. Die Vorstellung, dass er bei irgendjemandem irgendwo einen monströsen Hass entfacht haben könnte, war äußerst irritierend.

»Wer bist du?«, forderte er Aufschluss von dem Brief. Augenblicklich begann er, den Katalog der Patienten durchzuhecheln, die er über die Jahrzehnte behandelt hatte, hielt aber ebenso schnell inne. Er verstand zwar, dass dies früher oder später nötig sein würde, dann allerdings systematisch, diszipliniert und beharrlich, und dazu war er noch nicht bereit.

Zuerst einmal hielt sich Ricky nicht für besonders geeignet, seinen eigenen Polizeischutz zu übernehmen. Dann aber schüttelte er den Kopf, denn er erkannte, dass das in gewisser Hinsicht vielleicht nicht stimmte. Seit Jahren war er eine Art Detektiv gewesen. Der Unterschied lag genau genommen nur in der Art der Verbrechen, die er untersuchte, und in den Methoden, die er zum Einsatz brachte. Von diesem Gedanken ein wenig gestärkt, setzte sich Ricky Starks wieder an seinen Tisch, griff in die rechte obere Schublade und zog ein altes, ledergebundenes Adressbuch heraus, das an den Ecken völlig zerfleddert war und nur noch von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Fangen wir am besten damit an, den Verwandten zu ermitteln, mit dem diese Person schon Kontakt aufgenommen hat. Es muss sich um einen ehemaligen Patienten handeln, folgerte er weiterhin, einen, der seine Analyse vorzeitig abgebrochen hat und in die Depression verfallen ist. Jemanden, der schon seit Jahren eine nahezu psychotische Fixierung mit sich herumschleppt. Er hoffte, dass er, mit ein bisschen Glück und vielleicht dem einen oder anderen Hinweis von demjenigen Verwandten, dem der Kontakt galt, den erbosten ehemaligen Patienten ausfindig machen konnte. Er versuchte, sich mit allem Nachdruck einzuschärfen, dass der Briefschreiber – Rumpelstilzchen – in Wahrheit einen Hilfeschrei an ihn gerichtet hatte. Doch genauso schnell, wie dieser Wischiwaschi-Gedanke aufkam, ließ er ihn wieder fallen. Das Adressbuch in der Hand, dachte Ricky über die Märchenfigur nach, mit deren Namen der Schreiber unterzeichnet hatte. Grausam, sagte er sich. Ein Zauberer-Zwerg mit einer schwarzen Seele, die sich nicht so leicht austricksen lässt, doch schlichtweg Pech hat und den Wettkampf verliert. Bei dieser Überlegung fühlte er sich nicht unbedingt besser.

Der Brief auf seiner Schreibtischplatte schien zu glühen.

Er nickte langsam. Er sagt dir eine Menge, schloss er trotzig. Bringe die Worte mit dem in Verbindung, was der Schreiber vermutlich bereits getan hat, und du bist ihm aller Wahrscheinlichkeit nach schon halb auf die Schliche gekommen.

Also schob er den Brief zur Seite und schlug das Adressbuch auf, um nach der Nummer der ersten von zweiundfünfzig Personen auf der Liste zu suchen. Er verzog ein wenig das Gesicht, während er die Nummern in die Tastatur eintippte. Im Lauf der letzten zehn Jahre hatte er mit seinen Verwandten kaum Kontakt gehalten, und es war anzunehmen, dass keiner von ihnen erpicht darauf war, von ihm zu hören. Besonders, wenn man bedachte, worum es bei diesem Anruf ging.

2

Ricky Starks hielt sich für denkbar ungeeignet, aus Verwandten, die erstaunt waren, seine Stimme zu hören, irgendwelche Informationen herauszuquetschen. Er war es gewohnt, alles zu verinnerlichen, was er von Patienten in seiner Praxis hörte, und über jede Bemerkung und Erkenntnis sorgsam zu wachen. Doch als er nun eine Nummer nach der anderen wählte, fand er sich auf wenig vertrautem, schwergängigem Gelände wieder. Er sah sich außerstande, einen Leitfaden für seine Gespräche zu ersinnen, mit einer Grußformel am Anfang, gefolgt von einer kurzen Erklärung, was der Grund für seinen Anruf war. Stattdessen hörte er in seiner eigenen Stimme nur Zögern und Unentschlossenheit, während er sich durch Grußfloskeln kämpfte, um eine Antwort auf die dämlichste aller Fragen zu bekommen: Ist dir etwas Ungewöhnliches passiert?

Folglich verbrachte er den Abend mit einer Reihe wirklich irritierender Telefonate. Entweder waren seine Angehörigen überrascht und unangenehm berührt, von ihm zu hören, und wenn es ihnen gerade ungelegen kam, was ihn der eine oder andere auch spüren ließ, wollten sie wissen, weshalb er sich nach so langer Zeit aus heiterem Himmel bei ihnen meldete. Oder sie reagierten schlichtweg unhöflich. Jedes dieser Gespräche hatte etwas Brüskes, und mehr als einmal wurde er ziemlich deutlich abserviert. Mehrfach bekam er kurz angebunden zu hören, »Was zum Teufel soll das eigentlich?«, woraufhin er log, ein ehemaliger Patient habe eine Liste mit den Namen seiner Verwandten in die Finger bekommen und er sei nun besorgt, dieser könne sich bei ihnen melden. Dabei verschwieg er, dass einem von ihnen Gefahr drohen könnte – die, so nahm er an, größte Lüge von allen.

Es ging bereits auf zehn Uhr abends zu, bald Zeit zum Schlafengehen, und er hatte immer noch mehr als zwei Dutzend Namen auf seiner Liste. Bis jetzt hatte er dem, was ihm seine Gesprächspartner zu berichten hatten, noch nichts entnehmen können, was genauere Nachforschungen gerechtfertigt hätte. Zugleich aber war er sich seiner eigenen investigativen Gabe nicht sicher. Die charakteristisch nebulösen Andeutungen in Rumpelstilzchens Brief ließen ihn befürchten, dass ihm irgendein Zusammenhang einfach entgangen war. Außerdem konnte es sein, dass unter den Verwandten, mit denen er bislang kurz gesprochen hatte, derjenige, mit dem der Briefschreiber tatsächlich in Kontakt getreten war, Ricky nicht die Wahrheit sagte. Und unter den Anrufen hatte es frustrierenderweise einige gegeben, bei denen sich niemand meldete. Dreimal hatte er gestelzte, kryptische Nachrichten auf Anrufbeantwortern hinterlassen.

Er erlaubte sich nicht, diesen Brief als eine bloße Farce zu betrachten, so verlockend der Gedanke war. Sein Rücken war völlig steif. Er hatte nichts gegessen, und ihm knurrte der Magen. Ihm dröhnte der Kopf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rieb sich die Augen, bevor er die nächste Nummer wählte. Er fühlte sich erschöpft, spürte, wie ihm die Anspannung in den Schläfen pochte. Die Kopfschmerzen betrachtete er als eine bescheidene Buße für die Wahrheit, die ihm entgegenschlug: dass er sich vom größten Teil seiner Familie isoliert und entfremdet hatte.

Der Preis für die Vernachlässigung, dachte er, als er sich anschickte, den einundzwanzigsten Namen auf Rumpelstilzchens Liste anzuwählen. Vermutlich ist es unrealistisch, von seinen Verwandten zu erwarten, dass sie einen Kontakt nach so vielen Jahren freudig begrüßen, besonders ferne Verwandte, mit denen er wenig Berührungspunkte hatte. Mehr als einer von ihnen schwieg erst einmal, als er seinen Namen hörte, als wüsste er nicht recht, wo er den Anrufer unterbringen sollte. Angesichts dieser Momente des Schweigens fühlte er sich wie ein greiser Eremit, der von seiner Bergspitze heruntersteigt, oder ein Bär in den ersten Minuten nach einem langen Winterschlaf.

Der einundzwanzigste Name klang nur entfernt vertraut. Er strengte sich an, mit den Buchstaben auf dem Blatt ein Gesicht zu verbinden und dann den Verwandtschaftsgrad zu ermitteln. Langsam nahm ein Bild in seinem Kopf Gestalt an. Seine ältere Schwester, die vor zehn Jahren verstorben war, hatte zwei Söhne hinterlassen, und der hier war der ältere von den beiden. Dies machte Ricky zu einem ziemlich unbedeutenden Onkel. Seit der Beerdigung seiner Schwester hatte er mit keiner Nichte und keinem Neffen mehr Kontakt gehabt. Er zermarterte sich das Hirn, um mit dem Namen mehr als nur das Aussehen zu verbinden. Hatte dieser Name auf der Liste eine Frau? Familie? Eine berufliche Karriere? Wer war der Mann?

Ricky schüttelte den Kopf. Er hatte eine Niete gezogen. Am Gerippe dieses Namens war nicht mehr Fleisch als an irgendeinem wahllos aus dem Telefonbuch gegriffenen. Er war wütend auf sich selbst. Das ist nicht in Ordnung, wies er sich zurecht, irgendwas musst du von dem doch wissen. Er stellte sich seine Schwester vor, die fünfzehn Jahre älter gewesen war, eine Alterskluft, mit der sie zwar in derselben Familie aufgewachsen, doch auf vollkommen verschiedenen Umlaufbahnen gekreist waren. Sie war die Älteste, er selbst ein Betriebsunfall, der ewige Nachzügler der Familie. Sie war Dichterin gewesen, hatte in den Fünfzigern an einem wohlsituierten Frauen-College ihren Abschluss gemacht, um anschließend ins Verlagswesen zu gehen und dann eine gute Partie zu machen – einen Anwalt für Unternehmensrecht aus Boston. Ihre beiden Söhne lebten in Neuengland.

Ricky starrte auf den Namen auf dem Blatt. Da stand eine Adresse in Deerfield, Massachusetts, im Vorwahlbezirk 413. Plötzlich brach eine Flut von Erinnerungen über ihn herein. Der Sohn unterrichtete an der Privatschule in jener Stadt. Welche Fächer?, hakte Ricky nach. Die Antwort kam ihm binnen Sekunden: Geschichte. Die Geschichte der Vereinigten Staaten. Er kniff einen Moment die Augen zu und hatte ein Bild vor seinem geistigen Auge: ein kleiner, drahtiger Mann, Tweedjacke und Hornbrille, dunkelblond, mit fortschreitendem Haarausfall. Ein Mann mit einer Frau, die gut fünf Zentimeter größer war als er. Er seufzte und griff, zumindest mit einem bescheidenen Bündel Informationen gerüstet, zum Telefon.

Er wählte die Nummer und horchte auf die etwa sechs Klingelzeichen, bevor sich eine unverkennbar jugendliche Stimme meldete. Tief, doch erwartungsvoll.

»Hallo?«

»Hallo«, sagte Ricky, »ich versuche, Timothy Graham zu erreichen. Sein Onkel Frederick am Apparat. Dr. Frederick Starks …«

»Hier spricht Tim junior.«

Ricky überlegte einen Moment, bevor er sagte: »Hallo, Tim junior. Ich glaube, wir sind uns noch gar nicht be…«

»Doch, sind wir. Einmal. Ich kann mich noch erinnern. Zu Großmutters Beerdigung. Du hast in der Kirche direkt hinter meinen Eltern in der zweiten Reihe gesessen und du hast meinem Dad erzählt, es sei ein Segen, dass Oma ein längeres Siechtum erspart geblieben sei. Ich weiß noch, was du gesagt hast, weil ich es damals nicht verstanden habe.«

»Du musst …«

»Sieben. Ich war sieben.«

»Und jetzt bist du …«

»Ich werde siebzehn.«

»Du hast offenbar ein gutes Gedächtnis, wenn du dich an eine einzige Begegnung erinnern kannst.«

Der junge Mann überlegte einen Moment, bevor er erwiderte, »Großmutters Beerdigung hat mich damals sehr beeindruckt.« Er führte das nicht weiter aus, sondern wechselte das Thema. »Du willst Dad sprechen?«

»Ja, wenn es geht.«

»Wieso?«

Ricky fand die Frage ungewöhnlich für einen Siebzehnjährigen. Nicht weil Tim junior das wissen wollte, denn Neugier war in diesem Alter ganz natürlich. Doch in diesem Zusammenhang klang es ein wenig, als wolle er seinen Vater beschützen. Die meisten Teenager, dachte Ricky, hätten einfach nur nach ihrem Vater gebrüllt, um ihm das Telefon in die Hand zu drücken und sich wieder an das zu begeben, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren, ob Fernsehen oder Hausaufgaben oder Videospielen, denn ein Anruf aus heiterem Himmel von einem entfernten Verwandten war nicht unbedingt etwas, das auf ihrer Prioritätenliste ganz oben stand.

»Na ja, mein Anliegen ist etwas seltsam«, sagte er.

»War ein seltsamer Tag hier«, erwiderte der Teenager.

Bei dieser Bemerkung war Ricky hellwach. »Wie das?«, fragte er.

Doch der Teenager beantwortete die Frage nicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Dad im Moment reden möchte, es sei denn, er weiß, worum es geht.«

»Nun ja«, sagte Ricky vorsichtig, »ich denke, was ich ihm zu sagen habe, wird ihn interessieren.«

Timothy junior ließ diese Auskunft sacken, bevor er antwortete, »Mein Dad ist im Moment beschäftigt. Die Cops sind noch da.«

Ricky schnappte nach Luft. »Die Polizei? Ist was passiert?«

Der Teenager ignorierte die Frage, um selbst eine zu stellen. »Wieso rufst du an? Ich meine, wir haben ewig nichts von dir gehört, seit …«

»Vielen Jahren, mindestens zehn. Seit der Beerdigung deiner Großmutter.«

»Ja, eben, hatte ich mir schon gedacht. Und wieso auf einmal jetzt?«

Ricky musste einräumen, dass der Junge zu Recht misstrauisch war. Er wechselte zu seiner Standardrede. »Ein ehemaliger Patient von mir – du erinnerst dich, dass ich Arzt bin, Tim, nicht? – könnte versuchen, mit einigen meiner Verwandten in Verbindung zu treten. Und auch wenn wir in all den Jahren keinen Kontakt hatten, möchte ich die Leute warnen. Deshalb rufe ich an.«

»Was ist das für ein Patient? Du bist Seelenklempner, oder?«

»Psychoanalytiker.«

»Und dieser Patient? Ist der gefährlich? Oder verrückt? Oder beides?«

»Ich denke, darüber sollte ich mich mit deinem Dad unterhalten.«

»Wie gesagt, er redet im Moment mit der Polizei. Ich glaube, sie gehen gerade.«

»Wieso spricht er mit der Polizei?«

»Das hat mit meiner Schwester zu tun.«

»Was hat mit deiner Schwester zu tun?« Ricky versuchte, sich an den Namen des Mädchens zu erinnern und sie sich vorzustellen, doch ihm dämmerte nur das Bild eines kleinen, blonden Mädchens, das ein paar Jahre jünger als ihr Bruder war. Er entsann sich, wie die beiden nach der Beisetzung seiner Schwester unbehaglich steif, dunkel gekleidet, schweigsam, doch nur mühsam beherrscht beiseite gesessen und sehnlichst darauf gewartet hatten, dass der feierliche Ton der Versammlung verflog und Normalität eintrat.

»Jemand ist ihr gefolgt …«, fing der Teenager an, unterbrach sich aber an dieser Stelle. »Ich glaube, ich hol mal meinen Vater«, sagte er energisch. Ricky hörte das Telefon auf einer Tischplatte klappern und verhaltene Stimmen im Hintergrund.

Wenig später nahm jemand das Telefon, und Ricky hörte eine Stimme, die der des Teenagers zum Verwechseln ähnelte, bis auf den matten, erschöpften Ton. Zugleich klang die Stimme gehetzt, wie unter Druck und hilflos unentschlossen. Ricky hielt sich zugute, ein Stimmenexperte zu sein – aus Modulation und Tonlage, aus Wortwahl und Sprechtempo Schlüsse ziehen zu können auf das, was sich dahinter verbarg. Der Vater des Teenagers kam gleich zur Sache.

»Onkel Frederick? Das kommt höchst überraschend, und ich stecke hier mitten in einer familiären Krise, ich kann also nur hoffen, dass es wirklich wichtig ist. Was kann ich für dich tun?«

»Hallo, Tim. Tut mir leid, dass ich so mit der Tür ins Haus falle …«

»Schon in Ordnung. Tim junior sagt, es gehe um eine Warnung …«

»Gewissermaßen, ja. Ich habe heute einen etwas kryptischen Brief von jemandem bekommen, der ein ehemaliger Patient sein könnte. Man könnte sagen, dass darin eine Drohung anklingt. Die galt in erster Linie mir. Aber aus dem Brief geht auch hervor, dass der Schreiber mit einem meiner Verwandten Kontakt aufnehmen will. Ich hab in der Familie rumtelefoniert, damit alle Bescheid wissen und um festzustellen, ob er sich schon bei einem von ihnen gemeldet hat.«

Es herrschte tödliches, eisiges Schweigen.

»Was für ein Patient?«, nahm Tim senior in scharfem Ton die Frage seines Sohnes auf. »Ist er gefährlich?«

»Ich weiß nicht, wer genau. Der Brief war nicht unterschrieben. Ich vermute nur, dass es ein ehemaliger Patient ist, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich bis jetzt im Grunde noch gar nichts über ihn.«

»Das klingt vage. Höchst vage.«

»Das stimmt. Tut mir leid.«

»Nimmst du die Drohung ernst?«

Ricky hörte einen schroffen Unterton heraus.

»Ich weiß es nicht. Wie du siehst, hat es mich so beunruhigt, dass ich ein paar Telefonate mache.«

»Warst du bei der Polizei?«

»Nein. Mir einen Brief zu schicken verstößt nicht gegen das Gesetz, oder?«

»Genau das haben mir die Scheißkerle auch gerade gesagt.«

»Pardon?«

»Diese Bullen. Ich hab die Polizei gerufen, und dann kommen die doch wahrhaftig bis hier raus, nur um mir mitzuteilen, dass sie nichts machen können.«

»Weshalb hast du die Polizei gerufen?«

Timothy Graham antwortete nicht sofort. Er schien erst einmal tief Luft zu holen, doch dies hatte offenbar keine beruhigende, sondern die gegenteilige Wirkung, so dass sich der aufgestaute Zorn entlud.

»Es war widerwärtig. Irgend so ein krankes Arschloch. So ein schleimiger, kranker Hurensohn. Wenn ich den je in die Finger krieg, bring ich ihn eigenhändig um. Ist dein ehemaliger Patient ein krankes Arschloch, Onkel Frederick?«

Der plötzliche Schwall Obszönitäten erschreckte Ricky. Für einen stillen, höflichen, unscheinbaren Geschichtsprofessor an einer exklusiven, konservativen Privatschule war dieser Ausbruch gänzlich uncharakteristisch. Ricky schwieg, weil er zunächst nicht recht wusste, wie er reagieren sollte.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Erzähl, was passiert ist, dass du so aufgebracht bist.«

Wieder zögerte Tim senior und holte tief Luft, ein Geräusch, das in der Leitung wie das Zischen einer Schlange klang. »An ihrem Geburtstag, ist das zu fassen? Ausgerechnet an ihrem vierzehnten Geburtstag. Das ist einfach widerwärtig …«

Ricky saß plötzlich senkrecht auf seinem Stuhl. Hinter seinen Augen blitzte die Erinnerung auf wie eine Explosion. Ihm wurde bewusst, dass er die Verbindung sofort hätte sehen müssen. Unter all seinen Verwandten gab es nur einen Menschen, der aufgrund eines kuriosen Zufalls den gleichen Geburtstag hatte wie er. Das kleine Mädchen, dessen Gesicht er sich nur mühsam ins Gedächtnis rufen konnte und dem er nur ein einziges Mal, auf der Beerdigung, begegnet war. Er machte sich Vorwürfe: Das hier hätte dein erster Anruf sein müssen. Doch er riss sich zusammen, so dass ihm die Überlegung nicht anzumerken war.

»Was ist denn passiert?«, fragte er geradeheraus.

»Jemand hat ihr in der Schule eine Geburtstagskarte in den Spind gelegt. Weißt du, eine von diesen niedlichen, überdimensionierten, kitschig sentimentalen Karten, die man in den Malls bekommt. Ich kann mir immer noch keinen Reim drauf machen, wie das Arschloch den Spind aufgekriegt hat, ohne dass ihn jemand sieht. Ich meine, wo zum Teufel war der Sicherheitsdienst? Na jedenfalls hat Mindy, als sie in die Schule kam, die Karte gefunden und gedacht, sie wäre von einer ihrer Freundinnen. Also macht sie sie auf. Und weißt du was? Die Karte war vollgestopft mit widerwärtiger Pornografie. Richtig harter Porno in Multicolor. Bilder von Frauen, die mit Stricken, Ketten und Lederzeug gefesselt sind und in jeder erdenklichen Art und Weise mit allen möglichen Hilfsmitteln penetriert werden. Richtig hartes Zeug, im höchsten Maße jugendgefährdend. Und auf der Karte stand: Das werde ich mit dir machen, sobald ich dich allein erwische …«

Ricky rutschte auf dem Sitz hin und her. Rumpelstilzchen, dachte er.

Ins Telefon fragte er nur, »Und die Polizei? Was haben die dazu gesagt?«

Timothy Graham schnaubte verächtlich, und Ricky stellte sich vor, wie seine weniger einsatzfreudigen Schüler über die Jahre dieses Schnauben zu hören bekamen und vor Angst erstarrten, auch wenn es im gegenwärtigen Zusammenhang eher Frust und Ohnmacht zum Ausdruck brachte.

»Die Polizisten hier«, sagte er mit Nachdruck, »sind Idioten. Ausgemachte Vollidioten. Wollen mir glatt weismachen, dass sie nichts tun können, solange Mindy nicht nachweislich und aktiv von jemandem verfolgt wird. Sie brauchen einen eindeutigen Tatbestand. Mit anderen Worten: Das Schwein muss erst tätlich werden. Trottel. Die halten den Brief und das, was drin war, für einen Streich. Vermutlich ein älterer Schüler aus gutem Hause. Vielleicht jemand, dem ich im letzten Semester ’ne miese Note verpasst habe. Natürlich kann man die Möglichkeit an diesem Institut nicht ganz ausschließen, aber …« Der Geschichtsprofessor hielt inne. »Willst du mir nicht was über deinen ehemaligen Patienten erzählen? Ist er ein Sexualstraftäter?«

Jetzt schwieg Ricky, bevor er sagte: »Nein. Keineswegs. Das klingt überhaupt nicht nach ihm. Im Grunde ist er harmlos. Nur ein bisschen irritierend.«

Er fragte sich, ob sein Neffe den falschen Ton heraushören würde. Er bezweifelte es. Der Mann war in Rage, erregt und empört und würde es vermutlich eine Zeitlang nicht merken, wenn Ricky die Wahrheit strapazierte. Timothy Graham reagierte nicht sofort. »Ich bring ihn um«, sagte er dann. »Mindy ist schon den ganzen Tag in Tränen aufgelöst. Sie ist davon überzeugt, dass da draußen jemand rumläuft, der sie vergewaltigen will. Sie ist gerade mal vierzehn geworden und hat in ihrem ganzen Leben noch keiner Fliege was zuleide getan, sie ist äußerst leicht zu beeinflussen, und sie ist noch nie mit solchem Schund konfrontiert worden. Bis gestern hat sie noch mit Teddybären und Barbiepuppen gespielt. Ich bezweifle, dass sie heute Nacht und in den nächsten Tagen viel Schlaf bekommt. Ich kann nur hoffen, dass die Angst sie nicht verändert hat.«

Ricky sagte nichts, und der Geschichtsprofessor fuhr nach einer Atempause fort: »Ist das möglich, Onkel Frederick? Du bist doch verdammt noch mal der Spezialist auf dem Gebiet. Kann sich das Leben für einen so schnell ändern?«

Wieder antwortete er nicht, doch die Frage hallte in seinem Innern nach.

»Es ist schrecklich, weißt du. Einfach schrecklich«, brach es aus Timothy Graham heraus. »Da setzt du alles daran, deine Kinder davor zu schützen, wie krank und böse diese Welt im Grunde ist, und dann bist du einen Moment nicht auf der Hut und patsch, hat’s dich erwischt. Das mag nicht der schlimmste Fall sein, wie jemand seine Unschuld verliert, du hast bestimmt schon Schlimmeres gehört, Onkel Frederick, aber schließlich nicht von deiner geliebten kleinen Tochter, die keiner Menschenseele was getan hat und sich an ihrem vierzehnten Geburtstag die Augen ausheult, weil ihr irgendjemand irgendwo Leid zufügen will.«

Und mit diesen Worten legte der Geschichtsprofessor auf.

 

Ricky Starks lehnte sich an seinem Schreibtisch zurück. Mit einem langen Pfeifton ließ er die Luft durch die Zähne entweichen.

Irgendwie war er von dem, was Rumpelstilzchen getan hatte, zugleich aufgebracht und fasziniert. Er sondierte seine Informationen. Die Botschaft, die Rumpelstilzchen dem jungen Mädchen geschickt hatte, war alles andere als spontan, sondern in ihrer Wirkung eiskalt kalkuliert. Offenbar hatte er auch einige Zeit investiert, um dieses Kind auszukundschaften. Darüber hinaus sprach seine Vorgehensweise für ein paar Fähigkeiten, die Ricky, wie er vermutete, im Auge behalten sollte. Rumpelstilzchen war es gelungen, am Sicherheitsdienst der Schule vorbeizukommen, und er besaß die Fertigkeit eines Einbrechers, ein Schloss aufzusperren, ohne es zu beschädigen. Er hatte es geschafft, die Schule ebenso unentdeckt zu verlassen, und sich in West Massachusetts sofort auf den Highway nach New York begeben, um seine zweite Botschaft in Rickys Wartezimmer zu hinterlegen. Das Timing war nicht weiter schwierig; die Fahrt war nicht lang, vielleicht vier Stunden. Doch es sprach für eine sorgfältige Planung.

Aber das war es gar nicht mal, was Ricky zu schaffen machte. Wieder rutschte er unruhig auf seinem Sitz herum.

Die Worte seines Neffen schienen in der Praxis nachzuhallen, als würden sie wie ein Spielball zwischen den Wänden hin und her geworfen, als strahlten sie heiß in den Raum dazwischen aus: verlorene Unschuld.

Ricky dachte über diese Worte nach. Manchmal sagte ein Patient im Verlauf einer Sitzung etwas, das eine elektrifizierende Wirkung hatte, weil es sich dabei um Momente des Verstehens, um Erkenntnisblitze handelte, um Einsichten, bei denen es nur so knisterte und die den Durchbruch versprachen. Das waren die Momente, um die es jedem Analytiker ging. Gewöhnlich hatten sie etwas Abenteuerliches, überaus Befriedigendes an sich, weil sie auf dem langen Behandlungsweg Erfolg signalisierten.

Diesmal nicht.

Zusammen mit der Angst kroch Ricky unabweislich die Verzweiflung den Rücken hoch.

Rumpelstilzchen hatte seine Großnichte in einem Moment kindlicher Verletzlichkeit attackiert. Er hatte sich dazu einen Zeitpunkt gewählt, der im Gefüge der Erinnerungen als freudiger Aufbruch hätte haften bleiben sollen – den Zeitpunkt ihres vierzehnten Geburtstags. Und dann hatte er ihn ins Hässliche und Furchterregende verkehrt. Die Bedrohung hätte kaum tiefgreifender und provozierender sein können.

Ricky fasste sich an die Stirn, als fieberte er plötzlich. Es verwunderte ihn, dass er nicht schwitzte. Mit etwas Bedrohlichem, überlegte er, verbinden wir sofort etwas, das unsere Sicherheit gefährdet. Ein Mann mit einer Pistole oder einem Messer und einer sexuellen Obsession. Oder ein Betrunkener am Steuer, der auf dem Highway fahrlässig auf die Tube drückt. Oder irgendeine heimtückische, schleichende Krankheit wie die, an der seine Frau gestorben war.

Ricky stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. Wir haben Angst davor, getötet zu werden. Dabei ist es viel schlimmer, vernichtet zu werden.

Er warf einen Blick auf Rumpelstilzchens Brief. Vernichten. Er hatte das Wort in einem Atemzug mit zerstören verwandt.

Sein Gegner war jemand, der wusste, dass die eigentliche Bedrohung, der wir am wenigsten entgegenzusetzen haben, von innen kommt. Die Qual und die Nachwirkungen eines Albtraums können weitaus schlimmer sein als die eines Faustschlags. Und selbst dann ist es zuweilen nicht so sehr die Faust als solche, die den entscheidenden Schmerz verursacht, sondern die Gefühle dahinter. Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu dem kleinen Bücherregal um, das an einer der Seitenwände im Praxiszimmer stand. Darin waren Texte in Reihen angeordnet – größtenteils medizinische Texte und Fachzeitschriften. Diese Bücher enthielten buchstäblich hunderttausende Wörter, die mit klinischer Präzision eiskalt die Bandbreite menschlicher Gefühle sezierten. Von einem Moment zum anderen begriff er, dass ihm all dieses Wissen höchst wahrscheinlich nicht das Geringste nützen würde.

Am liebsten hätte er eins dieser Lehrbücher aus einem dieser Fächer geholt, im Index unter R wie Rumpelstilzchen nachgeschaut und dann die Seite aufgeschlagen, auf der eine nüchterne, schnörkellose Beschreibung des Mannes zu finden war, der ihm den Brief geschrieben hatte. Ihn überkam eine erneute Woge der Angst, als er sich klar machte, dass es keinen solchen Eintrag gab. Und er merkte, wie er sich von den Büchern abwandte, die bis zu diesem Moment seine berufliche Laufbahn geprägt hatten, und erinnerte sich stattdessen an jene Stelle in einem Roman, den er seit seinen College-Zeiten nicht mehr gelesen hatte. Ratten, dachte Ricky. Sie sperrten Winston Smith in einen Raum mit Ratten, da sie wussten, dass sonst nichts auf dieser Welt ihn wahrhaft in Angst und Schrecken versetzte. Der Tod nicht, ebenso wenig Folter. Ratten.

Er sah sich in seiner Wohnung und seinem Sprechzimmer um, einem Ort, der viel über ihn verriet, an dem er viele Jahre glücklich und zufrieden gewesen war. In dieser Sekunde fragte er sich, ob sich das von jetzt an grundlegend ändern und ob sich diese Räumlichkeiten in seinen eigenen fiktionalen Raum 101 verwandeln würden. Den Ort, an dem sie »die schlimmste Sache der Welt« bereithielten.

3

Es war jetzt genau Mitternacht, und er fühlte sich töricht und vollkommen allein.

Sein Sprechzimmer war mit Schnellheftern und Zetteln übersät, mit stapelweise Stenoblocks, großformatigen losen Blättern und einem altmodischen Diktiergerät, das seit zehn Jahren unter einem Stapel passender Kassetten geschlummert hatte. Diese Haufen stellten die magere Ausbeute an Dokumentationsmaterial dar, das er im Lauf der Jahre über seine Patienten angesammelt hatte. Sie bargen Notizen über Träume, hingekritzelte Einträge, die aufschlussreiche Assoziationen seiner Patienten festhielten oder auch solche, die ihm selbst im Verlauf einer Behandlung gekommen waren: Schlüsselbegriffe, -wendungen, -erinnerungen. Hätte man in einer Skulptur den Gedanken zum Ausdruck bringen wollen, dass die Psychoanalyse so sehr eine Kunst wie eine medizinische Wissenschaft war, dann hätte man kaum eine bessere Formgebung finden können als das Durcheinander, das ihn umgab. Er verfügte über keine ordentlichen Formulare, auf denen Größe, Gewicht, Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit verzeichnet waren; über keine alphabetisch geordneten Patientenakten mit Blutdruck, Körpertemperatur, Urinproben oder Puls. Ricky Starks konnte nicht einmal auf Krankenblätter mit Namen, Adressen, nächsten Angehörigen und Diagnosen zurückgreifen.

Ricky Starks war kein Internist oder Kardiologe oder Pathologe, der bei jedem Patienten nach einer klaren Antwort auf ein Leiden suchte und der en detail Behandlung und Heilungsverlauf notierte und dokumentierte. Seine Fachrichtung trotzte den wissenschaftlichen Methoden, die andere Disziplinen beherrschten. Diese Besonderheit stempelte den Psychoanalytiker zu einer Art medizinischem Außenseiter und war genau das, was die vielen Männer und Frauen, die sich zu dieser Sparte hingezogen fühlten, so faszinierte.

In diesem Moment jedoch stand Ricky inmitten des wachsenden Durcheinanders und fühlte sich wie ein Mann, der nach einem Wirbelsturm zum ersten Mal aus dem unterirdischen Bunker tritt. Es kam ihm so vor, als hätte er bis jetzt ganz einfach ignoriert, was für ein Chaos sein Leben war, bis diese Urgewalt hindurchfegte und sein sorgsam ausbalanciertes Gefüge aus den Angeln hob. Wahrscheinlich musste der Versuch, die Patienten aus mehreren Jahrzehnten sowie hunderte tägliche Therapien zu sichten, von vornherein scheitern.

Zumal ihm schon jetzt dämmerte, dass Rumpelstilzchen nicht darunter war.

Zumindest nicht in erkennbarer Form.

Ricky war sich absolut sicher, dass er den Kerl, der diesen Brief geschrieben hatte, wiedererkennen würde, falls er jemals zu einer Therapie von nennenswerter Dauer auf seiner Couch gelegen hatte. Der Ton. Der Stil. Sämtliche Spielarten von Ärger, Wut und Zorn. Für ihn wären diese Elemente so charakteristisch und unverwechselbar wie ein Fingerabdruck für einen Kriminalisten. Verräterische Eigenarten, die ihm nicht entgehen konnten.

Er wusste, dass diese These nicht eben bescheiden war. Und bevor er nicht einiges mehr über den Mann herausfand, hielt er es für keine gute Idee, Rumpelstilzchen zu unterschätzen. Mit Sicherheit konnte er allerdings sagen, dass kein Patient, den er je mit einer gewöhnlichen Analyse behandelt hatte, Jahre später so verändert, so zornig und verbittert in seiner Praxis auftauchen konnte, dass er nicht merkte, wer es war. Sie mochten zurückkehren und immer noch die inneren Wunden tragen, deretwegen sie überhaupt gekommen waren. Sie mochten enttäuscht sein und Theater machen, da die Analyse nun einmal nicht wie eine Art Antibiotikum auf die Seele wirkt; da sie nicht verhindern kann, dass sich ein paar Patienten den Bazillus lähmender Verzweiflung wiederholt einfangen. Sie mochten wütend sein, weil sie glaubten, Jahre mit Reden vergeudet zu haben, ohne dass sich etwas tat. All das war möglich, auch wenn es in Rickys nahezu dreißigjähriger Praxis nur wenige solche Fehlschläge gegeben hatte. Jedenfalls soweit er wusste. Doch er bildete sich nicht ein, dass jede Behandlung, egal wie lang sie dauerte, ausnahmslos vollkommen erfolgreich war. Notgedrungen waren manche Therapien weniger triumphal als andere.

Es war unvermeidlich, dass er einigen Menschen nicht hatte helfen können. Oder nur bedingt. Oder dass sie nach den Einsichten, die die Therapie ihnen vermittelt hatte, in ein früheres Stadium zurückfielen und sich bald wieder erdrückt und verzweifelt fühlten.

Rumpelstilzchen dagegen bot ein völlig anderes Persönlichkeitsbild. Der Tenor des Briefs wie auch die Botschaft an seine vierzehnjährige Großnichte sprachen für ein aggressives, berechnendes Profil und pervers übersteigertes Selbstvertrauen. Ein Psychopath, dachte Ricky – ein klinisches Etikett für einen Menschen, von dem er bislang nur eine verschwommene Vorstellung hatte. Das sollte nicht heißen, dass er über die Jahrzehnte seiner beruflichen Praxis nicht Menschen mit psychopathischen Neigungen behandelt hätte. Jedoch keinen, der einen solch abgründigen Hass und eine solche Fixierung an den Tag gelegt hätte wie Rumpelstilzchen. Und dennoch musste sich hinter dem Briefschreiber jemand verbergen, den er nicht gerade erfolgreich behandelt hatte.

Die Kunst, erkannte er, bestand darin herauszufinden, welche früheren Patienten dafür infrage kamen und ob diese dann zu Rumpelstilzchen führten. Denn nach mehreren Stunden intensiver Überlegung stand für ihn fest, dass hier die Verbindung liegen musste. Derjenige, der wollte, dass er sich das Leben nahm, war das Kind, der Ehepartner oder Liebhaber eines solchen Patienten. Somit, dachte Ricky angriffslustig, musste er sich als erstes in Erinnerung rufen, welcher Patient seine Behandlung in der labilsten Verfassung abgebrochen hatte. Sobald er ihn gefunden hatte, konnte er die Spur weiter zurückverfolgen.

Inmitten des heillosen Durcheinanders, das er angerichtet hatte, manövrierte er sich zu seinem Schreibtisch zurück und nahm Rumpelstilzchens Brief zur Hand. Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit. Ricky bohrte den Blick in das Blatt, bevor er sich wieder seinen quer übers Zimmer verstreuten Notizstapeln widmete.

Na schön, sagte er sich. Die erste Aufgabe wird darin bestehen, meinen beruflichen Werdegang systematisch aufzuarbeiten. Die Abschnitte zu finden, die wir ausklammern können.

Er seufzte laut. Hatte er als Assistenzarzt vor über fünfundzwanzig Jahren einen Fehler gemacht, der ihn nunmehr einholte? Konnte er sich an jene ersten Patienten überhaupt erinnern? Während seiner Ausbildung als Psychoanalytiker war er an einer Studie mit paranoiden Schizophrenen beteiligt gewesen, die in die Psychiatrie des Bellevue Hospital eingewiesen worden waren. Bei der Studie war es darum gegangen, Faktoren zu bestimmen, die auf künftige Gewaltverbrechen schließen ließen, und sie war gescheitert. Doch er hatte einige Behandlungspläne für Männer kennengelernt und mit erarbeitet, die weiterhin schwere Verbrechen begingen. Nie wieder war er in solche Nähe zur forensischen Psychiatrie gelangt, und es hatte ihm nicht sonderlich behagt. Als seine Arbeit an der Studie abgeschlossen war, hatte er sich augenblicklich wieder in die weitaus sicherere und physisch weniger strapaziöse Welt von Freud und Co. zurückgezogen.

Ricky hatte plötzlich so großen Durst, als ob ihm die Kehle ausgetrocknet wäre.

Ihm wurde bewusst, dass er von Kriminalistik und von Kriminellen praktisch keine Ahnung hatte. Das Gebiet hatte ihn einfach nie interessiert. Er bezweifelte, dass es unter seinen Bekannten überhaupt irgendeinen forensischen Psychiater gab. Bei den sehr wenigen Freundschaften und Bekanntschaften in Kollegenkreisen, die er regelmäßig pflegte, fand sich jedenfalls nicht einer.

Er schielte zu den Lehrbüchern in seinen Regalen hinüber. Da stand Krafft-Ebing mit seiner richtungweisenden Arbeit über sexuelle Psychopathologie. Doch damit hörte es auch schon auf, und ungeachtet der pornografischen Botschaft, die er Rickys Großnichte untergejubelt hatte, hegte er eher Zweifel, dass Rumpelstilzchen ein sexueller Psychopath war.

»Wer bist du?«, fragte er laut in den Raum hinein.

Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, sagte er gedehnt. »Zuerst einmal: Was bist du?« Wenn ich das herausgefunden habe, sagte er sich, kann ich beantworten, wer du bist.

Ich kann das, dachte Ricky, um sich selbst Mut zu machen. Morgen setze ich mich hin, zermartere mir das Hirn und erstelle eine Liste mit ehemaligen Patienten. Ich werde sie in Kategorien einteilen, die sämtliche Stadien meines Berufslebens repräsentieren. Dann werde ich mit den Nachforschungen beginnen. Den Behandlungsfehlschlag entdecken, der mich mit diesem Kerl, diesem Rumpelstilzchen, in Verbindung bringt.

Erschöpft und keineswegs sicher, dass er schon irgendwie weitergekommen war, stolperte Ricky aus seiner Praxis in sein kleines Schlafzimmer. Es war ein Raum von mönchischer Einfachheit, mit einem Nachttisch, einer Kommode, einem bescheidenen Kleiderschrank und einem Einzelbett. Früher einmal hatte hier ein Doppelbett mit einem reich verzierten Kopfende gestanden, hatten farbenprächtige Bilder die Wände geschmückt, doch nach dem Tod seiner Frau hatte er ihr Bett verschenkt und gegen etwas Einfacheres, Schmaleres getauscht. Auch der fröhliche Nippes und die anderen kunsthandwerklichen Gegenstände, die seine Frau gesammelt hatte, waren größtenteils verschwunden. Ihre Kleider hatte er Wohltätigkeitsorganisationen gespendet, ihren Schmuck und ihre persönlichen Habseligkeiten waren an die drei Nichten ihrer Schwester gegangen. Auf der Kommode hatte er ein Foto von ihnen beiden aufgestellt, das sie fünfzehn Jahre zuvor an einem klaren, azurblauen Sommermorgen im Garten ihres Bauernhauses in Wellfleet aufgenommen hatten. Seit ihrem Tod hatte er allerdings die meisten anderen sichtbaren Dinge, die an sie erinnerten, getilgt. Ein langsamer, qualvoller Tod, und dann drei Jahre lang das Verwischen sämtlicher Spuren.

Ricky schlüpfte aus seinen Kleidern und nahm sich die Zeit, die Hose sorgsam zu falten und seinen blauen Blazer aufzuhängen. Das Anzughemd, das er trug, wanderte in den Wäschekorb. Die Krawatte ließ er auf die Kommode fallen. Dann plumpste er in Unterwäsche aufs Bett und wünschte sich mehr Energie. In der Nachttischschublade bewahrte er ein Gläschen mit selten gebrauchten Schlaftabletten auf. Auch wenn ihr Verfallsdatum reichlich überschritten war, würden sie ihren Zweck erfüllen. Er schluckte eine Pille und noch ein winziges Stück von einer zweiten und hoffte, dass sie ihn schnell in einen betäubenden Tiefschlaf versetzten.

Einen Moment lang blieb er sitzen und strich mit der Hand über die raue Baumwolle des Bettbezugs, und ihm wurde bewusst, wie scheinheilig es war, wenn sich ein Psychoanalytiker schlafen legte und verzweifelt wünschte, dass ihn keine Träume quälten. Träume waren wichtig, sie waren unbewusste Rätsel, die den Gemütszustand spiegelten. Das wusste er sehr wohl, und gewöhnlich ließ er sich gerne von ihnen leiten. In dieser Nacht jedoch fühlte er sich völlig überfordert, und so legte er sich benommen auf den Rücken, fühlte seinen immer noch beschleunigten Puls und wartete sehnsüchtig, dass das eingenommene Mittel ihn über die Schwelle ins Dunkel beförderte. Ein einziger Drohbrief hatte ihn völlig ausgelaugt, und er fühlte sich in diesem Moment viel älter als die dreiundfünfzig Jahre, die er gerade vollendet hatte.

 

Seine erste Patientin an diesem letzten Tag vor seinem geplanten vierwöchigen Sommerurlaub traf pünktlich um sieben Uhr morgens ein und meldete sich mit dreimaligem Klingeln im Wartezimmer. Die Sitzung verlief seiner Meinung nach gut. Nichts Aufregendes, nichts, was aus dem Rahmen fiel, immerhin aber ein kleiner Schritt zur Besserung. Die junge Frau auf der Couch war Sozialarbeiterin in ihrem dritten Jahr in der Psychiatrie, die ihren Abschluss als Psychoanalytikerin ohne Medizinstudium anstrebte. Auch wenn dies weder der effizienteste noch der leichteste Weg zum Berufsabschluss war und natürlich den Missmut seiner dogmatischeren Kollegen erregte, hatte er einen solchen Werdegang immer bewundert. Er setzte wahre Leidenschaft für diese Tätigkeit voraus, einen unbeirrbaren Glauben an die Segnungen der Couch. Nicht selten gestand er sich ein, dass er aus dem Doktorgrad, der seinen Namen schmückte, so gut wie keinen Nutzen hatte ziehen können. Die Therapie der jungen Frau konzentrierte sich auf ein übermäßig aggressives Elternpaar, das während ihrer Kindheit eine leistungsorientierte, zuneigungsarme Atmosphäre verbreitet hatte. Infolgedessen war sie bei ihren Sitzungen mit Ricky oft ungeduldig auf Erkenntnisse aus, die sich mit ihrer Fachlektüre und Seminararbeit am Institut für Psychoanalyse im Zentrum Manhattans deckten. Ricky musste sie daher ständig zügeln und ihr begreiflich machen, dass die Kenntnis von Fakten nicht dasselbe wie intuitive Einsicht war.

Als er leise hüstelte, die Stellung wechselte und sagte: »Also, leider ist unsere Zeit für heute um«, seufzte die junge Frau, die gerade einen neuen Liebhaber von zweifelhaftem Potential beschrieben hatte. »Na ja, sehen wir mal, ob es ihn in einem Monat noch gibt …« – worüber Ricky schmunzeln musste.

Die Patientin schwang die Beine von der Couch und sagte: »Dann einen schönen Urlaub, Doktor Starks. Wir sehen uns nach dem Labour Day.« Damit schnappte sie sich ihre Handtasche und verließ mit wenigen Schritten das Behandlungszimmer.

Der ganze Tag schien sich in Routine und Normalität zu erschöpfen.