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Dies ist der erste von fünf Bänden, die in den bayrischen Bergen spielen und in denen neben dem urwüchsig-kauzigen Wurzelsepp der Märchenkönig Ludwig II. auftritt. Geschichten von Liebe und Hass, Jagd auf einen Wilderer, Rettung aus Bergnot sind nur einige der vielen spannenden Themen. Die vorliegende Erzählung spielt in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Bearbeitung aus dem 1886/1887 geschriebenen Kolportageroman "Der Weg zum Glück". Fortsetzung in Band 67 "Der Silberbauer". Weitere Episoden aus "Der Weg zum Glück": Band 68 "Der Wurzelsepp" Band 73 "Der Habicht" Band 78 "Das Rätsel von Miramare"
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Seitenzahl: 710
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KARL MAY’s
GESAMMELTE WERKE
BAND 66
DER PEITSCHENMÜLLER
Erster Band der Bearbeitung von
Der Weg zum Glück
ROMAN
VON
KARL MAY
Herausgegeben von Roland Schmid
© 1958 Karl-May-Verlag
ISBN 978-3-7802-1566-6
Ein schöner Herbsttag neigte sich seinem Ende zu. Die Sonne gleißte im Westen auf den Gletschern und Firnen der Alpenriesen und spiegelte sich im Wasser des Gießbachs, der hastig und in weiten Sätzen von der östlichen Höhe sprang. Hell und getragen verklang ein Lied von der Höhe ins Tal hinab. Kraftvolle, schmiegsame Töne der Zither hallten ihm nach, bis sich zwei tiefbraune, faltenreiche und wetterharte Hände behutsam auf die summenden Saiten legten.
Die beiden Sänger, ein siebzigjähriger Mann und ein siebzehnjähriges Mädchen, strahlten vor Freude an ihrem eigenen Gesang. Aus ihren Augen blitzte das fast kindliche Vergnügen über das Echo, das der Jodler an den gegenüberliegenden Felswänden wachrief.
Sonntägliche Ruhe lag unten im Tal, wo sich schon die Abendnebel zusammenzogen, und sonntäglich war auch die Sennerin gekleidet, die neben der Tür der Almhütte am Holzstoß lehnte und dem Zither spielenden Alten fröhlich zunickte: eine schlanke, doch kräftige Älplerin in kurzem Rock aus rot- und blaugestreiftem Zeug. Über den schmalen Hüften trug sie einen glanzledernen Gürtel, an dem einige Schlüssel hingen. Das gebräunte Gesicht verriet festen Willen, aber auch von Herzen kommende Güte. Das dunkle Haar war in zwei lange, schwere Zöpfe geflochten; um die Stirn und an den Schläfen hatten sich einige widerspenstige Kräusel befreit und krönten nun wie ein Diadem das frische Angesicht.
Die silbernen Spangen des Samtmieders waren von sehr alter Arbeit, wohl ein Erbstück; Kette und Kreuz hingegen nur von geringem Wert. Das Mädchen war arm, aber von der Natur mit dem größten Reichtum: Schönheit und Gesundheit, beschenkt. Dieser Vorzug erhielt einen besonderen Wert durch die ausgesprochene Sauberkeit, die aus jedem Fältchen glänzte. Dieses Mädchen hielt etwas auf sich.
Auch die Hütte und deren Umgebung waren ordentlich und rein. Die Tür stand offen; man erblickte die weißgescheuerten Holzgefäße und den glänzenden Kessel, der über dem Herd hing. Auf dem schmalen Fensterbrett stand ein Vogelbauer, in dem ein Fink sein helles „Fink-fink-finkferlink – würz-würz-würzgebür“ ertönen ließ.
Neben der Tür saß auf einer Rasenbank der alte Zitherspieler. Sein graues, buschiges Haar und der mächtige weiße Schnurrbart unter der scharfgebogenen Nase stachen recht eigenartig von dem hageren, gebräunten Gesicht ab. Alter und Beschwerden hatten es tief gefurcht; aber aus diesen Falten lugten tausend Schalke und Schälkchen heraus. Die Augen, noch fast so scharf wie in den Tagen der Jugend, blickten hell und freundlich unter den Wimpern hervor, und so streng das Gesicht gezeichnet war, es wies dennoch einen gutmütigen und herzgewinnenden Ausdruck auf.
Die Kleidung dieses Alten bewies, dass auch er nicht mit Glücksgütern gesegnet war. Die derben, mit großen Nägeln versehenen Bergschuhe waren von gröbster Arbeit. Die grauen wollenen Halbstrümpfe bedeckten nur die sehnigen Waden, sodass die Fußknöchel und die wetterbraunen Knie nackt blieben. Die Hosen waren alt und vielfach geflickt, ebenso die lodene Joppe. Eine Weste trug er nicht, dafür einen breiten Gürtel mit den eingestickten Buchstaben J. und B. Das graue Wollhemd stand auf der Brust offen und ließ den Hals frei.
Neben der Bank lag ein alter Rucksack, der mit knolligen Gegenständen gefüllt zu sein schien. Den Hut hatte der Alte auf seinen Gebirgsstock gestülpt und mit ihm an die Wand gelehnt. Dieser Hut war ein wahres Prachtstück; er hatte seit langem die Krempe verloren; ein Löchlein saß neben dem andern, sodass er mehr einem Sieb glich; durch diese vielen Löcher aber hatte der praktische Alte allerlei Alpenkräuter geschlungen, Aretia, Primula, Soldanella, Saxifraga und andere, sodass der Hut wie ein Blumentopf aussah, der beim Studium der Alpenflora als Anschauungsmittel hätte dienen können.
Der alte Pate der Sennerin hieß Josef Brendel. Weil er aber allerlei Wurzelwerk in den Bergen zum Verkauf sammelte und die Abkürzung von Josef, Sepp, allen geläufiger war, so wurde er allüberall nur der Wurzelsepp genannt. Er war beliebt nah und fern. Zuweilen kam er sogar hinein in die schöne Hauptstadt München, den Apothekern wegen seiner seltenen Wurzeln und seines ehrlichen, gespaßigen Wesens ein willkommener Gast.
Magdalena Bergner, die Sennerin, war ein Waisenkind und diente bei dem reichsten Bauer der Umgegend. Das Gut ihres Herrn lag an einer Mure, wie der Volksmund für Moräne sagt, an einem Geröllhügel, der aus von dem Gletscher zu Tal gespülten Erd- und Steinmassen entstanden ist; und weil die Bergler es lieben, sich die Menschen und Dinge durch eigengewählte Namen näherzubringen, kannte sie jeder als die Murenleni. Beide, der Alte und die Junge, hielten große Stücke aufeinander und taten sich beinah mehr zuliebe, als ihre Armut erlaubte.
Sepp lehnte die Zither neben sich, griff in die Tasche und summte vor sich hin:
„So, da hab’n wir aans gesungen,
das hat so schön geklungen.
Ein andermal tun wir wieder singen,
und das soll noch schöner klingen.
Jetzt will ich mir einen Tobak in die Pfeif stopfen, dann nehm ich meine Kraxen und mach mich halt auf die Haxen.“
„Pate Sepp, du willst heut noch hinunter?“
„Was sonst?“, lachte der Alte gemütlich. „Wenn ich bei dir blieb, Leni, würden die Leut sagen, ich hätt mich in dich verschameriert, und das tät da meiner alten Zither weh; die ist die einzige Liebste, die ich noch hab.“
„Geh! Mach kein solches Gespaß! Der Nachmittag ist vorbei und du bleibst. Ich mach dir ein schönes Ei auf Butter und geb dir auch ein Käs und Brot dazu...“
„O jerum, ja!“, fiel Sepp schnell ein. „Und das alles darbst du dir von deinem eigenen Mund ab; denn du bist viel zu ehrlich, um das Ei mit Butter und den Käs mit Brot von dem zu nehmen, was deinem Bauern gehört. Gelt, Leni, ich hab Recht?“
„Recht hast, Sepp. Aber mein Vorrat reicht. Und was das Ei betrifft, so hat mir die Bauersfrau eine Henne mit heraufgegeben; ich kann also mit den Eiern, die die Putte mir legt, machen, was ich will.“
„Legt sie auch die Butter und den Käs dazu?“, blinzelte Sepp sie von unten an.
„Schweig, Pate, und sei nicht ungut! Ich kann dich doch nicht so spät noch den schlimmsten Steg hinunterkraxeln lassen. Wenn dir was geschehn sollt, würd man mir die Schuld geben und ich könnt es gar nimmer verwinden.“
„Ich weiß! Bist ein gutes Dirndl. Tust deinem alten Paten gern alles zulieb. Der Herrgott wird dirs vergelten. Heut aber muss ich doch noch hinunter. Weißt, der Wirt braucht Enzianwurzeln für einen neuen Schnaps. Die muss ich ihm noch heut bringen. Da gibts eine Abendsuppe und ein Bett und auch ein Geld. Wenigstens zwanzig Kreuzer zahlt er mir aus. – O weh! Da schau her! Was für ein Unglück ich hab. Die Pfeif ist da, aber in dem Beutel ist nix mehr. Ich hab halt geglaubt, dass noch ein Rest darin sei. Jetzt muss ich eben von meinem Hut rauchen.“
Er griff nach den dürren Pflanzen, die seine merkwürdige Kopfbedeckung zierten, und wollte sie in die Pfeife stopfen.
„Halt!“, sagte Leni. „Ich will sehn, ob ich etwas für dich find!“
Sie ging in die Hütte und kehrte gleich darauf mit einem Päckchen Tabak zurück.
„Da hast, Pate Sepp“, bot sie ihm lächelnd ihr Geschenk. „Es ist ein feiner, österreichischer Kaisertabak.“
Er griff schnell zu und schmunzelte vor Freude über das ganze Gesicht. Er hielt das Päckchen hoch und betrachtete die Überschrift.
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