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Die hübsche Dodo lernt auf ein Schiffreise den begabten und bald sehr erfolgreichen Architekten Percy kennen. Sie verlieben sich und heiraten, bald haben sie ein Kind. Das junge Eheidyll könnte ganz ungetrübt sein, wären da nicht die Schatten der Vergangenheit. Ein Erpresser taucht auf, der dunkle Punkte im Vorleben Percys entdeckt hat, und da ist auch noch die reiche Amerikanerin Mrs. Sly, die Percy nach Florida holt, um ihn dort große Bauprojekte verwirklichen zu lassen und mit ihm zu flirten beginnt.-
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Seitenzahl: 298
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Roman
Saga
Der glücklichste Mensch an Bord ist die kleine Dodo. Dabei hat sie die schlechteste Kabine des ganzen Schiffes, dicht vor der Schraube im F-Deck. Seit der Sturmfahrt durch den Golf von Biskaya ist das Bullauge, da es nur zwei Handbreit über der Wasserlinie liegt, nicht mehr geöffnet worden.
Aber Dodo ist seefest. Dodo hat Nerven wie Stricke. Wie hätte sie sonst drei Wochen lang in diesem schwimmenden Ferienhotel ihr schweres Amt versehen können? Denn sie fährt nicht wie die anderen Schiffsgäste, die sich soviel ärgern, zu ihrem Vergnügen mit; das wäre ja der hohen Kosten wegen ganz ausgeschlossen. Als Sekretärin des Reiseleiters der Reederei wird sie von jedem einzelnen Schiffahrtsdilettanten dieser Ozean- und Mittelmeerreise für sämtliche Störungen im Programm verantwortlich gemacht. Wenn die Fahrgäste mit der Verteilung der Autos, der Ochsenschlitten, der Hotelzimmer und der Tischplätze auf den Landausflügen unzufrieden sind, so ist sie der Prellbock, der den ersten Ansturm aushalten muss. Eine Dame aus Kötzschenbroda hat sich bei ihr darüber beschwert, dass man ihr die ausdrücklich bestellte Kabine „nach der Sonnenseite“ nicht gegeben habe. Ein Herr aus Tuttlingen, der eine neugekaufte Tropenausrüstung mitführt, macht ihr die farbeglühenden Werbeprospekte der Reederei zum Vorwurf. Grässliche Drohungen stösst er aus: er wird im Tuttlinger Anzeiger diesen ganzen Hamburger Schwindel aufdecken! Zwischen Lissabon und Madeira hat man einen wahren Orkan erlebt — der Pik von Teneriffa ist in dem Bindfadenregen überhaupt nicht sichtbar geworden — in Granada hat man sich in den eiskalten Hotelbetten einen Riesenschnupfen zugezogen — und das nenne der Reedereiprospekt eine Frühlingsfahrt ins Reich der ewigen Sonne!
Aber man muss die glückstrahlenden Augen der kleinen Dodo sehen, man muss den herzlichen Klang ihrer warmen Altstimme hören, wenn sie hier zuspricht und aufrichtet, dort bittet und vertröstet.
Herr von Glüher, der Leiter des Hamburger Reisebüros, hat Fräulein Dodo Hartmann freilich nicht nur ihrer schönen dunkelbraunen Augen und ihres sympathischen Alters halber von der Schreibmaschine im Expeditionsbüro weggeholt, sondern lediglich wegen ihrer perfekten Kenntnisse im Spanischen.
Fräulein Hartmann ist noch jung, sie hat am 10. Februar 1924, gerade an dem Tag, an dem der „General San Pedro“ seine erste Vergnügungsreise nach Krieg und Inflation antrat, ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert (ausser dem Zahlmeisterassistenten, der es aus ihrem Pass ersah und sehr wohlwollend gratulierte, hat niemand davon erfahren). Spanisch treibt sie jetzt schon im sechsten Winter. Als ihr Onkel August, der in Santiago ansässig war, aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, im November 1918, hat er ihr das nahegelegt. Sie ist Waise seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Ihr Vater fiel als Oberstabsarzt in Russland, als sie noch im Landerziehungsheim war. Ihrer frühverstorbenen Mutter kann sie sich kaum entsinnen. Onkel August hätte sich nach dem Tod ihres Vaters gewiss gern ihrer angenommen, aber damals sass er ja hinterm Stacheldraht von Handforth bei Manchester. Inzwischen haben sich seine Vermögensverhältnisse, seine Lebensumstände überhaupt, sehr verschlechtert, aber er hat seine kleine Nichte trotzdem fortlaufend unterstützt, bis sie in Hamburg ihre erste auskömmlich bezahlte Stellung fand. Sie solle nur fleissig Spanisch lernen, hat Onkel August sie immer wieder ermahnt, hat ihr auch oft ihre spanisch geschriebenen Briefe durchkorrigiert zurückgeschickt. Er ist Architekt, Dr.-Ing., Regierungsbaumeister a. D. — und vor allen Dingen ein kluger, belesener, stattlicher und ritterlicher Mann. Dodo hat die leise Hoffnung, dass Onkel August über kurz oder lang sie bei sich aufnehmen wird in Santiago. Wer weiss, wie bunt und reich sich dann ihr Leben gestalten wird! Ach, Spanien! Sie hat das Land geliebt, noch bevor sie’s kannte. Sie ist auf dieser Reise keine Stunde lang enttäuscht gewesen. Wie ein seliger Traum hat das Küstenbild von Cadix auf sie gewirkt. Und dann gar die Wunderbauten von Sevilla, die Alhambra —!
Nun hält der „General San Pedro“ auf den Hafen von Vigo zu. Dort werden die Passagiere in aller Frühe ausgebootet und an Land gebracht. Zweiundvierzig Autos hat der Agent der Linie in der ganzen Provinz gechartert. Darin sollen die Reisenden die Fahrt über Santiago de Compostela bis nach Coruña zurücklegen. Das Schiff setzt inzwischen die Reise um Kap Finisterre fort und nimmt in Coruña die Passagiere kurz vor Mitternacht wieder an Bord.
Dodo wird also heute mittag in Santiago sein. Die ganze Reise hat sie sich auf die Begegnung mit Onkel August gefreut. Sie steht ja sonst so einsam in der Welt da. Auch die geldstolze Reisegesellschaft ist für die kleine Stütze des Reisemarschalls ziemlich unnahbar. Man wendet sich nur an sie, wenn man mit irgend etwas unzufrieden ist. Aber für Dodo bedeutet der heutige Tag der Gipfel des Reiseglücks. Sie hat es nun doch nicht für sich behalten können, dass sie in Santiago ihren Onkel August sehen wird. Und als der „General San Pedro“ in den Hafen von Vigo einläuft und die spanischen Barkassen das deutsche Schiff mit Böllerschüssen und Musik begrüssen — sie spielen die „Wacht am Rhein“, weil die Noten davon noch aus Vorkriegszeiten vorhanden sind —, da fragt man sie neckend, ob man diesen überaus herzlichen Empfang etwa der Fürsprache von ihrem Onkel August zu verdanken hätte.
*
Herr von Glüher ist über die Böllerschüsse, namentlich aber über die „Wacht am Rhein“, geradezu entsetzt. Er befindet sich schon im Landanzug mit Melonenhut und hellgelben Handschuhen und hält auf der Kommandobrücke, wo der Kapitän mit dem vor einer Stunde an Bord gekommenen Lotsen spricht, Ausschau nach dem Pier. Richtig, dort stehen ein paar Männer in Zylinder und Gehrock, goldene Ketten auf der Brust. Ist es der Alcalde von Vigo, ist es die Hafenbehörde? Herr von Glüher eilt mit unsicheren Knien die Treppe hinunter aufs Promenadendeck, auf dessen Steuerbordseite sich alle 149 Passagiere, mit Kodak und Fernglas ausgerüstet, versammelt haben.
„Das ist ja ein Kamel mit Eichenlaub!“ fährt er seine kleine Sekretärin an. „Wenn die Auslandspresse das aufnimmt! Die ‚Macht am Rhein‘! Nichts Unpassenderes kann uns hier passieren! Was fällt dem Manne bloss ein? Was haben Sie ihm denn nur geschrieben?“
„Onkel August?“ fragte Dodo völlig verwirrt.
„Wie kommen Sie —?— Eine Staatskarosse am Pier, also offizielle Begrüssung! Grauenvoll! — Kann Hemberger Ihren letzten Brief denn so katastrophal missverstanden haben?“
„Hemberger, ach so, der Agent aus Coruña!“ Dodo atmet erleichtert auf. „Ich hab’ alle Telegramme dem Zahlmeister gegeben. Soll ich sie holen?“
„Jetzt nimmt das Unheil schon seinen Lauf. — Bum, bum! Ich könnte den Mann skalpieren!“
„Aber es ist doch so feierlich, Herr von Glüher! Und wundervoll ausgeschmückt sind die Boote! Nein, die Blumen und die Girlanden!“
Die ersten „Viva Alemania!“ dringen zwischen dem Salut und der Musik übers Wasser. Die Herren an Deck des „General San Pedro“ lüften die Hüte, die Damen winken.
Nun kann sich auch Dodo nicht mehr beherrschen. Jubelnd, zugleich tief gerührt von der Festlichkeit des Augenblicks, schwingt sich ihr zärtlicher Alt zu einem pompösen „Viva España!“ auf. Alle Passagiere wenden sich nach ihr um und stimmen ein. Der Kapitän und sämtliche Offiziere salutieren.
„Der Lotse sagt, es sei der Bürgermeister, der Herr da drüben mit dem ergreifend hohen Zylinder. Die Stadt will die erste deutsche Reisegesellschaft begrüssen, die nach dem Krieg hier spanischen Boden betritt. Fräulein Hartmann, rennen Sie mir bloss nicht davon. Sie müssen dolmetschen ... Nein, die Verteilung der Wagen ist jetzt Nebensache. Inzwischen müssen unsere Herrschaften doch auch gelernt haben, ohne Kinderfräulein ihr Stühlchen zu finden.“
*
Ganz Vigo ist unterwegs. Die 149 Reisenden, die am Pier vom städtischen Oberhaupt begrüsst worden sind, erleben eine Art Triumphzug durch die Stadt. Die offiziellen Gebäude sind fahnengeschmückt, Privatleute haben ihre schönsten Teppiche über die Fensterbrüstungen gehängt. In den Strassen bilden sich Spaliere. Die Reihe der Autos ist unabsehbar. So viel wie heute sind in Vigo noch niemals versammelt gewesen. Die Staatsstrasse von Vigo über das Vorgebirge nach Coruña ist in den letzten beiden Jahren mit hohen Kosten für den Autoverkehr ausgebaut worden. Man kann stolz auf die Leistung sein. Rivera, der Diktator, ist ein modern gerichteter Mann. Vermutlich wird sich von jetzt an ein unerhörter Fremdenzulauf aus Deutschland auf diesen exponierten Zipfel der iberischen Halbinsel stürzen. „Viva Alemania!“ „Viva Alemania!“
So geht es durch die ganze Provinz Galicia. Von Dorf zu Dorf hat sich die Kunde verbreitet. Man hat ja auch weither die Böllerschüsse gehört. Es ist ein strahlendheller Tag geworden. Die Strasse steigt in mehreren Kehren zu dem Höhenrücken auf, an den die fjordähnlich eingeschnittenen Buchten grenzen. Die Aussicht auf die vorgelagerten Inselgruppen wird immer malerischer.
Dodo Hartmann sitzt wie gewöhnlich im letzten Auto. Es ist eine ihrer Aufgaben, dafür zu sorgen, dass keins der Schäflein ihrer Herde verlorengeht. Des Staubes wegen gilt das Unterkommen an diesem Ende der Fahrkolonne nicht eben als Auszeichnung, aber heut wird das den weitgedehnten Zug beschliessende Auto immer wieder Mittelpunkt stürmischer Ovationen. Die Stadt- und die Dorfbewohner, die bei der Durchfahrt der vordersten Wagen noch nicht alarmiert waren, sind inzwischen vollzählig zur Stelle gelangt. In fünf- und sechsfachem Spalier säumen sie auch die breite Strasse zwischen den Wein- und Olivengärten beim Einzug in Santiago. Die Nebenstrassen sind mit Fahrzeugen aller Art vollgestopft. Man feiert heute ein hohes Kirchenfest. Aus der ganzen Provinz sind Wallfahrer unterwegs. Rund um die mächtige Kathedrale sieht man Kirchenfahnen, Pilgerzüge, Prozessionen, Schulen, Abordnungen. Und der Zug der Deutschen durch das bunte Menschengewühl wirkt wie eine besondere Nummer in dem Programm des Festtages von Santiago. „Viva Alemania!“ rufen die Spanier, jung und alt. Und die deutschen Reisenden geben immer begeisterter zurück: „Viva España!“
Die Begeisterung hält aber nur bis zu dem Augenblick an, in dem das Führerauto kehrt macht und Herr von Glüher nach der Passagierliste die Hotelanweisungen ausgibt. Der Reisemarschall und die ihm zu Hilfe geeilte kleine Sekretärin werden von ein paar Dutzend aufgeregter Herrschaften umringt, mit Fragen bestürmt, man reisst ihnen die Gutscheine aus der Hand, weil durch Hörensagen bekanntgeworden ist, La Francia sei das erste, Metropolitano dagegen das zweite Hotel ...
Der Agent Hemberger, der von der Abkanzlung durch Herrn von Glüher noch fast erschlagen ist, hat für eine Garde deutschfreundlicher Schüler und Studenten gesorgt. Sie sollen die Gruppen der Fremden gesammelt nach den verschiedenen Gasthöfen führen. Einzelne Misstrauische legen Eiltempo vor, um sich an Ort und Stelle die besten Plätze zu sichern.
Endlich ist der letzte Gast untergebracht. Die Autos fahren nach der Kathedrale, wo sie bis zum Spätnachmittag parken sollen. In der plötzlich eingetretenen Stille nach dem Sturm fühlt Herr von Glüher eine Art Erschöpfung. Er nimmt den Melonenhut ab und trocknet sich die Stirn. „Und was fangen wir beide nun an in diesem schrecklichen Kirchweihtrubel?“ fragte er seine Dolmetscherin.
Dodo bittet, sie zu beurlauben: sie will ja endlich ihren oft zitierten Onkel August ausfindig machen. „Ich dachte, ich würde ihn gleich bei der Einfahrt in die Stadt sehen, doch unter den vielen Tausenden ...“
Auf der mit noch unbelaubten Platanen bestandenen Avenida befinden sich nur noch ein paar Gruppen, meist Kirchgänger und neugierige Kinder, Landleute oder Handwerker mit breitrandigen Hüten und Ohrringen. Aber ein junger Mann in städtischem Anzug löst sich jetzt aus einer kleinen Schar und kommt quer über den Platz auf die drei Deutschen zu. Die ersten paar Worte spricht er spanisch, dann fährt er auf deutsch fort.
Er hat den Auftrag, das gnädige Fräulein zu begrüssen und nach der Rúa del Villar zu bringen. Herr Hartmann selbst könne leider das Haus nicht mehr verlassen.
„Onkel August ist krank?“ ruft Dodo tief enttäuscht.
„Seine Kriegsverletzungen. Er hat nun schon wieder ein paar schmerzhafte Operationen hinter sich. Kleine Knochensplitter im rechten Fuss und linken Knie. Aber er ist sonst sehr munter. Jedenfalls freut er sich auf Sie, Fräulein Hartmann.“
„Pünktlich um vier Uhr fünfzig bei der Kathedrale!“ ruft Herr von Glüher ihr noch nach, als sie mit ihrem jungen Führer die Avenida quert.
Die Spanier, die ihnen begegnen, mustern die Fremde voll Neugierde. Ein paar junge Burschen geben ihrer Bewunderung ungeniert Ausdruck. Was für schöne Augen sie habe! Und wie schön gewachsen sie sei! Ein ganz junges Bürschchen verliert sich sogar in die plastische Ausmalung von Einzelheiten. Dodo wird rot, denn sie versteht jedes Wort.
„Das ist nicht böse gemeint“, sagt ihr Begleiter lächelnd, „die Spanier haben nur eben so selten Gelegenheit, junge Damen zu Fuss auf der Strasse zu sehen, und Sie müssen bedenken, heute ist Kirchweihfest, und die deutsche Invasion hat alles ausser Rand und Band gebracht. Es sind übrigens nur noch ein paar Schritt.“ Der junge Deutsche hat sich ihr als Namensvetter vorgestellt: Armin Hartmann heisst er. Doch verwandt ist er mit Onkel August nicht. Er ist wohl mehr als einen Kopf grösser als sie. Sie kann sein Spiegelbild in den grossen Fensterscheiben unter den Arkaden sehen, durch die sie jetzt mit hallendem Schritt wandern. Er ist blond, wie zahlreiche Männer von Santiago auch, aber sein ganzer Typ wirkt hier doch fremdartig. Vor allem ist es das besondere Blau seiner Augen, das ihr auffällt. Irgendwie erinnert es Dodo an Nordseeküste und Meer.
„Was für ein Landsmann sind Sie eigentlich, Herr Hartmann?“ fragt sie ihn.
„Das ist nicht leicht zu beantworten. Vater war Westpreusse, ist aber in jungen Jahren nach Köln gekommen, da fuhr er als Rheinschiffer, Mutter stammte aus London, dort ging ich auch zur Schule, bis der Krieg ausbrach. Meine Heimat war dann vier Jahre lang die Gegend um Manchester.“
„Ach, dann sind Sie ja der Kamerad von Onkel August, mit dem er in Holyport zusammen war? Sie müssen entschuldigen, in seinen Briefen schrieb er immer Percy, drum wusst’ ich vorhin nicht gleich ...“
„In Holyport war ich Hartmann I und er Hartmann II, hernach in Handforth, wohin ich ihm folgte, zählten wir umgekehrt. Wir waren immer Zeltgenossen.“
„Sie haben sehr gute Kameradschaft gehalten, o ja, ich weiss.“
„Ich verdanke August viel. Und ich hab’s ihm nicht immer leicht gemacht. Drum hat er mich auch Percy getauft, damals im Kriegsgefangenenlager.“
„Nach dem Prinzen Heisssporn in Shakespeares Heinrich IV.?“
„Sie brauchen sich aber nicht gleich zu fürchten vor mir. In Freiheit bin ich ganz ungefährlich. Nur hinter Stacheldraht und Gittern ... Aber mein Sündenregister wird Ihnen August ja schon aufzählen. Er hat mir’s wenigstens mehrmals in Aussicht gestellt, wenn er mich zur Räson bringen wollte.“
„Also haben Sie ihm doch nicht nur in Handforth zu schaffen gemacht?“
„Bloss so kleine Rückfälle. — Hier ist das Tor. Da sehen Sie nun gleich einen echt spanischen Patio.“
Sie halten vor einem kleinen Laden mit geweihten Kerzen, Heiligenbildern und Madonnenstatuetten. Daneben öffnet sich hinter einem schmiedeeisernen Tor ein Hof mit Marmorfliesen, einem kleinen Säulenumgang, Lorbeerkugelbäumen und einem Löwenbrunnen, um den sieben bis acht Kinder aller Altersstufen sich lärmend tummeln; ein paar Frauen aus dem Volk, mit dunklen Augen, Schnurrbärten, schwammige Figuren in Nachtjacken von rosa Kattun, sitzen auf den Steinstufen des Säulenumgangs und pellen Bohnen, eine von ihnen säugt einen Bambino.
Er lächelt, da er Dodos verdutzte Miene gewahrt. „Es ist das keine Volksversammlung, sondern nur die Familie der Nichte unserer alten Wirtschafterin Maria Luisa. Das ist die dickste, die dort mit dem grössten Schnurrbart. Furchtbar gutmütige Leutchen alle. Aber August muss schon die ganze Verwandtschaft miternähren, das geht hier nicht anders. Allerdings sind sie alle sehr bescheiden, fast bedürfnislos. Und heute ist ein Fest für sie. Maria Luisa hat Ihnen zu Ehren Zwiebelkuchen gebacken. Daran wird noch die halbe Strasse teilhaben.“ Er wendet sich den Frauen zu, die sich feierlich erhoben haben, er begrüsst sie wie Damen der vornchmen Gesellschaft und stellt ihnen mit der landesüblichen Grandezza den Ankömmling vor. Die Frauen sind geehrt und beglückt und überhäufen Dodo mit Liebenswürdigkeiten.
Endlich gibt man sie frei. Die dicke Maria Luisa zeigt unter mehreren tiefen Komplimenten den Weg ins Zimmer des Señors Augusto, öffnet die Tür und kündigt den Besuch in stolzer Freude über ihr Heroldsamt, dem auf dem Bett liegenden Hausherrn an.
*
Der Raum ist eine Mischung von Atelier und Schlafzimmer. Grosse Reissbretter stehen herum. An den Wänden hängen Grund- und Aufrisse. Auf dem mächtigen Arbeitstisch neben dem Bett liegen Stösse mit Berechnungen, Quittungen, Aufstellungen, Zeichnungen. August Hartmann ist Architekt. Er war preussischer Regierungsbaumeister, hatte in dem jetzt an Polen gefallenen Städtchen Brannstein den Bau einer Schule geleitet, war aber auf einer Urlaubsreise durch Spanien in Santiago hängengeblieben und hatte sich hier mit der Schwester eines reichen Bauunternehmers verheiratet. Bevor noch sein Abschiedsgesuch das Ministerium erreicht hatte, war der Krieg ausgebrochen. August Hartmann war bei Givenchy schwer verwundet in englische Gefangenschaft geraten. Nach über vier Jahren kam er nach Santiago zurück. Die Frau war im ersten Kriegswinter nach falschen Wochen gestorben. Er trat bei seinem Schwager als Konstrukteur und technischer Leiter ins Geschäft ein, trotz häufiger Krankheit infolge verfehlter Operationen eine eifrige und gewissenhafte Stütze des Bauunternehmers.
Aber Dodo, obschon ein wenig vorbereitet, erschrickt nun doch sehr über Onkel Augusts Aussehen. Oh, was ist in den sechs Jahren aus ihrem Backfischschwarm geworden! August Hartmann ist recht hinfällig, erheben kann er sich nicht, die Füsse tragen ihn nicht mehr, und er ist Haut und Knochen.
„Ich habe euch Hosianna rufen hören!“ begrüsst er die Nichte, sich zu einem forschen Ton aufraffend. Das war ja heute ein herrliches Verbrüderungsfest! Du siehst brillant aus, Dodo, bist wahrhaftig schon eine ganze kleine Señorita geworden, kein eckiges Schulmädel mehr, wie im November achtzehn. Und deine dunkelbraunen Samtaugen hast du dir immer noch nicht gewaschen. Kleine.“
„Ach, der alte Kinderspass, Onkel! Der lebt noch?“
„Fräulein Hartmann hat unterwegs noch viel aggressivere Huldigungen erlebt. In Deutschland hätte ich wohl als richtiger Kavalier deswegen Händel auf offener Strasse anfangen müssen.“
„Ja, Dodo, du wirst sehen, wir sind hier masslos verwildert. Wieviel Tage bleibst du? Du schläfst oben im Balkonzimmer. Maria Luisa hat ein köstliches Himmelbett aufgestellt. Abends feiern wir eine Orgie mit selbstgekeltertem Landwein, mit Austern und Tintenfisch aus dem Golf und mit Primafrüchten von unserem eigenen Landgut.“
„Ach, liebster Onkel August, ich habe doch nur die paar Stunden Zeit — um vier Uhr fünfzig ist schon Weiterfahrt nach Coruña.“
„Das ist ja ein Verbrechen. Percy, altes Rauhbein, was sagst du dazu?“
„Ich bin natürlich ausser mir.“
„Bin natürlich ausser mir! Glatte, geölte Phrase. Ich würde vor Wut mit allen vieren trampeln, wenn sie mir noch wie dir zur Verfügung ständen. Nein, Dodo, Kind, so schnell geben wir dich nicht frei. Zunächst lege mal ab ... Ist es die Möglichkeit, du hast dir ja die schönen langen Zöpfe abgeschnitten? Bewahre mich der Himmel ... Maria Luisa! Dejeuner! Tisch decken, anrichten! ... Percy, du sorgst für den Wein. Nimm den weissgelackten, den alten, rotgelackten vertragen nur wir rauhen Männer ..., das Mädel, Mädel, ganze zweiundzwanzig Jahre bist du schon? Nein, was siehst du unserer Mutter ähnlich. Die Augen frappant. Von deinem Vater und deinem Grossvater hast du gar nichts. Dein Vater war überhaupt lange nicht so schön wie ich. Die höheren Töchter von Elbing haben mich immer vorgezogen. Du musst entschuldigen, dass ich in Filzparisern zur Tafel erscheine. Nun erzähle mal ein paar Schwänke aus deinem Leben. Also in Hamburg tust du Sklavendienste als Bürofräulein? Kommst du denn mit deinen paar Zechinen aus?“
August Hartmann ist sprunghaft. Das Wiedersehen mit der Nichte hat ihn aufgepufft. Er vergisst über der Erregung des Augenblicks seine quälenden Schmerzen. Aber sein Freund Armin, der ab und zu im Säulengang erscheint und einen Blick hereinwirft, auch ein paar Worte mit ihm oder dem jungen Gast spricht, weiss, dass der Ärmste diese Stunde hernach doppelt zu büssen haben wird.
„Nach dem Essen muss er sich ausstrecken und zu schlafen versuchen“, sagt er heimlich zu Dodo; „wenn Sie verlangen, dass ich Ihnen die Kathedrale zeige, wird er sich fügen, denn die müssen Sie doch sehen.“
Dodos Hoffnungsseligkeit hat längst einer schweren Enttäuschung Platz gemacht. Onkel August ist ja nur noch eine Ruine. Wer kann wissen, wie lange er dies Leben noch weiterführen wird? Auch seine finanziellen Verhältnisse scheinen im argen zu liegen. Mit seinem Schwager, dem Bauunternehmer, lebt er auf gespanntem Fuss. „Wenn er mich nicht hätte fürs Büro und Percy für die Bauleitung! — Aber er ist von einem unerträglichen Hochmut! Zum Verzweifeln, dass ich das Geld brauche, und vor allem die Arbeit, die mich allein noch aufrechterhält ... Ja, siehst du, Dodo, Kind, ich habe mir das früher einmal ganz anders gedacht. Aber eine regelrechte deutsche Häuslichkeit wäre hier ein Unding. Gar nicht burchzuführen. Ich muss die armen Weiblein da draussen und ihre Bälger schon mit in den Kauf nehmen. Um Percy tut’s mir leid. Ich hätte ihn nicht mit hierher schleppen sollen.“
„Er ist auch Architekt? Aber du sagtest doch — war er nicht in Handforth dein Schüler? Hat er studiert, als der Krieg vorbei war?“
„Student? Bei mir. Bloss bei mir. Das ist’s ja eben. Ja. Wir hatten da Hochschulkurse eingerichtet im Gefangenenlager. Zuerst war alles Feuer und Flamme. Doch bei den meisten dauerte der Eifer nur ein paar Wochen. Wir waren eine grosse Ausnahme. Er blieb auch mein einziger Student. Aber wir haben beide drei Jahre lang Tag für Tag geochst. Das heisst: wenn er nicht gerade im Kittchen sass.“
„Im Gefängnis?“
„Wenigstens im Arrest. Er konnte ja seinen Schnabel nicht halten, sobald er gereizt war. Auch gegen die Brillenschlange nicht. Das war der englische Feldwebel. Da hagelte es dann eben Strafen für ihn. Die anderen Kursleiter beneideten uns beide um unsere Konsequenz. Ich hatte mir alle Bücher verschafft und lernte wieder mit. Er wuchs mir schliesslich doch noch über den Kopf. Er ist hervorragend begabt. Aber hier in Santiago kommt er nicht vorwärts. Es ist traurig, es einzugestehen. Und du hättest sehen sollen ... Hab’ ich dir geschrieben, wie er an dem Berliner Preisausschreiben geschuftet hat?“
„Nein, Onkel August. Das neue Sportforum? Ich schickte dir den Aufruf damals, aber du hast gar nicht weiter darauf reagiert.“
„Nun ja, mir persönlich liegt so etwas nicht. Ich bin nichts als Schulmeister und Rechenmensch. Und dazu gehörte Phantasie. Das war so was für Percy. Ich sagte ihm also, dass ich mich an der Arbeit beteiligen würde, bloss, damit er wieder einmal eine schöne Aufgabe lösen konnte. Das hier in Santiago ist ja ödeste Maurermeisterei, sonst nichts.“
„Und ihr habt die Arbeit nach Berlin geschickt, richtig eingereicht? Was ist daraus geworden?“
„Bis jetzt nichts. Aber sie müssten ja blind sein, wenn ihnen diese famose Lösung entginge. Da sich nur Akademiker beteiligen konnten, trägt die Arbeit der Form halber meinen Namen. Motto: ‚Gott Pan.‘ Aber bekommt sie einen Preis, dann fällt das Geld natürlich restlos Percy zu.“
„Warum hat er aber nicht studiert, als er aus England kam?“
„Weil er keinen Pfennig hatte. Mit dem Notabiturium ins Feld ausgerückt, die Mutter, die sich notdürftig mit Pensionären durchschlug, gestorben; er wollte schon ins Baltikum, als Söldner, weil ihm damals kaum anderes übrigblieb. Da schlug ich ihm auf die Schulter. Komm mit, nach Santiago, sagt’ ich, wo ich satt werde, langt’s auch für dich.“
„Das war fein von dir, Onkel August.“
„Nee. Falsch war’s. Denn in den fünf Jahren seitdem hat der arme Junge mit all seinen Kenntnissen, seinem Talent, seiner Phantasie, seinem Fleiss meinem grossspurigen Schwager Rioja hier bloss einen billigen Maurerpolier abgegeben. Ich hab’ dem Jungen sein ganzes Leben verpatzt. Das lastet auf mir, kleine Dodo.“
*
Das Festmahl hat in dem maurisch ausgeputzten kleinen Sälchen stattgefunden, das seitlich an den Patio grenzt. Für die drei Gäste gab’s sieben Speisenzuträger: Maria Luisa, ihre Nichte Isabel, deren Freundinnen und die ältesten Kinder des Hauses haben sich in die Aufwartung geteilt. Aber trotzdem hat bei Tisch immer noch etwas gefehlt. Die festliche Aufregung der Bedienung hat auch über das Versagen aller Kochkünste hinweghelfen müssen.
August Hartmann hat mehrere Glas von der schweren Sorte seines kleinen Weinguts auf Dodos Wohl getrunken und lässt sich willenlos wieder ins Bett schaffen. Schon halb im Schlaf gibt er seinem jungen Freund allerlei Ermahnungen ...
Und nun stehen die beiden jungen Menschen in der Kathedrale inmitten der buntgekleideten Schar der Bauern, lauschen dem feierlichen Wechselgesang im Chorgestühl und schauen zu der mächtigen Kuppel empor, in der die Reflexe der Lichter und Messgeräte und Marmorsäulen mit dem durch bunte Gläser eindringenden Tage kämpfen. Lange schweigen sie. Dodo ist ganz ergriffen. Sie hat in den Wochen vor der Ausfahrt jede freie Stunde benutzt, oft bis tief in die Nacht hinein, um die Kunstbücher zu studieren, die von der Reederei in die Propagandaabteilung geschickt worden sind. So ist sie gut vorbereitet nach Spanien gekommen. Rund um sie herum herrscht lebhafte Bewegung. Befreundete Familien treffen sich hier, die einander seit dem vorjährigen Kirchenfest nicht mehr begegnet sind. Kinder spielen Versteck hinter den Säulen, geraten auch zwischen die Reihen kniender Beter. Niemand nimmt Anstoss daran oder lässt sich in seiner Andacht stören.
„Das ist für sie hier der Salon, in dem der liebe Gott seine Feiertagsgäste empfängt!“ sagt Armin, als ein kleines Mädchen beim Spiel mit einer ins Rollen geratenen Steinkugel ihn beinahe ins Stolpern bringt. Er tröstet die erschrockene Kleine und hilft ihr dann eifrig nach der Kugel suchen.
Gäste vom „General San Pedro“ sind in kleinen Trupps in die Kathedrale eingetreten. Die Damen blicken die Sekretärin des Reiseleiters, die sich hier in der Gesellschaft eines fremden, auffallend hübschen, sehr jungen Mannes zeigt, verwundert, fast vorwurfsvoll an. „Wir wollen jetzt lieber flüchten“, raunt Dodo ihm zu. „Es ist zu kompliziert, den Herrschaften auseinanderzusetzen, dass Sie Hartmann heissen und doch nicht mein Onkel sind.“
Im Hinausgehen nimmt sie im Gedränge seinen Arm. Ein bisschen stolz ist sie denn doch auf seine Begleitung. Natürlich werden sie an Bord noch viel über ihn erfahren wollen, denn er ist wirklich eine ausserordentliche Erscheinung. „Es sind die richtigen Lotsenaugen!“ stellt sie bei sich fest, als sie ihn so weit über die Köpfe der Menge hinwegschauen sieht. Es kann etwas Strahlendes in seine blauen Augen treten, so zum Beispiel, wenn er empordeutet und ihr an Kapitellen, Zwickeln, Friesen besondere Schönheiten der Linienführung und ihrer Überschneidungen klarmacht. Eine wahre Inbrunst beherrscht ihn, ein inneres Feuer. „Wie mager er ist!“ denkt sie dann wieder. Seine Schläfen sind leicht eingesunken, die Nase, die ziemlich gross ist, tritt charakteristisch hervor. Um seinen Mund liegt eine Art Trotz. Wenn er die Lippen aufeinanderpresst, hat sein Ausdruck dabei etwas Schmerzliches. „Er verzehrt sich innerlich!“ sagt sie zu sich, eingedenk der Worte, die Onkel August über seinen verfehlten Studiengang gesprochen hat.
Längst sind sie nun im Kreuzgang angelangt. Er erklärt — sie lauscht seiner Stimme sehr gern. Es liegt soviel Leben darin. Aber er kann dann plötzlich abbrechen, ganz blitzartig, und die Lippen trotzig schliessen, als lohne es nicht, überhaupt zu reden.
„Warum schweigen Sie jetzt?“ fragt sie ihn, ein wenig eingeschüchtert. „Hab’ ich etwas Dummes gesagt?“
„Nein, nein. Ich sah nur eben durch die Rosette da drüben den Stadtteil Monte, in dem Francisco Riojas neue Kolonie liegt. Dort blüht unser Handwerk. Aus Gips und Stuck, wie Augusts Schwager das eben so blühen lässt, alle Jahre wieder. Und da schämt man sich halt. Oder die Verzweiflung packt einen. Ich wollte Ihnen die Freude hier nicht stören, verzeihen Sie.“
„Sie haben mir viel gegeben in dem Stündchen, Herr Hartmann. Hätt’ ich Sie nur in Sevilla als Führer gehabt, im Alkazar. Dort musste ich in der ganzen grossen Herde mitjagen. Im Generalife, in der Alhambra, erwischte ich zum Glück ein bisschen Einsamkeit. Da konnte man wenigstens versuchen, in die fremde Welt zu versinken. Wenn ich ein paar Tage hierbleiben könnte, wie Onkel August sich das dachte, dann würde ich Ihnen keinen Augenblick Ruhe geben. Von allem, was ich auf der ganzen schönen Reise sah, wird mir die Kathedrale von Santiago am lebendigsten in Erinnerung bleiben. Dafür danke ich Ihnen herzlich, Herr Hartmann.“
Impulsiv gibt sie ihm die Hand. Er hält sie eine Weile fest. „Mit Ihnen ist nun plötzlich wieder Deutschland in mir lebendig geworden. Zuerst, in der grossen Enttäuschung hier, war der Ruf immer sehr, sehr stark. Allmählich schwieg er dann. Man versank im Alltag. Und ich wollte doch August auch nicht alle Tage kränken. Jetzt bin ich es, der ihn trösten muss.“
„Ich habe mich zu Tode erschrocken, als ich ihn wiedersah.“
„Die Ärzte haben viel an ihm gesündigt. Aber August trägt sein Los ja ziemlich gefasst. Nur über meines klagt er soviel. Und das treibt mich oft zur Verzweiflung.“
Er macht wieder seinen trotzigen Mund. „Ich bin jetzt sechsundzwanzig, mit knapp siebzehn kam ich von der Schule.“
„Sie sind als halbes Kind ins Feld gegangen?“
„Meine Konabiturienten, die mit mir nach Flandern kamen, haben das bessere Los gezogen. Sie sind dort gleich geblieben.“
„Nein, Herr Hartmann, so dürfen Sie nicht sprechen!“ Sie hat wieder seine grosse, magere, arbeitsfeste Rechte zwischen ihre schmalen Schreibmaschinenfinger genommen. „Was soll ich hernach zu Onkel August sagen? Er wird mich doch sicher ins Verhör nehmen.“
„Ich lüge ihm oft die Hucke voll. Jedesmal, wenn ich so tue, als sei ich seelenvergnügt. Ja, da betrinken wir uns dann gemeinsam mit dem fürchterlichen Landwein von seinem eigenen Gut — im Vertrauen gesagt, es ist noch nicht einmal für neunhundert Peseten loszuschlagen, das sind knapp sechshundert Goldmark — und dämmern so hin bis zur nächsten Erkenntnis unserer Lage.“
Rasch wendet er sich von ihr weg und zeigt zum Turm empor.
„Haben Sie gute Lungen und ein gesundes Herz, Fräulein Dodo? Dann müssen Sie mit hinauf ins Glockengestühl. Aber es sind ein paar hundert Stufen. Und ganz oben geht’s über Leitern. Oder sind Sie schwindlig?“
„Ich glaube, ich werde es schaffen. Aber Sie müssen bei mir bleiben, Herr Hartmann.“
„Ja, ich bleibe bei Ihnen.“ Er packt sie plötzlich an der Schulter, ganz jungenhaft. „Ich freue mich, dass Sie da sind.“
„Hat Ihnen Onkel August schon von mir erzählt?“ fragt sie ihn, während sie dem Turmvorbau zuschreiten.
„Wenig. Nur wenn ihm gegen seine Absicht einmal das Herz überlief. Er war ja gar zu eifersüchtig.“
„Wie denn — eifersüchtig?“
„Nun ja, er wollte Sie doch heiraten.“
„Er — mich — heiraten? Aber nein!“
„Das war doch ausgemacht zwischen Ihnen. Etwa nicht?“
„Niemals ist auch nur mit einer einzigen Silbe —“
„Jetzt schwindeln Sie, Fräulein Dodo.“
Mitten auf der schmalen Wendeltreppe bleibt sie stehen und wendet sich nach ihm um. „Ganz ehrlich, Herr Hartmann: lügen kann ich nicht. Niemals. Und wenn’s um meinen Kopf ging: die Wahrheit musst’ ich immer sagen. Das hat mir oft geschadet, ich weiss.“
Sie müssen andere Turmbesteiger vorüber lassen. An die runde Mauer ganz zurückgelehnt warten sie, bis die Schritte sich wieder entfernt haben.
„Wenn Sie so sprechen, muss ich Ihnen natürlich glauben. August ist erst im letzten Herbst zu der Erkenntnis gekommen, dass er an sein Schicksal kein fremdes mehr fesseln darf. Er hat wohl den Arzt auf Herz und Nieren gefragt. Seitdem geht es auch rapide mit ihm abwärts. Was hätten Sie aber gesagt, wenn er Ihnen eines Tages seine Werbung ins Haus geschickt hätte?“
„Früher — ja — früher hätte ich mich wohl sehr gefreut und hätte Ja gesagt.“
„So. Was heisst das: früher?“
„Ich hatte ihn da noch anders in der Erinnerung. Und bedenken Sie: Spanien, für mich das Wunderland! Nicht die graue Hofecke dort am Fleet in Hamburg! Und aufbauen können! — Ja, das ist es: aufbauen. Ich würde es nicht bei einem Menschen aushalten, der nichts mehr vom Leben erwartet. Ich brauche Hoffnung.“
„Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie liebes, kleines Konfirmandenherz.“ Er legt sogleich beschwichtigend seine beiden Hände auf ihre schmalen Schultern. „Nein, nein, ich spotte nicht. Ich bin gerührt, wahrhaftig.“
„Aber das zeigen Sie durchaus nicht. Da, um ihre Lippen zuckt’s —“
Nun lacht er hell auf, so dass in dem endlosen Turm das Echo lange nachklingt. „Ich lache ja nur, weil — weil ich mich selbst auslachen möchte! Ja, dass ich jahrelang hier im fremden Land sitze und das Schicksal anklage ... Und da kommt so ein gottgläubiger kleiner Bursch wie Sie aus der Heimat hereingeschneit und rückt einem wieder das Herz an die rechte Stelle!“
Sie hebt, noch etwas zweifelnd, den Zeigefinger. „Ist das volle Wahrheit?“
„Ja, Fräulein Dodo. Vertrauen zu sich muss man haben. Nicht aufs dumme Schicksal warten. Selber aufbauen. Ich danke Ihnen, Fräulein Dodo ... Um Gottes willen, wir verlieren ja beide das Gleichgewicht ... Sind Sie auch wirklich nicht schwindlig geworden? Und wollen Sie mit mir kommen? Ganz bis oben hinauf?“
Sie nickte ihm tapfer zu, obwohl ihr die Knie zittern. „Ja. Ganz bis oben hinauf.“
*
Nun ist der grosse Kirchenfeiertag vorbei. Bei langsam einfallender Dämmerung hat sich das anfangs unentwirrbare Durcheinander der parkenden Autos gelichtet. Puffend und tutend sind sie mit den deutschen Gästen nach Norden abgezogen. Noch weithin ist die feurige Schlange auf der Strasse nach Coruña sichtbar geblieben.
In seltsamen Fahrzeugen, meist Karren mit zwei mannhohen Rädern und einer Plane, verlassen die Wallfahrer, soweit sie nicht in Schulen oder Scheunen in Massenquartieren für die Nacht untergebracht sind, die Stadt.
Durch die Strassen ziehen noch immer die kleinen Musikbanden, die auf der Plaza vor dem Rathaus und vor den Gasthöfen und Wirtschaften ein Ständchen ans andere gereiht haben. Mandoline und Gitarre bilden die melodischen und harmonischen Instrumente. Als Schlagzeug dienen Kastagnetten, Tamburin und Triangel. Ein Teil der Musikanten singt die Volkslieder der Provinz, aber auch geistliche Hymnen, mehrstimmig, ein anderer Teil tanzt die reigenartigen Tänze, eine Art Tarantella, bei der alle Zuschauer in wachsende Erregung geraten und den Rhythmus durch Händeklatschen markieren.
In der Rúa del Villar ist es sehr spät still geworden. Maria Luisa hat mit Unterstützung des ganzen Freundinnenkreises den grossen Zwiebelkuchen aufgetragen, als Vesper, als die junge Deutsche mit Señor Arminio aus der Kathedrale zurückkehrte. Der Herr des Hauses hat noch sehr fidel mit dem Besuch geschwatzt, er war lange nicht so angeregt wie heute. Percy hat seine Preisarbeit zeigen und erklären müssen. Und die Señorita Dodo hat die Herzen aller Anwesenden gewonnen, auch der Kinder. Während sie die Kopien der Zeichnungen durchsah, sassen immer zwei der Bambini von Isabel auf ihrem Schoss. Isabel ist die Nichte von Maria Luisa und die Besitzerin des kleinen Heiligenbilderlädchens. Sie hat heute gute Geschäfte gemacht. Auch mehrere Deutsche sind auf dem Spaziergang durch die Stadt in ihren Laden gekommen und haben Wachskerzen und Biskuitstatuetten als Reiseandenken gekauft. Nun muss das noch alles ausführlich beredet werden, und so dauert es lange, bis alle Kinder schlafen gelegt sind. Das Himmelbett, in dem Señorita Dodo hat liegen sollen, bleibt noch ein paar Tage lang ein Gegenstand ehrfürchtiger Bewunderung.
Aber der Festtag ist Onkel August schlecht bekommen. Er hat starkes Fieber. Und nun beginnt gleich wieder das Gezanke mit dem Arzt, der noch einmal operieren will.
Percy ist seltsam verändert seit dem Besuch der jungen Deutschen. Der verbitterte Ausdruck um seinen Mund ist verschwunden. In seinen Augen liegt etwas Neues. Mit heiterer Gewissheit tut er seine Arbeit auf dem Bauplatz. Francisco Rioja, Augusts Schwager, der sonst fast alle Tage mit ihm in Streit geriet, findet keine Gelegenheit mehr zu Auseinandersetzungen. Armin Hartmann widerspricht nicht, er will nicht belehren, sondern er führt aus, was man ihm aufträgt. Seltsam.
„Er hat irgendeine Teufelei vor!“ beschwert sich Rioja bei seinem Schwager.
Doch auch hier findet er nicht den gewünschten Widerhall. August Hartmanns Blick geht über die nächste Umgebung gleichgültig hinweg. Er arbeitet noch, wenn das Fieber nachlässt, an den Bauplänen, führt die statischen Berechnungen aus, die das Büro bei ihm bestellt, er tut es schon rein mechanisch, zu Debatten ist er nicht mehr aufgelegt — oder nicht mehr imstande.
Fünf Wochen nach Dodos Besuch in Santiago findet Percy, als er vom Neubau kommt, den alten Kameraden ganz ohne Besinnung. Er hat ihm einen Brief von Dodo vorlesen wollen — denn sie stehen jetzt in eifriger Korrespondenz — aber August hört und sieht nicht mehr. Sein Kopf ist zurückgebeugt, das Kinn und die Nase stehen in die Luft, und die abgezehrten Hände streichen über die Decke. Es ist, als ob der müde Kranke auswendig die Orgel spielte. Armin glaubt das Spiel zu hören: die suchenden, schwebenden Läufe in den hohen Oktaven. Immer höher geht es, immer höher. Vox humana erklingt. Äolsharfe. Dann tönt nur noch das Fernregister ...
Mit gefalteten Händen ist Percy an das Totenlager des Kameraden getreten. Neun Jahre hat ihre Zelt- und Arbeits- und Leidgenossenschaft gewährt. Hundert Bilder jagen durch seine Sinne. Er bittet dem hilfsbereiten Mann alles ab, wodurch er ihn gereizt, gekränkt, gequält hat. Aber er trauert nicht, er klagt den Tod nicht an, der nun endlich als Erlöser gekommen ist.