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Von der Fürstin Cathérine Orloff erzählt dieses packende Lebensdokument. Die Fürstin hat im Leben keines Geringeren als Otto von Bismarck eine bedeutsame Rolle gespielt. Zweimal kreuzt sich sein Schicksalsweg mit dem ihren; das erste Mal in St. Petersburg, wo er preußischer Gesandter ist; ein zweites Mal in Biarritz. Abgespannt und verbittert, der Politik und den Quertreibereien müde, trifft Bismarck in dem französischen Seebad auf das Ehepaar Orloff. Bismarck ist entzückt von der Fürstin und sie zieht ihn sofort in ihren Bann.-
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Seitenzahl: 316
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Roman aus der Zeit Bismarcks
Saga
Seit ihrem sechsten Geburtstag lebte die Prinzessin Kathy Troubetzkoi bei den „Nönnchen“ von Fontainebleau. Im September 1842, gleich nach dem Tod ihrer Mutter, war sie ins Klosterpensionat der heiligen Ursula gekommen. Das zierliche Schloss am Waldpark, das ihr gehörte und für sie verwaltet wurde, betrat sie nur, wenn Verwandtenbesuch aus Petersburg oder Sagan oder Paris kam und hier im Seinetal eine Weile Hof hielt. Ihre Heimat war der ehrwürdige Klosterbau geworden. Sie hatte unter den Pensionärinnen des berühmten Stifts gute Kameradinnen gefunden und unter den Erziehungsschwestern ein paar mütterliche Freundinnen. Früh schon war ihr musikalisches Talent entdeckt und gefördert worden. Mit zehn Jahren hatte sie in einem Wohltätigkeitskonzert der russischen Kolonie das schwere Klavierstück „Die Jagd“ von Dussek gespielt. Ihr Grossonkel Peter Troubetzkoi, der Gouverneur von Smolensk, der gerade die Weihnachtsferien in Paris und Fontainebleau verbrachte und die kleine Sensation miterlebte, schenkte dem „Wunderkind“ dafür den herrlichen Erardflügel. Seitdem besass sie als einziger Zögling der Ursulinerinnen auch ein eigenes Zimmer. Es lag im Parkanbau und hatte über den Klosterfriedhof hinweg die Aussicht auf das ganze Villenviertel bis zur Seine. Im Winter sah man vom Ostfenster aus noch das Türmchen vom Schloss Troubetzkoi. Kathy war immer ein fröhliches, unbefangenes Menschenkind gewesen, aber für Geselligkeit schien sie nur wenig veranlagt; am glücklichsten fühlte sie sich, wenn sie ganz allein in ihrem zellenartig weissgestrichenen Zimmerchen am goldfarbenen Erard sitzen und spielen konnte. Mit der Klavierpädagogin des Instituts hatte sie mehrere Pariser Konzerte von weltberühmten Künstlern und Künstlerinnen besuchen dürfen. Seitdem bereiteten ihr auch die technischen Arbeiten Freude; mit dem Verständnis war der Ehrgeiz in ihr erwacht. Oft übte sie stundenlang dieselbe schwierige Passage. Zum Glück hatte der Erard den neueingeführten Verschieberiegel, mit dem die ganze Klaviatur auf ein hauchzartes Pianissimo abgestellt werden konnte, und die Klostermauern waren ja auch hier im Anbau sehr dick. Der Äbtissin blieb also der unerhörte Fleiss der Prinzessin verborgen.
Von ihrem Vater hatte Kathy das künstlerische Talent nicht geerbt. Er war General in der Garde des Kaisers Nikolaus gewesen, eine echte Soldatennatur. Nur nach schweren inneren Kämpfen hatte er um seinen Abschied gebeten, weil seine bedeutend jüngere Gattin, eine zarte, überschlanke Deutsche, entfernt verwandt mit dem Herzog von Sagan, sich in das Petersburger Klima nicht einleben konnte. Sie kränkelte, seitdem sie Mutter geworden war. Als die Ärzte ernsthaft zuredeten, eine mildere Luft aufzusuchen, und der Fürst das Schlösschen am Park von Fontainebleau ankaufte, war es zur Heilung schon zu spät. Die junge Frau starb im Frühjahr nach der Übersiedlung. Troubetzkoi gab das einzige Kind zur Erziehung ins Kloster der heiligen Ursula. Die Einsamkeit quälte ihn aber sehr. Er war schon entschlossen, nach Petersburg zurückzukehren, als ihn ein Jagdunfall im Wald von Fontainebleau jäh aus dem Leben riss. Vormund von Kathy wurde ihr Grossonkel, Fürst Peter Troubetzkoi, ein kluger, tapferer Mann, als Soldat gewiss noch bedeutender als Katbys Vater. Bei der Niederwerfung des Polenaufstandes hatte er sich besonders ausgezeichnet. Für ihn gab es nur Pflicht und Dienst. Seit er Gouverneur von Smolensk geworden war, hatte er sich erst ein einziges Mal Pariser Urlaub genommen, um auf der Reise auch endlich seine kleine Grossnichte kennenzulernen.
Alle Troubetzkois erschienen Kathy, die dem Typ ihrer Mutter angehörte, wie aus einer fremden Welt.
Da war auch noch der Fürst Sergej, der „Unglückswurm“ der Familie. Er hatte als junger Mensch an der Dekabristenverschwörung teilgenommen und war damals auf Lebenszeit nach Sibirien verbannt worden. Vor drei Jahren hatte Zar Nikolaus – aus Anerkennung und Dankbarkeit für seine treuen alten Generale Troubetzkoi – deren in die Irre geratenen Verwandten begnadigt. Vom berüchtigten Totenhause im Fernen Osten aus kam der in Freiheit gesetzte Fürst Sergej ins Schlösschen von Fontainebleau, vom Senior der Familie mit dessen Verwaltung beauftragt. Aber die vieljährige Leidenszeit in Sibirien machte ihm die Rückkehr ins gute Leben recht schwer. Es war noch vieles wund in ihm, wenn nicht zerbrochen. Für Kathy schwärmte er. Jeder Huschbesuch von ihr im Schlösschen war für den alten Herrn ein Glück. Ihr musikalisches Talent erschien ihm geradezu als eine göttliche Zaubergabe. „Du musst es von den Deutschen haben, von deiner Mutter her oder von der Grosstante Dorothea, musikalische Genies hat es bei uns Troubetzkois ja nie gegeben!“ versicherte er ihr.
Diese Grosstante Dorothea, die vom Preussenkönig den Titel einer Herzogin von Sagan erhalten hatte, war jetzt nach längerer Pause wieder einmal nach Paris gekommen und veranstaltete in ihrem Palais verschiedene grosse Empfänge. Es war ein festliches Ereignis für Kathy, als sie von der Herzogin die Einladung erhielt, bei einem Tee zu erscheinen zu dem auch Kaiser Napoleon III. sowie hervorragende Vertreter der Diplomatie, der Wissenschaft und der Kunst erwartet wurden, und im Rahmen eines kurzen Kammerkonzerts eines der neuen Pariser Virtuosenstücke vorzutragen. Kathy war jetzt kein Wunderkind mehr – sie hatte im vergangenen September ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert –, lieber als mit effektvoller Salonmusik von Cramer, Field oder Czerny wäre sie also mit einem ernsthaften Werk von Liszt oder dem neuentdeckten und viel befehdeten Berlioz hervorgetreten. Aber über das Programm entschied nicht sie, sondern ein ganzes Komitee von Festarrangeuren im Hause der Herzogin. Der Pariser Reisetag war angefüllt mit hundert bunten Erlebnissen. Aus dem Kloster kamen Schwester Berthe mit, Kathys Lieblingslehrerin, und die kleine Octavie, die ihr nun dauernd als Kammerzofe zugeteilt war, eine fixe, intelligente, in jeder Handarbeit geschickte Pariserin. Auch Onkel Sergej hatte seine Begleitung angeboten, doch die Äbtissin hielt es für ausreichend, wenn auf dem Bock des Reisewagens neben dem Kutscher ein Schweizer in Uniform sass.
Onkel Sergej war indes ebenfalls nach Paris gefahren und hatte bei der Herzogin auch für sich eine Einladung erreicht. Da nämlich der Kaiser erkrankt war und mit ihm zahlreiche Gäste ausfielen, brauchte die Liste der zum Tee zu Empfangenden nicht mehr allzu ängstlich kontrolliert zu werden. Übrigens hatte der russische Gesandte den unglücklichen Sergej Troubetzkoi ja in kleinem Kreise selbst empfangen, also schien die Gnade des Zaren doch endlich alle Erinnerung an Schuld und Sühne des reuigen Sibiriers auslöschen zu wollen. In dem pompösen Pariser Palais der Herzogin war Sergej zum erstenmal wieder dem wirklich grossen Leben begegnet. Eine Menge uralter Bekanntschaften aus Petersburg hatte er da erneuern können. Mit keiner Silbe war seine lange Leidenszeit berührt worden.
Als Kathy zum Flügel trat, packte ihn das Lampenfieber. Er stand mit seiner Teetasse am Kamin im Nebensalon, im Gespräch mit einem strahlend schönen russischen Garderittmeister. Vor Aufregung zitterten Sergej die Knie und die Hände. Er musste sich setzen und die Teetasse, die zu klappern begann, an einen Bedienten abgeben. Plötzlich war es feierlich still geworden. Die Herzogin sagte drinnen ein paar einführende Worte. Es lagen wie immer Witz und Überlegenheit in ihrer Art; verständnisvoll wurde gelächelt oder leise gelacht. Dann begann Kathy das grosse Konzertstück in f-moll von Weber.
„Das ist doch keine Klosterschülerin – das ist ja eine Himmelstürmerin!“ sagte ein Professor der Sorbonne dicht vor Sergej. Ein paar Damen fächelten sich Luft zu, so erregte sie die Leidenschaft, die stürzend, hämmernd, peitschend von den schlanken Mädchenhänden in dem Konzertflügel geweckt wurde. Eine der wichtigsten Hofschranzen von Napoleon III. sass neben der Herzogin und warf ein „Excellent!“ nach dem andern zum Flügel hin. Es war nicht wie sonst in diesen Kreisen, dass die Aufmerksamkeit nach den ersten Minuten abflaute und die Gespräche wieder aufgenommen wurden, um sich allmählich immer ungenierter breitzumachen und erst zum Schlussapplaus abzubrechen. Nein, selbst unmusikalische Gäste schienen zu empfinden, dass hier eine grosse künstlerische Kraft unmittelbar auf sie einwirken wollte.
Der junge russische Offizier hatte seinen Sitzplatz einem verspäteten Ehrengast abgegeben. Er stand zwischen dem Kamin und dem winzigen Rokokostühlchen, auf dem Sergej sass. Der alte Herr hatte die Stirn in beide Hände gesenkt. Er rührte sich auch nicht, als das ganze Auditorium zu klatschen begann und alles in den Mittelsaal drängte, um die junge Künstlerin in der Nähe zu sehen und zu begrüssen. Als der Rittmeister begeistert in den allgemeinen Applaus einstimmte, blickte Sergej auf, wie erschrocken.
„Warum applaudieren Sie nicht mit?“ fragte ihn lächelnd, aber fast vorwurfsvoll der Gardeoffizier. „Bitte helfen Sie doch! Vielleicht spielt die junge Künstlerin dann noch einmal. Ich könnte hier stundenlang stehen und zuhören. Man macht bei uns in Petersburg ganz andere Musik. Freilich komme ich da nicht in richtige Konzerte.“
„Aber gewiss sind Sie sehr musikalisch?“ fragte Sergej, gehorsam Beifall klatschend.
„Nein, ich spiele kein Instrument. Singen kann ich schon gar nicht. Aber das hier mitzuerleben ist eine Freude. Es muss eine ganz grosse Künstlerin sein. Dabei noch so jung Nicht?“
„Am vierzehnten September wird sie neunzehn Jahre.“
„Oh, Sie kennen sie?“
„Es ist meine Nichte. Sie steckt noch im Klosterpensionat. Ausgehen soll sie erst nächsten Winter. Die Herzogin nimmt sie dann wohl nach Deutschland mit.“
Der Rittmeister hörte zu applaudieren auf und hielt Sergej die Hand hin. „Oh, Sie müssen mir erzählen, bitte ... Ich bin Ihnen vorhin mit meinem Chef zusammen vorgestellt worden. Aber dabei wurde mein Name nicht genannt. Ich bin sein Adjutant Orlow. Nikolai Alexejewitsch Orlow.“
Sergej hatte die ihm dargebotene Rechte voll herzlicher Freude festgehalten. „Sergej Troubetzkoi. Aber nur ein ganz bescheidenes Anhängsel des alten Hauses. Meine Nichte Kathy ist die Tochter des Fürsten Wassilij Troubetzkoi, der als General seinen Abschied genommen hat. Der Gouverneur von Smolensk ist Ihnen dem Namen nach doch bekannt, wie? Das ist Grossonkel Peter Troubetzkoi, der Vormund meiner Nichte.“
Die ganze Zeit über hatte der Rittmeister seinen Blick nicht von der schlanken jungen Mädchengestalt gewandt, die im Saal drinnen umringt wurde. Er war um einen Kopf grösser als Sergej und sah über die meisten Gäste bequem hinweg.
Die Herzogin hatte ihr Nichtchen leicht umarmt und rechts und links flüchtig auf die Wangen geküsst. Dabei lachte sie plötzlich erschrocken auf, denn die junge Künstlerin war so heiss, als hätte sie Fieber. „Also nur noch einen leichten Walzer von Chopin!“ ordnete sie gnädig an.
Die Gäste im Hauptsaal nahmen alle wieder ihre Plätze ein. Aber es gab noch mehrmaligen Wechsel, weil auch aus den Seitensalons Damen hereingekommen waren und sich nun suchend nach Sesseln umsahen. Diener schleppten eilig kleine goldene Stühle herbei.
Dem überlegen-koketten Walzer folgte fast noch stärkerer Applaus als dem aufwühlenden Konzertstück. Inzwischen hatten auch die Fernerstehenden begriffen, dass es sich um keine Virtuosin handelte, die man jederzeit für Geld im Konzertsaal hören konnte, sondern um eine Verwandte der Herzogin. Schon um die Hausfrau zu ehren, steigerte man also die Begeisterung immer mehr und setzte noch eine weitere Zugabe durch.
Aber die wählte Kathy nun selbst aus. Sie spielte ein Notturno von Chopin. Es begann sehr einschmeichelnd, dabei melancholisch. Das Tempo verlangsamte sich, der Rhythmus verlor das Wiegenmässige des Sechsachteltaktes, und der Mittelteil war ganz rhapsodisch. „Das klingt jetzt wie ein Abschied zwischen Liebesleuten, die viel Unglück durchgemacht haben“, sagte der Rittmeister leise.
Sergej war erstaunt, dass ein Petersburger Gardeoffizier ein so tiefes Verständnis für so feine Seelendinge besass. Dieser junge Fürst Orlow war der Sohn des Alexej Fedorowitsch, des Generaladjutanten des Zaren, ein Offizier also, dem eine Karriere offenstand. „Sie hat es mir zu Silvester einmal vorgespielt“, erwiderte Sergej, als das Stück still und verträumt geschlossen hatte, „da sind mir bei Gott die Tränen gekommen. Ist es eine Schande, das als alter Mann einzugestehen?“
In den Applaus und das Durcheinander der Stimmen mischte sich das leise Klirren von Gläsern. Diener kamen mit silbernen Brettern und boten Champagner an. Die Gläser in der Hand, drängten sich viele Damen und Herren um die am Flügel stehende junge Künstlerin, die noch ganz benommen schien.
„Kommen Sie, Nikolai Alexejewitsch, sagen Sie meiner Nichte ein Wort über ihr Spiel und das Stück, es wird sie freuen.“
Der Rittmeister sah drinnen nur lauter weissköpfige Grosswürdenträger. Der Jüngste der im Kreis der Herzogin Stehenden war sein Oberst und Regimentschef. „Nicht jetzt. Nicht hier. Die Prinzessin braucht auch wohl Waffenstillstand nach soviel Attacken der Begeisterung.“
Sergej fand den neuen jungen Bekannten allerliebst; er hatte ziemlich rasch zwei Glas Champagner getrunken und folgte nun ganz seiner Empfindung. „Ich lade Sie ein, Nikolai Alerejewitsch, am Sonntag bei mir zu frühstücken. In Fontainebleau, im Schlösschen der Prinzessin. Ich werde ihr Urlaub von der Äbtissin erwirken. Vielleicht ergibt es sich, dass sie nach dem Essen wieder spielt. Ich bitte nur einen ganz kleinen Kreis zu Tisch. Sie liebt die grossen Empfänge nämlich gar nicht. Das wäre scharmant, wenn es sich machen liesse, dass Sie teilnehmen.“
Der junge Fürst Orlow sagte sofort freudig zu. Lächelnd meinte er: „Es ist dann freilich das erstemal, dass mein Chef ohne mich das Dejeuner einnehmen muss.“
„Soll ich ihn auch einladen?“
„Nein, bitte nicht. Er hasst ja alle Musik, sofern es nicht die der Reiterparade unseres Regiments ist. Bei Webers Konzertstück hat er sicher Qualen ausgestanden.“
Sergej sah, dass Orlows Chef – auch Träger eines sehr bekannten Adelsnamens – sich für die überstandenen Qualen mit Champagner reich belohnte: er kippte solch einen Champagnerkelch mit einem kurzen Ruck rasch, ganz genusslos, in die Kehle, wobei er sich, wie bei einem Kognak, leicht schüttelte. „Also erwarte ich Sie ohne ihn. Um ein Uhr wird serviert. Man hat ja jetzt die neue Eisenbahnverbindung, da ist es gar nicht mehr umständlich von Paris aus.“
„Bitte, sagen Sie der Prinzessin, dass ich nur deshalb jetzt nicht gleich zu ihr gekommen bin, weil ich sie schonen wollte. Es sind nun schon zweihundert Gäste, die ihr die Hand gedrückt und ihr ein ‚Excellent!’ gesagt haben.“
Sie verabschiedeten sich, der Rittmeister dankte noch einmal für die Einladung; man merkte ihm an, wie herzlich er sich freute. Er wirkte so jung und frisch wie ein Leutnant mit seinen grossen, strahlenden schwarzen Augen, dem bartlosen Gesicht, der schlanken, wendigen Reitergestalt. Sergej sah ihn hernach noch mehrfach in verschiedenen Gruppen. Immer stand er so, dass er Kathy ins Auge fassen konnte. Unbedingt musste er auch ihr schon aufgefallen sein, denn er war doch einer der wenigen jungen Gäste hier. Aber eine Gelegenheit, sich ihr zu nähern, ergriff er nicht. Fast schien’s, als ob er zu schüchtern wäre.
Dabei erzählte die alte schnarrende Exzellenz Revard, der frühere Petersburger Gesandte, mit dem Sergej über Nikolai Orlows Vater, den Generaladjutanten des Zaren, ins Gespräch kam: „Fedorowitsch hat genau denselben Exerzierteufel in sich wie Ihr berühmter Onkel, der Peter Wassilijewitsch, beide sind vom tollen Soldaten gebissen, haben ihre fünf Sinne vom Herrgott scheint’s nur bekommen, um sie restlos im Kasernendrill für den Zaren aufzubrauchen. Die Karriere, das Pferd, abends ein mächtiger Schlaftrunk, fertig. Weiber und Weiberchen – vakat. Allen Sinn und alles Talent dafür hat der gute Fedorowitsch wohl seinem Filius überlassen. Der ist in Petersburg ja Schnittlauch auf allen Suppen.“
„Nicht möglich!“ Sergej beteuerte: „Mir erschien er Damen gegenüber fast allzu zurückhaltend.“
„Vielleicht alten Damen gegenüber.“
„Er ist ein Bild von einem Gardeadjutanten. Strahlend, geradezu strahlend.“
„Ja, äusserlich so glatt wie eine Schiessscheibe, aber dabei knackt er die Weiberherzen, dass es kracht wie Pelotonfeuer. In ganz Petersburg ist er der frechste Attackenreiter, den Sie sich vorstellen können. Auch im Salon. Prosit, Alterchen! Das ist übrigens ein guter Champagner. Die Herzogin hat ihn nicht, wie früher einmal eine ihrer Schwestern, aus Sagan mitgebracht, sondern lieber gegen Bargeld aus Epernay bezogen. Seine Majestät hätte sich ihr schlesisches Fabrikat selbst mit Todesverachtung nicht einverleibt. Jetzt wird es Zeit, sich zu empfehlen. Hat mich sehr gefreut ...“
Sergej beobachtete bis zum Abschied den schwarzäugigen Rittmeister Nikolai und die blauäugige Kathy. Sie schien wahrhaftig einen tiefen Eindruck auf ihn auszuüben. Hatte sie ihn so ganz und gar gewandelt? Von der ihm nachgesagten Angriffsfrechheit war auch nicht das geringste wahrzunehmen. Er beteiligte sich da und dort höflich am Gespräch innerhalb einer Gästegruppe. Aber immer wieder verstummte er und heftete den forschenden, brennenden Blick seiner schwarzen Augen auf den feinen, schmalen Kopf der Prinzessin. Sie ward in wechselndem Kreise immer wieder der Mittelpunkt. Ein Kulturhistoriker von der Sorbonne führte jetzt mit ihr ein eingehendes Gespräch über musikalische Dinge. Sie beantwortete seine Fragen sehr natürlich und ohne Schüchternheit. Aber der Zwang, Rechenschaft geben zu sollen über ihre Empfindungen beim Studium und beim Vortrag der schweren neuen Klavierliteratur, machte sie nun doch schon etwas ungeduldig. Sie liess ihre blauen Augen mehrmals durch den Saal schweifen, und ihr Blick blieb dann stets in dem von Nikolai Orlow hängen.
Sergej dachte an Einsamkeiten und Sehnsüchte, durch die ihn sein trauriges Dasein in den langen sibirischen Jahren geschleppt hatte. Wenn er als junger Mensch ein junges Mädchen gekannt und geliebt hätte wie diese wundervolle Kathy, dann wäre er gewiss nicht so elendiglich aus seiner Lebensbahn herausgerissen worden.
Ich tue ein gutes Werk, wenn ich die beiden jungen Leute miteinander bekannt mache. Und je eher, desto besser. Warum soll sie erst mit der Herzogin nach Deutschland? Dort gibt es ein zu schnurriges Volk. Wer weiss, ob man ihr da je einen Bewerber zuführt, der ihr so gefallen kann wie der Nikolai Orlow? Mag die alte Exzellenz auch lästern über ihn, für ein frisch aus dem Klosterpensionat ins Leben tretendes Prinzesschen ist er wahrscheinlich gerade der Rechte.
Sergej lachte, als er draussen in den Landauer stieg, der ihn in Kathys Schloss nach Fontainebleau zurückfahren sollte, und patschte sich unternehmend aufs Knie.
Ich präsentiere ihr den schönsten, ritterlichsten und frechsten Liebhaber von ganz Paris und Petersburg. Wenn sie in Liebesdingen nur den hundertsten Teil so begabt ist wie im Klavierspiel, dann endigt unser kleines Dejeuner am Sonntag mit einer grossen Verlobung!
*
Aber der Traum des Fürsten Sergej Troubetzkoi, das junge Paar bei einem stimmungsvollen, intimen kleinen Sonntagsdejeuner fürs Leben zusammenzuführen, musste sich verschiedene Wandlungen gefallen lassen.
Die Äbtissin hätte ihre Einwilligung, dass Kathy für ein paar Sonntagsstunden ins Schloss beurlaubt wurde, ohne weiteres gegeben. Für sie war Kathys weissköpfiger Onkel Sergej der Träger der väterlichen Gewalt. Vom politischen Drama seines Lebens verstand sie nur wenig. Die Herzogin aber kam nach Fontainebleau, machte der Äbtissin ihren Besuch, um mit ihr über die Zukunft ihrer Nichte zu sprechen, und sie erschrak doch sehr bei der Vorstellung, Kathy sollte bei einem Manne, der in seinem Vaterlande immerhin als Halbverlorener galt, allein, ohne dame d’honneur, zum Frühstück erscheinen!
Vom Kloster aus fuhr die Herzogin also unmittelbar ins Chateau Troubetzkoi. Sergej wurde in den Garten gerufen. Er steckte noch im Jagdanzug, denn er war gerade aus dem Wald gekommen. Das Reh, von dem der Koch das Filet für das Sonntagsdejeuner nehmen, spicken und schmoren sollte, mit feinen Pilzen und Kräutern, hatte er diesen Morgen selbst geschossen.
Die Herzogin trat nicht erst ins Schloss ein, denn sie stieg ungern Treppen. Seit dem schmerzlichen Ende ihres Freundes Lichnowsky war sie selbst schwer leidend, man hatte sie schon mehrmals totgesagt. Auf ihren Stock gestützt, stapfte sie um das Rosenoval des Vorgartens. Sergej schritt höflich, fast etwas zu devot, links neben ihr, immer um einen halben Schritt zurückbleibend.
„Nikolai Alexejewitsch hat Ihre Einladung angenommen, mein lieber Troubetzkoi, ohne seinen Chef zu fragen. Wenn sein Kommandeur erfährt, dass er Sie besuchen will, muss er Ihnen absagen. Sie sind ein intelligenter Kopf, mein lieber Troubetzkoi, man braucht Ihnen die Zwischenstufen seiner Überlegung nicht erst haarklein auseinanderzusetzen, wie?“
Sergej schluckte. Fast versank er schon wieder in die Rekrutenergebenheit, die der Sträfling in Sibirien auch dem gemeinen Kosaken gegenüber zur Schau tragen muss. Aber noch wetterleuchtete es in ihm. „Ich hatte die grosse Freude gehabt, Herzogin, von Ihnen empfangen zu werden, und war mir nicht bewusst, dass ich auch hier auf französischem Boden noch unter der Gewalt der russischen Knute stehe.“
„Sie nicht. Ich auch nicht. Aber wir beide denken eben nicht daran, je im Leben noch einmal über die russische Grenze zu reisen. Bei Orlow und seinem Chef ist das anders.“
„Ich bin sehr traurig, Herzogin. Ich hatte mir es so hübsch ausgedacht. Nur sechs Gedecke. Gewissermassen en famille. Denn Kathy ist doch meine rechtmässige Nichte ...“
„Der Hof kommt soeben nach Fontainebleau. Dem Kaiser geht es wieder leidlich. Er hat heute Teegäste. Ich werde auch da sein. Sie müssen noch ein paar notable Leutchen vom Hof zu Ihrem Frühstück bitten. Was wollen Sie reichen lassen mein lieber Troubetzkoi? Wen haben Sie denn jetzt als Küchenchef? Ist es noch Lamartine, der die schönen Pasteten bäckt?“
Ein rettender Gedanke schoss Sergej durch den Sinn. „Ach, meine gnädigste Herzogin, nehmen Sie doch über Sonntag hier in Fontainebleau Aufenthalt! Die Zimmer in der ersten Etage sind bereit. Wie wäre es, wenn Sie statt meiner die Sonntagsgäste hier empfingen? Ich nehme Ihnen natürlich alle Arbeit ab. Das Schloss Troubetzkoi wäre doch wie beflaggt, wie illuminiert, wenn Sie selbst die Gnade hätten ...“
„Bleiben Sie mit beiden Fusssohlen an der Erde, mein lieber Troubetzkoi! Bis zu meinem sechzigsten Lebensjahr – in dem ich offiziell neunundvierzig wurde – habe ich so getan, als ob ich auch die irrsinnigste Schmeichelei glaubte. Inzwischen habe ich mit Gottes Hilfe das offizielle halbe Hundert Lebensjahre erreicht und kann die über Eitelkeiten Erhabene spielen. Also gut, ich werde ein paar Tage hier residieren, mein lieber Troubetzkoi. Nicht um das Schloss zu schmücken, sondern um Ihnen und Kathy eine Blamage und eine Enttäuschung zu ersparen. Schicken Sie sogleich Boten an meine Leute nach Paris. Ich brauche Gepäck, brauche die Hofmeisterin, meine zweite Kutsche, ein paar Jungfern und den Stafettenreiter. Und bitten Sie Exzellenz Revard um die Liste der für die Galaoper Geladenen. Es ist eine Unmenge Russen von Rang hier. Wenn schon der Fürst Orlow gebeten ist, muss auch der Fürst Soundso geladen werden.“
„Schade!“ sagte Sergej. „Sobald mehr als drei Herren aus Petersburg beisammen sind, sprechen sie russisch, und dann wird immer politisiert. Ich dachte aber nicht an eine aufgeregte russische Adelsversammlung, sondern an ein harmlosfröhliches Pariser Dejeuner.“
„Selbstverständlich muss auch nettes junges Volk dabei sein. Kathy soll tanzen. Das Kind ist mir viel zu nachdenklich. Sie lebt ja schon immer nur in ihrer klösterlichen Einsamkeit. Revard muss uns ein Dutzend guter Tänzer herkommandieren. Die dazu passenden jungen Küken kann Madame Oboussier aus meiner Besuchsliste aussuchen.“ Sie schritt nun auf das Schloss zu und stieg die paar Stufen zur Terrasse empor. „Haben Sie noch die gelbseidenen Gobelins im grossen Gartensaal? Gut. Dann nehme ich mein schwarzes Spitzenkleid, das mit der spanischen Kirchenspitze. Beeilen Sie sich jetzt nur, damit die Einladungen alle noch heute ausgetragen werden, mein lieber Troubetzkoi. Ein improvisiertes Frühstück selbstverständlich, ganz einfach.“
Eine Stunde darauf gab es eine neue Verwicklung. Zum Frühstück am Sonntag hatte der Kaiser soeben Herrentafel anbefohlen. Es waren vierzig Geladene, darunter auch einige Gäste, an die die Herzogin gedacht hatte.
„Die werden nun vielleicht argwöhnen, man habe gewusst, dass sie zum Dejeuner bereits versagt sind“, meinte die Herzogin. „Also lädt man sie besser noch zum Diner um sieben.“
Aus dem kleinen Dejeuner en famille wurde nun ein Empfang mit zwanzig Gedecken. Zum Tanz und zum Tee kamen anderthalb Dutzend neue Paare hinzu, und zum Diner der Neugeladenen sollte dann von den alten Gästen bleiben, wer Zeit und Lust hatte.
Sergej sah sich aus seinem ländlichen Einsiedlertum im Verlauf weniger Stunden völlig herausgerissen. Er musste sich und musste das Schloss Troubetzkoi auf eine Riesengasterer nach russischem Muster vorbereiten. Lamartine, der alte Koch, konnte das allein gar nicht bewältigen. „Man muss es einrichten, wie wir es immer in Petersburg im Kasino machten“, sagte Sergej, der sich seiner paar glänzenden Jugendjahre entsann. „Die kalten Platten schickt der Patissier, das Geflügel wird vom Feinbäcker am Spiess gebraren, und der Koch besorgt nur die Bouillon, die Forellen, alle Sossen und Salate und die Desserts. So wird es gehn. Aber die Hilfsbedienung wird noch Kopfschmerzen machen. Man kann doch keine Pariser Kellner mieten und in die Livree stecken. Freilich – warum nicht? Niemand kennt sie.“
Es machte ihm schliesslich selbst grossen Spass, einmal wieder so ganz aus dem Vollen wirtschaften zu können. Die Rechnungen, die er gegenzeichnete, gingen alle zur Bank. Grossonkel Peter würde sich wundern, wenn er die Endsumme hörte; er liess sich zu Quartalsbeginn immer den Kontoauszug nach Smolensk schicken. Nun, vielleicht schrieb man ihm doch lieber gleich im nächsten Bericht von dem Besuch der Herzogin Dorothea ...
Eine einzige schwere Sorge belastete Sergej in den nächsten beiden Tagen, an denen von früh bis spät ein geschäftiges, fast schon festliches Leben und Treiben im Schloss herrschte, denn die Herzogin empfing ununterbrochen Besuche ... Am Sonntag sollte nach dem Diner von den jungen Leuten getanzt, für die Nichttänzer aber sollten Whist- und L’hombre-Tische im Gelben Saal aufgestellt werden. „Dann gibt es im Blauen Zimmer auch sicher wieder eine kleine Bank!“ sagte Sergej und seufzte.
Die Herzogin kam in bester Laune vom Tee aus dem kaiserlichen Jagdschloss. Sie war voller Bonmots über die Schranzen, die sie da aus früherer Zeit wiedergetroffen hatte. Es gab darunter einige, die auch dem schärfsten politischen Wechsel in williger Gangart gefolgt waren. „Die opfern blitzschnell jede heilige Überzeugung – nur nicht das winzige Pöstchen, auf das sie ein launischer Zufall gesetzt hat. Für diese Sorte ist das Kartenspiel die einzige erwünschte Unterhaltung. Dabei brauchen sie ihre Gedanken nicht zu verraten und können mit guter Miene ihre Mitmenschen schädigen.“
„Ich bin immer unglücklich, wenn gespielt wird“, gestand Sergej, „denn ich habe das Gelübde getan, keine Karte mehr anzurühren.“
„Das war nach einem grossen Verlust?“
„Ich verlor damals den Herrschaftssitz meines Vaters im Baltikum, dabei zehn grosse Dörfer.“
„Dann lohnte sich das Gelübde ja gar nicht mehr, mein lieber Troubetzkoi.“
Nun lachten sie beide.
„Aber dass Sie Ihr Gelübde halten, solange ich Gast dieses Hauses bin, das bitte ich mir aus, mein lieber Troubetzkoi!“
*
Das Schloss hatte Leben bekommen. Auch die Parkwege waren frisch aufgeschüttet und geharkt. Die stille Luft, die Sonne, das junge Grün der Bäume machten den Gästetag so sommerlich, dass man schon früh alle Südfenster öffnete. Die Treibhäuser waren tüchtig geplündert worden, denn die Herzogin galt für eine grosse Blumenfreundin. Nachdem sie von der Frühmesse bei den Ursulinerinnen heimgekommen war, begann sie ihre Toilette. Nicht nur ihre Hofmeisterin und die beiden Zofen waren um sie bemüht, sondern auch eine Spezialfriseuse aus Fontainebleau. Mit dem Vormittagszug kam dann noch die Schneiderin aus Paris, die einen über Nacht gezauberten seidenen Umhang brachte.
Von zwölf Uhr ab wanderte Sergej durch die Parterreräume des Schlösschens, traf noch Verabredungen mit der Hofmeisterin der Herzogin, mit dem Kammerdiener und den geborgten Servierleuten, machte Besuch beim Koch Lamartine, der heute eine besonders hohe weisse Mütze trug, lief geschäftig über den Hof und warf einen Blick in den Stall, ging in den Obstgarten und sprach mit dem Obergärtner. Aber er hörte gar nicht, was der Alte ihm erwiderte ... „Das sind doch die Schimmel von den Ursulinerinnen!“ rief er plötzlich und eilte quer über Rasen und Beete auf das schmiedeeiserne Tor des Vorgartens zu, das der Pförtner soeben öffnete.
Ja, es war der breite alte Wagen vom Kloster. Auf dem Bock sass neben dem Kutscher die kleine Octavie, die ein hochmütig-abwehrendes Gesicht schnitt, weil man sie von einem alten Angestellten der Nonnen doch nicht die Cour machen lassen konnte. Aus dem durch Fenstervorhänge verdunkelten Innern stieg Schwester Berthe heraus, ihr folgte die Prinzessin.
Kathy trug keinen Hut, nur einen Schleier über dem Haar. Sie hatte sehr viel Haar. Es wirkte wie eine Last, schien viel zu schwer für den schmalen, feinen Kopf. Das Haar hatte den braunen Ton einer Pferdehaut mit goldenem Schimmer. Die blauen, tiefblauen Augen überraschten Sergej wieder sowohl durch ihre Farbe als auch durch ihre Ausdrucksfähigkeit.
Beide Hände ihr entgegenstreckend, nahm er seine Nichte in Empfang. Dann begrüsste er Schwester Berthe, der er ausrichtete, dass die Herzogin sie sogleich oben sprechen wolle, und als er Kathy ins Schloss führte, ihre Jugend sah, den Blumenduft im Hause einsog und die warme, fröhliche, junge, liebe Altstimme von Kathy hörte, da fühlte er plötzlich: dieser Frühlingssonntag war der Gipfelpunkt seines Lebens.
„Ich bin sehr glücklich, dass du gekommen bist, Katharina!“ sagte er. Unwillkürlich hatte er nun russisch gesprochen.
Aber seine Nichte erwiderte ihm französisch: „Ich bin nicht Cathérine, auch nicht Katharina. Meine Mutter hat mich nie anders genannt als Kathy. Und wenn sie ganz verliebt in mich war: Katsch!“
Lachend stiegen sie die Marmortreppe ins Obergeschoss empor. Die Kammerfrau der Herzogin, die den Titel Hofmeisterin führte, stand feierlich in der offenen Tür und nahm den Besuch in Empfang.
Und jetzt begann auch gleich der Festtrubel. Draussen fuhren soeben die ersten Pariser Wagen vor. Auf die Minute hatten die Militärs die Zeit innegehalten. Nur die Diplomaten hinkten ein Viertelstündchen nach.
Sergej hatte eine ganze Menge wirtschaftlicher Dummheiten gemacht; er wusste, dass die Herzogin, die immer in der grossen Welt gelebt hatte, auch noch manchen schweren Etikettefehler entdecken würde, von dem er selbst bis jetzt nichts ahnte. Aber die Stimmung liess er sick davon nicht beeinträchtigen. Er war wie verwandelt, voll festlicher Erwartungen. Dass der junge Fürst Orlow die Prinzessin Kathy als Tischnachbarin bekam, damit war die Herzogin zum Glück einverstanden gewesen. Sergej bemerkte lächelnd das nicht geringe Erstaunen Orlows, als dieser die grosse glänzende Gesellschaft sah, die sich in den Empfangsräumen des Schlösschens versammelte. Aber da Kathy hier nicht wie im Pariser Palais der Herzogin dauernd von Grosswürdenträgern umringt war, fand der Rittmeister sehr rasch Gelegenheit, sich ihr zu nähern. Natürlich sprach er sie auf das Notturno von Chopin an, gestand ihr indes sogleich, dass er selbst gar nichts von Musik verstände.
Sie trug durchaus nicht das Wesen einer gefeierten und verwöhnten Künstlerin zur Schau, sondern gab sich ganz natürlich, ging fröhlich auf seinen Ton ein und machte sich sogar ein bisschen lustig über die feierliche Art der Berühmtheiten von der Sorbonne, in deren Kreis sie neulich für die Dauer einer Teestunde ausgenommen worden war.
„Klavierspiel ist ja nur die Fertigkeit, den rechten Finger zur rechten Zeit auf die rechte Taste zu setzen“, sagte sie und blickte ihn schalkhaft an. „Im Cirque d’hiver soll es einen Artisten geben, der die grössten Kunststücke auf dem Piano fertigbringt, indem er auch noch seine Ellbogen, seine Nasenspitze, die Stiefelabsätze und das Kinn dafür zu Hilfe nimmt. Das Klavier ist eigentlich ein recht unmusikalisches Instrument. Nicht?“
„Aber Sie haben es doch zum Singen gebracht, Prinzessin. Ihr Onkel Sergej hat mir allerdings verraten, dass Sie unerhört fleissig üben.“
„Ja, das muss man. Selbst wenn man nicht im Cirque d’hiver Triumphe feiern will. Ich merke es schmerzlich, wenn ich einen einzigen Tag lang nicht zum Üben kam. Nach zwei Tagen merkt es meine Lehrerin. Und nach drei Tagen – ach, da könnte man ein ganzes Konzert veranstalten mit den Noten, die mir dann unters Klavier fallen.“
„Die grossen Bravourstücke, bei denen es so wirblig zugeht, verstehe ich nicht.“
„Ich liebe sie auch nicht. Ein ganz kleines Lied kann mir viel mehr geben.“
„Dann spielen Sie heute, bitte, noch einmal das Notturno! Ja?“
Kathy sah sich um. „Man wird heute tanzen.“
„Zwischen zwei Tänzen – um die ich Sie bitte, Prinzessin.“
„Wenn Tante Dorothea einverstanden ist, gern. Aber Sie dürfen nicht die ganze Gesellschaft dafür alarmieren. Drüben im Blauen Zimmer, wo später die L’hombre-Tische aufgestellt werden, steht der Stutzflügel, auf dem meine Mutter so gern gespielt hat.“
„Sie sind früh Waise geworden, hörte ich, waren Ihre ganze Kindheit immer allein.“
„Als Kind habe ich’s nicht anders gekannt. Aber jetzt denke ich oft, es muss wunderschön sein, Mutter oder Vater zu haben – einen erwachsenen Menschen, dem man alle ernsten und alle fröhlichen Dummheiten erzählen kann, die man sich ausdenkt.“
Er lachte herzlich. „Oh, Prinzessin! Wenn ich mir vorstelle, ich hätte meinem Vater auch nur ein einziges Mal ein vertrauliches Wort sagen sollen – unmöglich. Er war immer Respektsperson für mich, zuallererst Vorgesetzter.“
„Schade. Ohne Respekt kann ich mir das Leben nicht denken. Aber ohne Vorgesetzte wäre es gewiss noch viel, viel lustiger.“
Als der Herzogin gemeldet wurde, dass serviert sei, und man zum Frühstück ging, kam Sergej an dem jungen Paar vorüber.
„Wie gefällt dir dein Tischherr, Kathy?“ fragte er sie heimlich.
„Wir lösen die tiefsten Probleme der Menschheit“, sagte sie und machte ein übertrieben feierliches Gesicht.
Und Nikolai Orlow, den er im Vorbeigehen vertraulich in den Arm kniff, meinte lachend: „Sie ist ein rechter Kobold, man kann kein vernünftiges Wort mit ihr reden!“
Sergej rieb sich die Hände. „So ist es richtig!“
Bei der Tafel gab er sich beglückt den Überraschungen des Küchenchefs hin. Verschiedene vorwurfsvolle oder auch leicht entsetzte Blicke, die die Herzogin ihm zu seinem bescheidenen Platz am Tischende zusandte, fing er gar nicht auf. Er ass und trank. Er trank sogar reichlich. Es befanden sich mehrere nette Paare an der Tafel, über die er sich herzlich freute. Aber das scharmanteste Paar bildeten doch der schwarze Rittmeister und sein blauäugiges Klosterfräulein.
Während die Gesellschaft nach dem Frühstück durch den Garten schlenderte oder sich sogar in den anschliessenden Waldpark wagte, wurde Sergej im Blauen Zimmer von der Herzogin in ein kurzes aber energisches Verhör genommen. Sie hatte bemerkt, dass verschiedene russische Offiziere, die sich immer wieder die Gläser hatten füllen lassen, ihrer Zunge nicht mehr ganz sicher waren. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass ihnen statt des schönen weissen Bordeaux, der den Keller des Schlösschens auszeichnete, fortwährend Wodka eingeschenkt worden war. „Das hielt man doch immer so in Petersburg!“ suchte er sich zu entschuldigen.
„Vor dreissig Jahren, mein lieber Troubetzkoi. Inzwischen hat Paris den russischen Tataren zum Kulturmenschen erzogen. Wenigstens äusserlich. Bedenken Sie, dass wir heute abend noch Dinergäste haben sollen, die vom Kaiser kommen. Also lassen Sie um Gottes willen keinen Schnaps mehr reichen. Wenn man drüben bei Hofe davon erführe – es wäre für das Haus Troubetzkoi ein Verhängnis!“
Sergej versank für ein paar Augenblicke in tiefe Melancholie. Doch als nachher die Tanzmusiker sich auf der Terrasse aufstellten und die erste Polonäse spielten, gewann er rasch seine Frohlaune wieder. Solch einen Tag erlebe ich nie wieder! sagte er sich. Und er trank und schwatzte, machte den Hof, er tanzte sogar, er war einer der Vergnügtesten im Schloss.
Aber da er viele Jahre keine Übung im Geniessen gehabt hatte, wurde er noch vor dem Eintreffen der Dinergäste so müde, dass er sich heimlich in eine Mansarde einschloss, um ein Viertelstündchen zu ruhen. Aus dem Viertelstündchen wurden mehrere Stunden, in denen er seinen Rausch ausschlief.
Unter denen, die ihn suchten und nicht fanden, war auch Kathy.
Sie brauchte jetzt einen gutherzigen Kameraden, dem sie sich anvertrauen konnte. Tante Dorothea war das nicht, sie schien ihr auch unerreichbar in der rauschenden, immer in Bewegung befindlichen Gesellschaft. Und mit Schwester Berthe konnte man wohl über die ernstesten und feierlichsten Dinge reden, aber unmöglich über das, was sie jetzt so stürmisch bewegte.
Nikolai Orlow hatte sie gefragt, ob er bei der Herzogin um ihre Hand anhalten dürfe. Als sie miteinander durch den Park gegangen waren und er seinen Arm in den ihren gelegt hatte, war die grosse Verwirrung über sie geraten. Sie waren in dem Koniferengang unsichtbar für die andern. Da blieb er plötzlich stehen, zog sie an sich und küsste sie. Sie hatte nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Noch nie war sie mit einem Mann allein gewesen, noch nie hatten die Lippen eines Mannes die ihren berührt Sie erschrak, sie fühlte alles Blut zum Herzen drängen und jäh einhalten. Eine mystische Gewalt zwang sie, sich mit beiden Armen an ihn zu klammern. Sie schloss die Augen. Zwischen den langen, wilden Küssen hörte sie seine Leise, tiefe, werbende, lockende Stimme. Aber sie verstand kein Wort. Sie war plötzlich unsagbar glücklich. Doch zugleich wusste sie, dass sie eine schwere Sünde beging. Endlich hatte sie ihre Selbstbeherrschung wieder. Und nun wollte sie ihm entfliehen. Er gab ihre Arme indes nicht frei.
„Ich liebe Sie, Prinzessin Katharina. Sie sind das Wesen, das ich zur Frau brauche. Ich will Ihnen gestehen, ich bin in Petersburg den Damen, unter denen ich mir eine Ehefrau aussuchen sollte, immer ausgewichen. Es gibt schöne Mädchen am Hof in Petersburg, gewiss. Aber noch nie habe ich ein Weib gesehen, das mich so selig gemacht hat wie Sie. Als Sie neulich das Notturno spielten, wusste ich, dass ich von Ihnen nicht mehr loskomme. Und ich fühlte Ihre Blicke. Bitte, sagen Sie, Prinzessin, haben Ihre Augen nicht auch zu mir gesprochen?“
„Ich weiss es nicht, Nikolai Alexejewitsch. Es ist jetzt so viel auf mich eingestürmt. Ich muss mich erst wiederfinden.“
„Auf der Terrasse spielen sie zum Tanz auf. Sie sind mir zwei Tänze schuldig, Prinzessin. Und dazwischen höre ich noch einmal das Notturno. Ja? Ich bitte Sie herzlich.“
„Oh, ich werde es nicht spielen können. Meine Hände zittern.“
„Mein Gott, die sind ja eiskalt! Arme Katharina!“
Sie stand nun vor ihm still, überliess ihm beide Hände, die er küsste und an seine Wangen presste, um sie zu wärmen. Eine wunderbare Seligkeit überströmte sie. Aber sie fühlte, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. „Nein, ich weine nicht!“ verteidigte sie sich sofort und versuchte zu lachen. „Sie sollen auch nicht ‚Arme Katharina!‘ zu mir sagen. Ich fühle mich nicht arm, nicht unglücklich. Und wenn Sie meinen Namen aussprechen wollen, dann sagen Sie lieber Kathy zu mir. So höre ich mich noch manchmal von der Stimme meiner Mutter gerufen. Es kann so herzlich klingen. Ach, nun lachen Sie mich aus.“
„Kathy!“ sagte er flüsternd. „Kathy – !“ Und wieder umfing und küsste er sie.
Ein neuer Taumel erfasste sie. Sie hätte nun jauchzen und schluchzen mögen zu gleicher Zeit.
Da sich Stimmen näherten – die Schnarrstimme von Exzellenz Revard klang scharf heraus –, gingen sie rasch bis zum Ende der Koniferenallee. Dort bog Kathy um die Hecke des Rosengartens und lief ins Haus. Atemlos blieb sie auf der Treppe stehen.
Aus dem Gelben Saal kam die Herzogin, in ihrem Gefolge der Kammerdiener, die Hofmeisterin und ein paar Jungfern. „Wir suchen Sergej. War er nicht draussen im Garten? Niemand findet die Spielkarten. Weisst du zufällig, kleine Kathy, wo sie hier im Hause verwahrt werden?“ Die Herzogin lachte. „Wetten wir, du hast keine Ahnung. Und du sollst doch hier selbst einmal Hausfrau sein, kleine Kathy. Aber gewiss wirst du noch hundert andere Dinge suchen, ohne sie zu finden.“
Kathy war noch viel zu verwirrt, um richtig antworten zu können. „Hundert andere Dinge?“ fragte sie schluckend.
Da sah die erfahrene Herzogin ihre verträumten Augen, ihre erhitzten Wangen, ihre in Unordnung geratene Frisur. „Kathy – !“ Sie schickte die Bedienung mit kurzem Wink weiter und fasste ihre Nichte bei der Hand. „Nikolai Orlow – ?“ fragte sie hastig.