Der rasierte Fisch - Gert Podszun - E-Book

Der rasierte Fisch E-Book

Gert Podszun

0,0

Beschreibung

Neid und Machtmissbrauch sind die Parameter, die das Leben des Managers prägen. Kann man davon ausgehen, dass Leistung und Einsatzwille dem engagierten Manager helfen? Diese Frage stellt sich der aus dem Management kommende Autor. Es scheint so zu sein, dass persönliche Interessen über denen der eigentlich verbindenden Basis eines Unternehmens rangieren. Richard Benn, ein außerordentlich erfolgreicher junger Manager, wird für einen weltweit operierenden Konzern engagiert und dort für ein Schlüsselprojekt am Standort Berlin verantwortlich. Benns Chef im Vorstand, Dr. Hartweich, ist es bisher nicht gelungen, dieses Projekt erfolgreich zu realisieren. Er möchte aber an den erhofften Lorbeeren partizipieren. Hierzu bedient er sich unterschiedlicher fragwürdiger Mittel. Ein spannungsreiches Romandebüt über ein Leben auf einem schmalen Pfad zwischen Persönlichkeit und Funktion. Lorbeeren,spannungsreicher Roman,Pfad zwischen Persönlichkeit und Funktion

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gert Podszun

Der rasierte Fisch

Management und Intrigen

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

Über den Autor

Impressum

1

Wieder ein Umzug. Richard Benn packte selbst mit an. Zwölf Stufen bis zum Lift. Die Treppenstufen hier in Valencia waren anders als andere. Anders als in der letzten Wohnung in Berlin. Er hob den von der Schwiegermutter geerbten antiken Spiegel vom Umzugswagen. An einer Stufenkante stolperte er. Das wertvolle Erbstück rutschte in seinen feuchten Händen. Kippte aus seinem Griff. Es klirrte.

Mit den letzten herunter fallenden glitzernden Splittern und deren Zerknirschen unter seinem Tritt fiel eine Last von ihm. Er dachte an seinen allerersten Umzug, besser den Auszug. Damals. Vor dieser Erbgeschichte. Als er aus dieser fremden Wohnung gehen musste. In Berlin.

„Das war wie ein Erdbeben!“

Ihre Worte hatten sich in ihn eingegraben. Mit Wurzeln, die sich rasch in ihm verzweigten und ihre Nahrung fanden. Und er versorgte sie, diese Wurzeln. Auch später noch. Ihm schmeckte diese Nahrung der Erinnerung. Ein Geschmack, wie der Saft einer immer frischen Frucht.

Sie hatte ihre von der Sommerschwüle schweißnassen Brüste mit beiden Händen bedeckt und war mit einem fordernd zweifelnden Blick erst auf ihn zu und dann an ihm vorbei gegangen. Er hatte damals gewusst, dass er alles zu vergessen haben würde, nicht daran denken durfte und trotzdem daran denken würde. Einen letzten gefühlten Eindruck trug er seitdem wie ein Paket mit sich: sie war ganz nahe zu ihm, aber dann doch an ihm vorbei gegangen. Der Duft ihres Körpers hatte ihn eingehüllt. Wie in einen süßen Nebel. Ein Nebel, der mit dem aufkeimenden Tageslicht rasch verfliegen sollte. Er verweilte damals noch eine kleine Weile in diesem Dunst.

Ein erstes und letztes Mal war er davon eingefangen. Dachte er. Sie blieb damals im Bad. Vor etwa zehn Jahren. Er erinnerte sich an das Ende dieses gewesenen Morgens. Die leicht schleifenden Geräusche der Straßenbahnräder in den alten Schienen unmittelbar vor dem Haus, in dem sie wohnte, stiegen an der Häuserwand hoch in sein Ohr und mahnten ihn an die Zeit. Die Zeit der Fahrpläne, die manches Leben wie ein Gitternetz überziehen. Und an die Zeit der Arbeit, der Pläne für die Arbeit.

Sie duschte bestimmt lange. Er wäre ihr gerne nachgegangen. Aber eine unsichtbare Hand drückte dergestalt gegen seine Brust, dass ihm der Atem auszugehen schien. So mächtig war die Kraft des gerade vergangenen Erlebnisses. Seine Hände verließen ihre bisher ohnmächtig hängenden Positionen an seinem Körper und kramten seine Kleidungsstücke zusammen. Die abgekühlten Finger nestelten die blind gefundenen Verschlüsse seiner Kleidungsstücke nahezu automatisch zusammen und griffen zuletzt nach der Krawatte. Er wusste in diesem Moment nicht genau, ob er sie selbst gekauft hatte oder ob sie ein Geschenk war. Etwas Endgültiges zwängte ihn durch die Ausgangstür. Sie wusste ja, dass er gehen würde.

Die immer noch fremde Luft des Treppenhauses ummantelte ihn mit einem kratzigen Gefühl, welches sich erst legte, als die erste Ampel ihm mit ihrem Rot die Botschaft des Alltages sandte. Das war seine letzte Erinnerung an Berlin. Es war während der Stundentenzeit. Und ein tief sitzendes Gefühl! Mit Erdbeben.

2

Richard Benn stand vor einem der Badezimmerspiegel im Hotelzimmer des Intercontinental in der Budapester Straße in Berlin und strich sich seinen blonden Schnauzbart mit Daumen und Zeigefinger. In seinem Kopf surrten noch die jüngsten Informationen der zuletzt gehörten Nachrichten aus der Wirtschaft über Steuerhinterziehungen, Leergeschäfte mit Derivaten, weit verteilter Gier und Verschiebungen von Verantwortlichkeiten. Richard gab sich kurz kritischen Gedanken hin. Fast jeder ist ein möglicher Steuerhinterzieher, Feind des Systems der so genannten Sozialen Marktwirtschaft und nutzt es doch für sich selbst. Ob arm oder reich. Der Mensch ist eine Gefahr für sich. Es gibt ja so viel Gier und Korruption. Sie gefährden das gesamte Wirtschaftssystem. Ich will da nicht mitmachen. Ich werde nicht so sein wie die anderen Manager.

Im Spiegel sah Richard sich, den zukünftigen Marketing Manager der SignaTec AG, einem international arbeitenden Technologieunternehmen im IT-Bereich. Gegen eine ganze Schar von Mitbewerbern um diese Position hatte er sich durchgesetzt. Er hatte gewonnen. Er fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser. Sein fachliches Wissen hatte er sich ohne jegliche Protektion und nur durch besondere Leistungen angeeignet und war stolz auf seine bisherigen Erfolge. Kein stützendes Netzwerk, dem er etwas schulden müsste. Er wollte seinen eigenen Stil beibehalten. Sollten doch die anderen Manager sein und handeln wie immer sie wollten! Er wollte dem aktuellen durch die Finanzkrise geschädigten Klischee von Managern nicht entsprechen.

Als vor wenigen Tagen der Anruf aus Berlin gekommen war, hatte er gerade seiner Frau Angelika und den Kindern, Andrea und Julian, erklärt, dass sie vielleicht von zu Hause in Bielefeld nach Berlin umziehen würden. Dort habe er studiert und würde die Stadt kennen. Das sei vor über zehn Jahren gewesen. Nach diesem Anruf ging alles sehr schnell. Richard stimmte sich mit dem Chef der Personalberatungsgesellschaft, Dr. Willy Bladade, wegen der Flugverbindungen und eines letzten vorbereitenden Gespräches ab. Er rief seinen ehemaligen Studienkollegen Ernst Friedrich Peters, der auch seine Frau Angelika seit einem gemeinsamen Urlaub kannte, an und teilte ihm mit, dass er zu einem entscheidenden Vorstellungsgespräch nach Berlin müsse. Ernst Friedrich erkundigte sich nach dem genauen Zeitplan.

„Das würde ja prima passen. Wir haben gerade an dem Tag Deines geplanten Besuches in Berlin eine Party geplant. Wenn es klappt, dann kommst Du mit Angelika zu uns und wir feiern zusammen.“

„Ich wollte eigentlich alleine fliegen.“

„Es ist besser, wenn Angelika mitkommt.“

„Das hat der Personalberater auch gesagt. Manchmal wollen sie die Frau des Kandidaten sehen.“

„Also, abgemacht! Wenn Du willst, seid Ihr mit auf der Party. Ihr könntet auch hier schlafen. Und – es wird einen Überraschungsgast geben.“

Richard erinnerte sich gerne an die gemeinsame Studienzeit. Ernst Friedrich und er waren damals gemeinsam auf vielen der Studentenfeste gewesen. Da würde es sicher viel zu erzählen geben. Würde. Zunächst musste das entscheidende Vorstellungsgespräch stattfinden. Erfolgreich. Dr. Willy Bladade, Geschäftsführer der Personalagentur, traf sich mit Richard vor dem Gespräch bei der SignaTec AG im Foyer des Hotels Intercontinental. Richard hatte sich entschieden, nicht bei Ernst Friedrich zu übernachten, sondern mit Angelika in ein Hotel zu gehen. Sie würden im Erfolgsfalle noch über das Wochenende in Berlin bleiben. Dafür hatte Angelika ihre Freundin Gisela zu Hause als Babysitter eingeladen. Dr. Bladade gab Richard Benn noch einige letzte Hinweise vor dem entscheidenden Gespräch mit dem Vorstand.

„Es ist gut, dass Ihre Frau mitgekommen ist. Ein separates Gespräch mit ihr wird wahrscheinlich nicht stattfinden. Trotzdem ist es gut, wenn der zuständige Vorstand weiß, dass Ihre Frau sich mit Ihrer beruflichen Entwicklung identifiziert. Diesen Vorstand, Ihren zukünftigen Chef, kenne ich schon seit einigen Jahren. Er orientiert sich in aller Regel nach meinen Empfehlungen. Prägen Sie sich bitte seinen Namen ein: Dr. Ferdinand Hartweich. Er ist ein alter Hase und seit einigen Jahren als Vorstand im Konzern. Technologisch ist er nicht unbedingt an vorderster Front, aber dafür hat er ja seine Leute.

Und hier sollen Sie mit Ihren speziellen Kenntnissen über Fernüberwachungssysteme wirksam werden. Es gab bereits früher ein Projekt zu diesem Thema. Das war augenscheinlich nicht sehr erfolgreich. Jetzt wird es neu aufgelegt. Sie können dieses Projekt als Fachmann leiten. Und das ist oder wird kurzfristig eine Schlüsselfunktion im Konzern. Es passt zu Ihrer bisherigen beruflichen Entwicklung. Es gehört zu den strategischen Projekten des Konzerns und wird im Erfolgsfalle Ihrer Karriere gut tun.“

Richard hatte während seines Studiums eine besondere Zusatzausbildung für Fernüberwachungssysteme erfahren und kannte sich in dieser Welt besonders gut aus. Er war Spezialist auf diesem Gebiet.

„Sie sind unser Mann.“

Das war der entscheidende Satz aus dem Munde des Vorstandes, den sich Richard hier im Badezimmer des luxuriösen Hotels in der Budapester Straße wieder und wieder vorsagte. Er konnte stolz auf sich sein. Er ist als Marketing Manager bei der SignaTec eingestellt worden. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar und kehrte in das großräumige Hotelzimmer zu seiner Frau Angelika zurück.

„Wenn Du willst, können wir jetzt zu der Party gehen.“

3

Richard und Angelika trafen gleichzeitig mit zwei geladenen Paaren vor dem Hause seines Freundes ein. Sie ließen die beiden Paare vorgehen und schauten über deren Schultern in den großen Wohnraum der Beckers.

„Herzlichen Glückwunsch! Du hast den neuen Job! Ich freue mich, dass Ihr kommen konntet. Kommt in meine Arme! Glückwunsch! Ich freue mich! Vielleicht habe ich sogar eine Überraschung. Mehr sage ich nicht. Es ist eine bemerkenswerte Frau, sage ich Dir!“

Erst nach dieser Begrüßung von Richard ging Ernst Friedrich auf Angelika zu und nahm sie freundlich in den Arm.

„Entschuldige, aber ich musste ihm zuerst gratulieren. Einen neuen Job bekommt man ja nicht alle Tage. Wie geht es euren Kindern? Sie sind doch gesund, oder?“

Angelika nickte.

„Danke, alles prima. Den ersten Gruß hat Richard ja heute verdient, oder?“

Eine Mitarbeiterin der Cateringfirma reichte Getränke.

„Stößt Du mit mir an?“

Ernst Friedrich nahm sie in den Arm und überreichte ihr ein Glas Crémant. Angelika nahm den ersten Schluck. Sie musterte seine Krawatte. Die hatte rosafarbene und grau geneigte Querstreifen. Richard hielt ein Glas Rotwein in der Hand.

„Sag mal Ernst Friedrich, was ist das für ein Überraschungsgast? Du erwähntest, dass es eine Frau ist. Kenne ich sie? Vielleicht von früher?“

„Eine Überraschung wird nicht verraten, mein Freund. Sonst wäre es ja keine.“

Richard schaute sich in der geladenen Gesellschaft um und hoffte, ein paar bekannte Gesichter von früher zu sehen. Wie sehen Gesichter aus, die man über mehr als zehn Jahre nicht gesehen hat? Aber er konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Sein Blick schweifte dann neugierig immer wieder zur Eingangstür. Wer kann wohl diese Frau, der Überraschungsgast, sein? dachte er bei sich und leerte sein Glas.

„Eigentlich ist das ja egal. Ich bin ja schließlich hier bei Dir, um meine neue Position zu feiern.“

Er nahm ein neues Glas und schob sich langsam zwischen die nahe beieinander stehenden Gäste. Ob ich auch einmal solche Feste geben werde, wenn ich erst einmal hierher gezogen sein werde? fragte er sich und nippte an seinem Glas.

Eines der vielen Gesichter in der Menge kam ihm bekannt vor. Vielleicht ein Studienkollege? Während er versuchte, dieses Gesicht einem der Bilder seiner Vergangenheit zuzuordnen, wurde es merklich still im Raum und viele Blicke richteten sich auf die Eingangstür. Richard erfasste schnell das Gesicht der eintretenden Frau, suchte es unter den Gesichtern in seinem Gehirn und prüfte, ob es wirklich eine Überraschung war. Er war unsicher, ob er dieses Gesicht kennen würde, ihm wurde spontan etwas wärmer. Er schaute in ihre Richtung und überlegte: Ist sie alleine gekommen? Könnte ich sie kennen? Ich muss näher an sie heran kommen, wissen, ob ich sie kenne, vielleicht von damals. Eigentlich sollte mir das egal sein.

Ernst Friedrich begrüßte die Dame überherzlich und warf dabei kurz einen Blick in Richards Richtung. Richard hatte den Eindruck, dass Ernst ihn gezielt neugierig machen wollte. Er reagierte nur in Gedanken. War diese Frau vielleicht damals während des Studiums auch bei den Studentenfesten? Er hatte sein Glas inzwischen geleert und nahm sich noch einen Drink von einem der angebotenen Tabletts.

Angelika war mit Elvira in ein Gespräch vertieft. Richard konzentrierte sich darauf, die Schritte und Bewegungen der gerade eingetretenen jungen Dame zu verfolgen. Langsam bahnte er sich einen Weg durch die Gäste. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Eingangstüre erneut und ein großer Herr mit hellen grauen Haaren trat ein. Es war Dr. Ferdinand Hartweich. Er überragte mit seiner Körperlänge alle Gäste. Viele Blicke richteten sich auf den neuen Gast. In die dadurch aufkommende kurze Ruhepause lauschte Richard nach der Stimme der jungen Dame. Er hörte sie nicht wirklich und dachte insgeheim fürchtend und hoffend zugleich. Das könnte vielleicht Jeannette sein!

Sie ist, wenn sie die Vermutete ist, damals oft Gast bei den Studentenfesten gewesen und wurde von den Kommilitonen sehr begehrt. Richard spitzte seine Ohren in ihre Richtung.

„Endlich bis Du da! Ich freue mich!“

Sie drängte sich dem neuen Chef von Richard zu einer vertrauten Umarmung entgegen. Dr. Ferdinand Hartweich küsste sie sanft auf die Stirn und gab ihr eines von den dargebotenen Champagnergläsern. Danach prostete er ihr mit einem weiteren Glas zu.

Richard blieb stehen und hatte das Gefühl, dass er sich an seinem Glas festhalten müsse. Angelika kam auf ihn zu:

„Meinst Du, dass zu Hause in Bielefeld alles in Ordnung ist? Ich bin ein wenig in Sorge.“

„Deine Freundin Gisela passt doch auf unsere Kleinen auf. Da musst Du Dir doch keine Sorgen machen. Gisela ist doch ein Schatz. Sie hat bisher doch immer gut aufgepasst. Und sie hat unsere Mobilnummer. Mache Dir bitte keine Sorgen. Wir haben schließlich heute etwas zu feiern!“

Richard bekam plötzlich das Gefühl, die dicht gedrängte Gesellschaft der Partygäste verlassen und allein ins Hotel fahren zu müssen. Die junge Dame Überraschungsgast kann mir doch egal sein! Doch das Bild der vielleicht noch unbekannten Frau an der Seite von seinem neuen Chef und die Erinnerungen an die Zeiten des Studiums in Berlin hielten ihn fest. Außerdem würde es seinem neuen Chef vielleicht nicht gefallen, wenn er verfrüht gehen würde. Zudem verließ ihn diese unangenehm bohrende Neugierde, die er nicht beherrschen konnte, nicht. Er wollte der jungen Frau noch an diesem Abend in die Augen sehen. Er musste zwingend wissen, ob es Jeannette war.

Dr. Ferdinand Hartweich erblickte Richard und wandte sich an die Dame:

„Schau’ doch mal, da ist Herr Diplom-Ingenieur Benn. Er fängt bei uns als Marketing-Manager an.“

Richard ergriff die dargebotene Hand der Dame und beugte sich mit einem gehauchten Handkuss darüber.

„Ich freue mich!“

Er suchte ihre Augen. Das Licht dieser Augen kann man nicht umschminken. Er schwieg. Das könnte Jeannette sein. In seinem Kopf lief ein Film ab. Über die Feste während des Studiums. Dort hatte er Jeanette kennen gelernt. Er konnte sie jetzt natürlich nicht daran erinnern. Er war doch noch unsicher. Das Ende seines immer noch in ihm ablaufenden Films über damals hatte mit einer schlierigen Fensterscheibe zu tun. Die Bilder waren noch nicht so klar. Er schaute erneut in ihre Augen:

„Ich freue mich, Sie zu sehen. Auch bin ich auf die neue Aufgabe in der Firma gespannt. Sie haben sicherlich etwas miteinander zu besprechen. Ich kümmere mich um meine Frau. Wir werden uns bestimmt noch begegnen.“

Richard verneigte sich und drehte sich um, um seine Frau zu suchen. In diesem Moment hörte er die etwas erhöhte Stimme von Dr. Hartweich:

„Passen Sie doch auf! Haben Sie mich nicht gesehen?“

Richard drehte sich zu der Stimme um und sah, dass das Sakko von Dr. Hartweich angefeuchtet war. Augenscheinlich hatte ihn jemand angerempelt. Dabei war ein Teil des Inhalts seines Champagnerglases auf sein Sakko geschwappt. Durch die dadurch erzeugte Abwehrbewegung hat er eine neben ihm stehende junge Dame etwas geschubst und in der Folge eine Rückwärtsbewegung ausgelöst, wodurch der hinter der Dame stehende Herr die Spitze eines hochhackigen Schuhs auf dem seinen zu spüren bekam. Richard erhaschte in diesem Moment einen Blick der Überraschungsdame und sagte sich: Jeannette, Du bist es! Er drehte sich schnell. Suchte Angelika. Es wird Zeit, die Party zu verlassen. Auf dem Weg durch die Gästeschar fragte er sich, wo und wie er Jeannette allein finden können würde.

Richard sah seinen Freund an. Dachte an die Anmerkung über den besonderen Gast. Fühlte Zorn und Zwang zugleich. Und war wie magnetisch von seinem Freund angezogen. Ernst Friedrich bemerkte diesen Blick zunächst nicht. Aber Richard hob sein Glas hoch über sich in die Luft, machte sich schlank und drängte sich durch die Gästeschar, um ihm eine Frage stellen zu können. Er hatte nur noch Augen für den kürzesten Weg zu ihm und hastete weiter. Er fragte ihn von hinten:

„Wo wohnt Jeannette?“

Ernst Friedrich drehte sich um und sagte: „Angelika möchte noch ein Gläschen. Ich kümmere mich.“

Richard trat zur Seite und sah Angelika vor sich, die durch den Körper von Ernst Friedrich verdeckt gewesen war.

„Was wolltest Du von Ernst Friedrich wissen?“ fragte sie, und Richard hielt sein Glas an den Mund:

„Wir beide sollten endlich etwas zusammen trinken. Vielleicht tanzen wir noch ein wenig.“

„Aber Du wolltest vorhin doch schon gehen.“

„Wo ist Elvira? Hast Du mit ihr schon über Wohnungen oder Häuser gesprochen? Kennt sie Makler?“

„Ja, sie kennt einige Möglichkeiten. Aber bei diesem Trubel können wir das natürlich nicht ausreichend vertiefen. Und was wolltest Du von Ernst Friedrich wissen?“

„Auch einige Adresse von Maklern in Berlin. Er kennt da mehrere.“

„Ach so.“

Richard nippte an seinem Glas und nahm Ernst Friedrich das dargebotene Glas für Angelika ab und prostete ihr zu:

„Ich freue mich über diese Party und über die nahe Zukunft.“

Er nahm sie in den Arm und schaute über ihre Schulter nach, wo Jeannette und der Doktor sich befanden.

„Sollten wir nicht mal wegen der Kinder anrufen?“

Angelika schaute ihn erstaunt an.

„Eben wolltest Du noch tanzen. Was also willst Du?“ Immer wenn sie also in ihre Sätze einflocht, wusste Richard, dass er eine Entscheidung zu treffen hatte.

„Du hast Recht, Gisela passt ja auf unseren Nachwuchs auf. Komm, wir tanzen!“

Während des Tanzes prüfte Richard um sich blickend, wo sich Jeannette befand. Sie war immer noch in der Nähe seines zukünftigen Chefs. Er konnte sich ihr nicht nähern, solange der Doktor in ihrer Nähe war. Eins war für ihn sicher. Er wollte unbedingt mit ihr sprechen. Alleine. Oder zumindest ihre Adresse erfragen. Vielleicht könnte Ernst Friedrich ihm helfen. Woher kannte er seinen zukünftigen Chef? War er vielleicht zum ersten Mal in seinem Haus, oder auch nicht?

Ernst Friedrich schaute, ebenfalls tanzend, zu Richard und Angelika herüber. Richard gab ihm ein Zeichen, dass er abklatschen möge. Die beiden Paare bewegten sich auf einander zu. Ernst Friedrich klatschte ab und tanzte mit Angelika. Richard hielt Elvira im Arm.

„Lange her, dass wir miteinander getanzt haben, Elvira.“

„Das kann ja jetzt bald besser werden, hier in Berlin.“

Richard wollte nach kurzer Zeit einen weiteren Drink und Elvira war einverstanden.

„Als Gastgeberin muss ich mich um alle kümmern, das verstehst Du doch!“

Richard stand alleine an der Hausbar.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie meinen ehemaligen Kollegen kennen.“

Richard schaute in Richtung der Stimme und musste seinen Kopf etwas heben, weil Dr. Ferdinand Hartweich größer ist als er.

„Es gibt wirklich erstaunliche Zufälle.“

„Ich habe vor einigen Jahren noch in der der Firma gearbeitet, in der ihr Freund heute noch tätig ist.“

Richard kannte die Vita von seinem zukünftigen Chef nicht.

„Ach, das ist der ADCO-Konzern!“

„Richtig. Das Angebot, zu unserer Firma zu kommen, konnte ich nicht ablehnen.“

„Kann ich verstehen. Unser Haus ist ja in einer guten Entwicklung.“

„Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Ihnen gerne meine Frau vorstellen.“

„Das ist sehr freundlich. Sie wird ja mit Ihnen zusammen nach Berlin kommen.“

„Natürlich.“

Richard suchte nach Angelika und stellte ihr seinen zukünftigen Chef vor.

„Gnädige Frau, ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ihren Mann kenne ich ja nun schon seit ein paar Tagen. Wir werden gut zusammen arbeiten. Witzig ist, dass Ihr Mann meinen Neffen kennt. Das ist nämlich der Gastgeber.“

Richards Gedanken gingen zurück zu einem Fachseminar über die Wettbewerber in der Branche. ADCO gehört dazu. Er würde ihm heute nicht gelingen, etwas über Jeannettes Adresse zu erfahren. Er spürte aber, dass er alles tun würde, um sie zu sehen. Alleine.

Heute würde er mit Ernst Friedrich nicht mehr in Ruhe sprechen können. Er wollte natürlich auch wissen, wie die Beziehung zwischen Ernst Friedrich und seinem neuen Chef war. Er hörte Angelika zu:

„Wissen Sie, wir kennen uns auch schon einige Jahre. Mein Mann und Herr Peters haben einige Zeit hier in Berlin zusammen studiert.“

„Das ist wirklich ein erstaunlicher Zufall. Wir wollen es als ein gutes Omen für unsere gemeinsame Zukunft werten. Ich muss leider diese Party verlassen. Morgen muss ich früh zum Flughafen. Eine Dienstreise. Ich wünsche ihnen beiden noch einen angenehmen Abend.“

Er verneigte sich und wandte sich dann zu seiner Begleiterin.

„Ich muss jetzt leider gehen. Darf ich Dich nach Hause begleiten?“

Die wahrscheinliche Jeannette nickte und verließ mit ihm die Party, nicht ohne noch einmal einen kurzen Blick in Richards Richtung zu werfen. Richard nahm diesen Blick als Bestätigung für seine geheime Absicht, diese Frau bald treffen zu wollen. Er winkte seinem Freund zu.

„Was würdest Du davon halten, wenn wir uns morgen noch einmal treffen, um die möglichen Wohnungsangebote mit den Maklern zu besprechen?

„Das ist ein guter Vorschlag, wir kriegen das heute sicher nicht mehr geregelt. Was hältst Du davon, wenn wir uns zu einem gemeinsamen Frühstück im Terra Nova treffen. Das ist nicht weit von eurem Hotel entfernt. Dann können wir alles besprechen. Und die beiden Frauen können vielleicht noch ein wenig bummeln gehen.“

„Das ist ein guter Vorschlag. Dann lernt Angelika schon früh ein wenig die Stadt kennen.“

4

„Es war ein schönes Fest bei Ernst Friedrich, findest Du nicht auch? Ich würde gerne mit Dir noch einen Drink in der Hotelbar nehmen. Es gibt so viel zu erzählen und zu planen.“

Angelika war einverstanden.

„Elvira hat sich sehr verändert. Sie ist reifer geworden. Aber man merkt doch, dass sie keine Kinder hat.“

„Meinst Du, sie kann keine kriegen?“

„Nein, ich denke, dass liegt an dem stürmischen Leben hier in der Stadt.“

„Nun ja, Bielefeld ist ja auch nicht gerade stürmisch, aber andererseits auch nicht gerade klein.“

„Ja, aber anders.“

„Das ist auch gut so. Freust Du Dich, wenn wir aus Bielefeld wegziehen?“

„Da gibt es viel zu überlegen. Wir sollten auch erst wegziehen, wenn das mit Deinem neuen Job sicher ist.“

„Wie meinst Du das?“

„Du hast doch bestimmt eine Probezeit. Die sollte auf jeden Fall erst vorübergehen. Dann kann ich öfter auch mit den Kindern zu Dir kommen, damit sie die Berliner Luft schnuppern können.“

„Ich kann ja auch nach Bielefeld kommen an den Wochenenden.“

„Aber die Kinder müssen sich doch auch auf die neue Heimat vorbereiten.“

„Da hast Du wahrscheinlich Recht.“

Inzwischen standen die bestellten Getränke vor ihnen. Richard hob sein Glas:

„Gestatte mir einen kleinen Toast, bevor wir über die Sachfragen weiter sprechen. Meine Anstrengungen zur Spezialisierung haben sich gelohnt. Ich habe einen neuen Job. Mein Einkommen wird höher sein als bisher. Wir werden uns mehr leisten können. Ich freue mich auf die neue Zeit und möchte Dir zum Andenken an dieses Ereignis ein Geschenk anbieten“.

„Das finde ich nett von Dir, aber es ist nicht nötig. Wir nehmen lieber etwas für die Kinder mit, wenn wir zurück fahren.“

„Das machen wir doch sowieso. Also, Du kannst Dir morgen etwas ganz Besonderes kaufen. Als Andenken. Auf unser Wohl und eine erfolgreiche Zukunft!“

Sie prosteten einander zu. Angelika wollte den Rechnungsbon anschauen, aber Richard zog ihn zu sich.

„Das musst Du heute nicht.“

„Gut, wie Du meinst. Was machen wir morgen genau?“

„Ich schlage vor, dass wir während des Frühstücks mit Ernst Friedrich und Elvira besprechen, welche Makler uns Angebote machen sollen. Wenn schon etwas Konkretes vorliegt, könnten wir erste Besichtigungen machen. Du mit Elvira und ich mit Ernst Friedrich.“

„Meinst Du nicht, es wäre besser, Du nimmst erst einmal eine kleine Wohnung bis zum Ende der Probezeit?“

„Das wäre eine Option, die wir nicht unbedingt nutzen müssen. Denn wenn wir eine tolle Wohnung finden würden, dann könnte ich ja dort schon einziehen und ihr, also Du und die Kinder, könntet euch schon an die spätere Wohngegend gewöhnen, wenn ihr herkommt.“

Angelika hinterfragte nicht.

„Wann wollen wir zurückfliegen?“

„Heute ist Freitag. Ich habe eine Option auf Sonntagvormittag. Wir könnten aber auch am Montag früh zurückfliegen. Das wird Gisela doch mitmachen, oder? Sie ist doch noch solo und hat doch bestimmt Zeit für unsere Kinder, nicht wahr?“

„Ich würde lieber am Sonntag zurückfliegen. Dann könnte ich die Kinder noch gut für die Schule herrichten.“

„Okay, das ist mir auch Recht.“

In der Hotelbar waren inzwischen zahlreiche neue Gäste eingetroffen. Richard versuchte, aus dem Stimmengewirr herauszufinden, welche und wie viele Nationen da vertreten waren. Angelika hörte ebenfalls in das Sprachgewirr hinein:

„Das ist wie Babylon. Alle sprechen. Und alle verstehen sich nicht.“

„Ich finde das spannend. Es ist ein internationaler Platz hier. Die SignaTec AG arbeitet ja auch international.“

„Du kannst ruhig global sagen, mein Lieber, das gefällt Dir doch, oder?“

„Morgen treffen wir uns im Einstein. Darauf freue ich mich. Ob es sich sehr verändert hat seit der Studentenzeit?“

„Natürlich, was bleibt schon unverändert bestehen?“

Der nächste Morgen begrüßte das Paar mit strahlendem Sonnenlicht. Sie trafen sich mit Ernst Friedrich und Elvira im Einstein. Es war so warm, dass sie auf der Terrasse frühstücken konnten.

Elvira berichtete Angelika, dass sie zwei Makler angerufen hatte.

„Wir können noch am Wochenende ein paar Besichtigungen machen. Ich habe schon Termine vereinbart. Zwischendrin bummeln wir ein wenig. Ernst Friedrich hat auch einen Termin gemacht. Den könnte er mit Deinem Mann wahrnehmen. Und ihr hättet dann schon eine erste Auswahl.“

„Puuh, das geht ja schnell, aber Du hast schon recht, mitgegangen, mitgefangen.“

„Wir beide fahren dann zu meinem Makler, den ich von der Firma her kenne.“ wandte sich Ernst Friedrich an Richard.

„Das ist eine gute Lösung, dann können wir nach den Erstbesichtigungen zusammen kommen und eine erste Auswahl treffen. Das ist doch auch in deinem Sinne, Angelika?“

5

Elvira war eine sportliche Fahrerin. Sie blickte durch eine überdimensionierte Sonnenbrille auf den Straßenverkehr. Ein um den Hals geschwungenes Tuch flatterte im Fahrtwind ihres rot lackierten Cabrios. Angelika saß neben ihr:

„Das ist ja ein toller Flitzer. Hast Du den schon lange?“

Elvira schmunzelte:

„Ernst Friedrich hat mir den Wagen vor einem Jahr geschenkt. Wir hatten eine längere Auseinandersetzung, weil er so sehr mit der Firma verheiratet ist. Das Cabrio war dann das Trostpflaster. Besser so etwas als gar nichts.“

„Und ist er jetzt weniger mit der Firma verheiratet?“

„Er verbringt immer noch viel Zeit in der Firma. Er hat eben Ehrgeiz. Ich verstehe Ehrgeiz nicht gut. Ernst Friedrich kann sich dem nicht entziehen. Es ist wie eine Sucht. Er möchte gerne weiter nach oben kommen. Was immer das bedeutet. Das aber kostet Energie und Zeit. Auch meine Zeit.“

„Richard ist auch ehrgeizig. Das siehst Du ja daran, dass er hier nach Berlin will. Er liebt seine Familie und möchte uns, vor allem den Kindern, beste Chancen für ihr Leben bieten.“

„Zeit ist eine Einbahnstraße. Du denkst, dass Du die Geschwindigkeit bestimmen kannst, mit der Du auf dieser Straße fährst. Das ist ein Irrtum! Ich werde mich nicht von seiner Sucht abgängig machen. Wir haben keine Kinder und ich werde ihm das nicht nachtragen. Aber ich lebe jetzt und bin noch einigermaßen jung. Und“ - Elvira hielt inne – „es gibt durchaus ernst zu nehmende Verehrer.“

„Möchtest Du mehr dazu sagen?“

„Angelika, sei mir nicht böse, aber ich möchte das jetzt nicht vertiefen. Vielleicht ein anderes Mal.“

„Okay, ich akzeptiere, was Du sagst. Ich weiß, dass Richard sehr viel Wert auf die Familie legt. Er möchte sich so ein Reich aufbauen, ein Reich, in dem er mich und die Kinder lieben und beschützen kann. Sein Ehrgeiz dient auch diesem Ziel.“

„Ich wünsche Dir, dass das für euch in Erfüllung geht.“

„Richard ist ein Flüchtlingskind und er musste sich alles allein erarbeiten. Er hat eigentlich keine Heimat und will uns diese hier geben. Das liegt an der Flucht seiner Eltern am Ende des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Enteignung. Viele Umzüge seiner Eltern haben dazu beigetragen, dass er kein gewachsenes Heimatgefühl entwickeln konnte. Das ist so, als wenn man an einem Fluss steht, dessen Quelle versiegt ist. Wenn man gegen die Strömung, also zurück geht, wird der Fluss immer schmaler. Schließlich verbleibt ein trockenes, kieseliges Flussbett, welches mehr und mehr von Gras überwuchert wird. Da lohnt es sich nicht mehr, nach der Quelle zu fragen. Und Richard hat keine richtige Familie. Familie, das bedeutet Heimat, Geburt, Hochzeit, Ehe, Tod, Muttererde. Heimat ist Zugehörigkeit, Gefühl der Geborgenheit, Wohlfühlen, Ort der immer wieder kehrenden Sehnsucht. Heimat ist aber auch bedrückend, weil sie einengend sein kann. Sie gibt in einem gewissen Maße Verhaltensmuster vor. Diese bestimmen, ob man dazu gehört. Dieses Phänomen gilt dann wohl auch für die Familie. Familiäre Tradition übt eine gewisse Gewalt auf die Familienmitglieder aus. Man muss in der Spur bleiben. Die Kontakte zwischen den Angehörigen sind in der Regel heutzutage nicht mehr so zahlreich wie früher. Weihnachten ist da ein Höhepunkt. Und Geburtstage, Beerdigungen. Mehr ist nicht übrig geblieben.“

„Das kannst Du alles vergessen, Angelika. Du musst Dein Leben selbst in die Hand nehmen. Du kannst Dich auf nichts verlassen.“

„Mir fällt das schwer. Ich hätte Angst.“

„Angst ist das ungeheure Nichts der Unwissenheit. Du weißt nie, was mit den Menschen und in den Menschen geschieht.“

„Wir sind jetzt am Ziel. Lass uns später weiter sprechen.“

Angelika nickte und schwieg.

6

Ernst Friedrich lenkte den Wagen in die Sybelstraße und schaute Richard an:

“Sage mir bitte, ich weiß das nicht mehr genau. Wie war das damals hier mit Jeannette? Du wohntest doch in der Budapester Straße und warst doch hinter Jeannette her, oder liege ich da falsch?“

„Das war eine tolle Bude. In einem Altbau, hohe Decken, selbst gebautes breites Etagenbett, darunter der Schreibtisch und damit noch genug Platz für einen großen Tisch. Und eine ziemlich große Küche mit Terrakottaboden. War eine schöne Zeit.“

„Du lenkst ab. Was war mit Jeannette?“

„Sage mir einmal, warum Du das wissen willst. Warst Du nicht auch hinter ihr her?“

„Das waren viele. Sie hatte langes blauschwarzes Haar, welches fast bis zu ihrem Po reichte. Es war leicht gewellt und glänzte bei jedem Licht. Alle waren fasziniert. Selbst unser Professor, wenn er mal mit auf einem der Unifeste war, stakste hinter ihr her. Und der Kommilitone Schürzenjäger, wie hieß der noch, ach ja, Bachmann, Walter Bachmann, der ließ alles stehen und liegen, wenn Jeannette auftauchte. Aber sie mochte ihn nicht. Ich selbst hatte Gefallen an ihr, aber ich kam irgendwie nicht an sie heran. Sie hatte so einen Blick, der einem sagte, dass es keinen Sinn hat, mit ihr engeren Kontakt aufnehmen zu wollen. Au, jetzt habe ich schon zu viel gesagt. Jetzt bist Du dran.“

Richard unterbrach ihn: „Schau mal, da ist das Haus, suche einen Parkplatz, wir reden später weiter.“

Die Maklerin hatte ihren Wagen so geparkt, dass zwei Parkplätze direkt vor dem Haus blockiert waren. So konnte Ernst Friedrich ohne weitere Suche einparken.

„Guten Tag, die Herren, Marianne von Bülow, Immobilien Hengst. Ich freue mich, dass Sie so spontan und kurzfristig zu diesem Besichtigungstermin kommen konnten. Sie werden der potentielle Mieter sein, Herr …?“

Richard stellte sich vor und schloss seiner Vorstellung die seines Freundes an, dem er hier für die Unterstützung dankte.

„Ja, Herr Peters und ich, wir kennen uns von andern Objekten, weil er für Mitarbeiter in seiner Firma schon oftmals vermittelnd tätig geworden ist. Sie werden nicht in seiner Firma arbeiten?“

„Nein, ich beginne bei der SignaTec AG.“

„Eine moderne und aufstrebende Firma im Gesamtkonzern. Ich kenne einige Mitarbeiter aus dem mittleren Management. Hier ist meine Karte.“

Die Besichtigung des Hauses war nach einer halben Stunde abgeschlossen. Richard erkundigte sich nach einem Exposé und nahm es an sich:

„Ich werde das Exposé mit meiner Frau das studieren und dann werden wir mit ihnen Kontakt aufnehmen. Betreuen sie dieses Objekt alleine?“

„Ja, wir sind so organisiert, dass jeder Mitarbeiter im Außendienst ein Portefeuille von Objekten hat, für deren Vermittlung er alleine verantwortlich ist.“

Marianne von Bülow streckte Richard ihre Hand entgegen. Er hielt sie für einen Moment fest. Sein Blick streichelte ihre rotblonden Haare, die grünen Hänger an ihren Ohren und verweilte kurz bei den Sommersprossen auf ihrer Stirn, glitt in das Blaugrün ihrer Augen, fiel über die vollen Lippen ihres leicht geöffneten Mundes über das auffallende pralle Dekolleté auf ihre Hand, welche den angehauchten Handkuss entgegen nahm.

„Sie hören von uns. Vielen Dank für Ihre Zeit.“

Richard und Ernst Friedrich winkten der Maklerin beim Wegfahren hinterher.

„Das Haus könnte mir gefallen, aber ich muss erst mit Angelika darüber sprechen. Sie hat ja mit Elvira auch noch Alternativen gefunden, denke ich. Und ihr soll es ja auch gefallen.“

„Du hast ja eine zeitliche Option auf das Haus von vierzehn Tagen, da könnt ihr in Ruhe überlegen. Den Termin mit Frau von Bülow kannst Du dann ja selbst machen. Apropos Termin. Hast Du damals eine Verabredung oder mehr mit Jeannette gehabt?“

Richard erinnerte sich:

„Keiner wusste davon. Ich hatte lange gebraucht, bis ich Jeannette wirklich habe näher kennen lernen können. Ich bewunderte nicht nur ihre bemerkenswerten Haare, das hast Du ja selbst bestätigt. Sie hatte immer eine ausgezeichnete Körperhaltung, so als wenn sie in einer Tanzshow auftreten wolle, einen angenehmen geschmeidigen Gang. Ihre Hüften bewegten sich natürlich, vollkommen. Ihre Figur ist heute noch attraktiv, wenn sie wirklich Jeannette ist. Auf Deinem Fest habe ich festgestellt, dass sie immer noch die Kleidergröße von früher trägt. Ihr Busen ist vielleicht eine Körbchengröße gewachsen. Es steht ihr sehr gut.“

„Erzähle nicht so lange. Warst Du mir ihr zusammen?“

„Jeannette spielte damals in meinem Leben eine wichtige Rolle und das wirkt sich bis heute aus. Wir haben uns während einem dieser Studentenfeste kennen gelernt. Ich erinnere mich noch an unser erstes Gespräch. Ich wollte gerade gehen. Sie rief mir zu:

„Du kannst doch nicht gehen. Du hast doch eine Verantwortung!“

„Wie, Verantwortung?“

„Ja, nicht nur für Dich, sondern auch für die anderen.“

„Wieso?“

„Du bist ein Teil dieser Gemeinschaft. Da kannst Du Dich nicht einfach herauslösen!“

Ihre Stimme klang bestimmend und herausfordernd. Mich reizte es, dieses Spiel mitzumachen und reagierte:

„Ich bin ich und mache was ich will.“

„Wenn das jeder so täte, wären wir heute alle nicht hier.“

„Glaubst Du wirklich, dass es noch einen Gemeinsinn gibt, dass wir wirklich etwas gemeinsam haben?“

„Wir leben zum Teil davon, dass es diese Gemeinschaften gibt.“

„Das meinst Du jetzt aber eher politisch.“

„Was ist denn Politik anderes als verbindliches Planen und Handeln für die Gesellschaft.“

„Ich glaube, wir können dieses Thema nicht hier und jetzt abschließend behandeln. Ich lade Dich zu einem fortführenden Gespräch bei mir ein. Einverstanden?“