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Subjektive Wahrnehmung der Dinge täuscht den Wahrnehmenden nicht, weil er jeweils nur über seine individuelle spezifische Wahrnehmung verfügt. Eine Verformung der Wahrnehmung von außen kann nicht ausgeschlossen werden. Sie ist vom Wahrnehmenden nicht zu kontrollieren. Gelenkte Täuschung ist systemisch möglich. Als freie Journalisten gerät Hannah Roth in Turbulenzen, in denen private und öffentliche Ängste und Bedrohungen ihren vollen Einsatz erfordern. Unzumutbar empfundene Situationen können Menschen zu innerer oder äußerer Flucht bewegen, weil sie sich getäuscht fühlen. Zunehmende Komplexität erhöht die Gefahr, Lebenslagen zu verstehen. Mit diesem Themenkreis imn privaten und öffentlichem Milieu beschäftigt sich dieser Roman
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Seitenzahl: 285
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Für Karin. Die mich begleitet
Der Kluge ist der, welchen die scheinbare Stabilität nicht täuscht und der noch dazu die Richtung, welche der Wechsel zunächst nehmen wird, vorhersieht.
Arthur Schopenhauer
(1788 - 1860), deutscher Philosoph
Subjektive Wahrnehmung der Dinge täuscht den Wahrnehmenden nicht, weil er jeweils nur über seine individuelle spezifische Wahrnehmung verfügt.
Eine Verformung der Wahrnehmung von außen kann nicht ausgeschlossen werden. Sie ist vom Wahrnehmenden nicht zu kontrollieren. Gelenkte Täuschung ist systemisch möglich.
Als freie Journalisten gerät Hannah Roth in Turbulenzen, in denen private und öffentliche Ängste und Bedrohungen ihren vollen Einsatz erfordern.
Unzumutbar empfundene Situationen können Menschen zu innerer oder äußerer Flucht bewegen, weil sie sich getäuscht fühlen.
Zunehmende Komplexität erhöht die Gefahr, Lebenslagen zu verstehen. Mit diesem Themenkreis im privaten und öffentlichem Milieu beschäftigt sich dieser Roman
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Nachwort
Eine vom Stadtlärm wenig beeinträchtigte Seitenstraße beherbergt das Weinlokal Zur Rebe. Heinrich verabredet sich dort ab und zu mit seinem Freund Fred. Beide schätzen die Spezialität des Hauses, das Weinkarussell. Die angenehme Atmosphäre der Gaststube vermittelt ihnen Vertrauen und Gelassenheit.
Sie begegnen sich auf dem Weg dorthin:
„Fred, Du trägst wieder Deine alte braune Lederjacke mit den großen Taschen. Deine Hände tauchen dort ein. Das ist bestimmt gemütlich. Versteckst Du sie? Ich warte schon lange darauf, dass Du mir erzählst, wovor. Du wohnst in dieser Jacke. Sie scheint an Dir zu kleben. Eine bemerkenswerte Angewohnheit!“
„Ein Teil meiner Persönlichkeit. Einige Eigenschaften bleiben bestehen. Das ist bei mir auch so. Ich gebe diese Gewohnheit mit der Jacke ungern auf. Sie begleitet mich seit Beginn meines Berufslebens, ist wohl ein Teil von mir geworden. In ihr steckt viel Erinnerung. Das weißt Du doch, oder? Ich spüre, weiß, dass diese Phase meines Lebens sich dem Ende zuneigt. Danach bleibt wahrscheinlich nur noch unser Verein. Und wenn Du nicht mein Freund wärst, wäre da nur noch Leere.“
„Das Tolle an Deiner Jacke sind diese großen Taschen. Das gefällt mir. Davon abgesehen fällt mir auf, dass Du heute recht düstere Gedanken hast heute. Nicht wegen der Jacke, oder?“
„Die Jacke hat eine einfache Geschichte und Nützlichkeit. In die Taschen passen genau die CDs, die ich beruflich brauchte und ab und zu noch brauche. Bald ist das ja vorbei. Die Endphase kommt.“
„Klar, die Endphase widerfährt jedem, trotzdem gefällt mir Deine Jacke. Du weißt doch, dass alles vorbeigeht und vergeht.“
„Es war für die Kunden immer überzeugend, wenn ich die geforderte Software quasi aus der Tasche ziehen konnte. Das ist mittlerweile auch anders geworden.“
Fred rückt die Baskenmütze über seinen fahlgelben dünnen Haaren zurecht und zieht die Tür zum Gastraum der Rebe auf. Ihr Lieblingstisch mit den gemütlichen Sesseln wartet auf sie. Der Wirt nickt ihnen zu:
„Ein Weinkarussell, wie immer?“
Bauchige Gläser auf einem hölzernen Drehteller beherbergen verschiedene Weinsorten. Ein kleiner Pfeil am Rand des Drehtellers weist die Genussrichtung, von leicht nach schwer. Heinrich fühlt sich wohl, räkelt sich:
„Das Weinkarussell überrascht immer wieder aufs Neue höchst angenehm. Von Glas zu Glas steigt die Spannung auf den zu erwartenden Genuss, findest Du nicht auch?“
„Der Gastwirt verfügt über die besondere Kunst, spannende Reihenfolgen von Rebentropfen auszuwählen.“
„Dazu passen Käsehäppchen und warmes Brot mit Nüssen vorzüglich. Eine perfekte Genussabrundung.“
„Gut, dass wir den Tisch reserviert haben. Es ist immer gut besucht hier.“
„Wir müssen kurz über unseren Verein reden. Hast Du Dir Gedanken zum Thema ‚Sprache im Wandel für Neuankömmlinge‘ gemacht? Unser nächstes Treffen im >Kulturverein Sprache< findet bald statt.“
„Bevor ich Dir antworte, heute habe ich in der Tageszeitung eine merkwürdige Fußnote gelesen. >Achtet auf Veränderungen! < Ich sehe keinen Sinn darin, aber der Hinweis könnte für unseren Verein interessant werden.
Für das Treffen habe ich eine Reihe von Texten gesammelt, die für die Veranstaltung und spätere Kurse geeignet sein können. Dabei habe ich viele neue Wörter herausgesucht, die noch nicht alle im Duden zu finden sind, vor allem diese neuen Kunstwörter. Dazu noch einige Anglizismen, auf die man verzichten könnte.“
„Es gibt immer wieder neue Begriffe und Wörter, während gleichzeitig viele alte und bewährte aus unserem Wortschatz verschwinden.“
„So wie manche Wörter verschwinden auch Traditionen und Gebräuche.“
„In früheren Zeiten haben das schon viele beklagt.“
„Es wäre besser, wenn alles langsamer gehen könnte.“
„Wir werden uns während der nächsten Sitzung dafür einsetzen.“
Mit seinem vierten Glas vom Karussell in der Hand lehnt sich Fred in seinen Sessel zurück, betrachtet verträumt den Glasrand, schlürft dann ein wenig und stellt sein Glas unerwartet ab. Er stützt den Kopf in seine Hände, wirkt nachdenklich:
„Weißt Du, manchmal überlege ich, ob man ganz von vorne anfangen könnte, also neu beginnen. Das hat jetzt nichts mit dem Kulturverein Sprache zu tun.“
Heinrich fallen seine spitz zu gefeilten Fingernägel auf:
„Was meinst Du damit, Fred? Womit würdest Du neu anfangen wollen?“
„Ich meine das mehr grundsätzlich. Nicht konkret. Man, also ich, denke über Vergangenes nach und frage mich, ob ich alles gut und richtig gemacht habe. Man hat ja im Leben so manche Entscheidung getroffen. Später fragt man sich, ob diese Entscheidungen richtig waren. Falls dort Fehler unterlaufen sind, sollte man die Chance haben, sie auszubügeln. Also allgemein gedacht.“
„Eine Entscheidung ist eine Entscheidung. Was man für Fehler in der Vergangenheit hält, sieht in der Rückschau anders aus. Man hat sich ja in der entsprechenden Zeit zu der jeweiligen Tat oder Maßnahme entschieden. Man entscheidet sich, weil man es als richtig empfindet. Gibt es einen besonderen Grund, warum Du Dir solche Gedanken machst? Hat es mit Deinem Beruf zu tun oder Deinem Alter?“
Fred neigt den Kopf nach vorne, schaut nach unten:
„Vielleicht ist das jetzt doch nicht der richtige Zeitpunkt, vergiss es einfach. Was erzählt Dir der Wein? Ich würde es Gaumenromanze nennen.“
„Ein schönes Wort! Lenke nicht ab! Wenn Du jetzt nicht reden magst, kannst Du es ja auch später tun. Dafür ist ein Freund da. Vergangenes ist geschehen und unwiederholbar vorbei. Es bleiben ein paar Erinnerungen, alte Brocken, unnütze Teile, die zum Beispiel im Keller landen und auf die Müllabfuhr warten.“
„Oder sie bleiben haften und behaupten ihren Platz, sind nicht zu verdrängen.“
„Ich bringe sie wie Abfall immer zur Müllabfuhr, also zum Sperrmüll.“
„Gut so! Ich muss auch einmal nachschauen, ob ich etwas für den Sperrmüll habe. Glaubst Du wirklich, dass es klappt, Erinnerungen im Sperrmüll zu versenken?“
Er schaut etwas verträumt auf die an der Garderobe hängende Lederjacke mit den großen Taschen.
„Ich glaube, Du willst jetzt nicht erklären. Vertagen wir das! Ich nehme zwei Kisten Wein mit, wenn wir gehen. Dann kann ich die Kartons gleich mit dem Sperrmüll entsorgen. Der kommt morgen. Hilfst Du mir beim Tragen?“
„Natürlich. Ich begleite Dich in den Keller. Du kannst die Flaschen gleich ins Weinregal räumen.“
Nach der letzten Station des Weinkarussells bereiten die Freunde ihren Heimweg vor:
„Herr Wirt, wir sehen uns bestimmt bald wieder. Geben Sie uns bitte zwei Kisten Wein mit, Müller-Thurgau und Cabernet Sauvignon.“
„Wie immer. Soll ich Ihnen die Ware nach Hause bringen?“
„Danke, nein. Wir schaffen das schon. Mein Freund hilft mir. Fred, dazu musst Du leider eine Hand aus der großen Tasche Deiner Jacke nehmen.“
„Vielleicht möchtest Du ja die Jacke haben. Du weißt doch, dass ich Dir helfe. Ich begleite Dich auch in den Keller.“
„Was Du über die Vergangenheit sagen wolltest gilt auch für die Zukunft. Veränderungen sind die Merkmale der Zeit.“
„Ob das auch mit der Zeitungsnotiz >Achtet auf Veränderungen! < gemeint ist?“
Sie tragen die Kisten in Heinrichs Keller. Die Flaschen wandern mit geübter Hand aus den Kartons ins Weinregal:
„Fred, wenn Du die Kartons zusammendrückst, kann ich sie morgen früh mit in den Sperrmüll geben.“
Fred tritt auf den zweiten leeren Karton, bückt sich darüber und legt ihn zusammen mit einem herausgezogenen Umschlag aus seiner Jackentasche zum Sperrmüll:
„Kann ich Dir morgen beim Hochtragen des Sperrmülls helfen?“
„Das ist wirklich nicht nötig, das schaffe ich schon alleine. Danke Dir, Fred.“
Auf dem Weg in den vierten Stock grübelt er über den gemeinsamen Abend in der Rebe nach:
Warum denkt Fred darüber nach, neu anzufangen? Hat er Sorgen, oder ist es nur das Alter, weil die Haare dünner werden? Sein Gesicht war heute irgendwie anders. Er konnte mir keine Antwort geben, hat das Gespräch einfach abgewürgt. Das kommt ja vor. Aber ich werde ihn bei Gelegenheit noch danach fragen.
Am nächsten Morgen bereitet Heinrich den Sperrmüll für die Abfuhr vor. Die hölzernen Treppenstufen führen teilweise knarrend vom vierten Stock hinunter zum Erdgeschoss. Auf der stählernen Kellertreppe spricht eine Stufe sein linkes Knie an. Ein unbekanntes knackendes Geräusch in seinem Bein erschreckt ihn.
Was ist das? Es sticht und schmerzt wie noch nie. Ich könnte jeden Moment fallen auf dieser Treppe, hinunterpurzeln, abstürzen, zu Ende stürzen. Zu Ende. Ich brauche Halt an der Mauer. Mauern bieten Halt. Als Maurermeister kenne ich Mauern, viele Mauern.
Noch muss der vorbereitete Sperrmüll auf ihn und den Weg zum Bürgersteig warten. Mit nachlassendem Schmerz erreicht er den Kellerraum.
Die dicke Kellermauer bindet seinen Blick, als er die Kellertür öffnet. Sie erinnert ihn an die vielen Mauern, die er im Laufe seines Berufslebens hochgezogen hat. Sie schickt ihm ihren kalten Geruch. Ihre Rauheit sucht nach seinen Händen. Ihr Alter atmet ihn an. Zwischen rosaroten und roten Steinen, die sich von der dünnen weißen übergetünchten Kalkfarbe freizumachen scheinen, rieseln langsam und träge körnige graue Putzkrümel:
Alter Putz rieselt eben. Die Wand braucht neuen Putz. Ich kann das. Mit Mauern und Putz kenne ich mich aus. Mauern findet man fast überall. Sie benötigen Fugen. Fugen trennen und verbinden gleichzeitig. Sie sind wie Gedanken zwischen den Steinen. Man kann sie spüren. Wer eine Mauer errichtet, ist alleine. Gibt es eine Mauer zwischen Fred und mir?
Der Müll muss auf die Straße, nichts als altes Gerümpel, Symbole für Abschiede. Am Sperrmüll geht nichts vorbei. Wir haben ihn selbst angehäuft. Wo sollten sonst Abfall und Vergangenheit hin? Fred scheint mit der Vergangenheit Probleme zu haben.
Seine großen Hände mit den angerauten Fingern gleiten über die Kellerwand. Das dünne kalkige Weiß über den rauen Steinen klebt fleckig an seinen Fingern. Spuren der Erosion haften an ihm.
Ein alter gerahmter Spiegel im Keller ist dem Sperrmüll noch nicht geopfert worden. Heinrich schaut sich darin an. Der Spiegel berichtet ihm über die schlecht rasierten Bartstoppeln und deutet auf die größer gewordenen Poren seiner Nase. Oben auf dem Spiegelrand wohnt dichter Staub.
Durch das Treppenhaus reicht die Stimme seiner Frau nach unten:
„Heinrich, bist Du mit dem Sperrmüll fertig? Er wird doch gleich abgeholt.“
Heinrich stapelt den Sperrmüll auf dem Gehsteig vor dem Haus. Zuletzt defekte Steigen und zusammengepresste Kartons. Alles zusammen schmälert den Gehsteig.
So ist es in Ordnung. Ich muss mich um Mauern kümmern. Und Mörtel.
„Kommst Du jetzt?“
„Ja, ich bin fertig.“
Sperrmüllhaufen belagern die Bürgersteige der Straße, in der Heinrich mit seiner Frau wohnt. Mittelgroße Transportfahrzeuge fahren langsam entlang. Fahrer und Begleiter spähen nach Brauchbarem in den Müllhaufen und picken es gelegentlich auf.
Sie sind nicht alleine unterwegs.
Bevor die gelben Lastkraftwagen mit ihren Hydraulikpressen die Straße erreichen, kümmern sich Kinder um die Sperrmüllhalden, spielen Entdecker und stöbern in ihnen.
Ihnen begegnen Bruchstücke von Vergangenem wie fleckige Sessel, Stühle mit drei Beinen, fettige Kochtöpfe, Stoffreste von Laken oder Betttüchern, zerfledderte Bücher, Keramikgefäße mit abgebrochenen Henkeln, schmutzige Tassen, ab und zu sogar Teddybärchen, Kartons mit Flecken, zersplitterte Holzkisten, nasse Lappen und Glassplitter, Bierdosen, Videokassetten, Vinylplatten, gebrauchte und mehrfach beschriebene Umzugskartons, zerdrückte Weinkartons und viel altes Papier, Briefe und handgeschriebene Tagebücher, elektronisches Gerümpel, defekte Elektrogeräte, schmutzige Tücher, Zeitungspakete.
Sie kramen vorsichtig, weil sie wissen, dass im Sperrmüll auch gebrochenes Glas sein kann oder andere scharfe Sachen oder irgendetwas Stinkiges. Vorsichtig tasten sie sich durch die Sperrmüllhaufen.
Ein paar Holzabfälle finden Abnehmer für den heimischen Herd. Ein alter Topf findet eine Abnehmerin. Tom fingert einen dünnen Umschlag zwischen zusammengedrückten Weinkartons heraus:
„Schaut mal, hier ist was. Der steckte hier zwischen den Kartons. Da ist was drin, was Rundes!“
„Mach es doch auf!“
Zwei dünne silberne Scheiben in einer Plastikhülle rutschen aus dem Umschlag in seine Hand.
„Schaut, zwei CDs. Da ist bestimmt Musik drauf. Spannend. Die müssen wir hören. Den Umschlag nehme ich mit.“
„Klar, aber wir suchen noch ein wenig weiter! Vielleicht gibt es noch mehr davon.“
„Zwei CDs haben wir ja schon.“
„Klasse, da sind bestimmt gute Sachen drauf.“
„Wir gehen nachher zu mir und hören uns die Songs an.“
Der Sperrmüll wartet auf die Müllfahrzeuge mit ihren Hydraulikpressen.
Das Poltern der Müllwagen ist fast vergessen, als Heinrich seiner Frau Else das Frühstück serviert. Duftender Kaffeedampf wabert über den Küchentisch:
„Ich habe Eier gekocht. Wir haben lange keine mehr gegessen. Noch ist Schinken da. Morgen sollten wir Käse kaufen und Milch.“
„Komisch, immer, wenn ich Milch höre, denke ich an Katzen. Vielleicht musst Du alleine einkaufen gehen. Ich bin nicht so recht in Ordnung.“
„Ich habe nicht vergessen, dass Du früher eine Mieze hattest. Hieß sie nicht Bienchen? Aber hier im vierten Stock wäre das etwas schwierig mit einer Katze. Die brauchen doch Bewegung. Dir geht es nicht gut? Hast Du die Medikamente noch nicht genommen?“
„Doch, aber ich fühle mich nicht so wohl. Vielleicht liegt es am Wetter. Es wird schon werden.“
„Gestern auf dem Weg in den Keller hat mein Knie unfreundlich mit mir gesprochen. Merkwürdig geknackt. Jetzt spüre ich nichts mehr. Ich bin froh, dass Fred mir nicht beim Sperrmüll helfen musste. Solange es geht, soll man seine Aufgaben alleine lösen, oder?“
„Soweit es unseren kleinen Haushalt betrifft, mag das richtig sein. Wenn es mehr wird, kann man schnell auf Hilfe von außen angewiesen sein. Das kann für uns problematisch werden, weil wir nur zu zweit sind.“
„Du hast Recht. Früher in den Großfamilien war es anders. Da gab es Hilfe und Unterstützung. Das war ganz selbstverständlich. Die Menschen haben von der Großfamilie profitiert, auch in sozialer Kompetenz. Man musste sich keine Sorgen machen. Es war immer jemand da.“
„Es gab bestimmt auch Katzen. Man hat mehr miteinander gesprochen als heute, es gab ja auch nicht so viel Ablenkung von außen. Deswegen mache ich ja in dem >Kulturverein Sprache< mit.“
„Zusammen mit Deinem Freund Fred!“
„Ist ja gut, ich weiß, dass Du ihn nicht magst. Wir sind schon wirklich eine sehr kleine Familie, wir beide.“
„Du musst mich nicht daran erinnern, dass ich mein Baby damals nicht bei mir behalten konnte. Ich war einfach zu hilflos und hatte niemanden, der mir beistand und half. Außerdem war ich fast mittellos, das weißt Du doch.“
„Ja, entschuldige, ich weiß. Ich habe das nicht so gemeint und wollte Dich nicht beschämen. Bestimmt nicht wegen Deiner frühen Vergangenheit. Das ist allein Deine Sache.“
Er wollte nicht daran denken, dass ein anderer Mann mit seiner Frau geschlafen hat.
„Gut, ich weiß. Aber ich kann es eben nicht vergessen. Es war sehr schwer für mich. Beschämt allein gelassen zu werden ist fast nicht zu verkraften. Ich habe quasi eine Flucht angetreten, unbewusst, hilflos wie ich war.“
„Ich habe schon manchmal darüber nachgedacht und jetzt sage ich es Dir einfach. Wie wäre es, wenn unsere Familie ein wenig wachsen würde. Dein Kind wird ja irgendwo leben. Du hast Dich damals in Deiner Not verzweifelt diesem Gemeindepfarrer anvertraut. Der hat Dein Baby in Obhut genommen. Ich bin bereit, mit Deinem Sohn in Kontakt zu treten. Vielleicht finden wir zusammen.“
„Lange Zeit habe ich gedacht, dass das nie der Fall sein wird, weil ich das Kind verlassen musste. Ich habe nie die Kraft gefunden, nach ihm zu suchen. Es ist immer noch die Angst, versagt zu haben. Aber ich wusste damals keinen anderen Weg. Wenn Du die Kontaktaufnahme auf Dich nehmen willst, würde ich mich sehr freuen, obwohl ich Angst habe, auch wegen meines Alters und meiner Gesundheit.“
„Dein Alter und Deine Gesundheit erwähnst Du in letzter Zeit öfter. Warum? Gibt es Nachrichten vom Arzt, die ich nicht kenne?“
„Nein, Heinrich, es ist alles gut.“
„Weißt Du was, ich werde gleich diesen Gemeindepfarrer anrufen und versuche zu erfahren, wo Dein Sohn lebt und was er tut.“
„Die Telefonnummer des Pfarrers findest Du in meinem Notizbuch. Ich möchte das Gespräch aber nicht mit anhören. Ich will nur wissen, ob es dem Kind gut geht.“
„Das verstehe ich.“
Er steht vom Tisch auf, streicht mit seiner kräftigen Maurerhand über ihre mit grauen Strähnen durchzogenen dunklen Haare:
„Ich rufe den Pfarrer an.“
In seinem Arbeitszimmer ordnet Heinrich mit fahriger Hand abwartend die Gegenstände auf seinem Schreibtisch, rückt den Telefonapparat hin und her und atmet tief durch.
Ich habe es versprochen. Nun muss ich die Mauer einreißen, die seit Jahren fast unüberwindbar zwischen uns steht. So ist es nun mal.
Sein Anruf erreicht Gemeindepfarrer Müller in Steindorf:
„Nein, Sie stören nicht, Herr Becker. Ich bereite zwar gerade eine Predigt vor, aber freue mich über eine Unterbrechung. Es ist manchmal gut, wenn man mitten in einer Arbeit eine Pause einlegen kann, vor allem, wenn es darum geht, jemandem helfen zu können. Und davon gehe ich doch aus?“
„Sie können meiner Frau und mir wirklich helfen. Meine Frau hat vor etwa 25 Jahren in Steindorf als Bedienung im Dorfkrug gearbeitet. Dort hat sie einen jungen Mann kennengelernt, von dem sie schwanger wurde. Das Kind hat sie in Ihre Obhut gegeben. Der junge Mann hat sich seiner Verantwortung entzogen. Ich verfüge nur über wenige Anhaltspunkte für die Suche nach dem Kind und bin auf Ihre Hilfe angewiesen. Gerne möchte ich meiner Frau die Möglichkeit verschaffen, ihr Kind möglicherweise kennenzulernen. Zumindest sollte sie wissen, wie es ihm geht.“
„Sie weisen mich gerade darauf hin, wie lange ich schon Gemeindepfarrer bin. Ihr Anliegen liegt mir am Herzen. Es gibt nur einen Fall der Art, wie Sie es schildern. Sie werden aber einsehen, dass ich Sie am Telefon nicht mit den Gründen konfrontieren kann, die dazu geführt haben, dass das Baby damals in meine Obhut gekommen ist. Ich kann Ihnen berichten, dass Frank, so heißt der junge Mann, bisher gut durchs Leben gekommen ist. Er betreibt hier im Dorf eine kleine Werkstatt. Mit ein paar Bekannten repariert er alte Geräte, Bügeleisen, Waschmaschinen, Elektroöfen und Ähnliches.“
„Das ist ja zu loben. Kann er davon denn leben?“
„Soviel ich weiß, ja. Das ist erst einmal nicht so wichtig. Es kommt doch auf die Lebenseinstellung an. Er ist ein guter Handwerker, wird von der Gemeinde anerkannt, baut auf Solides und misstraut allen Dingen, die er sich nicht erklären kann. Damit lehnt er auch den digitalen Zwang ab, der uns alle betrifft. Aber er kommt zurecht. Dennoch weiß ich, dass er sich mit den digitalen Werkzeugen gut auskennt.“
„Haben Sie herzlichen Dank. Ich habe jetzt ein erstes Bild von ihm. Ich möchte Sie jetzt nicht länger bei Ihrer Arbeit stören.“
„Sollten Sie weitere Fragen haben, stehe ich Ihnen gerne zu Verfügung. Eine Bitte noch, behandeln Sie meine Auskünfte vertraulich. Der Junge müsste einer Weitergabe zustimmen.“
„Selbstverständlich. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich Sie einmal besuchen werden, wenn Sie erlauben.“
„Jederzeit, Sie sollten vorher anrufen.“
„Herr Pfarrer, danke für Ihre Zeit!“
Heinrich verweilt noch ein wenig an seinem Schreibtisch, stützt sein wettergeprägtes Gesicht in eine Hand und schiebt das Bild seiner Frau in einem Silberrahmen auf der Schreibtischunterlage langsam hin und her.
Ich werde noch ein wenig hierbleiben. Steindorf sagt mir nicht viel. Ich schaue mal im Internet nach.
Neben dem Kartenauszug findet er Daten über die Größe des Dorfes, den Namen des Bürgermeisters, dort vorhandene Geschäfte und agierende Parteien. Daneben fällt ihm Hinweis, vielleicht eine Werbung. auf: >GuteGründe<. Darunter: >Gesellschaftliche und politische Themen für Interessierte<.
Was es alles gibt! Was wohl dahinter steckt? Könnte das für unseren Kulturverein interessant sein? Wahrscheinlich sind es so ein paar Spinner. Die findet man ja heute überall im Netz. Da kann doch jeder sagen, was er will, ohne seinen Namen zu nennen und für das gerade zu stehen, was er da schreibt. Das ist doch gefährlich. Die Adresse werde ich mir trotzdem merken.
Unter den Gewerbeanzeigen des Ortes findet er eine einfach gestaltete Seite: >Reparaturbetrieb für gebrauchte Geräte<.
So wie der Pfarrer es beschrieben hat, könnte das die Homepage von Frank sein. Die Links betreffen wahrscheinlich Referenzen, Kunden oder Lieferanten. Komischerweise finde ich keine Adresse. Hat er das Impressum vergessen? Das muss ich mir gelegentlich genauer anschauen.
Er notiert sich auch diese Seite. Zuletzt stößt er auf eine aktuelle Pressemitteilung:
„Durch eine Entscheidung der Bezirksregierung sind der Gemeinde Steindorf sechs Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Libyen zugewiesen worden. Bürgermeister und Pfarrer werden durch freiwillige Helfer in der bevorstehenden Integration der Gäste unterstützt. Die Gemeinde bietet den Flüchtlingen Unterkunft.“
Zuletzt klickt er wissbegierig auf den Link des Blogs >GuteGründe<. Unter >Wir über uns< wird die Aufgabenstellung erläutert: Wir bieten eine Plattform für alle, die gute Gründe zur konstruktiven Kritik an der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft haben. Hierzu finden Sie verschiedene Kategorien. Für alle ernsthaft Interessierten an einer Mitarbeit ist eine einmalige Registrierung erforderlich. Leser können Beiträge posten. Sofern sie förderlich sind, erhalten registrierte Leser eine Stellungnahme.
Grundsätzlich könnte das für den Kulturverein Sprache interessant sein. Aber ich werde mich jetzt nicht registrieren. Ich muss erst mehr darüber wissen. Wer und was stecken dahinter? Kann das eine Falle sein? Man weiß ja nicht, wo die privaten Daten landen.
Er liest neugierig ein paar Kommentare. Sie beginnen überwiegend mit der Formulierung „Es gibt gute Gründe zu beklagen, dass die Autoindustrie lügt. Sie verspricht genaue Verbrauchsdaten, und es stellt sich heraus, dass sie wirklichen Verbrauchsmengen viel höher sind. Ein Guter Grund, kein Vertrauen zu haben.“
„Es gibt gute Gründe zu beklagen, dass die Politik lügt. Sie versprechen internationale Umweltvereinbarungen einzuhalten, entziehen sich dann aber ihren Verpflichtungen. Ein Guter Grund, kein Vertrauen zu haben.“
„Es gibt gute Gründe zu beklagen, dass die Politik lügt. Sie versprechen gleiche Löhne für gleiche Arbeit bei Mann und Frau, sorgen aber nicht für entsprechende Gesetze. Ein Guter Grund, kein Vertrauen zu haben.“
„Es gibt gute Gründe zu beklagen, dass die Kirche lügt. Sie versprechen die Kinder zu behüten und lassen sexuelle Übergriffe zu. Ein Guter Grund, kein Vertrauen zu haben.“
„Es gibt gute Gründe zu beklagen, dass die Banken gute Anlagen und Kundenbetreuung versprechen und sich darum kümmern, dass die Reichen und Wohlhabenden weniger Steuern zahlen (Panama Papers und Paradise Papers) und damit die Gesellschaft betrügen. Ein Guter Grund, kein Vertrauen zu haben.“
Unter dem Blog erscheint ein Banner:
‚Nicht Worte bestimmen Vertrauen, sondern Taten.‘
Zuletzt blinkt die Aufforderung auf, sich bei dem Blog zu registrieren, um das Vaterland zu retten.
Heinrich beendet seine Recherche.
Ich habe ihn gefunden. Er heißt Frank. Er blieb offensichtlich in dem Ort, in dem er geboren wurde. Else war damals Bedienung in einem Restaurant. Dort hat sie bestimmt den Vater kennengelernt. Den Namen kann oder will sie mir nicht nennen. Ich habe ihr versprochen, nicht danach zu fragen. Daran werde ich mich halten.
Er kehrt in die Küche zurück:
„Else, ich habe den Pfarrer gesprochen. Der Junge lebt und ist auch gesund.“
„Danke, Heinrich, das reicht mir. Mehr will ich nicht wissen. Wenn er lebt und gesund ist, ist alles gut. Du hast genug getan. Du musst noch einkaufen gehen.“
Die Sperrmüll-CDs wecken die Phantasie der Kinder. Sie liegen in Toms Zimmer zusammen auf dem Boden und schauen neugierig auf den Bildschirm des Laptops, auf dem Tom die CDs abspielen will. Ihre neugierige Anspannung wird enttäuscht. Auf den Scheiben sind keine Musikdateien, sondern Bilder und Zeichnungen, die sie nicht verstehen. Tom ruft seine Mutter:
„Kannst Du bitte mal schauen. Wir haben da CDs gefunden. Aber es ist keine Musik drauf.“
„Habt ihr wieder im Sperrmüll gestöbert? Ihr wisst doch, dass man sich die Finger an den fremden Sachen auch verletzen kann. Was habt ihr denn da gefunden?“
„Schau doch mal, das ist komisch. Wir verstehen das nicht.“
Ein kurzer Blick auf den Bildschirm genügt:
„Textdateien, Grundrisszeichnungen, augenscheinlich von Kirchen, Fassadenbilder, die muss ich mir ansehen. Habt ihr noch mehr?“
„Ja, noch eine CD.“
„Das ist sehr merkwürdig. Ich mache euch einen Vorschlag. Die beiden gefundenen CDs gehen an mich und ihr bekommt als Ersatz ein paar Musikscheiben.“
Umschlag und CDs landen in ihren schlanken Händen mit den blass rosa lackierten Fingernägeln. Als freie Journalistin hat sie einen guten Riecher für publikationswürdige Ereignisse. Wittert sie eine Chance für einen Bericht, packt sie sofort zu. Sie ist stolz auf ihre Nase für Skandale. Der erste Eindruck von den CD-Dateien könnte den Anlass für einen Hintergrundbericht liefern. Schnell sein und gut recherchieren ist ihr Motto. Besser sein als die vielen Hobbyreporter, die meinen, dass sie ohne entsprechende Ausbildung mit ihren Smartphones Bilder und Reportagen verkaufen können.
Ihre zupackende Neugierde wie auch ihre Empathie halfen ihr frühzeitig ein hilfreiches Netzwerk aufzubauen. Ihrem besitzergreifenden, inzwischen geschiedenen Partner, bereiteten die Kollegen aus diesem Netzwerk Kopfschmerzen, weil sie ihn ohne Gründe eifersüchtig machten. So lebt sie jetzt allein mit ihrem neunjährigen Sohn Tom in einer Vierzimmer-Wohnung in der Stadt.
Bei aushäusigen Recherchen unterstützt sie ihre Mutter in der Betreuung ihres Sohnes Tom. Als pensionierte Lehrerin fühlt sie sich für die Aufgabe berufen.
Sie betrachtet die Daten der ersten CD auf dem Bildschirm ihres PC. Zahlreiche unvollständige Bilddateien, darunter unklare Fotomontagen mit Elementen muslimischer Frauenbekleidung auf Gesichtern von Politikern. Einige Textdateien:
>Wer bezahlt für die neuen Bürger? Während unsere Pfleger und Schwestern in den Krankenhäusern ziemlich schlecht bezahlt werden, werden Flüchtlinge einfach so untergebracht und ernährt. Kann das gerecht sein? <
>Wir brauchen keine Fremden, vor allem keine Muslime. Aufruf zum Kampf der Kirchen gegen Moscheen! <
Daneben Dateien mit unverständlicher Zeichenfolge.
Diese Dateien sind verschlüsselt. Was steckt dahinter? Das muss ich rausfinden! Eine Chance für einen Hintergrundbericht!
Die zweite CD beinhaltet weitere Dateien, die Hannah mit der vorhandenen Software nicht alle sofort öffnen kann.
Meine Kollegen können mir bestimmt bei verschlüsselten Dateien helfen. Hier eine lesbare Textdatei:
„Lieber Vater,
dies ist ein Notruf! Ich werde bedroht. Du bist doch IT-Fachmann. Die beiden CDs enthalten Hinweise und Beweise zu kriminellen Vorhaben, von denen ich zufällig Kenntnis erhielt. Möglicherweise werde ich deswegen bedroht. Ich kann nicht alle Dateien öffnen und bitte Dich um Hilfe und eventuell um Weiterleitung an die Polizei.
Grüße
Dein Sohn“
Sie prüft den Umschlag der CDs.
Da ist eine Handschrift durchgedrückt, wahrscheinlich von einem Kugelschreiber. Ein Umschlag im Umschlag! Auf dem Äußeren die Adresse des Vaters. Er behielt den Umschlag oder hat ihn vernichtet. Merkwürdig! Die Dateien sind rätselhaft. Warum ein Hilferuf? Warum landen die CDs im Sperrmüll?
Sie entschließt sich kurzerhand, sich des Rätsels anzunehmen und Antworten auf ihre Fragen zu finden. Immer, wenn sie einen solchen Entschluss fasst, streicht sie nacheinander einen Handrücken über den anderen. Es ist wie ein Zeichen der Zuversicht. Zuletzt verschränkt sie Hände ineinander, ähnlich wie bei einem Gebet. Die Gedanken gehen weiter. Sie übersieht ein Banner am unteren Ende des Bildschirms:>Achtet auf Veränderungen! <
Diese CDs im Sperrmüll! Der Vater scheint sie ungelesen entsorgt zu haben. Was ist der Grund dafür? Ich werde es herausfinden.
Jörg Assmann war ein ruhiger und besonnener Schüler. Einige seiner Mitschüler nannten ihn einen Spinner, andere einen Philosophen. Sie fanden immer wieder Anlässe über ihn zu tratschen und zu spekulieren:
„Der denkt immer so viel nach und überlegt sich, wie die Welt funktioniert und was alles passieren kann.“
„Der schreibt ja auch Gedichte und so Sachen. Hat Glück, dass er nicht schlecht ist in der Klasse.“
„Stimmt. Er lässt auch abschreiben. Er spielt bestimmt zwei oder drei Musikinstrumente, ein richtiges Sensibelchen.“
„Der kann sich vieles leisten, bei dem Elternhaus, jetzt schon versorgt für sein Leben.“
„Ja, die haben einen internationalen Großhandel.“
„Da wird der Jörg bestimmt einsteigen, wenn wir mit der Schule fertig sind.“
Seine Eltern waren stolz über seinen Schulabschluss. Sein Vater lud ihn ein, im Familienunternehmen zu arbeiten:
„Jörg, Deine berufliche Zukunft und Entwicklung kann gerne in einer unserer Firmen beginnen. In einer Ausbildungsphase, sozusagen einem Schnüffelkurs, kannst Du verschiedene Unternehmensbereiche kennenlernen. Das unterstützt Deine Wahl für ein Studienfach. Eine internationale Universität wird Deinen Weg vorbereiten, bevor Du in die Unternehmensführung gelangen wirst.“
„Ich danke Dir, dass Du so für mich sorgen willst. Meine Vorstellung von der Zukunft sieht etwas anders aus. Ich möchte nicht durch die Gunst meiner Geburt oder durch die Zugehörigkeit zur Familie Vorteile genießen, die anderen nicht gegeben sind. Deswegen möchte ich mich bemühen, meinen eigenen Weg zu finden. Danke für Dein Vertrauen und das Angebot. Aber ich glaube, dass ich besser dran bin, wenn ich einen eigenen Weg gehe.
Aus meiner Sicht hat das Familienunternehmen den Charakter eines Räderwerkes aus Waren, Geld, Verträgen und Menschen. Da kann man hineingehören oder auch nicht. Ich muss mir überlegen, ob ich da hineinpasse. Erst muss ich mich orientieren und hoffe auf Verständnis. Ich befürchte Zwänge, die ich nicht selbst erzeuge.“
„Ich akzeptiere Deine Meinung, auch wenn ich sie nur bedingt teile. Es gibt immer irgendwelche Zwänge, auch für unser Unternehmen. Natürlich auch für die Mitarbeiter. Das ist das System, das man verstehen und akzeptieren können muss. Dazu braucht es eine Einstellung oder Überzeugung. Du bist in der außerordentlichen Lage, wählen zu können. Diese Freiheit will ich Dir nicht nehmen. Auch wenn ich es bedaure, mein Sohn. Selbstverständlich kannst Du nach Findung Deiner beruflichen Orientierung, wie Du das nennst, jederzeit mit mir sprechen, um möglicherweise ein Angebot für eine Aufgabe in unserem Unternehmen anzunehmen. Ich würde mich freuen.“
„Der Mensch wird erst zum Menschen, wenn er seine Freiheit gefunden hat. Nur aus einer Freiheit heraus wird er handeln. Ich kann so nicht ein Rädchen werden, bevor ich genau weiß, was ich will. Außerdem gibt es genug Probleme in unserer Gesellschaft, um die ich mich kümmern möchte.“
„Deine Mutter würde Dich gerne in der Nähe des Unternehmens und damit auch der Familie sehen.“
„Sie wird mich verstehen. Ich verabschiede mich ja nicht aus unserer Welt.“
„Du wirst Deinen Weg schon machen, mein Sohn!“
Jörg zog sich für die Dauer der Sommerferien in das Landhaus der Familie zurück. Einerseits genoss er dieses Privileg, andererseits wirkte es belastend. Für den Weg in die Zukunft suchte er einen Weg ohne den Schutz der Familie.
Viele seiner Mitschüler kümmerten sich nicht um Wege in die Zukunft, sondern bemühten sich vorwiegend in Sozialen Medien um Kontakte, Freizeitvergnügen und Kurzweil. Er hatte keinen Gefallen daran, fand es kurzsichtig. Er forschte nach einem Bild von der Welt und studierte Zeitungen, Fachbücher und Zeitschriften. So gewann er ein eigenes Bild von der Gesellschaft. Dabei interessierten ihn zuerst die verschiedenen Begriffe von Freiheit. Mit neugierigem Elan suchte er nach klaren Beschreibungen. Seine Studien ergaben zwei Aspekte zur Freiheit.
Auf der einen Seite steht die Herrschaft überwiegend individueller Interessen. Hier orientiert sich der Einzelne vorzugsweise an seinen persönlichen Neigungen, Interessen und Wünschen. Er sucht auf eine unbeeinflusste Art nach Glück und Selbstverwirklichung. Die Umstände um ihn herum werden nicht berücksichtigt.
Jörg nannte diesen Begriff konsumistisch.
Auf der anderen Seite erfüllt die Gesellschaft eine prägende Funktion für die Freiheit. Sie bedeutet aktive Interaktion mit der Gesellschaft, den Mitmenschen. Der Einzelne fühlt sich frei, wenn er ein gewichtiges Mitspracherecht bei der Gestaltung des Gemeinwesens besitzt und ausübt. Er schätzt soziale Teilhabe.
Diesen Freiheitsbegriff nannte er demokratisch.
Er entdeckte, dass das allgemeine Freiheitsverständnis sich zu dem konsumistischen, also egoistischen Begriff verschob.
Unter dieser Entwicklung muss die Demokratie notleiden. Diese Staatsform ist ja keine karitative Einrichtung, sondern erfordert tätiges Bürgertum.
Mit diesen Gedanken wuchs der Wunsch, eine eigene Position zu definieren und den erkannten Trend sichtbar zu machen. Er entwickelte einen Blog als öffentlich einsehbares Tagebuch, in dem er Sachverhalte protokollieren und darüber zur Diskussion anregen wollte. Er nannte ihn >Gute-Gründe<.
Ich möchte für die Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit arbeiten. Schließlich ist die ganze Gesellschaft darauf angewiesen. Nur wenige Menschen sind so privilegiert wie ich. Ich kann mich für das Gemeinwohl engagieren. Als einzelne Person werde ich nicht viel bewirken können, aber der Blog kann helfen. In eine politische Partei kann ich nicht eintreten. Festgelegte Programme würden mich bremsen. Ich arbeite mit eigenen Ideen. Mein Blog soll ein Marktplatz sein, auf dem die Leute miteinander auch über das Gemeinwohl reden. Ich glaube, dass es im alten Athen auf dem Markt so ähnlich war. Schließlich kommt die Uridee über die Gestaltung einer Gesellschaft ja von den Alten Griechen, wie ich es gelernt habe. Heute kann man für den Austausch der Ideen das Internet nutzen. Ich werde den Blog aktiv betreiben. Als Motto wähle ich so etwas wie:
Kein Grund, blindes Vertrauen zu den Etablierten in Politik und Wirtschaft zu haben.
Diese Entscheidung überschnitt sich zeitlich mit seiner Einberufung zum Militär. Seine stattlich schlanke Figur, sicheres Auftreten und ein klarer Blick schienen ihn für Führungsfunktionen in der Armee zu prädestinieren. So fand er dort seine berufliche neue Heimat. Die Arbeiten an seinem Blog führte er mit Genehmigung der zuständigen Dienststelle unter einer eigenen Firmierung weiter. Einer seiner Vorgesetztem, ein Oberst Gründe, beglückwünschte ihn zu dem Titel seines Blogs und fand sich damit selbst bestätigt:
„Assmann, man muss eine Haltung haben! Gut so!“
Inzwischen vertritt Jörg Assmann als Oberleutnant den Chef der Pionierkompanie, deren Kaserne umgeben von Nadelwald in der Nähe von Steindorf liegt, im Politischen Unterricht:
Er klappt sein Dienst-Tablet auf und informiert über die aktuellen Nachrichten aus den wichtigsten Medien. Zuletzt legt er das Tablet auf einen Tisch und redet frei: