Der Römer - Lasse Holm - E-Book

Der Römer E-Book

Lasse Holm

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Beschreibung

Drusus bekam blutige Durchfälle. Die rotbraune Masse lief wie Ameisenstraßen an den vergoldeten Füßen des kostbaren Arbeitstischs hinunter. Seine Pupillen weiteten sich, sodass die Augen Geheimgängen ähnelten, die ins Reich der Toten führten. Spucke klebte an seinen Lippen. Er krümmte sich krampfartig und seine Arme mussten festgehalten werden, damit sie nicht wie Spatzenflügel durch die Luft flatterten. Seine Wunde roch nun nach Kot. Immer wieder spannte sich sein Körper vom Nacken bis zu den Fersen wie ein Bogen an auf der Tischplatte. Er schrie, schrie und schrie, bis seine Stimme nichts anderes mehr war als ein heiseres Winseln. Drusus´ Leiden dauerte sechs Stunden an. Als der Morgen graute, hatte er schließlich das Bewusstsein verloren. Kurz danach blieb sein Herz stehen. Ich schloss seine Augen und trocknete den Schweiß von seiner Stirn. Marius legte eine Münze unter seine Zunge und hielt schweigend den Unterkiefer mit zwei Fingern fest. Ich band ihn nach oben, sodass der Rigor mortis den Mund des Volkstribuns für immer verschließen konnte. AUTORENPORTRÄT Lasse Holm wurde 1968 in Aarhus geboren. Der gelernte Grafikdesigner hatte seinen Durchbruch als Schriftsteller 2014 mit dem Roman "Der Römer". Sein vielbeachteter zweiter Roman "Der Grieche" erhielt ebenfalls starke Kritiken. REZENSION "Kriminalgeschichten über die klassische Antike sind weltweit ein großes und anerkanntes Genre, auch wenn es große Qualitätsunterschiede gibt; Lasse Holm schreibt sich auf unglaubliche und wunderbare Weise unter die Besten. […] Der Roman ist so spannend, dass man ihn fast in einem Atemzug liest." - Anne Knudsen, Weekendavisen

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Lasse Holm

Der Römer

Kriminalroman

Aus dem Dänischen vonAndré Wilkening

Saga

Der Römer

Aus dem Dänischen von André Wilkening

Originaltitel: Romeren © 2014 Lasse Holm

Cover: Lasse Holm

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711461587

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Personenverzeichnis

Römische Familien – insbesondere die Adligen – konnten, wenn sie einem Jungen einen Namen geben wollten, nur zwischen ein paar Vornamen (Pränomen) wählen. Jede Familie hatte ihre Favoriten, jedoch waren Marcus, Quintus und Lucius äußerst beliebt. Obendrein wurde der erstgeborene Sohn traditionell nach seinem Vater benannt, der wiederum den Namen seines Vaters erhalten hatte usw.

Was Frauen anbelangte, waren die Möglichkeiten sogar noch eingeschränkter. Eine Tochter bekam – unabhängig von der Anzahl der Schwestern – die weibliche Form des Familiennamens (Nomen). Demnach hießen alle Töchter der Juliusfamilie Julia. Einen richtigen Nachnamen erhielt sie erst, wenn sie vermählt wurde. Bis dahin trug sie den Beinamen (Cognomen) des Vaters.

Die weitaus meisten Personen in diesem Buch sind historisch bezeugt. Namensgleichheiten ließen sich daher nicht völlig vermeiden. Das unten stehende Personenverzeichnis soll dabei helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Die Namen sind alphabetisch aufgelistet, und es sind diejenigen Namen groß geschrieben, unter denen sie im Buch auftauchen. Personen mit nur einem Namen sind Sklaven, Ausländer oder gehören zu den Plebejern, dem niedrigsten Stand in der römischen Gesellschaft.

Aelia. Wäscherin. Alleinerziehende Mutter von Tiro.

Aemilia Lepida. (Geborene Cornelia) Römische Adlige ohne Talent für Heuchelei und weibliche Demut. Mutter von sowohl Drusus als auch Mamercus. Außerdem Großmutter von Servilia, Quintus, Porcia und Cato. Witwe von Aemilius Lepidus.

Brutus, Marcus Junius. Römischer Adliger und Senator. Nachkomme der Gründer der Republik.

Cato, Marcus Porcius. Widerspenstiger und altkluger Junge. Drusus’ Neffe und Servilias Halbbruder.

Cicero, Marcus Tullius. Sohn eines reichen Landbesitzers. Schreiber im Stab von Sulla. Möchte gern Advokat und Orator werden.

Cinna, Lucius Cornelius. Konsul im Jahr 87 v. Chr.

Claudia Aemilia. Als Zwölfjährige mit Mamercus vermählt, als ihre Eltern starben. Tochter von Appius Claudius.

Claudianus, Marcus Livius Drusus. Claudias Bruder. Von Drusus adoptiert. Eigentlich der Sohn von Appius Claudius.

Cornelia Graccha. Besorgte Mutter von Tiberius und Gaius Gracchus.

Cornelia Sulla. Unbekümmerte und angeblich sehr anmutige Tochter von Sulla.

Crassus Orator, Lucius Licinius. Skrupelloser römischer Senator. Freund von Scaurus.

Crixius. Ehemaliger Gladiator und Volumnias Handlanger.

Caecilia Metella. Junge und ausgesprochen attraktive Adlige. Mit Scaurus vermählt.

Caepio, Quintus Servilius. Römischer Adliger. War mit der Schwester von Drusus vermählt. Sohn von Quintus Servilius.

Demetrios. Medicus und Chirurg. Sohn und Lehrling des griechischen Leibarztes von Cornelia Graccha.

Decumius, Lucius. Legat (Offizier) im Stab von General Marius.

Diomache. Demetrios’ Kusine aus Massilia. Mit Mikon vermählt.

Domitius, Gaius. Römischer Senator mit Sinn für Kunst.

Drusus, Marcus Livius. Römischer Senator mit einer Mission und zahllosen Feinden. Sohn von Aemilia und Halbbruder von Mamercus.

Fabius, Quintus. Vorsitzender des Strafgerichts.

Julia Maria. Mit Marius verheiratet. Schwägerin von Sulla, dessen verstorbene Ehefrau ebenfalls Julia hieß.

Lucullus, Lucius Licinius. Zenturio (Unteroffizier) im Heer von Sulla.

Lupus, Publius Rutilius. Römischer Konsul und Heerführer im Jahre 90 v. Chr. Folterexperte, der sich dieses Wissen selbst aneignete.

Lydia. Haushälterin im Haus von Senator Domitius.

Mamercus, Aemilius Lepidus Livianus. Sechzehn Jahre jüngerer Halbbruder von Drusus. Sohn von Aemilia und ihrem zweiten Mann Aemilius.

Marcus Stercorius. Freigelassener Sklave und Koch bei Drusus.

Marius, Gaius. General und Kriegsheld.

Marius Junior, Gaius. Sohn des alten Generals.

Messala, Marcus Valerius. Legat im Heer von Lupus.

Metrobios. Sehr erfolgreicher griechischer Schauspieler.

Mucia Licinia. Ehefrau von Crassus Orator.

Mutilus, Gaius Papius. Ehemaliger Gladiator und jetziger Leibwächter.

Petronius. Pförtner im Haus von Drusus.

Philippus, Lucius Marcius. Konsul im Jahre 91 v. Chr.

Philomela. Verstorbene Schwester von Demetrios’ Vater.

Quintus Servilius. Konsul und Heerführer im Jahre 104 v. Chr. Verlor ein Heer von 80.000 Mann in der Schlacht von Arausio und wurde ins Exil geschickt. Vater von Caepio. Servilias Großvater.

Rachel. Sklavin im Haus von Senator Domitius.

Sarpedon. Lehrer und Erzieher aus Lykien.

Scaurus, Marcus Aemilius. Vorsitzender des Senats.

Sempronia Scipia. Verbitterte Tochter von Cornelia Graccha. Schwester von Tiberius und Gaius Gracchus.

Servilia Caepionis. Selbständig denkende Nichte von Drusus. Caepios Tochter. Enkelin von Quintus Servilius.

Silo, Quintus Poppaedius. Anführer der Marser.

Sulla, Lucius Cornelius. Trunksüchtiger Sohn eines armen Patriziers.

Tiro. Schüchterner, aber intelligenter Sohn von Aelia.

Valerius Flaccus, Lucius. Älterer Senator, an dessen Ehre nicht gezweifelt werden kann.

Varius, Quintus. Spanier und Handlanger von Philippus.

Volumnia, Claudia. Ehemalige Prostituierte, jetzige Bordellbesitzerin. Freigelassene Sklavin aus dem Haus von Appius Claudius.

Für Katharina

Erstes Buch

I

»Marcus Livius Drusus ist ermordet worden, aber er ist nicht tot.«

Das war das Erste, was Petronius zu mir sagte.

Mit der einfachen, grauen Tunika eines Pförtners bekleidet stand er auf der obersten Stufe der Leiter, die mitten in die viereckige Dachluke hineinragte.

»Wer ist Marcus Livius Drusus?«, fragte ich.

»Kennst du nicht meinen Dominus?«

Seine hervorstehenden Augen weiteten sich vor aufrichtiger Überraschung. Dann sah er ein, dass die Frage als Unverschämtheit aufgefasst werden könnte.

»Vergib mir. Ich habe kein Recht, den Herrn auszufragen.« Er lächelte unterwürfig. »Ich suche nach dem griechischen Wundarzt Demetrios, der unter den Armen von Subura wegen seines Könnens berühmt ist und dessen Güte man vom Aventin bis zum Esquilin preist.«

Ich war gerade nach Hause gekommen von einer Frau mit Blutvergiftung, die ich betreut hatte. Die Venen in ihrem Unterleib traten wie Tätowierungen hervor, sie hatte Fieber und stank nach Verwesung. Ich hatte sie zur Ader gelassen und auf das Beste gehofft. Ihre drei Kinder hatten mit mir gewacht, bis sie nach einem Tag des Leidens endlich entschlief.

Petronius’ Schmeichelei war wirkungslos.

»Wie hast du mich gefunden?«, erkundigte ich mich.

»Das war nicht leicht. Ich fragte im ganzen Viertel nach euch, mein Herr. Eine freundliche Seele führte mich zur Taverne an der Ecke. Der Wirt erzählte mir, wo der Herr wohnt.«

Meine Konsultationen im Hof des Grundstücks waren unter den Einheimischen wohlbekannt. Meine genaue Adresse war indes ein Geheimnis, das wenigen Eingeweihten vorbehalten blieb.

»Dann dürfte er dir auch erzählt haben, dass ich keine Patrizier behandle«, sagte ich. »Nur Sklaven und Plebejer.«

»Wieso?« Vor Überraschung vergaß der Sklave die korrekte Anrede. »Davon kannst du doch nicht leben.«

»Ich habe meine Gründe. Lass mich jetzt in Frieden.«

»Ich bitte dich.« Er kletterte das letzte Stück auf der Leiter hoch und fiel auf die Knie. »Erlöse meinen Dominus. Nur du kannst sein Leben retten.«

Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Sie schien im Takt meines Pulses zu vibrieren. Die Erschöpfung durchzog meinen ganzen Körper. Ich streckte mich und spürte das Knacken der Rückenwirbel.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Wie ich heiße?«

»Du hast doch bestimmt einen Namen.«

»Mein Name ist ebenso unbedeutend wie ich selbst, Herr.«

»Dein Name, Sklave!«

Er beugte sich vor, legte das Gesicht auf den Boden und nannte ihn mir. Schweigend betrachte ich den kleinen, kahlköpfigen Mann, dessen Besuch mein Leben verändern sollte.

»Berichte mir von den Symptomen deines Dominus, Petronius.«

Als er aufsah, bemerkte ich Spuren von Staub auf seiner Stirn und Nasenspitze.

»Symptome, Herr?«

»Seit wann ist Marcus Livius Drusus krank?«

Petronius erzählte, dass seinem Dominus blass und schwindelig geworden sei und er sich übergeben habe, als er spät am Nachmittag in Begleitung seiner Freunde vom Forum heimgekommen sei. Sie hätten erzählt, dass es Drusus seit mittags so ergangen sei, als er einen wichtigen Gesetzesvorschlag in der Volksversammlung eingebracht habe.

Ich tröstete den besorgten Sklaven. Es klang nach einer gewöhnlichen Magenverstimmung. Sein Dominus würde sich bald erholen, wenn er ein paar Tage das Bett hüten und nur abgekochtes Wasser trinken würde.

»Du verstehst nicht, Herr. Es ist etwas anderes.«

Petronius biss sich auf den Handknöchel, als würde er bereuen, was er soeben gesagt hatte.

»Wie soll ich deinem Dominus helfen, wenn du nicht erzählen willst, was geschehen ist?«

»Es ist zu schrecklich! Ich kann es nicht laut sagen. Die Götter könnten mich hören. Wenn du darauf bestehst, es zu erfahren, bin ich gezwungen zu gehen.«

Er begann zu weinen. Am ganzen Körper zitternd stieg er zur Dachluke zurück.

»Warte«, sagte ich erstaunt, »kannst du mir wenigstens sagen, was nach dem Furchterregenden passierte, wovon du nicht erzählen willst?«

»Mein Dominus warf sich zu Boden. Er schrie wie ein Verrückter, oder besser gesagt, als wäre er vor lauter Schmerzen außer sich. Kurz danach verlor er das Bewusstsein.«

Das klang nicht länger nach Magenschmerzen. Ich seufzte und schnappte die Medizintasche.

Wagen und Karren kämpften miteinander um Platz in der schmalen Straße. Wir mussten uns an ihnen vorbeidrücken wie in einer überfüllten Lagerhalle. Die Rufe der Wagenführer und das Gebrüll der Ochsen hallten im Fackelschein zwischen den Hausmauern wider. Ich schaute Petronius an, der krumm und schief an meiner Seite vorwärts eilte.

»Ich werde deinen Dominus schon wieder auf die Beine bringen«, sagte ich und legte die Hand auf seine Schulter.

»Die Götter mögen dir Recht geben«, murmelte er. »Aber ich fürchte mich davor, dass der Schatten des Todes bereits über ihm ist. Denk doch nur, wenn er heute Nacht von uns gerissen wird. Was wird dann geschehen? Was soll aus uns werden?«

»Du bekommst einen neuen Dominus«, tröstete ich ihn. »In einem Jahr wirst du Marcus Livius Drusus vergessen haben.«

»Halt deinen Mund! Du weißt nicht, was du da redest!«

Einen Augenblick lang glaubte ich, dass er mir an die Kehle springen wollte. Die gewaltsame Reaktion erschreckte ihn selber, sodass er auf die Knie fiel und meine Hand küsste.

»Verzeih mir, Herr. Seit meiner Jugend bin ich der Pförtner von Marcus Livius Drusus, und ich bin nur ein halbes dutzend Mal ausgepeitscht worden. Niemals hört man ein böses Wort von ihm, sofern man seiner Pflicht nachkommt. Und die Sklavinnen werden in Ruhe gelassen. Er liegt nie mit ihnen, obwohl das sein Recht ist. Marcus Livius Drusus ist der beste Dominus in ganz Rom.«

»Dann sollten wir uns lieber beeilen.«

So lebhaft das Forum tagsüber war, so verlassen lag der Mittelpunkt der bedeutendsten Stadt der Welt bei Anbruch der Dunkelheit da. Unsere einzige Gesellschaft waren die Statuen auf ihren Podesten, während wir den Platz überquerten. Der Abendnebel hing zwischen den Gebäuden und verdeckte beinah den kleinen, runden Tempel der Vesta, der im Schatten des düsteren Steinmassivs der Domus Publica lag.

Wir stiegen die dreihundert Stufen der Vestatreppe vom Forum zum Clivus Victoriae empor. Oben schlängelte sich das glatte Pflaster der Straße in die Dunkelheit hinein, umgeben von hohen, ockergelben Mauern an beiden Seiten.

Die behäbige Stille des Reichenviertels wurde von einem Geräusch erschüttert, das wie eine aufgescheuchte Fledermaus über die Terrakottadächer flatterte: Mal war es ein schwaches Jammern, dann ein furchtbarer, angsterfüllter Schrei, der sich wie ein kalter, feuchter Mantel über unsere Schultern legte.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Das ist Marcus Livius Drusus«, antwortete Petronius.

II

Ungefähr fünfzig Menschen standen auf der Straße vor der Bronzetür und erörterten den bedenklichen Zustand des Volkstribuns. Petronius bog nach rechts ab in einen abfallenden Pfad zwischen der Seitenwand des Hauses und der überwucherten Brache des Nachbargrundstücks. Durch eine Kellertür traten wir in einen schmalen, von Fackeln erleuchteten Gang ein, der voll weinender Sklaven war.

Eine Schar Kinder wurde weggescheucht. Ein hübsches, junges Mädchen mit blauschwarzem Haar stieß mit ihrer Schulter gegen meinen Oberarm. Das Grüne in ihren Augen ging in der Mitte der Iris ins Gelbe über, sodass ihre Pupillen von einem Goldring umgeben zu sein schienen.

Petronius zog mich durch die Küche. Ein dickbäuchiger Koch hing über einem Topf, dessen Inhalt er mit seinen Tränen salzte. Wir stiegen eine Treppe zu einer Loggia hinauf.

Die Villa lag am äußersten Rand des Palatins, einige hundert Fuß oberhalb des Forums. Unter uns erstreckte sich Rom zu allen Seiten hin. Ganz links thronte der dunkle Koloss des Jupitertempels auf dem Hügel des Kapitols.

Rechts lagen die Villen von Carinae, bedrängt von den Mietshäusern in Esquilin. Vor uns, auf der anderen Seite des Tals vom Forum, schimmerten die Gassen von Subura zwischen den baufälligen Häusern wie Magma zwischen schwarzen Felsbrocken hervor. Am Horizont schickten Schornsteine Tausende von dünnen Rauchsäulen zu den blassen Sternen hinauf.

Wir setzten unseren Weg durch den Garten des Peristyls fort und gingen weiter ins Haus hinein. Die dunkle rechteckige Fassade wurde nur von einem einzigen erleuchteten Fenster durchbrochen.

Als wir in einen Gang traten, sah ich flüchtig einen großen, schlanken Mann, der sich umgehend in das Dunkel zurückzog, als er uns erblickte. Seine hervorgewölbten Lippen schienen in einem unergründlichen Lächeln erstarrt zu sein. Der Ausdruck in seinen schmalen Augen war ernst.

Die Öllampen blendeten mich. Ich bemerkte kaum die drei Gestalten, die in der unruhigen Stille des prächtig ausgestatteten Tablinums standen oder saßen. Petronius führte mich an einem vollgestopften Bücherregal vorbei zu einem Vorhang in der äußersten Ecke des Raums.

»Ist er tot?«, fragte ein mit einer Toga bekleideter Senator, der die Hälfte der schmalen Schlafkammer auszufüllen schien. Sein tiefer Bass klang, als käme er eher aus dem Inneren der Erde als aus einem Menschen. Ich trat einen Schritt zurück, als ich ihn wiedererkannte. Es war zu spät, um zu flüchten. Ich blieb mit dem Rücken am Türrahmen stehen.

»Er ruht«, sagte ein griechischer Arzt, der am Kopfende kniete. »Das Schlimmste ist überstanden. Ich verordne Rosenwasser zur Reinigung.«

»Das wird das Gleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten nicht wiederherstellen«, entgegnete ein anderer Arzt am Fußende des Bettes. »Welche Körperflüssigkeiten?«, brummte der Senator.

»Wie schon Aristoteles geschrieben hat, so beruht jede Erkrankung des Körpers auf einem Ungleichgewicht der vier lebenswichtigen Körperflüssigkeiten: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Es ist deutlich, dass der Patient zu viel Blut hat. Ich verordne einen Aderlass.«

»Unsinn!«, knurrte der erste Arzt, »er ist dehydriert. Eine Wasserkur wird ihn heilen.«

Petronius schlängelte sich zu dem hochgewachsenen Senator und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin er sich umdrehte.

»Demetrios!«

»Salve, General Marius«, sagte ich. »Es ist eine Freude, dich wiederzusehen.«

Marius sah immer noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: Die sonnengebräunte Haut saß straff über der kräftigen Muskulatur des Gesichts. Die Nase wirkte wie ein uneleganter Klumpen über den breiten, aufgesprungenen Lippen. Über der hohen Stirn, die wie ein Acker gefurcht war, stand ein Büschel kurz geschorener, hellroter Haare. Er erinnerte an einen oft benutzten Gegenstand aus Leder, der draußen jedem Wetter ausgesetzt und erst kürzlich hereingeholt worden war.

»Was für eine Überraschung. Es müssen seitdem zehn Jahre vergangen sein.«

»Zwölf, General.«

»Das mag sein. Wo hast du dich aufgehalten?«

»In Subura. Ich bin meinem Ruf gefolgt.«

»Deinem Ruf? Du machst Witze?«

Die buschigen Augenbrauen zogen sich am Nasenrücken zusammen. Ich wich seiner Frage aus.

»Ist das der Mann, zu dessen Behandlung ich gerufen wurde?«

»Ach ja«, antwortete Marius, »mein Freund Drusus hat Magenschmerzen. Wir können die alten Erinnerungen auffrischen, wenn du ihn kuriert hast. Was sagst du zu all dem Geschwätz über Körperflüssigkeiten, Junge?«

Marius fiel unbeschwert in unsere alte, vertraute Ausdrucksweise.

»Aristoteles war Philosoph, kein Arzt. Ich kenne keine anderen lebenswichtigen Körperflüssigkeiten außer Blut.«

»Exakt meine Worte.«

Der General betrachtete mich, während er das Gewicht vom einen auf den anderen Fuß verlagerte. Dann siegte seine Neugier über die Verhaltensregeln.

»Sagtest du Subura? Wie hast du zwölf Jahre lang dort in diesem Loch leben können? Wusstest du nicht, dass ich nach dir gesucht habe? Beinahe hätte ich geglaubt, dass du dich vor mir versteckt hältst.«

»Selbstverständlich habe ich mich nicht versteckt, General«, log ich.

Der erste Arzt musterte mich und fragte auf Griechisch, wie alt ich sei. »Fünfundzwanzig Jahre«, antwortete ich.

»Dachte ich es mir doch. Lass lieber einen erfahrenen Medicus diese Sache erledigen. Wenn du einen Volkstribun falsch behandelst, kann deine Laufbahn vorbei sein, bevor sie begonnen hat.«

Solch einer Reaktion war ich schon früher begegnet, und ich hatte gelernt, ihr mit einschmeichelnden Worten zu begegnen.

»Ich bin nicht völlig unerfahren. Ich habe operiert, seit …«

»Ruhe!«, unterbrach der zweite Arzt. »Der Patient muss absolute Ruhe haben. Hör lieber auf meinen Kollegen. Das Leben eines Patienten ist eine ernste Sache.«

»Haltet alle beide den Mund«, wetterte Marius. »Glaubt ihr, ich verstehe euren Unsinn nicht, nur weil ihr Griechisch sprecht? Demetrios ist gut genug. Er ist der einzige Arzt, der mich jemals behandeln durfte.« »Tatsächlich?«, sagte der erste Arzt. »Was war das Problem?«

»Krampfadern«, entgegnete ich, als Marius zögerte.

»Ähm, ja.« Sein vernarbtes Gesicht verzog sich zu einem angestrengten Lächeln.

»Als du mit dem einen Bein fertig warst und in das andere schneiden wolltest, bin ich von deinem Tisch gehüpft.«

Marius’ Lachen hallte zwischen den kahlen Wänden wider.

»Bona Dea! Der Schmerz stand in keinem Verhältnis zu dem Nutzen. Doch wir dürfen Drusus nicht vergessen. Du sollst jetzt hören, was vorgefallen ist. Als wir gegen Abend vom Forum zurückkamen, wurde er auf der Straße aufgehalten. Er wollte mit einer Schar seiner Klienten sprechen. Sie waren uns auf unserem Weg gefolgt. Plötzlich fing er zu schreien an. Wir trugen ihn hier herein und riefen die Ärzte. Sie waren nicht von großem Nutzen, aber jetzt ist das Schlimmste sicherlich überstanden.«

Der Volkstribun Marcus Livius Drusus war Ende dreißig, schlank und mittelgroß. Er war bleich und das dunkle Haar war feucht vom Schweiß. Ich zählte seinen Puls, der wie ein Pferd galoppierte.

Vorsichtig wickelte ich die Toga von ihm ab. Unter ihren Falten entdeckte ich eine mögliche Ursache für seine Magenbeschwerden: In seinem Unterleib steckte bis zum Schaft ein Schuhmachermesser.

III

»Hol Wein«, rief ich zu Petronius, der schnellen Schrittes verschwand. »Hilf mir, ihn hochzuheben, Marius. Hier drinnen ist es zu eng.«

Mit einem Schrei erwachte Drusus. Die drei Männer, die im Arbeitszimmer gesessen hatten, stürzten herein und versperrten uns die Tür. Ich schob sie zur Seite wie lästige Kinder und fegte die Schriftrollen vom Arbeitstisch.

Petronius kehrte mit einer gefüllten Amphore zurück. Marius zwängte den Wein in Drusus hinein, der wie ein Fisch auf einem Schneidebrett zappelte. Stück für Stück zog ich das Messer heraus und roch an der Wunde. Sollte Darminhalt in die Bauchhöhle geflossen sein, wäre er nicht mehr zu retten.

»Wer versucht denn, jemanden mit solch einem Messer umzubringen?«, sagte Marius. »Die Klinge ist nicht länger als eine Hand.«

»Deine Hände sind größer als die der meisten anderen Menschen, General. Von euch anderen hat wohl auch keiner gesehen, wie das passiert ist?« Ich wandte mich an die drei Gäste im Tablinum, unterbrach mich aber selbst. »Ave Domini. Es war nicht meine Absicht, respektlos zu erscheinen.«

Der Senatsvorsitzende Scaurus, der erst kürzlich das hohe Alter von siebzig Jahren erreicht hatte, lächelte freundlich und brachte sein spärliches Haupthaar in Ordnung. Er war klein und hatte einen krummen Rücken. Sein Gesicht war verrunzelt wie ein alter Apfel. Er sah aus, als würde er beim kleinsten Windstoß umfallen. Dennoch steuerte er Gerüchten zufolge sowohl den Senat als auch seine blutjunge Ehefrau wie ein Kapitän sein Schiff.

Der andere war Licinius Crassus Orator. Wie sein Beiname andeutete, war er der beste Redner Roms. Der Klang seiner Stimme war den meisten vertraut, denn er brachte seine Redefähigkeit recht großzügig unter die Leute, was ihn aber auch anstrengend machte. Seine Augen, deren Pupillen so klein waren, dass sie kaum zu sehen waren, taxierten mich, als hätte er allergrößte Lust, mich anzuspucken.

Der Dritte kam mir auch bekannt vor, doch es wäre unhöflich gewesen, ihn nach seinem Namen zu fragen, und damit anzudeuten, dass er nicht so bedeutend war wie die anderen beiden Herren. Seine Toga war neu, der Purpursaum war noch fast schwarz. Er verneigte sich mit einem ironischen Lächeln auf den schmalen Lippen, eine Parodie meiner eigenen Reaktion. Sein helles, fülliges Haar umgab das bleiche, sommersprossige Gesicht.

»Es gibt keinen Grund, derart unterwürfig zu sein, Chirurg«, sagte der alte Senatsvorsitzende mit einer Stimme, die klang, als würde ein Messer geschliffen. »In Rom sind wir alle ebenbürtig. Ja, das sind wir. Wir saßen hier drinnen und genossen einen Becher Wein, als uns Drusus’ Schrei ins Atrium eilen ließ. Doch keinem von uns gelang es, den Täter zu sehen.«

»Wie ärgerlich.«

»Ärgerlich, ja«, pflichtete Crassus Orator widerwillig bei und rückte die Toga an seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt zurecht. »Allerdings vermuteten wir, dass es sich um eine Magenvergiftung handelte. Drusus hatte sich den Tag über mehrfach übergeben.«

»Ja, er hat den ganzen Tag lang gebrochen«, bestätigte Marius.

»Das macht mir mehr Sorgen als die Wunde.«

Bei Drusus setzte nun blutiger Durchfall ein. Die rotbraune Masse lief wie Ameisenstraßen an den vergoldeten Beinen des kostbaren Arbeitstisches hinab. Seine Pupillen weiteten sich, sodass sie schon Eingängen ins Totenreich ähnelten. Spucke klebte an seinen Lippen. Er krümmte sich krampfartig, und seine Arme mussten festgehalten werden, damit sie nicht wie Spatzenflügel durch die Luft flatterten.

Seine Wunde roch nun nach Kot.

Immer wieder spannte sich sein Körper vom Nacken bis zu den Fersen wie ein Bogen, während er auf der Tischplatte lag. Er schrie und schrie immerfort, bis seine Stimme nur noch ein heiseres Winseln war.

Drusus’ Leiden währte sechs Stunden. Als der Morgen graute, hatte er schließlich das Bewusstsein verloren. Kurz danach blieb sein Herz stehen.

Ich schloss seine Augen und trocknete den Schweiß von seiner Stirn. Marius legte eine Münze unter seine Zunge und hielt schweigend den Unterkiefer mit zwei Fingern fest. Ich band ihn nach oben, sodass der Rigor mortis den Mund des Volkstribuns für immer verschließen würde.

»Wie konnte das geschehen?«, murmelte der alte Senatsvorsitzende heiser und strich mit seiner Hand über seinen Scheitel. »Das ist eine schlimme Situation. Ja, eine furchtbare Misere.«

»Es ist ein Skandal!«, rief der Orator. »Wer wird sich trauen, Drusus’ Arbeit fortzuführen, wenn das der Lohn dafür ist, das Unrecht in Rom zu bekämpfen?«

Er richtete in einer demonstrativen Geste die geballten Fäuste zum Himmel, als würde er sich an eine größere Versammlung wenden. Was er auch tatsächlich machte.

Das Gerücht über das Attentat hatte im Laufe der Nacht die gesamte Stadt erreicht. Der Pförtner Petronius hatte nur die wichtigsten Mitglieder des Senats hereingelassen. Trotzdem war das Peristyl, von wo aus sie durch die Fenster des Tablinums den Begebenheiten folgten, voll. Das gedämpfte Murmeln der Senatoren hallte durch das Haus wie sanftes Regengeplätscher.

Der mir unbekannte blonde Mann wanderte unentschlossen in einer Ecke des Arbeitszimmers hin und her. Er fuhr sich mit seiner Hand über das sommersprossige Gesicht, als wäre er erst gerade erwacht. An der Tür blieb er stehen.

»Ich sollte mich lieber davonmachen«, sagte er.

»Du bleibst hier«, entgegnete der Orator, ihm den Rücken zugewandt. »Wie meinst du das? Es war ein Zufall, dass ich hier war. Es wäre verdammt ungeschickt, wenn ich bleiben würde.«

»Damit magst du Recht haben«, krächzte der Senatsvorsitzende, »aber hättest du darauf Rücksicht nehmen wollen, hättest du vor einer Stunde gehen müssen.«

»Wovon redest du, Scaurus?«

Der Senatsvorsitzende starrte schweigend auf den Boden. Crassus Orator übernahm es, dem Blonden die Lage zu erklären.

»Die Tradition schreibt vor, dass Familie und Freunde eines Verstorbenen mithelfen, die Leiche zu waschen.«

»Familie und Freunde? Zum Hades, ich gehöre weder zum einen noch zum anderen.«

Der Orator taxierte ihn mit seinen winzig kleinen, nadelspitzengroßen Pupillen.

»Du warst bei seinem Tod zugegen.«

»Das waren die da auch«, protestierte der Blonde und deutete aus dem Fenster hinaus.

»Die Senatoren hielten sich nicht in dem Zimmer auf, in dem der Tod eintrat. Aber wenn du gern den Mores maiorum trotzen möchtest, dann meinetwegen.«

Roms ungeschriebene Verhaltensregeln übertrat kein Patrizier ungestraft. Der Blonde griff nach einem Becher Wein und sank auf einen Stuhl.

Der Senatsvorsitzende und der Orator begannen, die Schriftrollen aufzusammeln und sie von Exkrementen und Blut zu säubern. Das führte jedoch nur dazu, dass sie sich selbst beschmutzten. Ein Sklave kam ihnen mit einem Leinentuch zu Hilfe. Sie arbeiteten schweigend weiter, während sie es sorgfältig vermieden, sich gegenseitig in die Augen zu schauen.

Die Stimmen der beiden Ärzte aus dem Garten unterbrachen die Stille. »Es gab keine Hoffnung«, verkündete der erste wie ein Schauspieler in einer griechischen Tragödie.

»Wir taten unser Bestes«, rief der andere, »aber vor Waffen und Gewalt muss die Wissenschaft weichen.«

Die Senatoren scharten sich um sie wie Spatzen um Brotkrumen auf der Straße.

»Das lange Schwert wurde mit gewaltiger Kraft geführt«, fuhr der Erste fort. »Der Mörder muss ein wahrer Riese gewesen sein.«

In dem Vorwort zu seiner Abhandlung De Medico schreibt Hippokrates, der Vater der ärztlichen Heilkunst, wie er, als er einen Patienten verloren hatte, von der erdrückenden Erkenntnis der engen Grenzen seiner Fähigkeiten übermannt wurde, und dass er sich nur in diesem Zustand erlaubte, irrational zu handeln. Ich berufe mich auf dieselbe Entschuldigung, als ich, mit der Mordwaffe in meiner Hand, zum offenen Fenster lief und rief: »Ist dies das lange Schwert, von dem ihr sprecht? Das so weit unten in Drusus’ Bauch steckte, dass es ein Kind hineingerammt haben könnte?«

»Trotzdem verursachte es seinen Tod«, schnaubten die Ärzte.

»Nein, das tat es nicht. Marcus Livius Drusus starb nicht durch den Messerstecher. Der Volkstribun hatte zwei Mörder.«

IV

Ein einziger Blick in die Hydra aus Gesichtern der Senatoren führte dazu, dass ich den entgegengesetzten Weg durch das Atrium einschlug. An der Tür zur Straße saß Petronius. Er sprang auf und musterte mein Gesicht.

»Sag mir die Wahrheit. Der Dominus ist tot, nicht wahr? Es ist meine Schuld. Ich hätte dich sofort herbeirufen sollen.«

»Zumindest hast du Augen im Kopf. Du warst der Einzige, der den Messerstecher sah. Aber du hast dich nicht getraut, es mir zu erzählen. Du wusstest, dass nur ein Wundarzt deinem Dominus helfen konnte.« Das Gesicht des Sklaven verzog sich vor Entsetzen.

»Beruhige dich«, fuhr ich fort. »Er starb nicht durch den Messerstich. Dein Herr wurde vergiftet.«

Die Senatoren näherten sich uns und begannen, Fragen zu stellen. Was ich damit gemeint habe, Drusus habe zwei Mörder? Hätten zwei Männer ein und dasselbe Messer führen können?

»Halt deinen Mund, wenn dir dein Leben lieb ist«, flüsterte ich Petronius zu.

Er sah mir in die Augen und schien zu verstehen. Wir wussten beide, dass die Zeugenaussage eines Sklaven vor Gericht nur gültig war, wenn sie unter Folter erzwungen worden war.

Die Menge der Neugierigen auf der Straße vor dem Haus verlor augenblicklich jegliches Interesse an mir, als die Senatoren hinter mir auftauchten.

Ich drängte mich hinaus ins Freie. Auf der Vestatreppe lief ich an einigen Schaulustigen vorbei, die den Weg hinaufkamen. Auf dem Forum standen die Menschen bereits in Gruppen zusammen und diskutierten über den Tod des Volkstribuns.

Vor meinem Hauseingang, einer steilen Backsteintreppe zwischen einer Bäckerei und einem Weinhandel, stritten die Inhaber lautstark miteinander, obwohl sie sich einig darin waren, dass die Ermordung schlimm sei und man gegen solche Zustände etwas tun müsse. Über die Leiter im sechsten Stockwerk gelangte ich das letzte Stück hinauf durch die Dachluke in mein Zimmer.

In der Wohnung unter mir war meine Nachbarin dabei, ihren Sohn die Hausaufgaben abzufragen, die er in der Schule des Lykiers Sarpedon weiter unten in der Straße aufbekommen hatte.

Ich hörte ihrem vertrauten Morgenritual zu, während ich langsam zur Ruhe kam.

»Also, Tiro, wer waren die Gründer Roms?«

Das Schweigen des Jungen ließ die Mutter schnauben.

»Denk nach. Unsere Stadt heißt Rom und ihre Gründer heißen …?« »Romulus«, erinnerte sich der Junge. »Und Remus. Sie waren Zwillinge. Sie wurden als Kinder von einer Wölfin gesäugt. Dann gründeten sie Rom, auf dem Palatinhügel.«

»Bravo, Tiro. Komm, zieh deine Tunika an.«

»Doch dann begannen sie, darum zu streiten, wer König werden sollte. Dann brachte Romulus seinen Bruder mit einem Schwert um.«

»Richtig. Möchtest du eingelegte Eier oder Brei zum Frühstück?«

Tiro entschied sich für eingelegte Eier. Sie waren seine Leibspeise. Der Geruch von Garum, einer kräftigen, vergorenen Fischsauce, die für alle möglichen Gerichte verwendet wurde, stieg zu mir nach oben.

»Darf ich auch zwei nehmen, Mutter?«

»Ach, was soll’s. Beeil dich aber, wir müssen jetzt gehen.«

Ihre Stimmen verschwanden die Treppe hinunter und vermischten sich mit Geräuschen der Straße. Erschöpft fiel ich in den Schlaf.

In meinen Träumen tauchte das gequälte Gesicht von Drusus auf. Immer wieder versuchte ich, ihn zu retten, obgleich ich schon längst eingesehen hatte, dass es nutzlos war. Jedes Mal entglitt sein Leben meinen Händen.

Ich wachte gegen Mittag auf, als ein großer Schatten auf mich fiel. Es war ein Mann mit kurzen Haaren, einem tonnenförmigen Oberkörper und einem verbissenen Gesichtsausdruck. Er hielt mir ein Messer an die Kehle.

V

Es ist nun Zeit, dir zu erklären, weshalb ich die Erzählung über den Mord an Marcus Livius Drusus niederschreibe, und wie es mir mithilfe einer Beharrlichkeit, die ich selbst weder verstehen noch erklären kann, gelang, das Verbrechen aufzuklären.

Du sollst wissen, dass ich nicht den Wunsch hege, meine Schilderungen könnten eines Tages bei Gelagen vorgelesen oder von Schriftstellern zitiert werden. Ich weiß, dass dieses Manuskript weder jemals von Schreibsklaven vervielfältigt noch haufenweise verkauft werden wird. Vielleicht wirst du es noch nicht einmal lesen.

Ich habe mit deiner Mutter besprochen, dass es am besten wäre, die Wahrheit vor dir zu verbergen. Obschon viele der Personen, die in diese Affäre verwickelt waren, schon lange tot sind, erfreuen sich andere immer noch bester Gesundheit, und sie würden sich vermutlich nicht so geschildert sehen wollen, wie ich es im Dienste der Wahrheit getan habe. Einige könnten neue Verbrechen aushecken, um die Erwähnung des Mordes und der daraus folgenden Geschehnisse zu verhindern.

Ich wünschte, wir säßen am Herdfeuer und könnten vertraut miteinander reden, während deine Mutter verdünnten Wein und Honigwasser in unsere Becher schüttet; dass ich selbst auf deine Fragen antworten könnte, anstatt durch das Medium der Schriftrolle zu dir zu sprechen.

Aber ich werde niemals dein helles Lachen hören oder dich in die Mysterien von Hippokrates einweihen können, so wie es damals mein Vater tat. Dieser warmherzige, gutmütige Mann war für mich meine Familie, mein Lehrmeister, mein Beschützer und mein Vorbild. So wie er werde ich niemals meinen Sohn heranwachsen sehen. Ich werde mich im Alter nie auf deine Schultern stützen können. Ich werde niemals meine Enkelkinder kennenlernen. Alles, was ich tun kann, ist, meine Erzählung aufzuschreiben und darauf zu hoffen, dass du deine eigenen, gescheiten Schlussfolgerungen daraus ziehen wirst.

Zu meinen Lebzeiten habe ich mehr Geld verdient, als ich zu träumen wagte. Es ist zerronnen wie Wasser zwischen meinen Fingern. Ich habe die mächtigsten Männer der Welt kennengelernt, habe aber auch gelernt, dass sie nur kostbare Stoffe und vornehmes Benehmen von den niedersten Sklaven unterscheiden. Ich habe der Welt den Rücken zugewandt, so wie sie sich von mir abgewandt hat. Ich bin die Menschen leid, ihre endlosen Intrigen und ihren eitlen Kampf, das Unbedeutende über das Wichtige und Gute zu erheben. Ich bin die launischen Götter leid, die in ihrer allwissenden Gleichgültigkeit unser Leben wie Würfel in den Staub werfen, oder die mit uns spielen wie Kinder mit ihren Terrakottasoldaten. Für mich gibt es keine andere Wahrheit mehr als jene Worte, die ich auf dieses Pergament schreibe.

Ich möchte dich nicht durch meine Klagen vom Lesen abhalten. Ich habe viel zu erzählen und mir bleibt nur noch wenig Zeit. Ich liebe dich, so wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe, und ich hoffe inständig, dass dir dein Leben mehr Glück bringen möge, als es mir gebracht hat.

Du bist mein einziger Sohn. Du bist alles, was ich hinterlasse. In deinen Adern fließt mein Blut. Das ist das Einzige, was mich freut.

Dieses Wissen ist mein Schatz.

VI

Der Hüne trat einen Schritt zurück, taxierte mich aber mit seinen dicht beieinander liegenden Augen. Hinter ihm kam eine junge Frau zum Vorschein. Ihr blauschwarzes Haar war zu einem Dutt zusammengebunden, wie es unverheiratete Frauen zu tun pflegen. Kurze Strähnen fielen ihr in die Stirn, seitlich trug sie das Haar offen und in kunstvollen Locken. Die Haut ihres ovalen Gesichts war wie aus reinem Marmor.

Sie betrachtete mich mit hocherhobener Nase und mit einer Miene, die derart demonstrativ erhaben war, dass es an Komik grenzte. Ich schätzte ihr Alter auf 16 oder 17 Jahre. Ihre dunkelgrünen Augen, die in der Mitte der Iris ins Gelbliche wechselten, sodass die Pupillen von einem goldenen Ring umgeben zu sein schienen, ließen sie älter wirken.

»Mutilus ist mein Leibwächter.« Ihre Aussprache war affektiert, ein sicheres Zeichen ihrer adligen Herkunft. »Er ist nervös, nach all dem, was heute Nacht geschehen ist. Ich bitte dich, sein Benehmen zu entschuldigen.«

Ich entgegnete, dass ein schlafender Mann eine geringe Bedrohung für einen sechs Fuß großen Gladiator sei. Die Seide ihrer roten Stola knisterte, als sie sich nach vorne beugte.

»Woher weißt du, dass Mutilus ein Gladiator gewesen ist?«

»Die Narbe unter seinem Kinn. Ihm selbst wurde ein Messer an die Kehle gehalten, doch sein Leben wurde verschont. Gewiss, weil er sich tapfer geschlagen hat.« Der Hüne strahlte eine provozierende Selbstgefälligkeit aus. »Außerdem riecht er nach Knoblauch. Die Gladiatorenschulen benutzen das als muskelaufbauendes Mittel.«

Ich hoffte, sie würde weiterfragen. Und sie enttäuschte mich nicht.

»Was kannst du mir über mich sagen?«

»Dein Name ist Servilia Caepionis. Du bist die Tochter des Senators Caepio und warst Marcus Livius Drusus’ Nichte. Du wohnst im Haus des Volkstribuns und warst zugegen, als er ermordet wurde.«

Ihr Gesichtsausdruck schien nicht länger der einer vornehmen Patrizierin zu sein, sondern der eines jungen, unsicheren Mädchens. Mir gefiel diese Verwandlung.

Sie ließ sich auf einen Schemel sinken und sperrte die Augen auf, als hätte ich ein Zauberkunststück vollbracht.

»Woher weißt du das alles?«

Wie einen halben Tag zuvor bei Petronius, ließ das Erstaunen sie alle Förmlichkeiten vergessen.

»Simple Logik, basierend auf Beobachtungen«, erklärte ich. »Man kann es mit dem Diagnostizieren eines Patienten vergleichen. Jede noch so kleine Auskunft, wie stark ein Schmerz ist, seit wann ein Symptom besteht, stellt einen kleinen Punkt in einem gesamten Krankheitsbild dar. Wenn man genügend Informationen hat, kann man die Punkte miteinander verbinden.«

In meinem Hinterkopf hallte die Stimme meines Vaters wider, wie er ruhig das Geheimnis der Diagnosestellung erklärte, bis sich diese Grundlage aller ärztlichen Heilkunst in meinem Bewusstsein festgesetzt hatte. Es war seine Theorie – und sie wurde nur selten widerlegt –, dass man diese Methode auf alle Lebensbereiche anwenden kann. Derjenige, der es versteht, seine Umwelt zu beobachten und zu analysieren, besitzt ein unschätzbares Wissen.

»Die Punkte miteinander verbinden?«, wiederholte sie.

»Die Herrin stieß mit ihrer Schulter gegen meinen Arm, als ich gestern Abend durch den Bereich der Sklaven im Keller von Drusus’ Haus ging. Aber die Herrin ist offensichtlich keine Sklavin. Auf dem Forum spricht man über die hübsche Tochter von Senator Caepio, die bei ihrem Onkel wohnt. Ich verband einfach die Punkte miteinander.« Sie senkte ihren Blick, da sie Komplimente von Fremden nicht gewohnt war. Um sie aus dieser Verlegenheit zu befreien, fragte ich sie, ob ihr Vater immer noch mit der Schwester des Volkstribuns verheiratet sei. Dies hatte jedoch den entgegengesetzten Effekt. Sie errötete von Kopf bis Fuß.

»Sie ließen sich scheiden, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter ist tot.« Ein paar weiße Schneidezähne bohrten sich in die geschminkte Unterlippe. »Aber das ist nun alles unbedeutend. Ich wurde heute Nacht von Onkel Drusus’ Schreien geweckt. Meine Geschwister und ich wurden ins Untergeschoss zu den Sklaven gebracht, doch wir kamen nicht umhin zu hören, was oben gesagt wurde.« Sie schaute auf. »Was meintest du damit, dass Drusus zwei Mörder hatte?«

»Nichts. Vergiss es. Das war nur irgendein Unsinn.«

»Ich habe mich durch halb Rom begeben, um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen«, sagte sie, als wäre diese Kraftanstrengung für sich genommen schon ausreichend genug, um mein Vertrauen einfordern zu können.

»Dein Onkel hatte im Laufe des Tages mehrfach erbrochen«, antwortete ich nach einer kurzen Pause. »Außerdem hatte er blutigen Durchfall, Krämpfe und erweiterte Pupillen. Das alles sind Symptome für eine Vergiftung, die ihn letztlich umbrachte. Das Messer gab ihm nur den Rest.«

Drusus’ Leiden wurden von einem Waldpilz namens Amanita Virosa, dem Knollenblätterpilz, verursacht, den man leicht mit einem gewöhnlichen Egerling verwechseln kann. Er hat einen süßlichen Geschmack und enthält ein Gift, das anfänglich gewaltiges Erbrechen auslöst. Danach Leber- und Nierenversagen. Schließlich perforiert das Gift den Darm, sodass sein Inhalt in die Bauchhöhle fließt und das Innere des Körpers in einen Morast verwandelt. Diese Details ersparte ich jedoch dem jungen Mädchen.

Sie merkte an, dass dieselbe Person, die ihren Onkel vergiftete, auch zugestochen haben könnte. Ich wandte ein, die Wirkung des Gifts hätte sich spätestens einen halben Tag, nachdem es das Opfer eingenommen hätte, eingestellt, und dass nur die wenigsten ein derart langsam wirkendes Gift verwenden würden, um anschließend ein riskantes Attentat auszuführen. Sie dachte darüber nach und nickte.

»Was brauchst du, um herauszufinden, wer meinen Onkel vergiftete?«, fragte sie dann und brachte den Einwand des Leibwächters mit einer Handbewegung zum Schweigen. Ich schaute beide nacheinander an.

»Ich kann keinen Mord aufklären.«

»Warum nicht? Du hast bereits mehr herausgefunden als sonst irgendjemand. Der Senat hat mitgeteilt, dass Drusus bei einem Messerattentat ermordet wurde, also wird keiner nach einem Giftmörder suchen. Es ist außerdem recht unwahrscheinlich, dass der Messerstecher gefunden werden wird. Im Gegensatz zu Athen hat Rom keine Miliz, wie du weißt.«

Das war nichts, was ein einzelner Mann bewerkstelligen könnte. Doch ich war bereits mehr in die Sache verwickelt, als ich mir eingestehen wollte. Ich driftete ab, sowohl im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne. Nichts von alldem hatte etwas mit mir zu tun, redete ich mir ein.

Ihr sagte ich nur: »Es tut mir leid.«

Sie lehnte sich erschöpft an die Wand. Plötzlich lief sie zum Fenster und lehnte sich hinaus. Einen Augenblick lang hatte sie unser Gespräch vergessen.

»Dort sind das Kapitol und die Arx. Und der gesamte Palatinhügel. Deine Aussicht ist beinahe so schön wie unsere.«

Ich stellte mich neben sie. Unter uns breitete sich die Stadt aus in einem wirren, aber schmucken Gewimmel aus rotbraunen Terrakottadächern.

Sie streckte die Hand nach ein paar Spatzen aus, die auf der Dachrinne saßen.

»Diese kleinen Vögel sind überhaupt nicht ängstlich.«

»Ich übe mit ihnen, damit sie aus der Hand fressen. Hier, versuche, ihnen ein wenig Brot zu geben.«

Das Düstere in ihrem Blick war verschwunden. Im Licht der Nachmittagssonne glänzten ihre perlengleichen Zähne, die schmalen Nasenflügel schienen beinahe durchsichtig zu sein und ihre Lippen schimmerten. Ich betrachtete sie mit stockendem Atem.

»Du bist die Tochter eines der reichsten Männer Roms«, sagte ich. »Du hast gewiss spannendere Zerstreuungen als Spatzen auf einer Dachrinne.«

Zu spät fiel mir ein, was allgemein bekannt war: Das Vermögen der Caepiofamilie war konfisziert worden, als ihr Großvater wegen Betrugs ins Exil geschickt worden war.

Die grüngelben Augen musterten mich über den Nasenrücken hinweg. Nun kam es mir nicht mehr länger merkwürdig vor. Von den Fingerspitzen aus durchzog ein leichtes Zucken meine Handfläche, als sie mir die Brotkrumen zurückgab. Sie drehte sich um und machte eine Handbewegung zu Mutilus in Richtung der Leiter.

»Warte«, rief ich. »Versuch, Petronius zu fragen, was er in der Mordnacht gesehen hat.«

»Den Pförtner des Onkels?« Sie starrte mich an. »Er ist verschwunden. Er saß auf seinem Platz am Hauseingang, als die letzten Senatoren das Haus verließen. Als ich zu ihm gehen wollte, war er weg. Keiner der anderen Sklaven weiß, was aus ihm geworden ist.«

VII

Wir liefen schnellen Schrittes denselben Weg zurück, den ich in der Nacht zuvor mit Petronius gegangen war. Über uns türmten sich die Häuser in sechs oder sieben Geschossen auf, immer ausladender, je höher sie waren, sodass die Nachbarn unter den Dächern einander die Hand reichen konnten.

In den Straßen wimmelte es von Menschen, die ihren Besorgungen nachgingen, Ballen mit allerlei Waren trugen, Lebensmittel begutachteten und um Preise feilschten in einem Durcheinander von Stimmen, Geräuschen und Gerüchen. Der Duft von frischgebackenem Brot mischte sich mit dem schweren Dunst vom Blut der Eingeweide und der abgetrennten Gliedmaßen von Schweinen, Schafen und Hühnern, die in Baumwollfetzen eingewickelt waren und auf den Rücken schwitzender Sklaven getragen wurden.

Im Gedränge der Mittagszeit konnte ein Spaziergang, für den man normalerweise eine Viertelstunde benötigte, bis zu einer Stunde dauern. Auch wenn man einen Gladiator wie Mutilus dabei hatte, der einem den Weg freimachen konnte.

»Was hat deine Meinung geändert?«, fragte Servilia und duckte sich unter einer Schüssel mit Brot, die aus einem Laden gestreckt wurde. »Als ich heute Morgen das Haus verließ, fragte ich Petronius aus.« Ich wich ein paar ungewaschenen Jugendlichen aus, die vorbeiliefen. »Er gab zu, den Messerstecher gesehen zu haben.«

»Sagte er auch, wer es war?«

»Nein, aber vielleicht haben uns die Senatoren gehört. Der Mörder kann einer von ihnen gewesen sein. Fällt dir jemand ein, der deinen Onkel so sehr hasste, dass er ihn umbringen würde?«

Sie schüttelte den Kopf und behauptete, dass die Freigiebigkeit ihres Onkels verhindert habe, sich persönliche Feinde zu verschaffen. Doch dann berichtigte sie sich selbst.

»Mein Halbbruder Cato mochte Onkel Drusus nicht. Aber er ist erst fünf Jahre alt. Ich habe drei Geschwister, aber ich bin das einzig legitime Kind meines Vaters.« Sie unternahm keinen Versuch, ihren Stolz über diesen besonderen Status zu verbergen und erläuterte sogar dessen Ursache: »Mutter betrog meinen Vater mit einem Mann namens Cato Salonianus, einem rothaarigen Emporkömmling und Enkel einer Sklavin. Deshalb ließ sich Vater scheiden. Wäre es ein anderer Patrizier gewesen, hätte man zumindest noch mit dieser Scham leben können.«

Auf dem kleinen Marktplatz am Ende der Vestatreppe musste sie sich einen Augenblick im Schatten eines Pinienbaums ausruhen, während Mutilus ungeduldig herumlief.

»Es tut mir leid«, keuchte sie, »dass ich in so schlechter Verfassung bin. Ich komme nur selten nach draußen.«

»Deine Verfassung ist prächtig, soweit ich das beurteilen kann.«

»Hör auf, Grieche. Wenn mein Onkel dich hören könnte …«

Ihre Stimme überschlug sich, als sie über das Schicksal ihres Onkels nachdachte.

»Hilf mir auf«, sagte sie. »Es ist nicht mehr weit.«

Eine Sklavin mit großen, verängstigten Augen empfing uns an der Kellertür mit der Mitteilung, dass Drusus’ Bruder zu Besuch gekommen sei und mit Servilia sprechen wolle.

Das junge Mädchen lief eine Treppe nach oben, drehte sich aber auf der untersten Stufe um.

»Elena«, sagte sie zur Sklavin, »Demetrios hier untersucht den Mord an Onkel Drusus. Sorge dafür, dass alle im Haushalt ihm erzählen, was sie wissen.«

»Warte, Servilia«, rief ich. »Kommt der Bruder deines Onkels häufiger unangemeldet zu Besuch?«

»Ja, gewiss. Sie waren zwar nur Halbbrüder und zwischen ihnen liegen 16 Jahre. Aber in den vergangenen sechs Monaten haben sie sich die ganze Zeit gesehen. Vorgestern war er zum Abendessen hier. Zusammen mit einigen von Onkels Freunden.«

»Drusus kann das Gift bei diesem Abendessen zu sich genommen haben. Das würde mit der Inkubationszeit übereinstimmen«, flüsterte ich und deutete auf die Treppe hinauf. »Kann der Halbbruder von Drusus einen Grund gehabt haben, ihm den Tod zu wünschen?«

»Onkel Mamercus?« Sie starrte mich an. »Das ist absurd.«

»Wer wird Drusus’ Vermögen verwalten, nun, da er tot ist?«

Servilia musste sich an der Wand abstützen.

»Aber Onkel Mamercus ist selbst reich.«

»Mehr möchte mehr haben. Pass auf, was du ihm sagst.«

Die Sklaven des Hauses befanden sich in unterschiedlichen Stadien von Panik. »Was soll aus uns werden?«, klagten sie. »Der Haushalt wird in alle Winde verstreut werden. Wir werden uns nie mehr wiedersehen.« Keiner von ihnen hatte von dem Treiben des Pförtners Notiz genommen.

Nur der Koch des Hauses bildete eine Ausnahme.

Er stützte eine Hand auf einen stabilen Eichentisch. Mit der anderen Hand wischte er sich mit einem schmutzigen Lumpen immer wieder über das Gesicht, das mit einer dünnen Schweißschicht bedeckt war. Seine Fettleibigkeit machte es schwer, sein Alter zu bestimmen. Er hieß Marcus, so wie sein Herr.

»Ich bin hier im Haus, seitdem mich mein Dominus als Zehnjähriger gekauft hat«, schluchzte er, sodass sein Wanst vibrierte. »Der alte Koch sagte, ich sei ein Naturtalent. Als er starb, wurden mir die Küche und zehn Küchensklaven anvertraut. Viele von ihnen waren schon länger als ich hier, doch der Dominus vertraute mir. Ich habe ihn niemals enttäuscht.«

Es beruhigte ihn, über sich selbst sprechen zu dürfen. Ich ließ ihn fortfahren und wurde in die Zubereitung von Schlickfisch eingeweiht, einer Karpfenart, die am Auslauf der Cloaca Maxima lebt und deren Fleisch nur ein Meisterkoch herauslösen konnte, ohne dass es zu Brei wird oder den Geschmack der Kloake annimmt. Als Belohnung für sein Können wurde dem Koch vor zwölf Jahren die Freiheit geschenkt. Der Stolz über diese persönliche Ehrenbezeigung richtete ihn auf und er blickte mir in die Augen.

»Wenn du ein freier Mann bist«, sagte ich, »warum bist du noch immer hier im Haus?«

»Ich zog es vor, dort zu bleiben, wo man mich schätzt. Welche Freude sollte mir die Eröffnung einer Taverne oder Bäckerei bringen? Damit hat man nur Mühe.«

Wenn man sein Leben lang anderen gedient hat, verlangt es mehr als gewöhnliches Draufgängertum, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen.

Marcus putzte sich die Nase. Der Rotz, der auf seine Tunika gespritzt war, lief unbemerkt an seiner breiten Brust hinunter. Ich fragte, ob er Petronius gesehen habe. Seine rotfleckigen Wangen zitterten, als er den Kopf schüttelte.

»Nicht seit gestern Abend im Atrium.« Er hielt sich die Hand vor den Mund. »Nein, Moment mal. Es war nicht im Atrium.«

»Vielleicht hier in der Küche? Als er zusammen mit mir ankam, und wir dann die Treppe hinauf zur Loggia gingen? Du saßest hier und weintest über einen Topf gebeugt.«

Der Koch nickte eifrig und versicherte mir, dass es in der Küche gewesen sei, als er Petronius zuletzt gesehen habe. Viel später sollte ich über seine Erzählung nachdenken und mich darüber ärgern, dass ich sie so missverstanden hatte. Doch ich besaß noch nicht das Wissen, seine Bedeutung zu erkennen. Die Punkte lagen noch zu weit auseinander.

Servilia kam in die Küche herab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Marcus, der seine junge Herrin besser kannte, konnte ihr Schweigen schneller deuten als ich.

»Es gibt hoffentlich nicht noch weitere schlechte Neuigkeiten, Servilia?«, fragte Marcus eindringlich.

Ich schaute sie nacheinander an und wunderte mich darüber, wie familiär der Freigelassene mit der Adligen sprach.

»Onkel Mamercus war hier, um meine Zukunft zu besprechen«, erzählte sie.

»Er kam direkt nach der Eröffnung des Testaments. Onkel Drusus gelang es offenbar, vor seinem Tod meine Ehe zu arrangieren.«

»Oh, wie wunderbar!« Der Koch schlug die Hände zusammen. »Wer ist der Glückliche?«

Servilia kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. Wer der Glückliche auch war, sie konnte ihn offensichtlich nicht leiden.

Das freute mich mehr, als ich mir eingestehen mochte.

VIII

Das Geräusch des plätschernden Wassers aus dem kleinen Springbrunnen, der die Form einer Nymphe mit einer Amphore hatte, erfüllte das Atrium mit einer friedlichen, träumerischen Stimmung. An den rot getünchten Wänden hingen die Ahnenmasken der Vorväter der Liviusfamilie wie hoch geschätzte Jagdtrophäen.

Am Hintereingang des Hauses stand eine Leichenbahre aus dunklem Holz. Dort lag Drusus, in eine Senatorentoga mit einer purpurnen Borte gehüllt und mit Sandalen an den Füßen, die frisch mit Öl eingerieben waren.

»Die Freunde von Onkel Drusus waren den ganzen Vormittag hier«, sagte Servilia. »Sie haben ihn gewaschen und angekleidet. Jetzt sind sie nach Hause gegangen, um zu schlafen.«

Sie führte mich durch den kurzen Gang, der das Tablinum vom Triklinium trennte.

»Als ich gestern Abend ankam«, erwähnte ich und zeigte ins Speisezimmer, »bemerkte ich einen Mann, der sich dort drinnen versteckte. Er hatte schmale Augen und einen nach oben gezogenen Mund, obwohl er nicht lächelte.«

»Das klingt nach Silo. Er und Onkel Drusus kennen sich von Kindesbeinen an.«

»Hätte sich der Freund deines Onkels nicht zu erkennen gegeben, hätte er sich gestern im Haus aufgehalten?«

»Ja, du hast Recht. Dann kann er es nicht gewesen sein.«

Es sei denn, dachte ich, dass er nicht auf einen Höflichkeitsbesuch aus war.

Der viereckige Peristylgarten war in vier Kräuter- und Gemüsebeete aufgeteilt. In der Mitte, wo sich die beiden Wege kreuzten, plätscherte ein Brunnen. Ein Mädchen und zwei Jungen blickten von ihren Spielsachen auf. Der kleinere Junge betrachtete mich missbilligend wie eine verfaulte, ungenießbare Frucht.

»Wer ist das?«, fragte er.

Ich stellte mich vor.

»Ich habe meine Schwester gefragt«, unterbrach er mich, »nicht dich.« Servilia ignorierte ihn und deutete auf einen Jungen von ungefähr neun Jahren.

»Das ist Quintus, mein ältester Halbbruder. Das Mädchen heißt Porcia, und der Kleine ist Cato. Wie ich es dir erzählt habe, sind sie die Kinder des Liebhabers meiner Mutter, Cato Salonianus. Du weißt, jener Mann, der der Nachkomme einer Sklavin war und meine Mutter die Ehe mit meinem Vater kostete.«

Die Kinder überhörten diese offenkundige Verunglimpfung. Sie waren alle drei rothaarig und blauäugig. Ihre langen Nasen, die hässlich schief in ihren kleinen Gesichtern standen, bildeten einen starken Kontrast zu Servilias ebenmäßigen Gesichtszügen.

Ich fragte, ob sie ein paar Fragen zum Tod ihres Onkels beantworten könnten.

»Ich vermute, wir können leider nicht behilflich sein.« Quintus, der Älteste, glich seine niedere Herkunft damit aus, dass er noch geschwollener als Servilia redete. »Wir erwachten von Onkel Drusus’ Schreien. Elena brachte uns hinab in den Keller. Von dort unten hörten wir nichts anderes als undeutliche Stimmen.«

Cato, der kleinere Junge, hob ein Holzschwert vom Boden auf und fuchtelte damit erregt durch die Luft.

»Onkel Drusus kann mich am Arsch lecken!«, zischte er.

Quintus entschuldigte sich für die Reaktion seines kleinen Bruders: Cato sei schon seit Langem auf Drusus zornig aufgrund dessen Bekanntschaften.

»Welche Bekanntschaften?«, erkundigte ich mich.

Quintus zögerte, und so war es Servilia, die antwortete.

»Es waren Boten der Marser, Etrusker, Päligner und Samniten«, sagte sie. »Roms wichtigste Verbündete in Italien.«

»Keine Römer!«, stieß der kleine Cato hervor und schlug ein paar Blätter eines Buschs ab. »Das sind Dreckskerle.«

»Onkel Drusus arbeitete an einem Gesetzesvorschlag, der das römische Bürgerrecht auf ganz Italien ausdehnen sollte. Dies hätte alle Volksstämme der Halbinsel dazu gebracht, Rom wie einen liebevollen Vater zu betrachten, anstatt wie eine arrogante Besatzungsmacht.«

»Hör auf damit, Onkels Reden zu wiederholen«, rief Cato und drohte seiner Halbschwester mit dem Holzschwert. »Wir Römer sind nicht arrogant. Wir sind einfach nur viel besser als alle anderen. Das werden diese Hunde noch einsehen. Ansonsten müssen wir es ihnen beibringen.«

Dieses war keine ungewöhnliche Ansicht. Man hörte es auf dem Forum beinah täglich. Aber es war sonderbar, dass ein Kind so etwas nachplapperte.

»Wie sollten wir ihnen das denn beibringen?«, gab Servilia zurück. »Es gibt zehnmal so viele Italer wie Römer. Es wäre klüger, sie zu unseren Freunden zu machen.«

Cato setzte eine sture Miene auf. Rationale Argumente würden seine Einstellung nicht ändern. Ich betrachtete den Jungen, während die Diskussion weiterging. Er zeigte eine beinah lächerliche, doch aufrichtige Würde, die nur wenige Erwachsene besitzen und die ihn weitaus älter wirken ließen, als er mit seinen fünf, sechs Jahren war. Ein alter Querulant, gefangen im Körper eines kleinen Jungen.

»Man kann Barbaren nicht zu römischen Bürgern machen«, behauptete Cato.

»Italer sind keine Barbaren«, protestierte Servilia.

»Nein, das findest du natürlich nicht so. Du mit deinem samnitischen Geliebten.«

Servilia machte einen Schritt auf den Jungen zu, wurde aber von Quintus aufgehalten.

»Lass gefälligst meinen Bruder in Frieden«, sagte er.

»Dann soll er auch seine Klappe halten.«

Servilia war einen Kopf größer als Quintus, der nichts Bedrohliches an sich hatte. Dennoch wurde sie unsicher angesichts der vereinten Opposition der Brüder. Porcia hatte sich in eine entlegene Ecke des Gartens zurückgezogen. Zank war eine immer wiederkehrende Begebenheit, der sie gewohnheitsmäßig aus dem Weg ging.

»Wenn wir groß genug sind, erben wir das gesamte Haus«, sagte der kleine Cato. »Und dann schmeiße ich dich raus.«

»Bis dahin bin ich verheiratet«, schrie Servilia, »und habe meine Mitgift bekommen.«

»Nicht, wenn du weiterhin alle Freier ablehnst, mit denen Onkel Mamercus ankommt.«

»Du hast an der Tür gelauscht!« Der kleine, altkluge Junge hatte einen wunden Punkt getroffen. »Was bildest du dir ein? Das geht dich nichts an.«

»Vielleicht kümmert es ihn dort ja, wer unser Vater ist?« Klein Cato zeigte auf mich. »Wer ist das noch mal? Ein neuer Liebhaber?«

»Ruhe, Kinder«, unterbrach ich sie. »Ich bin nur gekommen, um zu fragen, ob ihr wisst, wann genau euer Pförtner Petronius verschwunden ist. Könnt ihr mir darauf antworten?«

Sie schauten sich an und schüttelten den Kopf.

»Seine Abwesenheit wurde erst mitten am Tag entdeckt«, führte Quintus in seinem formvollendeten Latein aus. »Wir wussten selbst nichts davon, bevor es uns Servilia erzählte.«

»Dann wünsche ich den jungen Herren einen guten Tag.«

Servilia holte mich an Drusus’ Leichenbahre ein.

»Warte«, sagte sie kurzatmig. Sie hielt meinen Arm einen Augenblick länger als notwendig fest. Die Berührung brannte auf meiner Haut wie Feuer.

»Ich habe keinen samnitischen Liebhaber«, flüsterte sie und strich sich die kleinen, schwarzen Locken aus der Stirn. Ihre grüngelben Augen strahlten mich an.

»Ich denke nicht«, murmelte ich, »dass die Herrin einem Griechen gegenüber ihr Privatleben rechtfertigen muss.«

»Ist es, weil du Grieche bist, dass du glaubst, ein Pförtner sei wichtiger als der Mord an meinem Onkel? Oder weshalb beschäftigst du dich so sehr mit Petronius’ Verschwinden? Ich habe auch gehört, wie du den Koch nach ihm ausgefragt hast.«

»Ich glaube nicht, dass du meine Beweggründe verstehst, Servilia. Du, die so privilegiert ist.«

»Es mag schon sein, dass du denkst, ich sei privilegiert«, brach es aus ihr heraus. »Du siehst den Schmuck und die feinen Kleider. Die vornehme Adresse. Aber ich würde auf das Ganze hier liebend gern verzichten, könnte ich nur selbst über mein Leben bestimmen.«

»Glaubst du vielleicht, ein Sklave kann selbst bestimmen?«

Sie stützte ihre Hände in die Seiten. Ihre aufkeimenden Brüste hoben und senkten sich unter der Seidenstola. Die Sonne, die sich hinter dem Dachfirst verzog, schimmerte in ihrem blauschwarzen Haar.

»Ich kenne jeden einzelnen Sklaven hier in diesem Haus«, sagte sie, »sie sind alle meine Freunde. Meine Familie, in Ermangelung von etwas Besserem. Dazu gehört auch Petronius.«

Vielleicht würde sie es sogar verstehen.

»Petronius ist wegen mir in Schwierigkeiten geraten. Deshalb möchte ich ihn finden. Das führt mich möglicherweise zu dem Mörder deines Onkels, aber das muss ich in Kauf nehmen.«

IX

Meine Konsultation hielt ich in einer Ecke des Hofs ab. Inmitten der aufgehängten Wäsche, freilaufender Hühner, eines alten Kochkessels, eines Handkarrens mit gebrochener Achse und einer Menge anderen Gerümpels hatte ich eine Tischplatte zwischen zwei Pfosten befestigt. Diese primitive Konstruktion war keineswegs ungewöhnlich. Jeder Sklave oder Freigelassene, der ein wenig Griechisch sprach, konnte sich Medicus nennen.

Vorsichtig fuhr ich mit den Fingerspitzen an dem Unterarm einer jungen Frau entlang, der zart wie Daunen war. Ihr Dominus, ein älterer, korpulenter Senator, folgte mir aufmerksam mit seinem Blick, als wäre es seine kostbarste Vase, die ich anfasste.

»Wird es teuer?«, fragte er.

»Der Arm ist gebrochen. Fünf Denare.«

»Ich habe gehört, du seist billig.«

»Der Herr hat richtig gehört.«

Schultern und Rücken des Mädchens waren deutlich von Stockschlägen gezeichnet. Und ihr verängstigter Blick deutete noch auf andere Übergriffe hin als auf Prügel. Ich schiente den Arm, obwohl er nur verstaucht war.

»Die Patientin muss einen Monat lang absolute Ruhe halten. Keine körperliche Anstrengung.«

Das würde der jungen Sklavin hoffentlich eine notwendige Verschnaufpause verschaffen. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen lächelten mir zu, als mich das ungleiche Paar verließ. Der Senator, der vor lauter Verärgerung schnaubte, war beinahe mit dem letzten Patienten des Tages zusammengestoßen, einem hageren Mann mit einem feuchten, um das Gesicht gewickelten Handtuch. Eine Frau und ein Junge führten ihn. Es waren meine Nachbarn unter mir, denen ich an dem Morgen nach dem Tod von Marcus Livius Drusus unfreiwillig zugehört hatte.

Sie war Witwe und nur ein paar Jahre älter als ich. Früher hätte sie sicherlich den meisten Männern den Kopf verdrehen können, doch ihre Schönheit war verblasst wie ein Stück Stoff, das man den Sommer über auf der Wäscheleine vergessen hatte. Wenn wir uns auf der Treppe begegneten, grüßte sie immer mit gebremstem Eifer, wie ein unfreiwilliger Einsiedler, der sich nach menschlicher Gesellschaft sehnt. Sie verströmte einen Geruch, den ich zunächst schwer identifizieren konnte, und mich überraschte es dann umso mehr, als es mir gelang: Sie roch nach Urin.

Der Junge war das genaue Gegenteil seiner Mutter. Wo sie redselig war, war er schweigsam wie eine Statue. Wo sie mit ihrer Munterkeit beinah aufdringlich war, war er scheu und zurückhaltend. Er war zwölf Jahre alt, wirkte aber jünger.

Der Patient hieß Sarpedon, erklärte die Mutter, während ich ihn untersuchte. Er war Lehrer und hielt seinen Unterricht in einem Straßenladen direkt um die Ecke ab, dessen Besitzer seit Langem wünschte, ihn an jemand anderen vermieten zu können.

»Ich wollte den Raum nicht aufgeben.« Die nasale Stimme des Lehrers erinnerte an das Blöken eines Lamms. »Weshalb hätte ich das tun sollen? Er liegt an einer Kreuzung, und meine Schüler hatten sich an den Ort gewöhnt. Wäre ich umgezogen, wäre die Hälfte der Schüler nicht mehr gekommen. Also blieb ich. Und schau her, was der Schurke mit mir gemacht hat.«

»Der Vermieter schüttete einen Topf kochendes Wasser über ihn«, erläuterte die Frau. »Die anderen Kinder hauten ab. Keiner versuchte, zu helfen. Ist das nicht unglaublich?«

Ich fragte, wer denn ein feuchtes Handtuch auf die Verbrennung gelegt hatte.

»Tiro hat es in bester Absicht getan.« Die Frau schlang schützend die Arme um ihren Sohn. Sie waren so kräftig, als würde sie mehrmals am Tag ihr eigenes Gewicht stemmen.

»Das hast du gut gemacht, Tiro.«

Ich wollte dem Jungen über die Haare streichen, doch er wich meiner Hand aus.

»Auf der linken Wange wird eine ständige Hautverfärbung zurückbleiben«, sagte ich zu dem Lehrer. »Aber Tiro hat dich vor dem Schlimmsten bewahrt. Ich selbst hätte es nicht besser machen können.«

Ich versuchte, Tiro aufmunternd anzulächeln, doch er betrachtete geschäftig seine Füße.

Alles, was sich der Junge wünscht, ist, dachte ich, in Ruhe gelassen zu werden.

Sarpedon fuhr damit fort, sich zu beklagen. Sein Unglück sei, so ließ er uns wissen, dass er zwar kein Sklave sei, doch kein Patrizier wolle einen Freigelassenen bei sich aufnehmen. Daher müsse er sich, der aus einer der vornehmsten Familien Lykiens stamme, mit dem wenigen Geld begnügen, das ihm die Leute geben könnten, und obendrein sei er nun sein Leben lang verunstaltet.

»Ich glaubte, mein Glück in Rom finden zu können«, schluchzte er. »Stattdessen gehe ich in seinem Elendsviertel zugrunde.«

Die Witwe hatte ihre eigenen Absichten.

»Wir haben uns noch nicht ordentlich vorgestellt. Das ist doch eine Schande, wo wir doch so nah beieinander wohnen. Mein Name ist Aelia. Vielleicht möchtest du eines Abends mal zum Essen kommen?« Sie entdeckte den Widerwillen in meinem Gesicht und fügte hinzu: »Das ist das Mindeste, was ich für einen Kameraden meines Mannes tun kann. Du bist doch auch einer von General Marius’ Helden aus der Schlacht in der Po-Ebene.«

Wo sie diese Information aufgeschnappt hatte, konnte ich nur erraten, hatte ich doch jahrelang gewohnheitsmäßig jede andere Vertrautheit als eine streng berufliche vermieden. Ich war sehr geübt darin, Einladungen wie die von Aelia auszuschlagen.

»Ich bin nicht so heldenhaft wie dein Mann gewesen«, sagte ich. »Ich habe nichts zu dem Sieg von General Marius beigetragen.«

Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, betrat der Sieger der Schlacht in der Po-Ebene den Hof. Marius’ breiter Körper zeichnete sich einen Augenblick lang in dem hellen, viereckigen Hofeingang ab. Als er sich sicher war, dass ich sein grobes Narbengesicht wiedererkannt hatte, verschwand er hinter der aufgehängten Wäsche.

»Uns wäre besser mit einem Ernährer als einem Helden gedient gewesen«, fuhr Aelia fort. »Tiros Vater hinterließ uns noch nicht einmal seine Ausrüstung.«

Ich sah ein, dass ich meine neuen Bekannten nur loswerden konnte, wenn ich Aelia gab, was sie sich wünschte.

»Wenn du Sarpedon in deiner Wohnung pflegst, werde ich dort nach ihm schauen.«

»Das werde ich machen. Wie viel schulde ich dir?«

»Nichts. Tiro hat ja die meiste Arbeit getan. Pace.«

Ich winkte und lächelte gezwungen, während sie den Hof verließen. Unterhalb eines Saums von einem der aufgehängten Laken marschierten ein paar Soldatenstiefel ungeduldig auf und ab. Nun konnte ich nicht mehr länger dem Gespräch ausweichen, vor dem ich mich zwölf Jahre lang gefürchtet hatte.

Man kann nicht ewig fliehen.

X

Im Tageslicht sah General Marius älter aus als im Schein der Öllampen im Tablinum von Drusus’ Haus. Ich spürte einen Stich in meinem Herzen. In Rom wird jeder junge Tor grenzenlos bewundert, während ein alternder Ehrenmann lediglich ein nachsichtiges Lächeln erntet.

»Ave, General«, sagte ich.

»Salve, Junge. Überrascht?«

»Ganz im Gegenteil, General. Ich habe dich erwartet.«