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Epische Schlachten, wilde Magie und außergewöhnliche Helden: Teil 2 der High-Fantasy-Reihe »Fintans Sage« von Bestseller-Autor Kevin Hearne Das Schicksal Teldwens steht auf Messers Schneide, und der Barde Fintan weiß von drei neuen Helden zu berichten, deren Entscheidungen die Geschicke der Menschen zum Guten oder Bösen wenden können: Soldat und Rächer Der Soldat Daryck stammt aus einer Stadt, die im Krieg mit den Knochenriesen völlig vernichtet wurde. Mit einer Gruppe von Kriegern will er blutige Rache nehmen für die geliebten Menschen, die sie verloren haben. Doch ist es wirklich Rache, die Darycks Schmerz lindern kann? Träumerin und Anführerin Hanima gehört einer neuen Generation von Magiern an, die über außergewöhnlichen Talente verfügen: Sie kann mit magischen Tieren sprechen. Als sie aufgrund ihrer Gabe ins Visier der Machthaber gerät, wird Hanima zur Anführerin einer Bewegung, die mithilfe der Magie allen Menschen die Freiheit bringen möchte. Schwester und Sucherin Die Kapitänin Koesha sucht mit ihrer waghalsigen Crew nicht nur nach einem Seeweg rund um den Globus, sondern auch nach ihrer verschollenen Schwester. Doch was jenseits der Kartenränder lauert, ist weitaus gefährlicher als Stürme und Seeungeheuer … Mit den magischen Erzählungen des Barden Fintan entführt Kevin Hearne, Bestseller-Autor der »Chroniken des eisernen Druiden«, in eine ebenso verlockende wie gefährliche High-Fantasy-Welt. Der 1. Teil der High-Fantasy-Reihe »Fintans Sage« ist unter dem Titel »Das Spiel des Barden« erschienen.
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Seitenzahl: 938
Kevin Hearne
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Urban Hofstetter
Knaur eBooks
Epische Schlachten, wilde Magie und außergewöhnliche Helden
Das Schicksal Teldwens steht auf Messers Schneide: Während der Soldat Daryck versucht, dem Schmerz über den Verlust geliebter Menschen mit blutiger Rache zu begegnen, wird die Magierin Hanima mit ihren neuen, außergewöhnlichen Fähigkeiten zur Anführerin einer Bewegung, die allen Menschen die Freiheit bringen möchte. Zur gleichen Zeit sucht die Kapitänin Koesha mit ihrer waghalsigen Crew nicht nur nach einem Seeweg rund um den Globus, sondern auch nach ihrer verschollenen Schwester. Doch was jenseits der Kartenränder auf sie lauert, ist weitaus gefährlicher als Stürme und Seeungeheuer ...
Teil 2 der epischen High-Fantasy-Reihe »Fintans Sage« von Bestsellerautor Kevin Hearne
Widmung
Dramatis Personae
Zwanzigster Tag
Olet
Abhinava
Einundzwanzigster Tag
Tallynd
Hanima
Koesha
Zweiundzwanzigster Tag
Mai
Tallynd
Olet
Bhamet
Dreiundzwanzigster Tag
Tuala
Fintan
Koesha
Gondel
Vierundzwanzigster Tag
Hanima
Mai
Olet
Fünfundzwanzigster Tag
Bhamet
Daryck
Abhinava
Sechsundzwanzigster Tag
Tuala
Siebenundzwanzigster Tag
Gondel Vedd
Tallynd
Achtundzwanzigster Tag
Mai
Bhamet
Hanima
Neunundzwanzigster Tag
Abhinava
Koesha
Fintan
Dreißigster Tag
Daryck
Olet
Gondel
Einunddreißigster Tag
Tuala
Zweiunddreißigster Tag
Koesha
Hanima
Bhamet
Dreiunddreißigster Tag
Mai
Daryck
Vierunddreißigster Tag
Hanima
Fünfunddreißigster Tag
Tallynd
Daryck
Sechsunddreißigster Tag
Mai
Koesha
Siebenunddreißigster Tag
Abhi
Olet
Fintan
Achtunddreißigster Tag
Hanima
Neununddreißigster Tag
Gondel
Abhinava
Olet
Koesha
Kerkernotizen
Kaurischer Kalender
Danksagung
Für Barden und Geschichtenerzähler und Leute, die von einer besseren Welt träumen
Fintan, Barde der Dichtergöttin Kaelin: Raelischer Barde, dem es obliegt, täglich für die Einwohner Pelemyns aufzutreten und die Geschichte der Gigantenkriege zu erzählen.
Dervan du Alöbar: Bryntischer Historiker, der den Auftrag hat, die Geschichte des raelischen Barden niederzuschreiben, dabei jedoch gegen seinen Willen immer mehr Spionagetätigkeiten aufgebürdet bekommt.
Olet Kanek: Tochter von Hathrim-Herdfeuer Winthir Kanek. Sie ist wie ihr Vater ein Feuerlord und entschlossen, sich von seinem Einfluss zu befreien.
Abhinava Khose: Der Entdecker des Sechsten Kennings ist zusammen mit seinen tierischen Begleitern Murr und Iep auf der Flucht vor der nentianischen Regierung.
Tallynd du Böll: Tidenhüterin und Zweite Könstad von Pelemyn, verwitwete Mutter zweier Jungen.
Hanima Bhandury: Bekannt als die Bienenstockmeisterin. Sie ist eine der gesegneten nentianischen Jugendlichen, die den Widerstand in Khul Bashab anführen.
Koesha Gansu: Joabeirische Kapitänin eines Erkundungsschiffs. Sie sucht nach einer Passage durch die Nordische Kluft – und nach ihrer vermissten Schwester.
Mai Bet Ken: Fornische Botschafterin in Ghurana Nent, hält Kontakt zu Melishev Lohmet. Sie versucht, ein Bündnis zwischen Forn und den Gesegneten des Sechsten Kennings zu schmieden.
Bhamet Senesh: Vizekönig von Khul Bashab. Er will das Sechste Kenning ausmerzen, das die Monarchie bedroht.
Tuala, Kurierin der Jägergöttin Raena: Raelische Kurierin, die ein asketisches Leben führt und sich nach ihrer Kindheitsliebe verzehrt.
Gondel Vedd: Kaurischer Linguist. Verheiratet, mag gern Senf und Bechars Fischlokal.
Daryck du Löngren: Bryntischer Gerstad einer Waldsöldnertruppe, zunächst in Diensten der Stadt Grynek, später von Fornyd.
Der Zorn des Herdfeuers
Kaum etwas erregt eine Zuhörerschaft so sehr wie die Enthüllung, dass sich ein Verräter in der Nähe befindet. Die Spannung knistert wie frische Kiefernscheite auf einer Feuerstelle. Falls noch zusätzlicher Brennstoff benötigt wird, muss man nur erwähnen, dass besagter Verräter vermutlich für den Tod von Freunden und Angehörigen der Versammelten verantwortlich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass man danach noch einen ruhigen Abend genießen kann, geht gegen null.
Die Behauptung des raelischen Barden, ein Verräter habe mit den Knochengiganten gemeinsame Sache gemacht, verbreitete sich in der wütenden Menge wie ein zischendes Stück Butter in einer heißen Pfanne. Die Leute waren nicht nur über den Verrat entsetzt, sondern auch wegen des zeitlichen Ablaufs verwirrt. Wir befanden uns mittlerweile im Monat Tau, und er hatte von Ereignissen gesprochen, die sich im Spätsommer des vergangenen Jahres zugetragen hatten. Was bedeutete, dass der Pelenaut mindestens seit einem halben Jahr von diesem Verräter wusste.
»Moment«, sagte ein Matrose, der nicht weit von uns auf der Mauer stand. »Wer ist dieser Vjeko? Er wurde schon gefunden, oder? Sonst hättet Ihr ihn gar nicht erwähnt. Der Pelenaut hat Euch erlaubt, über ihn zu sprechen, weil er ihn bereits erwischt hat.«
»Morgen erfahrt ihr mehr, Freunde«, rief Fintan zum Feld der Überlebenden hinunter. Als er von seiner Bühne stieg und auf die Treppe zuging, die in die Stadt hinunterführte, erhob sich um ihn herum Protest.
»Kommt mit, Dervan«, sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Ich muss mit Euch sprechen.«
»Geht bitte langsamer«, erwiderte ich. »Mit meinem Knie schaffe ich es nicht so schnell die Stufen hinunter.«
»Ach, richtig. Verzeiht. Wir sollten uns dennoch beeilen.«
»Weil alle weitere Erklärungen von Euch hören wollen?«
»Ja, und weil ich keine habe.«
Während ich auf meinen Stock gestützt vorsichtig hinter ihm die Treppe hinunterhinkte, dachte ich darüber nach, was das bedeutete. Irgendjemand musste ihn angewiesen haben, in Gondels heutiger Geschichte Vjeko zu erwähnen. Wahrscheinlich hatte Föstyr, die Lunge des Pelenauten, ihm Informationen gegeben, die von Rölly persönlich stammten. Auf der Straße angekommen, lächelte Fintan alle an, die sich bei ihm nach dem Verräter erkundigten, und vertröstete sie auf morgen, ohne stehen zu bleiben. Allmählich wurde mir klar, dass er tatsächlich nicht mehr wusste, als er gerade erzählt hatte. Offensichtlich war der Verräter noch nicht gefasst und sollte durch diese beunruhigende Enthüllung aus der Deckung gelockt werden.
»Ihr habt mich heute in Eurer Geschichte erwähnt«, sagte ich.
»Schön, dass es Euch aufgefallen ist.«
»Bei mir hat sich nie jemand nach diesem Krakennest oder Nest der Menschenfresser oder was auch immer erkundigt.«
»Das war nicht nötig. Zumindest diesen Teil der Geschichte kenne ich bereits und werde in den nächsten Tagen darüber berichten. Aber es gibt einen Grund, warum ich die Angelegenheit heute schon ansprechen sollte.«
»Welchen?«
»Bestimmt könnt Ihr es Euch denken. In gewisser Weise seid Ihr ein Teil dieses Rätsels. Ich bekomme wie alle anderen auch einzelne Informationen zugespielt und versuche, sie in das einzufügen, was ich bereits weiß.«
»Aber Ihr verfügt über viel mehr Informationen als ich.«
Er zuckte die Achseln. »Kann sein.«
Fintan führte uns zu Meister Yöndyrs Gasthaus, dem Ruf der Sirene, wo ein einzelner Matrose ihn beschützte und Störungen gering hielt. Seit der Ausweisung von Botschafter Jasindur Torghala drohte zwar kaum noch Gefahr durch nentianische Attentäter, doch in einer belebten Umgebung wie dieser musste irgendjemand die Leute abwehren, die »nur mal schnell« mit dem Barden sprechen wollten. Inzwischen erkannte ihn fast jeder. Ein wirklich kurzer Gruß war zwar stets willkommen, doch Meister Yöndyr sagte prinzipiell allen im Lokal Bescheid, wenn Fintan da war, und bediente uns wie Ehrengäste, sodass wir permanent unter Beobachtung standen. Allmählich fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn an einem ruhigeren Ort unterzubringen.
»Wie geht es Numa?«, fragte ich, nachdem zwei riesige Gläser Nebelmaid-Bier vor uns hingestellt worden waren. Fintans Lebensgefährtin, eine Kurierin des Triunischen Konzils von Rael, war am Vortag eingetroffen.
»Sie rennt gerade wieder nach Hause«, sagte er. »Unsere gemeinsame Zeit war zu kurz, aber es geht ihr gut, und ich bin glücklicher, nachdem ich sie gesehen habe.«
Ich brummte zustimmend und glaubte, ein leises Echo in dem gewaltigen Gefäß zu hören, aus dem ich gerade trank.
»In den Dingern könnte man glatt ertrinken«, sagte Fintan und packte seinen Humpen mit beiden Händen. »Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Behältnis größer ist als ein menschlicher Magen.«
»Eine wirklich angenehme Herausforderung«, erwiderte ich und schmatzte mit den Lippen.
Die Stimme des Barden hallte von den Innenwänden seines Glases wider, als er es an die Lippen hob: »Ja, das stimmt.« Als er das Bier abstellte, breitete sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht aus, das zum Teil von seiner langen Nase verdeckt wurde. Doch dann wurde er wieder ernst. »Ich habe noch eine andere, weniger angenehme Herausforderung für Euch. Am besten bringen wir die Sache hinter uns, bevor Meister Yöndyr uns das Essen serviert.«
»Ihr wolltet ja etwas mit mir bereden.«
Er nickte und seufzte. »Numa hat mir eine merkwürdig vage Botschaft vom Triunischen Konzil überbracht, die sich speziell an Euch richtet.«
»Das Triunische Konzil weiß, dass es mich gibt?«
Fintan schmunzelte. »Ja, sie wissen schon seit Wochen über unser gemeinsames Projekt Bescheid. Numa hat ihnen, gleich nachdem sie mich hier abgeliefert hatte, davon berichtet. Allerdings glaube ich, dass sie noch nichts von den nentianischen Mordanschlägen auf mich mitbekommen haben. Aber sie gehen davon aus, dass Ihr engen Kontakt zum Pelenauten habt und eine gute Alternative zu den üblichen diplomatischen Kanälen seid.«
Ich schnaubte. »Der übliche diplomatische Kanal wäre, dass Numa sich direkt an den Pelenauten wendet. Eure Kuriere können jederzeit mit Rölly sprechen. Es ergibt keinen Sinn, mich als Mittelsmann dazwischenzuschalten.«
Der raelische Barde breitete die Hände zu einer resignierten Geste aus. »Glaubt mir, ich verstehe, was Ihr meint. Aber sie finden, dass diese Nachricht besser nicht dem Pelenauten überbracht werden sollte, sondern vielleicht seiner Lunge oder irgendjemand anderem, der Euch geeigneter erscheint. Diese Entscheidung wollen sie ganz Euch überlassen.«
Blinzelnd zuckte ich die Achseln. »Also gut.«
»Dann werde ich jetzt wortwörtlich zitieren, was Clodagh erst zu Numa und Numa gestern zu mir gesagt hat.«
»Also … stammt die Botschaft nicht vom Triunischen Konzil, sondern von einem seiner Mitglieder«, sagte ich und wappnete mich innerlich.
Fintan nickte. »Sie lautet: ›Jemand, der in Diensten der bryntischen Regierung steht, hat mir einen persönlichen Gegenstand gestohlen. Versucht nicht, es abzustreiten: Ich weiß, dass Ihr ihn besitzt. Sollte dieser Gegenstand gegen mich oder Rael verwendet werden, müsst Ihr Euch auf schreckliche Konsequenzen gefasst machen.‹«
Damit war es heraus. Sie wusste, dass wir ihr kompromittierendes Tagebuch hatten, und stieß eine Drohung aus, damit wir nicht von den darin enthaltenen Informationen Gebrauch machten. Fintan hatte sogar angedeutet, dass sie von der Existenz des Geistes oder eines anderen geheimnisvollen obersten Spions wie ihm wussten. Diese Information war eindeutig eher für den Geist als für Pelenaut Röllend bestimmt. Da sie mir diese Information gegeben hatte, wusste oder vermutete sie offenbar, dass ich mit ihm in Kontakt war. Aber ich musste mich ahnungslos geben. »Ist das alles? Was für ein persönlicher Gegenstand soll das sein?«
Fintan zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich kenne nur diese Nachricht.«
»Möchte sie, dass ihr dieser Gegenstand zurückgegeben wird? Oder geht es ihr um eine offizielle Untersuchung und eine Wiedergutmachung? Was genau will sie?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Dann soll ich also einfach zum Pelenauten gehen, ihn beschuldigen, was auch immer gestohlen zu haben, und ihn davor warnen, es zu verwenden? Ihr gebt mir hier wochenalte Fischinnereien und wollt, dass ich ihnen Blumenduft entlocke. Das ist nicht meine Aufgabe. Das könnt Ihr vergessen.«
»Verstanden«, sagte er und hob erneut die Hände. »Ich widerspreche Euch nicht. Ich habe Euch die Botschaft überbracht, und man hat mir gesagt, dass ich es vollkommen Euch überlassen soll, was Ihr daraus macht. Wir können es einfach vergessen, wie Ihr vorgeschlagen habt, und genießen, was Meister Yöndyr uns gerade bringt.« Ich folgte seinem Blick und sah, wie der Wirt vergnügt ein Tablett voller Fleisch und Käse zu uns herbrachte. Dass er trotz der großen Versorgungsengpässe in der Stadt noch etwas hatte, war beeindruckend.
»Na schön«, sagte ich, bevor Meister Yöndyr in Hörweite war, »aber richtet dem Triunischen Konzil bitte so bald wie möglich aus, dass ich kein wie auch immer gearteter Kanal bin, sondern ein alter Soldat mit einem maroden Knie, der sich auf Geschichtsschreibung spezialisiert hat. Sie sollen mit der Lunge, unseren Diplomaten oder sonst wem sprechen und mich aus allem raushalten.«
»Das werde ich«, sagte er und strahlte, als unser Essen eintraf.
Während wir es genüsslich verspeisten, überlegte ich, was zu tun war. Der Geist musste informiert werden, doch offenbar wurde ich von jemandem beobachtet, dem es nichts ausmachte, Rael über alles in Kenntnis zu setzen, was ich tat. Sollte ich auch Rölly Bescheid sagen – oder vielleicht nur ihm? Wusste mein alter Freund überhaupt von dem Diebstahl, und dass Clodagh den Mord an meiner Frau befohlen hatte? Ich war mir nicht sicher, ob der Geist ihm alles sagte. Und vielleicht würde er überrascht und verärgert sein, wenn er herausfand, was alles ohne sein Wissen und sein Einverständnis geschehen war. Allerdings hatte Mynstad du Möcher gesagt, dass der Pelenaut Gerstad du Fesset mit einem Spezialauftrag nach Rael entsandt habe. Das bedeutete, dass Rölly zumindest von der Existenz des Tagebuchs wusste und möglicherweise sogar dessen ganzen Inhalt kannte.
Vielleicht wollten sie ja nur herausfinden, an wen ich mich als Erstes wenden würde. Ich hasste es, mir ständig Gedanken darüber machen zu müssen, was ich tun sollte und wer mich gerade beobachten könnte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich bei diesem Spiel nicht mitmachen musste und Fintan auch bereits wortreich erklärt hatte, dass ich es nicht tun würde. Die Sache einfach zu vergessen war die beste Option und würde mich so gut wie keine Mühe kosten.
Um den Vorgang zu beschleunigen, packte ich das riesige Bierglas und kippte seinen Inhalt mit zurückgelegtem Kopf in mich hinein, bis ich nichts mehr hinunterbrachte. Der lange, laute Rülpser, den ich gleich darauf ausstieß, brachte mir eine Runde ironischen Applaus von den anderen Gästen ein. Er war alles, was ich in die Erfüllung von Clodaghs Bitte investieren würde.
Als ich Stunden später betrunken in mein Haus taumelte und mich bemühte, Elynea und die Kinder nicht aufzuwecken, hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber ich wollte keine Kerzen anzünden und nachsehen, was es war, da ich in meinem Zustand wahrscheinlich das gesamte Gebäude abgefackelt hätte. Also ließ ich mich stattdessen ins Bett fallen, erwachte am zwanzigsten Tag von Fintans Vortragsreihe mit einem Kater und erkannte sofort, was mir merkwürdig vorgekommen war.
Das Haus war leer. Elynea war ein weiteres Mal ausgezogen und hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Sie lag auf einem Geschenkkorb mit meinen Lieblingsmarmeladen und lautete:
Lieber Dervan,
mit Bel Tes Weys Hilfe haben wir eine Unterkunft – nur für uns drei – in der Nähe der Möbelwerkstatt gefunden und müssen deine Großzügigkeit somit nicht länger strapazieren. Du warst der freundlichste und freimütigste Gastgeber, den man sich nur wünschen kann.
In ewiger Dankbarkeit
Elynea
Ich sah in ihrem Schlafzimmer nach. Das Bett war gemacht und all ihre Habseligkeiten verschwunden. Na dann. Gut für sie. Das waren wirklich erfreuliche Neuigkeiten.
Damit war ich allerdings wieder allein.
In letzter Zeit kam es nicht oft vor, dass ich morgens ungestört mein geröstetes Brot und eine Tasse Tee genießen konnte, aber es freute mich weniger, als ich erwartet hatte. Und es war, als würden meine Kaugeräusche von den Wänden des leeren Hauses widerhallen.
Um meine Stimmung ein wenig zu heben, unterhielt ich mich eine Weile mit Frau du Marröd von gegenüber und half ihr dabei, ihre Frühlingsbeete zu bepflanzen, bevor ich mich mit Fintan traf, um wie jeden Tag seine Geschichten aufzuschreiben.
Er sah nach unserem nächtlichen Gelage genauso müde aus wie ich. »Euch hat wahrscheinlich auch niemand gesagt, wie ich die unvermeidlichen Fragen nach dem Verräter beantworten soll?«, erkundigte er sich. »Oder habt Ihr irgendetwas für mich, das ich in die heutige Geschichte einbauen soll?«
»Nein. Wisst Ihr selbst wirklich nichts?«
»Sie haben mir nur die Information über Gondel Vedd gegeben, aber nicht verraten, was danach geschehen ist.«
»Das ist merkwürdig.«
»Im Moment ist es nicht so schlimm. Fürs Erste habe ich noch jede Menge andere Geschichten auf Lager.«
Nachdem wir unsere Arbeit erledigt und Tee getrunken hatten, fühlten wir uns einigermaßen wiederhergestellt.
»Ich glaube, früher habe ich mich von solchen Nächten schneller erholt«, sagte Fintan.
»Geht mir genauso.«
Das gewaltige Menschenmeer auf dem Feld der Überlebenden wogte und schien noch ungeduldiger als sonst auf die Geschichten des Barden zu warten. Ich machte mir ein wenig Sorgen, dass die Leute verärgert sein könnten, weil er zwar von einem Verräter gesprochen, dann aber niemanden enttarnt hatte.
Doch alle verstummten und schauten zu ihm, als er über die Saiten seiner Harfe strich und seine Stimme dank seines Kennings auf der gesamten Halbinsel und überall in der Stadt zu vernehmen war.
»Hallo, ihr guten Leute von Pelemyn«, sagte Fintan. »Heute werde ich euch ein Rauchlied der Hathrim singen. Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, misst das Volk des Ersten Kennings dem Rauch große Bedeutung bei. Anders als der Rauch selbst, der keine feste Form hat, besitzen diese Lieder eine ganz klare Struktur, die kurz nach der Entdeckung des Fünften Kennings festgelegt wurde. Traditionelle Rauchlieder sind immer fünfzeilig und oft meditativ.« Fintan begann, seine Harfe zu zupfen. Dabei entlockte er ihr eine Reihe an- und abschwellender Töne, die sich allmählich zu einem sanften Rhythmus zusammenfügten. »Viele halten Feuer für ein zerstörerisches Element, doch wenn man genauer hinsieht, verwandelt es die Dinge, wie zum Beispiel beim Schmieden, Backen oder Glasblasen. In den heutigen Geschichten werden wir von einigen Zerstörungen hören, aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das Werk Einzelner dem Wesen eines ganzen Volkes oder Glaubens entspricht. Tatsächlich möchte ich euch allen Hollit und Orden Panevik ans Herz legen, ein wunderbares, über elf Fuß großes Paar, das hier in Pelemyn lebt und arbeitet. Sie betreiben am Hafen ein Restaurant namens Geröstetes Suntschuck. Hollit ist die Köchin, und Orden mischt hinter der Theke wunderbare Getränke. Die beiden sind schon seit Jahren hier. Sie lieben Brynlön, und ich liebe Hollits Schwertflossensteak.« Fintan wartete ab, bis das höfliche Gelächter verklang. »Als Nächstes muss ich das Suntschuck probieren. Es soll sehr gut sein. Dieses Lied ist euch und meinen Freunden Hollit und Orden gewidmet.«
Er sang immer nur eine Zeile, gefolgt von längeren Instrumentalpassagen in aufsteigenden Tonarten, die bis zur dritten Zeile wieder zur ursprünglichen Tonart abfielen.
Ein erster Zug: Ich verspüre das Bedürfnis innezuhalten und nachzudenken.
Zwei Züge: Ich bin von Problemen geplagt, die ich so, wie ich bin, nicht lösen kann.
Drei Züge: Um mich wieder gut zu fühlen, muss ich mich wandeln, doch Wandel ist schmerzhaft.
Vier Züge: Gleich bleiben ist ebenfalls schmerzhaft. Also begrüße ich den Wandel.
Fünf Züge: Möge dieses Feuer mich verändern und mir den Weg in eine bessere Zukunft leuchten.
Nach der üblichen Pause, in der alle ihre Plätze einnahmen, zog er einen seiner schwarzen Scheinbildsteine heraus – Numa hatte ihm neue gebracht – und sah grinsend auf das Feld der Überlebenden hinab.
»Heute beginnen wir mit einer neuen Geschichte. Auf den Verräter Vjeko kommen wir wieder zurück, keine Sorge. Der Pelenaut hat viele Informationen für euch. Doch noch ist es nicht so weit.«
Damit erntete Fintan mehrere bestürzte Rufe. Einer davon stammte von mir. Aber er ließ sich nicht beirren. »Wir haben unsere neue Erzählerin bereits am Rande der Ereignisse erlebt, und erst gestern habt ihr gehört, wie sie sich an den Götterzähnen den Nentianern ergeben hat, doch nun wird sie mit ihren eigenen Worten zu euch sprechen. Freunde, ich präsentiere euch Olet Kanek.«
Er warf sein zerbrechliches steinernes Ei auf den Boden. Das darin enthaltene Gas stieg auf und hüllte ihn ein. Als es sich wieder verzog, hatte er eine wesentlich größere Gestalt angenommen. Olet Kanek maß mindestens elf Fuß, und sie steckte in einer Rüstung, bei der nur der Helm fehlte. Ihre roten Haare fielen ungebändigt auf ihre stahlbewehrten Schultern hinab. Sie war schön und gleichzeitig Furcht einflößend, denn es war offensichtlich, dass sie mit der Waffe, die sie an der Hüfte trug, umgehen konnte. Die Mundwinkel hatte sie besorgt nach unten verzogen, vielleicht machte sie aber auch nur eine ernste Miene.
Ich zündete die Blätter in einer Schale an und inhalierte. Die Gase brannten mir in der Kehle, eine feurige Salbe für mein versengtes Herz. Über unseren Köpfen kreisten hungrig kreischende Möwen und Schwarzschwingen. Das gurgelnde Plätschern, mit dem die Wellen an den Bootsrumpf schlugen, bildete einen unsteten Rhythmus zu ihren Arien. Ich konzentrierte mich darauf, den Rauch ein- und wieder auszuatmen, wobei ich darauf achtete, nicht nur die Toxine, sondern auch alle giftigen Gedanken aus meinem Körper entweichen zu lassen.
Meine Rauchwolke vermischte sich mit der von La Mastik, die ihre eigene Pfeife schmauchte. Die Flammenpriesterin und ich waren die beiden letzten Lavageborenen unter den Hathrim, die dem Ausbruch des Thayil entkommen waren. Es hatte sich einiges angesammelt, das wir mit der Reinheit des Feuers wegbrennen und transformieren wollten. Außerdem mussten wir für die Herausforderungen, die uns noch bevorstanden, in unseren Köpfen neuen Stahl schmieden, und auch das ging nur mit Feuer. La Mastik dachte mehr oder weniger das Gleiche wie ich und intonierte mit halb geschlossenen Augen ein andächtiges Gebet: »Mögen Eure Lungen sich stets als Blasebalge erweisen, mit denen man neue Feuer, neue Pfade und neue Werke schafft.«
»Möge unser Ziel rein und blau brennen«, erwiderte ich gemeinsam mit allen, die uns zusahen.
Sie öffnete die Augen und schaute in meine. Während wir tiefe Züge aus unseren Pfeifen nahmen, hielt sie meinen Blick fest. Es würde wehtun, doch es ließ sich nicht vermeiden. Die anderen Passagiere knieten mit gefalteten Händen an Deck und lauschten hingebungsvoll. Das Ritual des Begräbnisrauchs ist nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für die Zuschauer tröstlich. Es schafft eine Schicht aus Ordnung über einem chaotischen Strudel und bietet Schutz vor Wind und Wetter. Wir alle brauchten es jetzt. Während wir in nördlicher Richtung nach Talala Fouz, der Hauptstadt von Ghurana Nent, segelten, konnten wir die traditionellen Totenriten nicht vollziehen und mussten daher mit dieser nachgeordneten Zeremonie vorliebnehmen.
»Thurik, bezeuge unsere Liebe und unseren Respekt für jene, die vor Baghra Khek fielen«, sagte La Mastik. »Ihr Andenken wird in uns brennen, bis wir selbst zu Asche zerfallen.«
Ich nickte anerkennend. Es ist gut, wenn wir Lavageborenen uns daran erinnern, dass wir nicht unsterblich sind. Es stimmte zwar, dass Gorin Mogen ganz allein ein grauenvolles Blutbad angerichtet hatte, anschließend war er jedoch von einem fornischen Grünärmel besiegt worden. Die Bantilpflanzen der Forner töteten einige Hundereiter, und ihre Samenkapseln erledigten noch viele weitere, die zu tief einatmeten. Dornenhände rissen zahlreichen Hathrim, die sich vor die Stadtmauern wagten, die Wirbelsäulen und Organe heraus. Doch die meisten Lavageborenen wurden von einer wild gewordenen Khernherde totgetrampelt. Die Tiere waren angeblich von einem nentianischen Jungen herbeigerufen worden, der das Sechste Kenning entdeckt hatte.
Wir mussten feststellen, dass die Kombination aus dem Fünften und Sechsten Kenning dem Ersten mehr als gewachsen ist, und sollten sie weiter zusammenarbeiten, wird sich die Welt verändern.
Für mich waren das alles glühend heiße, knisternde Scheite. Schließlich wollte ich schon lange, dass sich die Welt veränderte.
»Die Mogens«, begann ich, nachdem ich eine weitere Rauchwolke ausgestoßen hatte. »Gorin, Sefir und Jerin, deren Feuer uns gerettet und eine neue Stadt geschaffen hat.«
An dieser Stelle des Rituals waren Tränen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Es fiel mir nicht schwer, sie kommen zu lassen. Sie kamen ohne jede Anstrengung und rannen für Jerin, allerdings nicht für seine Eltern über meine Wangen.
Die Herausforderung würde darin bestehen, sie wieder zum Versiegen zu bringen, denn ich beklagte Jerins Tod aus tiefstem Herzen und hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, es zu zeigen. Ich war überrascht gewesen, in ihm einen Seelenverwandten zu entdecken, der sich genauso sehr von seinem Vater distanzieren wollte wie ich von meinem. Allerdings hatte es mich auch verärgert, dass ich Jerin mochte. Schließlich hatten unsere Väter unsere Ehe arrangiert, ohne unsere Zustimmung einzuholen. Ich hatte mir jemand Schrecklichen gewünscht, den ich verabscheuen konnte. Doch er hatte mich so sehr beeindruckt, dass ich geglaubt hatte, ihn vielleicht sogar lieben zu können. Und dann war er gestorben.
Ein bisschen Hoffnung war mir jedoch geblieben: Ich konnte immer noch unseren gemeinsamen Traum von einer Stadt verfolgen, die aus gutem Willen gegründet wurde und nicht auf einem Fundament aus Blut und Feuer stand.
Der Begräbnisrauch tat uns gut. An Bord der übrigen Boote, die neben und hinter uns segelten, waren zwar keine Lavageborenen, aber sie hatten Feuerschalen und Leute, die bereit waren, die Namen der Toten aufzuzählen. So erwiesen wir unseren Gefallenen die Ehre. Wir ließen die Aasvögel hinter uns, und die Sonne versank im Larischen Ozean, während wir unseren Kummer ausdrückten. Als wir damit fertig waren, sprach ich in die Stille und hoffte, dass meine Worte über das Wasser hinweg auch auf den anderen Booten zu hören sein würden.
»Hathrim, hört mir zu! Ich weiß nicht, was dieser nentianische König von uns verlangen wird, wenn wir in Talala Fouz eintreffen. Ich habe keine Ahnung, ob er auf unseren Vorschlag eingehen wird, aber ihr sollt alle wissen, dass ihr frei seid. Ihr könnt mich begleiten, wenn er uns ziehen lässt, aber ihr könnt auch jederzeit nach Hathrir zurückkehren. Ich bin nicht euer Herdfeuer. Ich will nicht über euch bestimmen. Ich bin nur eine Lavageborene, die an einem neuen Ort ein neues Leben mit neuen Regeln und neuen Freunden beginnen will. Und ihr könnt euch mir gerne anschließen, wenn ihr das möchtet. Möge Thuriks Flamme hell in euch allen brennen.«
Es war keine Rede, wie man sie von meinem Vater oder Gorin Mogen kannte. Sie schürte weder Feuer, noch weckte sie Leidenschaft. Sie drängte die Zuhörer auch nicht zu einer bestimmten Antwort oder Handlung. Stattdessen bürdete ich ihnen eine Wahl auf. Ich glaube, ein paar von ihnen waren enttäuscht, die meisten jedoch einfach verwirrt. Sie waren noch nie nicht von einem Feuerlord beherrscht worden. Alle gerieten in Bewegung. Die einen schauten schweigend, wie die übrigen reagierten, manche schüttelten ablehnend den Kopf, andere nickten zustimmend.
Mit diesem Ergebnis war ich zufrieden. Hätte ich einerseits Freiheit gepredigt und mich andererseits über abweichende Ansichten aufgeregt, wäre ich wie ein Sanddachs gewesen, der nach seinem eigenen Hintern schnappt. Nicht besser als mein Vater, das Herdfeuer Winthir Kanek, der mir an einem Tag erklärte, ich sei meines eigenen Glückes Schmied, und am nächsten, ich solle eine Ehe mit einem völlig Fremden eingehen.
In den Tagen nach dem Begräbnisrauch hielt ich meine Gefühle verborgen. Ich hatte Angst, dass ich meine Leute ins Verderben führen würde. Ich sorgte mich, dass ich sterben könnte, ohne je die Liebe erlebt zu haben. Und ich fürchtete mich davor, was mein Vater tun würde, wenn er herausfand, dass ich nicht nach Hause kommen würde. Doch solange die Sonne schien, lächelte ich, wechselte mich mit den anderen an den Rudern ab und behielt meine Sorgen für mich. Bei Einbruch der Nacht kauerte ich mich unter Eisheulerfellen zusammen und presste die Wange auf den Boden des gläsernen Rumpfes. Ich fragte mich, ob es je möglich sein würde, dass alle Leute egal mit welchem Kenning oder auch mit gar keinem Kenning in Frieden zusammenlebten.
Als wir endlich in Talala Fouz anlegten, wurden die meisten meiner Leute in ein eher schlecht als recht erschlossenes Gebiet am Nordufer des Westlichen Grabwassers abgeschoben, während man La Mastik und mich zum Palast eskortierte, damit wir dort unsere Petition vorbringen konnten.
Ich hatte einen von Taktiker Diyoghu Hennedigha und dem Vizekönig Melishev Lohmet unterzeichneten Brief dabei, wusste allerdings nicht, was darin stand. Ich konnte nicht ausschließen, dass er die Anweisung enthielt, uns auf der Stelle hinzurichten. Doch wir repräsentierten Tausende Hathrim. Uns alle zu töten, würde nicht leicht sein, und wir waren nicht auf einen Konflikt aus. Vielleicht würden sie einfach La Mastik und mich umbringen und unseren Leuten sagen, dass sie nach Hause zurückkehren sollten, wenn sie nicht ebenfalls sterben wollten.
Talala Fouz war die erste nentianische Stadt, die ich besuchte. Baghra Khek zählte für mich nicht, auch wenn Gorin Mogen ihr einen nentianischen Namen gegeben hatte.
Talala Fouz war ein erstaunlich geschäftiger Ort, voll erbärmlicher Armut und gewaltigem Reichtum. Manchmal musste man nur eine Straße überqueren, um diese beiden Gegensätze zu erleben. Der Königspalast war wie eine Torte mit weißen Wänden und steilen Dächern, umgeben von gepflegten Gärten und sprudelnden Bronzebrunnen. Der Raum mit dem Deckenfenster, in dem der Königsthron stand, war geräumig genug für uns.
Der aktuelle König von Ghurana Nent war bereits vor meiner Geburt gekrönt worden, und das einfache Volk hatte seinen Geburtsnamen längst vergessen. Da die hiesigen Herrscher als Inkarnation von Kalaads Willen galten, sobald sie auf dem Thron saßen, waren sie alle als König Kalaad bekannt, gefolgt von einer Ordnungszahl und nicht selten auch einem erniedrigenden Beinamen wie »der Ungewaschene« oder »der Unmanierliche«. Dieser hier war König Kalaad der Uninformierte, der vierundvierzigste Monarch von Ghurana Nent.
Ich fragte mich, ob dieser Beiname seine Entschuldigung dafür war, dass er seit zwanzig Jahren nichts Wesentliches geleistet hatte. Vielleicht wusste er nicht, dass das eine oder andere verbessert werden musste. Allerdings wirkte er überhaupt nicht ahnungslos, als wir vor ihn hintraten. Man sah ihm sein Alter zwar an – die einst schwarzen Haare waren mittlerweile einer langen weißen Mähne gewichen –, doch weder in seiner Haltung noch in seiner Miene war auch nur der kleinste Hinweis auf Senilität zu erkennen. In diesem Moment wurde mir klar, dass er in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich etwas Bemerkenswertes geschafft hatte: Er hatte sich an der Macht gehalten und dafür gesorgt, dass das Königreich genauso blieb, wie er es wollte – profitabel für alle seine Unterstützer.
König Kalaad wandte sich nicht direkt an uns – zumindest nicht gleich. Er erteilte seine Anweisungen durch einen Kämmerer, obwohl wir ihn gut hören und sehen konnten. Der Kämmerer zeigte ihm unseren Brief, und er hob den Blick zu uns. Obwohl sein Thron um mehrere Fuß erhöht war, ragten wir über ihm auf. Ich sah ihm an, dass ihn das ärgerte. Er rieb sich das glatte Kinn, während er das Siegel betrachtete. Dann wedelte er mit dem Umschlag und sagte: »Lass sie dort drüben warten.« Offenbar wollte er uns nicht aus den Augenwinkeln sehen müssen, während er las. Mit gerunzelter Stirn erbrach er das Siegel und überflog mit geschürzten Lippen das Schreiben. Einmal hob er die Brauen. Als er fertig war, schnaubte er und sprach – erneut so laut, dass wir ihn verstehen konnten – mit seinem Kämmerer: »Lass sie zurückkommen. Ich habe Fragen an sie.« Erst als wir erneut vor ihm standen, ließ er sich zu einem direkten Gespräch mit uns herab. »Abgesehen von all dem Unfug über das Sechste Kenning, und dass Gorin Mogen mit weniger als einer Handvoll nentianischer Gefallener besiegt worden sein soll, steht hier, dass Ihr nicht nach Hathrir zurückkehren, sondern stattdessen unter meiner Kontrolle eine Stadt im Norden gründen wollt. Stimmt das?«
»Ja, König Kalaad.«
»Wie wollt Ihr das anstellen?«
»Wir werden unterwegs eine provisorische Straße anlegen, die wir später durch Rodungen erweitern und befestigen. Falls wir überleben, werden wir Euch zunächst einmal im Jahr Steuern schicken – und dann häufiger, sobald sich die Straße in einem besseren Zustand befindet.«
»Genau das ist meine Frage: Wie wollt Ihr den kommenden Winter im Grabwald überleben?«
Ich deutete auf La Mastik. »Wir sind beide Lavageborene, und im Grabwald mangelt es nicht an Brennstoff. Wir werden jagen, fischen, Pflanzen sammeln und von den Vorräten leben, die Ihr uns hoffentlich überlasst.«
»Ihr wollt also meine Erlaubnis und Vorräte?«
»Das ist korrekt.«
König Kalaad der Uninformierte schniefte. »Ich sehe nicht, was für mich dabei herausspringt. Wenn ich Euch Nahrung und andere Güter in den Grabwald mitnehmen lasse, unterstütze ich damit nur einen Massenselbstmord.«
»Ihr könnt sehr viel dabei gewinnen! Eine Passage durch den Grabwald, Zugang zur Nordküste und dem Holz, das dort oben wächst. Außerdem eine neue ausbaufähige Stadt, deren Bewohner Abgaben an Euch entrichten werden. Eine ähnliche Chance bietet sich Euch derzeit bereits in Baghra Khek, das mittlerweile zur Besiedlung bereitsteht und aufblühen kann. Die Entwicklung dieser Stadt hat Euch nichts gekostet.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wurde mir bewusst, dass das nicht stimmte. Hashan Khek hatte rund zweitausend Mann verloren, die von Gorin Mogen und seinen Lavageborenen und Hundereitern abgeschlachtet worden waren. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob der König diese Gefallenen als Verlust betrachtete. Melishev Lohmets Lieblingstaktiker, Ghuyedai, hatte jedenfalls nicht das Geringste auf ihr Leben gegeben. »Seht es doch so: Nun könnt Ihr zwei Städte zum Preis von einer entwickeln.«
Der König schnaubte. »Eine Verkaufspräsentation. Wie unerwartet.«
Ich sah ihm an, wie wenig er solche Gespräche mochte, und dass er drauf und dran war, mir eine Abfuhr zu erteilen. Also deutete ich an, womit er rechnen musste, wenn er Nein sagte: »Natürlich wäre damit auch sichergestellt, dass Ihr es nicht mit Tausenden von Hathrim zu tun bekommt, die in Euren Flussstädten nach Arbeit suchen. Unser Volk kann nicht zurückkehren. Daher müssen wir uns hier eine Zukunft schaffen.«
Er blickte zu seinem Kämmerer und bedeutete ihm mit erhobener Augenbraue, dass er seine Meinung hören wollte.
»Neue Ertragsströme werden allen gefallen«, sagte der Mann vorsichtig und bestätigte damit, was ich bereits vermutet hatte: Dieser Regierung ging es ausschließlich ums Geld, das einigen wenigen zugutekommen würde. Die vielen moralischen und logistischen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sahen, spielten nur insofern eine Rolle, als sie einer möglichen neuen Einkommensquelle im Weg standen.
Der König ließ sich seufzend auf seinen Thron zurücksacken. »Na gut. Versucht nördlich von Ghuli Rakhan Euer Glück. Könnt Ihr Eure Boote stromaufwärts segeln?«
»Ja.«
»Dann tut das. Sobald Ihr in Ghuli Rakhan eingetroffen seid, gehen die Boote in den Besitz des dortigen Vizekönigs über. Im Gegenzug wird er Euch aus seinen Beständen mit allem versorgen, was Ihr benötigt. Ich werde gleich einen entsprechenden Brief aufsetzen und ihn Euch mitgeben. Aber ich will, dass Ihr noch heute aus Talala Fouz verschwindet. Ist das klar?«
»Ja, das verstehen wir, aber können wir auch noch Reiseproviant bekommen?«
»Ihr dürft welchen vom königlichen Hoflieferanten kaufen – zu dem Rabatt, den wir selbst von den Händlern erhalten. Darum kümmere ich mich auch.« Er wandte sich zu seinem Kämmerer. »Bring sie zum Hoflieferanten und bestehe auf dem Preisnachlass. Dann sollen sie zurückkommen und den Brief an den Vizekönig abholen, den ich in der Zwischenzeit schreibe.« Er erhob sich von seinem Thron und tappte zum Schreibtisch, der seitlich im Raum stand. Dabei winkte er träge in unsere Richtung. »Das wäre alles«, sagte er huldvoll.
Nachdem unsere königliche Audienz so sang- und klanglos zu Ende gegangen war, folgten wir pflichtschuldig dem Kämmerer, um nicht nur Lebensmittel, sondern auch Trinkwasser einzukaufen, da das Grabwasser nicht genießbar war.
Der Transport all dieser Dinge zum Nordufer und die Vorbereitungen für unseren hastigen Aufbruch kosteten uns den Großteil des verbliebenen Tages, doch die Nentianer unterstützten uns dabei nach Kräften. Sie wollten uns so schnell wie möglich wieder loswerden, um weiter ungestört Profit aus ihren Untertanen und Rohstoffen schlagen zu können.
Während im Licht der tief stehenden Sonne die Boote beladen wurden, entfernten La Mastik und ich uns ein Stück und zündeten erneut unsere Pfeifen an, diesmal, um zu feiern.
Ich wedelte mit dem Brief an den Vizekönig. »Wir werden eine neue Stadt gründen, in der Gleichheit herrscht«, sagte ich. »Ohne Herdfeuer oder Vizekönig, stattdessen mit vom Volk gewählten Interessenvertretern, wie sie es in Rael machen. Wir werden etwas Neues für die Nentianer und die Hathrim schmieden. Und mein Körper wird keinem Mann gehören.«
La Mastik nickte und lächelte schmallippig, während sie eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel blies. Die Kette aus Buntglas, die von ihrer Nase zu ihrem einen Ohr verlief, funkelte im Feuerschein. »Habt Ihr schon darüber nachgedacht, was Ihr tun wollt, wenn Euer Vater kommt? Wahrscheinlich hat er bereits gehört, was in Baghra Khek passiert ist, und sucht nach Euch.«
Ich zuckte die Achseln. »Noch ein Grund mehr, rasch aufzubrechen. Er kommt sicher nicht so schnell voran wie wir. Und er kann auch nicht einfach hier einfallen und uns aufspüren. Die Nentianer würden es bemerken.«
»Was werdet Ihr tun, wenn dieser weißhaarige König einen Vizekönig schickt, der unsere Stadt regieren soll?«
Ich zuckte die Achseln und zog gemächlich an meiner Pfeife. »Im Grabwald ist es gefährlich. Die Straße zu unserer Stadt wird viele Jahre lang nicht sicher sein.«
La Mastik blies grinsend einen Rauchring in den Sternenhimmel. »Thurik möge uns beschützen und unsere Feinde verbrennen.«
Ich erwiderte ihr ironisches Lächeln und gab die traditionelle Antwort: »Möge sein Feuer unseren Herd wärmen.«
Fintan löste sein Scheinbild auf und schrumpfte auf seine wesentlich geringere raelische Körpergröße zusammen. Dann holte er eine weitere Kugel heraus und prägte ihr die Gestalt ein, die er als Nächstes annehmen würde.
»Ihr erinnert euch sicher noch daran, dass Abhinava Khose und ich in der Zwischenzeit auf gestohlenen Pferden ebenfalls nach Talala Fouz unterwegs waren. Wir versuchten, unser Ziel vor einer Nachricht des Vizekönigs Melishev Lohmet zu erreichen, die uns möglicherweise als Pferdediebe oder noch Schlimmeres verleumden würde. Da wir kurz nach Olet eintrafen, hatte der König tatsächlich bereits von uns gehört. Es kann übrigens sein, dass ich es ein kleines bisschen aufregend fand, mit dem ersten Plagenbringer der Welt unterwegs zu sein.«
Er gluckste leise und warf seinen Scheinbildstein zu Boden. Die öligen Gase bildeten um ihn herum die Gestalt des gutaussehenden jungen Mannes aus Khul Bashab.
Ich weiß nicht, was ich von diesem raelischen Barden halten soll, der beschlossen hat, mit mir zu reiten. Er lächelt und lacht viel und erzählt wunderbare Geschichten. Er spricht Nentianisch und kennt, soweit ich weiß, sogar ein paar nentianische Lieder. Aber er glaubt auch, ich wäre jemand Wichtiges, der gut für diese Welt ist. Und das macht mich nervös. Oder verlegen. Ich halte mich nämlich nicht für sonderlich gut.
Ich habe Leute getötet, die es vielleicht verdient haben, vielleicht aber auch nicht. Und ich bin dafür verantwortlich, dass andere – darunter meine Familie – von Geschöpfen der Ebene getötet wurden. Zwei Vizekönige – Melishev Lohmet und Bhamet Senesh – wollen mich tot sehen. Vielleicht auch der König. Wir reiten gerade zu ihm, um es herauszufinden. Auf Pferden, die wir von einer nentianischen Reiterei gestohlen haben.
Fintan tut meine Sorgen als »Wachstumsschmerzen« ab. Bloße Missverständnisse.
»Das Sechste Kenning wird die Welt verändern. Nicht nur Ghurana Nent. Alle werden davon profitieren, genau wie von den bryntischen Hygienikern.«
»Ihr meint, weil keine Schädlinge mehr die Ackerpflanzen befallen werden und die Hühner vor den Füchsen sicher sind, stimmt’s?«
»Ja, genau.«
»Wir sind noch weit davon entfernt, den Hühnerställen von Rael Frieden zu bringen«, sagte ich zu ihm. »Bevor es so weit ist, muss sich noch viel ändern in diesem Land, dessen Organisation darauf basiert, dass die Tiere der Ebene unglaublich gefährlich sind. Die Sorge um unsere Sicherheit schränkt unsere Freiheit ein. Zu unserer eigenen Sicherheit müssen wir die Steuern und Befehle des verkommenen Adels erdulden. Damit rechtfertigen sie alles, was sie tun. Es ist ihr liebstes Machtinstrument. Was glaubt Ihr also, wie sie reagieren werden, wenn die Wildrufer kommen und sagen: Hey, wir müssen keine Angst mehr vor den Tieren haben?«
»Ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint.«
»Ja. Sie würden uns am liebsten verschwinden lassen. Und wenn das nicht geht, werden sie dafür sorgen, dass das Volk uns misstraut. Sie werden den Leuten einreden, dass wir eine neue Bedrohung für sie sind, und uns als die Bösen hinstellen.«
»Ihr habt bereits viel über all das nachgedacht.«
»Ja«, erwiderte ich, ohne zu erwähnen, dass ich auf das meiste mithilfe von Tamhan gekommen war, der sich mittlerweile wieder in Khul Bashab befand. Ich fragte mich, wie es ihm, Hanima, Sudhi und Adithi ging und ob sie gut mit der Gründung der Wildruferzunft vorankamen. »Ich kenne mich ein bisschen mit der Weltgeschichte aus. Die Entdecker der Kennings sind alle nicht alt geworden.«
»Sie waren die Dreh- und Angelpunkte der Geschichte.«
Ich schwieg einen Moment, bevor ich antwortete. »Ja, sicher, so kann man es auch sehen. Man kann aber auch sagen, dass sie von den Leuten, denen sie helfen wollten, aufgezehrt wurden. Und die Sache ist die: Ich will helfen, Fintan. Aber ich möchte nicht als tragische Figur in den Geschichten der Barden enden.«
»Oh. Oh! Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich auf Euren Tod warte?«
»Nein. Ich meine … Das tut Ihr doch nicht, oder?«
»Nein! Ich bin natürlich daran interessiert, was Ihr als Nächstes tun werdet, aber ich möchte Euch siegen sehen.«
»Nun, vielen Dank. Siege setzen allerdings Schlachten voraus, und denen möchte ich aus dem Weg gehen.«
»Ich verstehe, aber Wandel sorgt immer für Konflikte. Jedes Mal, wenn jemand etwas Neues ausprobieren will, redet irgendein alter Sack über Traditionen und darüber, wie gut alles bisher funktioniert hat. Trägheit ist der Grund, weshalb Schreckliches schrecklich bleibt. Was habt Ihr sonst vor, wenn Ihr Euch diesen Auseinandersetzungen nicht stellen wollt?«
»Ich glaube, ich würde gern zusammen mit Murr und Iep die Welt erkunden.« Meine Freunde, eine Blutkatze und ein Stelzfalke, blieben in der Graslandschaft dicht bei uns. »Und mir überlegen, wie ich die Welt besser machen kann, ohne irgendjemanden zu verletzen.«
»Ihr klingt ein bisschen wie Olet Kanek.«
»Ach ja? Wer ist das?«
»Ihr erinnert mich allgemein an sie. Sie ist die Tochter von Herdfeuer Winthir Kanek, der in Tharsif und Narvik herrscht. Habt Ihr sie in Baghra Khek nicht gesehen? Die große Rothaarige mit der Rüstung?«
»Doch, ich erinnere mich. Wir haben kaum miteinander gesprochen.«
»Nun, ich habe einmal mit ihr und Jerin Mogen in einem Boot gesessen und zugehört, wie die beiden von der Gründung einer Stadt geträumt haben, die nicht nach den Regeln ihrer Väter organisiert ist.«
Das klang tatsächlich ein bisschen nach mir. Ich wollte mich auch nicht nach den Regeln meines Vaters richten. »Haltet Ihr solche Träume für lächerlich? Sind Veränderungen dieser Art überhaupt möglich?«
»Natürlich! Wisst Ihr, wie die Forner waren, bevor das Fünfte Kenning entdeckt wurde? Die Clans haben ständig gegeneinander Krieg geführt. Der Erste Baum hat sie dazu gebracht, mit all dem aufzuhören und stattdessen den Wald über alles andere zu stellen. Jetzt streiten ein paar der Clans zwar immer noch miteinander, aber sie vergießen zumindest kein Blut mehr.«
»Ja, gut, aber das funktioniert nur, weil der Erste Baum für Ordnung sorgt. Ich kann das nicht.«
»Ihr könntet es.«
»Indem ich meine Macht spielen lasse und dabei so schnell altere, dass ich jung sterbe? Nein, vielen Dank.«
»Da habt Ihr recht. Das ist wirklich nicht erstrebenswert.«
»Überhaupt nicht. Lasst uns hoffen, dass der König sich auf einen unblutigen Wandel einlässt. Wenn er uns überhaupt empfängt. Könige sprechen normalerweise nicht mit Jägern.«
»Er wird uns sehen wollen. Schließlich haben wir Informationen, die er braucht.«
Als wir im Palast vorstellig wurden, bekamen wir eine Audienz gewährt, weil wir Neuigkeiten über die Schlacht bei den Götterzähnen versprachen, wie der Barde sie nannte. Der König wusste zwar, wie sie ausgegangen war, da Olet Kanek ein paar Tage zuvor bei ihm vorgesprochen hatte, aber er wollte dennoch Fintans Bericht hören, weil er nicht ganz glauben konnte, was sie ihm gesagt hatte.
»Willkommen, Barde«, grüßte er. Dann fiel sein Blick auf mich. »Und auch du, Bürger. Man hat mir erzählt, du seist ein Jäger, der die Schlacht ebenfalls beobachtet hat?«
»Ja, Herr, ich habe daran teilgenommen.«
»Teilgenommen? Dann bist du also in der Armee?«
»Nein, Herr, ich war eher so etwas wie ein Söldner in den Diensten von Vizekönig Lohmet. Ich habe eine Khernherde auf die Lavageborenen losgelassen, als sie hinter den Mauern hervorkamen, um die fornischen Katapulte zu zerstören. Damit habe ich der Schlacht ein Ende bereitet. Danach haben die restlichen Hathrim kapituliert.«
Der König beugte sich auf seinem Thron vor und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Dann bist du also der Junge, der angeblich das Sechste Kenning entdeckt hat?«
»Ja, Herr, ich habe es entdeckt.«
»Du kannst Tiere kontrollieren?«
»Ich will niemanden kontrollieren. Aber ich kann mit ihnen sprechen, und oft tun sie, worum ich sie bitte. Außerdem kann ich ohne Sorge vor Fleischaalen und anderen Kreaturen auf der Ebene schlafen.«
Ich bewies es ihm genauso wie dem Kämmerer von Vizekönig Lohmet, indem ich alles Ungeziefer des Palasts bat, sich kurz zu zeigen und dann wieder in seine Verstecke zurückzukehren. Eine Demonstration mit Murr und Iep wäre zwar noch besser gewesen, aber die hatte ich zurücklassen müssen, da sie innerhalb der Stadt nicht sicher gewesen wären.
Der König lehnte sich zurück und beobachtete, wie das Gewirr aus Insekten und Nagern wieder aus dem Thronsaal floh. »Dies ist gewiss die interessanteste Audienz, die ich während meiner gesamten Herrschaft gewährt habe. Wahrscheinlich sogar die interessanteste Audienz, die je ein König von Ghurana Nent gewährt hat. Einen Beweis für ein neues Kenning bekommt man nicht jeden Tag zu sehen. Ich habe gehört, dass ihr eine Zunft gründen wollt, die das Recht hat, Aufträge abzulehnen.«
»Ja, Herr. Ich will genauso wenig kontrolliert werden, wie ich andere kontrollieren möchte.«
»Du würdest dich also weigern, deinem Land zu helfen?«
»Ich habe mich nicht dagegen gewehrt, an den Götterzähnen gegen die Hathrim zu kämpfen. Vizekönig Lohmet hat mir den Auftrag erteilt, die Lavageborenen zu beseitigen, und ich habe es getan. Das hat zu ihrer Kapitulation und zur Rettung Eurer Armee geführt. Meine Bereitschaft, dem Land im Fall einer Invasion beizustehen, steht damit außer Frage.«
»Dann sag mir, Abhinava Khose, was infrage steht.«
»Ich werde das Sechste Kenning nicht gegen meine Mitbürger einsetzen, um ihren Gehorsam zu erzwingen, sie zu bestrafen oder auf irgendeine andere Weise Druck auf sie auszuüben. Das Sechste Kenning soll ein Segen für alle Nentianer sein, kein Hammer, der auf sie niederfährt.«
Ein Mundwinkel des Königs bog sich nach oben. »Gilt das auch für mich? Für meine Vizekönige, Beamten und Soldaten?«
»Ja, solange sie mich nicht mit Drohungen in ihre Dienste zwingen wollen. Unsere Fähigkeiten werden sicher sehr begehrt sein, und die Zunft, nicht die Regierung, wird entscheiden, welche Aufgaben zuerst erledigt werden.«
Der König klatschte und rieb sich lachend die Hände. »Ah, wir verhandeln also bereits! Nun, das sollten wir auch. Es gibt so vieles zu bedenken. Und wenn wir es mit weiteren Gesegneten zu tun bekommen … Es gibt doch sicher bereits andere, habe ich recht?«
»Ja, Herr.«
»Nun, je mehr es werden, desto dringender brauchen wir eine Rahmenordnung für ihre Beschäftigung. Andernfalls bricht Chaos aus. Ich muss zugeben, dass ich den Vertragsentwurf, den Lohmet mir geschickt hat, bislang noch nicht gelesen habe. Er ist gerade erst eingetroffen. Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist und wir direkt miteinander sprechen können, ohne uns über Verzögerungen oder die Verlässlichkeit von Mittelsleuten sorgen zu müssen. Dennoch werde ich ein wenig Zeit brauchen, um über alles nachzudenken. Kannst du noch ein bisschen bleiben, während ich meine anderen Termine absage?«
»Ja, Herr.« Seine Bereitschaft, über eine Zunft zu sprechen, geschweige denn ihre Gründung zu akzeptieren, überraschte mich sehr. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm trauen konnte. Die Vizekönige hatten mir den Eindruck vermittelt, dass der König niemals eine Zunft gestatten würde, die nicht von der Regierung kontrolliert wurde. Was bedeutete, dass sie unaufrichtige Schietschlangen waren. Oder der König log, und das alles war nur ein Trick, damit ich unvorsichtig wurde und er mich beseitigen konnte. Ich musste auf der Hut sein, denn es würde ihm nicht schwerfallen, einen »tödlichen Unfall« zu arrangieren. Doch im Moment schien er ehrlich daran interessiert, die Verhandlungen voranzutreiben.
»Wunderbar. Ist es dir vormittags oder nachmittags lieber?«
»Vormittags, Herr.«
»Dann werden wir bei Tagesanbruch über den Anbruch einer neuen Ära diskutieren! Das gefällt mir.« Der König wies umgehend seinen Kämmerer an, in der kommenden Woche all seine morgendlichen Verpflichtungen abzusagen. Danach bat er Fintan, ihm zu erzählen, wie er die Schlacht an den Götterzähnen erlebt hatte, um seinen Bericht mit den bisherigen abzugleichen.
Ich konnte gar nicht fassen, dass alles so gut lief. König Kalaad erwies sich als viel geduldiger und offenherziger, als man mir eingeredet hatte. Er war ein wesentlich besseres Oberhaupt als die Vizekönige. Wusste er vielleicht gar nicht, wie furchtbar Melishev Lohmet war? Hatte er womöglich keine Ahnung, wie sich seine Vizekönige aufführten? Oder wusste er es sehr wohl und hieß es gut? Saß auf dem obersten Thron eine Giftschlange, die charmant und klug, aber auch unglaublich gefährlich war?
Kaum hatte Fintan mit seinem Bericht begonnen, platzte ein Page herein, dem es offensichtlich sehr unangenehm war, die Audienz zu unterbrechen. »Herr, Herdfeuer Winthir Kanek ist hier und ersucht um eine dringende Unterredung.«
König Kalaad schaute ihn verblüfft an. »Winthir Kanek ist hier?«
»Er wartet zusammen mit einem anderen Giganten im Vorraum.«
»Hat er keine Armee dabei?«
»Soweit ich weiß, befinden sich an Bord seines Schiffs noch weitere Giganten, aber es scheint eine ganz normale Besatzung zu sein.«
Der König schaute seinen Kämmerer an. »Seine Tochter ist vor mehreren Tagen aus der Stadt abgereist, richtig? Ist sie nicht stromaufwärts gerudert?«
»Ja, Herr.«
»Ist irgendwer von ihren Leuten nach Hathrir zurückgekehrt?«
»Nein, Herr. Sie sind ihr alle gefolgt.«
»Na gut, lass ihn eintreten.« Er wandte sich zu Fintan und mir um. »Ihr beide müsst verschwinden. Wenn er über Gorin Mogens Niederlage wütend ist, sollte er Euch besser nicht hier sehen.«
»Wäre es möglich, Eurem Gespräch zu lauschen, ohne gesehen zu werden, Herr?«, fragte Fintan.
Nach kurzem Zögern deutete der König mit dem Daumen über die Schulter. »Die letzte Wachkammer ist leer. Ich hätte nichts gegen eine perfekte Erinnerung an diese Audienz einzuwenden. Ihr könnt von dort aus zuhören, aber seid leise und haltet Euch versteckt, bis er wieder weg ist.«
Ich wusste erst nicht, was er damit meinte, Fintan dagegen offensichtlich schon. Während der König weitere Wachen herbeirief, um Stärke zu demonstrieren, führte der Barde mich zu der Wand, auf die Kalaad gezeigt hatte. Sie war mit einem bemerkenswerten Teppich verhangen, auf dem zahlreiche Tiere der Ebene dargestellt waren. Bei näherer Betrachtung bemerkte ich die Türen, die zu kleineren Räumen führten, in denen Leibwächter warten und die Geschehnisse im Thronsaal verfolgen konnten. Durch mit Netzgewebe bedeckte Sehschlitze, die in den schattigen Abschnitten des Wandteppichs verborgen waren, konnten wir alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Es war nicht einfach, sich zu zweit in die enge Kammer zu quetschen, aber wir schafften es und sahen zu, wie Winthir Kanek in den Saal gestürmt kam.
Sein Kopf berührte fast das Deckenfenster, und ich erkannte, wieso die anderen Hathrim ihn fürchteten. Er war selbst für einen Giganten mächtig gebaut und vielleicht sogar noch muskulöser als Gorin Mogen. Seine geflochtenen blonden Haare und der Bart fielen über seine Kleidung aus Lavadrachenleder herab, und er sah nicht aus, als wäre er zu einem netten Plausch vorbeigekommen. Er biss die Zähne fest zusammen, offensichtlich, um niemanden anzuschreien. Das Herdfeuer war im herkömmlichen Sinne unbewaffnet, doch ein Feuerlord wie er konnte mühelos den ganzen Raum in Brand stecken. Der Gigant an seiner Seite war augenscheinlich ebenfalls mit dem Ersten Kenning gesegnet, da auch er Lavadrachenleder trug.
»König Kalaad«, grollte Winthir in gebrochenem Nentianisch, »vielen Dank, dass Ihr mich so kurzfristig empfangt. Das hier ist die berühmte Furie Pinter Stuken.«
»Steine und Gebeine«, flüsterte Fintan. »Olet hat mir von ihm erzählt.«
»Willkommen, Herdfeuer Kanek«, sagte der König. »Man hat mir gesagt, es sei dringend.«
»Richtig. Aber lasst mich Euch zuerst zu Eurem Sieg bei den Götterzähnen gratulieren. Gorin Mogen hat unbedacht gehandelt und dafür bezahlt.«
»Ich danke Euch. Ihr müsst sehr schnell davon erfahren haben, da Ihr noch vor meiner Armee hier angekommen seid.«
»Das stimmt, und ich habe einen kaurischen Zyklon angeheuert, der unsere Fahrt hierher beschleunigt hat. Denn ich habe gehört, dass meine Tochter, die bei Mogen war, nicht nach Hause, sondern zu Euch gesegelt ist.«
»In der Tat.«
In den Augen des Herdfeuers tanzten blaue Flammen. »Wo ist sie?«
»Irgendwo flussaufwärts. Sie will sich im Grabwald niederlassen.«
»Treibt keine Scherze mit mir. Dazu bin ich nicht in der Stimmung. Ich will sofort meine Tochter wiederhaben.«
»Das ist kein Scherz. Sie und ihr Gefolge haben nur ihre Vorräte aufgestockt und sind dann gleich weitergezogen.«
»Und Ihr habt sie einfach ziehen lassen?«
»Weshalb hätte ich sie aufhalten sollen? Sie will eine Stadt errichten und mir dann Steuern zahlen.«
Winthir Kanek deutete auf den Boden und dann auf sich selbst. Sein Gesicht war genauso rot wie die glühende Fingerspitze. »Sie ist ihrem Land verpflichtet«, presste er hervor. »Und mir.«
»Davon hat sie nichts gesagt. Selbst wenn, hätte ich mich nicht in ihre Familienangelegenheiten eingemischt. Sie hat gesagt, dass sie nicht nach Hathrir zurückwill, und das galt anscheinend auch für den Rest ihrer Gefolgschaft.«
»Dann hat sie sich also zum Herdfeuer von Mogens Volk ausgerufen?«
»Ich weiß es nicht. Sie selbst hat diesen Titel nie verwendet, und ich habe auch nicht gehört, dass jemand anders sie so nannte.«
»Ich will sie zurück.«
Der König hob die Hände. »Und ich will einen Biber als Schoßtier. Schaut, ich kann eine Botschaft von Euch stromaufwärts schicken, aber herbeizaubern kann ich sie nicht.«
»Das reicht nicht. Dann könnte sie einfach behaupten, dass sie die Nachricht nicht bekommen hat. Ich werde ihr selbst hinterherfahren.«
»Das kann ich leider nicht erlauben, Herdfeuer.«
»Was? Habt Ihr nicht gerade gesagt, dass Ihr Euch nicht in unsere Familienangelegenheiten einmischt?«
»Das tue ich auch nicht, und ich verspreche Euch, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Euch behilflich zu sein. Aber ich kann nicht zulassen, dass Ihr mit einer Furie im Schlepptau in meinem Reich herumwandert. Das letzte Herdfeuer, das sich in Ghurana Nent aufhalten durfte, hat sich nicht sonderlich gut benommen.«
»Ich bin nicht Gorin Mogen.«
»Das ist mir bewusst.«
»Ich bin viel gefährlicher als er.«
»Das glaube ich Euch gern.«
»Ihr solltet mich wirklich nicht so herablassend behandeln. Lasst mich nach meiner Tochter suchen, König Kalaad, oder ich werde Eure Stadt bis auf die Grundfesten niederbrennen.«
Die Wächter gerieten in Bewegung, und ein paar von ihnen hoben ihre Armbrüste.
Der König hob eine Hand, um ihnen Einhalt zu gebieten. »Das ist ein lächerliches Ultimatum, Herdfeuer.«
»Ich bin bereits den ganzen Weg bis hierher gesegelt. Euch müsste also klar sein, wie entschlossen ich bin, sie selbst nach Hause zu holen. Ich lasse mich nicht aufhalten. Ich würde Euch raten, mir nicht im Weg zu stehen.«
»Wenn Ihr einen Krieg mit uns anfangt, bekommt Ihr es mit den Fornern, den Raelern und sogar den Bryntern und Kauriern zu tun.«
»Nur wenn irgendjemand überlebt und ihnen erzählt, wer die Stadt angezündet hat. Ansonsten wäre es bloß ein tragischer Unfall. Schließlich brechen ständig irgendwo Feuer aus. Letzte Warnung: Lasst mich gehen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr besonders begeistert wärt, wenn Euch jemand in Eurem Thronsaal Befehle erteilen würde. Lasst uns zusammen eine Nachricht aufsetzen. Ich werde sie mit meinem Siegel versehen und von meinem schnellsten Kurier flussaufwärts bringen lassen.«
»Es reicht.« Das Herdfeuer wandte sich zu seiner Furie um. »Die Wachen, Pinter. Jetzt.«
Die Furie verwandelte sich in reines Feuer. Flammen sprangen von ihm auf die Gesichter und Hände sämtlicher Wachen über, sodass sie ihre Armbrüste nicht in Anschlag bringen konnten. Doch auch als sie die Waffen fallen ließen, hörten sie nicht auf zu brennen.
Die Lavadrachenrüstung der Furie fiel von ihrer brennenden Gestalt ab. Winthir Kanek warf sich indessen flach auf den Boden, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, falls es doch noch einem der Wächter gelingen würde, einen Schuss abzugeben. Im Liegen streckte er eine Hand aus und tötete König Kalaad mit einem Flammenstoß. Ich hatte noch nie jemanden so ungestüm und bösartig handeln sehen. Kein Wunder, dass Olet von ihm wegkommen wollte. Wenn ihm jemand nicht gab, was er wollte, brachte er denjenigen einfach um.
Links und rechts vom Thron strömten weitere Wachen aus Geheimkammern wie der unseren. Fintan hielt mir einen Arm vor die Brust, um sicherzustellen, dass ich es ihnen nicht gleichtat. Einer der Wächter feuerte seine Armbrust ab. Der Bolzen bohrte sich in den linken Bizeps des Herdfeuers, doch er und die restlichen Wachen verwandelten sich im Handumdrehen in menschliche Fackeln. In der Nähe des Throns geriet der Teppich in Brand, die Flammen fraßen sich über die Wand hinweg auf uns zu. Abgesehen von den Hathrim und uns war in dem Saal mit dem Deckenfenster niemand mehr am Leben.
Pinter Stuken nahm wieder seine menschliche Gestalt an und bückte sich, um seine Lavadrachenrüstung aufzuheben.
Das Herdfeuer stemmte sich mit einem Arm vom Boden hoch. »Ich nehme deine Rüstung mit. Brenne du die Stadt nieder, wie ich es befohlen habe.«
»Die Leute auch?«
»Das ist mir egal. Ich will nur, dass sie zu beschäftigt sind, um über uns nachzudenken. Wir werden Olet finden und jeden anzünden, der sich mir in den Weg stellt.«
Sie verließen den Raum und ließen uns in dem flammenden Inferno zurück. Fintan stieß mit der Schulter die glühend heiße Tür auf, und wir taumelten in den Thronsaal. Wir mussten hier raus, bevor die Decke einstürzte. Aber wohin sollten wir fliehen, wenn sie die ganze Stadt brandschatzten?
»In die Küche«, sagte Fintan hustend.
»Was?«
»Sie besteht aus Stein und hat einen Hinterausgang.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Ich habe Pläne des Palasts und der gesamten Anlage gesehen und kann mich an alles erinnern. Folgt mir.«
Wir eilten an den schmorenden Leichen des Königs und seiner Wachen vorbei und spähten zur Tür hinaus. Die Hathrim waren außer Sicht. Fintan führte uns um eine Ecke und durch ein paar Gänge, in denen die Leute aus gutem Grund in Panik gerieten, während Rauch und Flammen unter der Decke waberten.
Die Küche wurde gerade evakuiert, als wir dort eintrafen. Das Dach brannte. Als wir hustend und mit Tränen in den Augen ins Freie traten, sahen wir, dass auch die Dächer anderer Gebäude in Flammen standen. Pinter Stuken hatte sie angezündet.
Ich überlegte, wie ich ihn aufhalten sollte. Leider befand sich keine Khernherde in der Nähe. Allerdings hätten diese Tiere gegen eine Furie ohnehin nichts ausrichten können.
Dann fiel mir ein, wie effektiv ein Schwarm Mooshornissen gegen einen Feuerlord gewesen war. Ich fragte mich, ob in dieser Situation vielleicht etwas Ähnliches möglich wäre, und begann mithilfe meines Kennings nach Geschöpfen mit Giftzähnen zu suchen. Innerhalb der Stadtmauern gab es nur sehr wenige, doch dann fand ich eines, das im Kerker lauerte und Ratten fraß. Eine Gesichtsspringerin.
Diese Spinnen waren so groß wie eine gespreizte Hand. Zum Glück fanden sie uns nicht besonders schmackhaft. Dennoch starben jedes Jahre mehrere Menschen an ihren Bissen.
Ich ermunterte die Spinne dazu, den Kerker durch einen der Belüftungsschächte zu verlassen, und erwartete sie zusammen mit Fintan an der oberen Öffnung.
»Was glaubt Ihr, wo wir Winthir Kanek finden können?«, fragte ich.
»Im Hafen, nehme ich an. Wahrscheinlich besteigt er gerade sein Schiff. Warum?«
»Die Hathrim sollen erfahren, dass die Nentianer nicht mehr wehrlos sind. Da die anderen Nationen gerade mit der Invasion an der Ostküste beschäftigt sind, halten diese Herdfeuer uns für leichte Beute. Das muss ein Ende haben.«
»Wie bitte? Seid ihr plötzlich feuerfest … Aaaaah, ist das etwa eine Gesichtsspringerin? Geht weg von ihr!«
»Schon gut.« Ich streckte der Spinne meine rechte Hand hin. Sie sprang herauf und ließ sich auf die Handfläche sinken. Das Tier war ungefähr so schwer wie eine Orange. Während es mich mit seinen sechs Augen beobachtete, trat Fintan ein paar Schritte zurück.
»Ich weiß nicht, ob Ihr es schon gehört habt, Abhi, aber diese Dinger haben die Angewohnheit zu springen. Und zwar in Euer Gesicht.«
»Sie wird uns nicht beißen«, sagte ich. »Nicht wahr, meine Süße?«
»Süße?«
»Kränkt sie nicht. Lasst uns gehen.«
Wir stürzten uns ins Chaos. Einige Bewohner der Stadt versuchten, die Brände zu löschen, während andere in Richtung Fluss um ihr Leben rannten. Pinter Stuken hatte es zwar nicht vorsätzlich auf Menschen, sondern nur auf die Gebäude abgesehen, doch in denen saßen viele Leute fest. Es war nicht zu erkennen, wo sich die Furie befand. Er hätte jeder beliebige Feuerball auf einem der Dächer sein können.
Winthir Kanek war dagegen leicht auszumachen, als wir in die Straße einbogen, die zum Hafen führte. Er überragte alle um sich herum und hielt sich im Gehen den linken Arm. Die Leute strömten achtlos an ihm vorüber. In dieser Hafenstadt gab es viele Hathrim. Außer uns wusste keiner, was er getan hatte, und wahrscheinlich ahnte niemand, dass die Brände von einer Furie verursacht worden waren. Wenn ein Feuer ausbricht, ist die Frage, wer es gelegt hat, längst nicht so wichtig, wie es zu löschen oder den Flammen zu entkommen.
Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich meine Aufgabe war, den König zu rächen, aber ich konnte nicht zulassen, dass dieses Herdfeuer uns als Brennholz missbrauchte und dann flussaufwärts fuhr, um anderen das Gleiche anzutun.
»Spring sofort weg, wenn du fertig bist, Süße«, sagte ich zu der Spinne, als wir zu Kanek aufschlossen. »Ich bringe dich anschließend zum Kerker zurück.«