Tinte & Siegel - Kevin Hearne - E-Book
SONDERANGEBOT

Tinte & Siegel E-Book

Kevin Hearne

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Tote Schüler sind auf Dauer schlecht für den Ruf. Inzwischen frage ich mich, ob meiner noch zu retten ist.« Al MacBharrais Al MacBharrais ist gesegnet. Gesegnet mit einem ungewöhnlich schönen Schnurrbart, einem Sinn für kunstvoll gemixte Cocktails – vor allem aber mit einem einzigartigen magischen Talent. Er schreibt mit Geheimtinte kraftvolle Zaubersprüche. Und als ehrbarer Schotte setzt er alles daran, unsere Welt vor den schurkischen Knechten verschiedener Pantheons zu beschützen, im Besonderen vor Feenwesen, die alles andere als nett sind. Traurig, aber wahr: Al ist auch verflucht. Jeder, der seine Stimme hört, geht sofort mit unvorstellbarem Hass auf ihn los. So kann er nur schriftlich oder mit Sprach-Apps kommunizieren. Und schlimmer noch: Alle seine Lehrlinge starben bei höchst sonderbaren Unfällen. Fergus wurde bei den Highland-Spielen von einem schlecht geworfenen Baumstamm erschlagen, Ramsey wurde von schusseligen amerikanischen Touristen, die auf der falschen Straßenseite unterwegs waren, überfahren. Als sein letzter Lehrling Gordie tot in seiner Wohnung in Glasgow aufgefunden wird – er erstickte an einem rosinenhaltigen Gebäck –, entdeckt Al, dass Gordie ein geheimes, verbrecherisches Doppelleben führte und in einen schwunghaften Menschenhandel mit nichtmenschlichen Wesen verstrickt war ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 467

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dies ist der Umschlag des Buches »Tinte & Siegel« von Kevin Hearne, Friedrich Mader

Kevin Hearne

Tinte & Siegel

Die Chronik des Siegelmagiers 1

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ink & Sigil« im

Verlag Del Rey, Imprint von Random House, New York

© 2020 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung der Daten des Originalverlags

Illustration: © Sarah J. Coleman,

Art direction: David G. Stevenson

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98203-9

E-Book: ISBN 978-3-608-12080-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

1

 Vorsicht, Scones

2

 Erster Punkt auf der Tagesordnung

3

 Sei kein John MacKnob

4

 Verbotene Spirituosen

5

 Wiedersehen mit Buck

6

 Renfrew Ferry

Zwischenspiel: Wasserbären

7

 Die Siegelagenten

8

 Eine zarte Seele

9

 Auf den richtigen Hut kommt es an

10

 Manchmal sind Geisterhunde nicht genug

11

 Die mündliche Tradition

12

 Hausaufgaben

13

 Die Oberste unter den Feen

Zwischenspiel: Fischleim

14

 Ein Glas zum Träumen

15

 Manchmal sind Geisterhunde mehr als genug

16

 Der Zug nach Edinburgh

17

 Latte mit Wanze

18

 Ein vielschichtiger Oger

Zwischenspiel: Wenn die Galle hochkommt

19

 Der Spion, der aus dem Nichts kam

20

 Weegie Goth

21

 Die Hexe auf der Echse

22

 Das Geheimnis der Salsa

23

 Die bedingungslose Wahrheit

24

 Das Geheimlabor

Zwischenspiel: Ein braver Hund

25

 Drohungen und Waffeln

26

 Whisky und Käse für Lhurnog

27

 Der Fels von Gargunnock

28

 Die Feenmonster

29

 Die triefende Tiefe

30

 Fluch und Segen

Epilog

Der Raubzug

Glossar

Danksagung

1

Vorsicht, Scones

Tote Schüler sind auf Dauer schlecht für den Ruf. Inzwischen frage ich mich, ob meiner überhaupt noch zu retten ist.

Fergus wurde bei den Highland-Spielen von einem ungeschickt geworfenen Baumstamm erschlagen.

Abigail segelte über den Himmel, als ihr Fallschirm versagte.

Beatrice war Amateurmykologin und aß ein paar giftige Pilze.

Ramsey wurde von hirnlosen amerikanischen Touristen überfahren, die auf der falschen Straßenseite unterwegs waren.

Nigel machte Urlaub in Toronto, wo ihm ein Eishockeypuck den Schädel zertrümmerte.

Alice wurde bei einer Auseinandersetzung mit Fußball-Hooligans erstochen.

Und jetzt ist auch noch Gordie, der eigentlich meine Glückszahl sieben hätte sein sollen, heute an einem Scone erstickt. In dem Gebäck waren Rosinen, ziemlich bekloppt also, das Ding zu essen, da Rosinen verderbenbringende Perversionen sind. Er hätte es einfach besser wissen müssen. Unabhängig von den Zutaten sollte man sowieso nie ein Scone essen, wenn man allein ist. Armer kleiner Kerl.

An keinem dieser Todesfälle war ich schuld, und sie standen auch in keinem Zusammenhang mit der Ausbildung in meinem Fach. Das zumindest kann ich ins Feld führen.

Aber trotzdem. Bin ich überhaupt in der Lage, einen Nachfolger auszubilden? Allmählich kommen da Zweifel auf, vor allem bei mir. Dabei hätte ich gern in nicht allzu ferner Zukunft einen Nachfolger, zumal ich schon über sechzig bin und meine Zeit lieber an Stränden oder in Gärten verbringen würde – jedenfalls an einem Ort, wo ich öfter die Sonne sehe.

Schottland ist nicht unbedingt berühmt für seine Sonnenstunden. Die Highlands kriegen Jahr für Jahr zweihundertsechzig Tage Regen ab. Aber weil es nun mal keinen Spaß macht, sich die Schotten als ständig durchnässt auszumalen, werden wir in der Fantasie anderer Länder bevorzugt mit Kilts, Dudelsäcken und unsäglicher Küche dargestellt.

Der muskelbepackte Constable, der mit routinierter Standfestigkeit den Eingang zu Gordies Wohnung in Maryhill blockierte, hob die Hand, als ich mich an ihm vorbeischlängeln und nach dem Türknauf greifen wollte. Anscheinend hatte er keine Lust, mich auf höfliche Weise weiterzuschicken. »Hast du sie nicht mehr alle, du Bampot? Zieh Leine.«

»Das können Sie sich in den Furzer rammen, Constable. Der Inspector weiß, dass ich komme, also gehen Sie mir aus dem Weg.«

Tja, den Schotten eilt nicht umsonst der Ruf einer farbenfrohen Sprache voraus.

Mein Stock war in Wirklichkeit eine Waffe, die ein Mensch meines Alters offen mit sich führen durfte. Ich lehnte mich demonstrativ darauf, während ich meinen »offiziellen« Ausweis zückte und ihn dem Mann unter die Nase hielt. Es war keine Marke und auch sonst nichts Offizielles, bloß ein Stück Ziegenhautpergament, auf das ich mit sorgfältig zubereiteten Tinten drei Siegel geschrieben hatte. Jedes alleine hätte wahrscheinlich schon ausgereicht, und im Zusammenspiel ermöglichten sie einen praktisch unwiderstehlichen Hack des Gehirns über den Sehnerv. Die meisten Menschen waren empfänglich für Manipulationen über optische Medien – die Werbebranche war der beste Beleg dafür. Und Siegel nutzten diese kollektive Anfälligkeit noch auf weitaus wirksamere Weise aus.

Das erste, das Siegel des Durchlässigen Verstandes, war das wichtigste, weil es der Zielperson ihre Gewissheiten und Prioritäten nahm und sie offen für Vorschläge machte. Außerdem fiel es der Zielperson schwer, sich an die Geschehnisse der nächsten Minuten zu erinnern. Das nächste, das Siegel der Unumstrittenen Autorität, verlieh mir jede für den Verstand des Constables akzeptable Bedeutung. Das dritte, das Siegel der Raschen Einwilligung, sollte ihn dazu bewegen, sich jeder halbwegs vernünftigen Anweisung von mir zu fügen, und ihn dafür mit einem kräftigen Dopaminstoß belohnen.

»Lassen Sie mich durch«, wiederholte ich.

»Selbstverständlich, Sir.« Eilfertig trat er beiseite.

Jetzt hätte ich locker an ihm vorbeigekonnt, ohne ihn zu berühren, und jede weitere Bemerkung hätte sich erübrigt. Allerdings war ich der Meinung, dass ich ihm für sein flegelhaftes Benehmen von vorhin noch eine entsprechende Antwort schuldete. Also drängte ich ihn grob zur Seite und knurrte: »Ich hab deine Oma bestiegen.« Ohne seinen bösen Blick zu beachten, betrat ich die Wohnung.

Der Inspector drinnen wusste natürlich nichts von meiner Ankunft. Es war eine Frau in mittleren Jahren, die ein wenig müde wirkte, als sie sich bei meinem Eintreten umwandte. Immerhin war sie deutlich höflicher als der Constable. Sie hatte ihr Haar grau werden lassen, statt es sich zu färben, und das fand ich sofort sympathisch.

»Hallo. Und wer sind Sie?«

Ganz in seine Arbeit vertieft, machte ein Forensiker unbestimmten Geschlechts digitale Fotos – mit einer ans Gesicht gepressten richtigen Kamera statt mit einem Telefon oder Tablet. Erneut wandte ich den »offiziellen« Ausweis an und deutete auf den armen Gordie, der mit blau angelaufenem Gesicht auf dem Küchenboden lag. Von der jahrelangen Ausbildung, seinen Hoffnungen und meinen, war nur noch eine leblos hingestreckte Leiche übrig. »Erzählen Sie mir, was Sie über den Tod dieses Mannes wissen.«

Die Beamtin blinzelte rasch, als die Siegel ihre Wirkung ausübten. »Durch einen Unfall erstickt, soweit wir das erkennen können, außer der Drogentest ergibt, dass mit dem Scone was nicht in Ordnung war.«

»Natürlich war damit etwas nicht in Ordnung.« Ich fixierte das Überbleibsel des Scones auf einer Untertasse. »Es war mit Rosinen. Sonst noch was von Bedeutung?«

Sie deutete Richtung Gang. »Zwei Schlafzimmer, obwohl er allein gelebt hat. Ein Schlafzimmer voller Füller und Tinten. Ist mir noch nie untergekommen, so was. Ein Spinner anscheinend.«

»Genau. Deswegen bin ich auch hier. Ich muss das Zeug einschicken. Zur Überprüfung und so weiter.«

Wie eine Wolke zog Verwirrung über ihr Gesicht. »Davon hat er aber gar nichts getrunken.«

»Nein, nein. Das gehört zu einer anderen Untersuchung. Wir beobachten ihn schon seit einer Weile.«

»Wir? Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.«

»Aloysius MacBharrais. Sie können mich Al nennen.«

»Danke. Ich bin Detective Inspector Munro. Und Sie führen Ermittlungen zu den Tinten durch?«

»Aye. Toxische Chemikalien. Illegale Präparate. Alles, was in diese Richtung geht.«

»Na, dann mal los. Das Zimmer gefällt mir nicht. Irgendwas ist komisch da drin.«

Diese hingeworfene Bemerkung war eine dicke Warnung. Gordie hatte anscheinend mehrere aktive und ungesicherte Siegel am Laufen gehabt. Wie auch immer, all seine Tinten – mühsam und mit größter Sorgfalt aus seltenen Ingredienzen und latenter magischer Kraft hergestellt – mussten verschwinden. Die Welt brauchte garantiert keinen Constable, der zufällig ein Siegel der Entfesselten Zerstörung hinkrakelte. Nach ihrer Sicherstellung konnte ich die Sachen später analysieren, die gelungenen Mischungen aufbewahren und den Rest vernichten.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und trat in den Flur. Es gab drei Türen, eine davon führte bestimmt zum Klo. Nach der Anordnung lag es nahe, dass das die erste links war, daher peilte ich die zweite an und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Sein Schlafzimmer mit einem Schreibtisch und einer kleinen Ansammlung von Stiften, Tinten und Briefpapier – alles für die normale Korrespondenz. Ich nahm ein Blatt und zog einen Aurora 88 aus meiner Jackentasche. Der Füller enthielt eine rostfarbene Tinte mit Zinnober als Pigment und einer Mischung aus zermahlenen Perlen, Fischleim und dem Glaskörpergallert von Eulenaugen als Bindemittel. Zuerst zeichnete ich einen kleinen Kreis, um die Wirkung auf mich zu lenken, dann skizzierte ich in raschen Zügen das Siegel der Geschirmten Sicht, das einem roten Auge hinter Gitterstäben glich. Mit seiner Vollendung trat das Siegel in Kraft, all meine Farbrezeptoren wurden inaktiv, und ich sah nur noch schwarzweiß. Das war ein grundlegender Schutz vor ungesicherten Siegeln. Solange er aktiv war und ich ihn nicht zerstörte, konnten sie mir nichts anhaben. Das hatte mich schon zahllose Male vor Schäden bewahrt.

Den Stock abwehrend erhoben, hielt ich das Siegel in der linken Hand und öffnete die Tür zu Gordies Arbeitszimmer. Sofort stach mir eine faulig miefige Schwade in die Nase, und ich fragte mich, weshalb Inspector Munro kein Wort darüber verloren hatte. Es roch nach verschwitztem Hodensack. Und nicht nur nach einem. Eher schon nach zehn.

»Boah.« Ich hustete zweimal, um den Geruch aus der Lunge zu bekommen. Ein Kichern aus der Küche verriet mir, dass die Beamtin ihn absichtlich verschwiegen hatte. Kein Wunder, dass sie mich so umstandslos weitergeschickt hatte. Ich war ihrer scheinbaren Höflichkeit auf den Leim gegangen und in eine olfaktorische Falle getappt.

Zum Glück hatte ich wenigstens meine Sicht geschützt. Gordie hatte weit mehr als nur ein paar Siegel hinterlassen. Das Zimmer war voll davon, als Bann gegen unterschiedliche Kräfte. An zwei Wänden zogen sich Werkbänke und Stühle aus Rohholz hin, und links schimmerten etikettierte Tinten und Ingredienzen in offenen Fächern. Die Hauptbank für die Tintenzubereitung gegenüber der Tür war übersät mit Flecken von Pigmenten, Ölen und Bindemitteln, und auf ihr standen weitere zugestöpselte Fläschchen Tinte. Es gab ein beschriftetes Gestell für Füllfedern, Papierablagen, Karten für Siegel, dazu Stempelwachs, einen Schmelzlöffel und eine Schachtel Streichhölzer. Mehrere an die Wand geklebte Karten trugen erkennbare Siegel für eine Einschränkung der Sicht und Aufmerksamkeit, die mich – und jeden anderen, der hier eintrat – von allem ablenken sollten, das sich in der rechten Hälfte des Zimmers befand. Deswegen hatte sich Inspector Munro so unbehaglich gefühlt. Sie hatte gespürt, dass hier irgendetwas war und es wahrscheinlich auch wahrgenommen, doch die Siegel hinderten ihren Verstand daran, diese Eindrücke zu verarbeiten. Meine geschirmte Sicht setzte die Siegel außer Kraft, daher konnte ich ohne Weiteres erkennen, dass da ein ächzender Hobgoblin versuchte, sich aus einem Käfig auf der Werkbank zu befreien. Dieser Anblick verschlug mir die Sprache.

Ihrem Temperament nach sind Hobgoblins eher schelmisch als boshaft, und darin unterscheiden sie sich auch von normalen Goblins oder Kobolden. Sie sind außerordentlich schwer zu fangen, weil sie über kurze Distanzen teleportieren können und dank ihrer kräftigen Oberschenkel äußerst wendig und zu beeindruckenden Senkrechtsprüngen fähig sind.

Der hier bemühte sich, eines von mehreren Siegeln zu erhaschen, die auf kleinen Metallständern um seinen Käfig gruppiert waren wie Fassbierlisten auf einem Pubtisch. Mit langen, behaarten Fingern grapschte er nach dem Siegel, das ihm am nächsten war. Falls es ihm gelang, es zu erreichen und zu zerreißen, bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit zur Flucht, weil ihn die Siegel viel wirksamer festhielten als der Käfig.

Er erstarrte, als er bemerkte, dass ich ihn mit offenem Mund angaffte. »Was is’?«

Ich schloss die Tür hinter mir. »Was machst du denn hier?«

»Ich sitze in einem Käfig, spannst du das nich’? Du musst ja ’n wahrer Ausbund schottischer Intelligenz sein. Kann doch nirgends anders sein, wenn ich nich’ frei bin, du verschimmeltes Genie. Aber wenigstens kannst du mich sehen und hören. Die Schnepfe vorhin hat voll an mir vorbeigeglotzt.«

»Nein, ich meine, warum hat er dich in einen Käfig gesperrt?«

Der Bursche schien kein irgendwie besonderer Hobgoblin zu sein, dessen Gefangennahme oder Studium sich gelohnt hätte. Er war klein und haarig, und sein Gesicht wurde geprägt von einem kantigen Kinn, einer fleischigen Nase und Augenbrauen, die unbeschnittenen Hecken ähnelten. »Er is’ ein ganz gemeiner Schweinehund, deswegen. Oder war. Er is’ hin, oder? Woran is’ er denn gestorben?«

»An einem Rosinenscone.«

»Dann war’s also Selbstmord.«

»Nein, ein Unfall.«

»Er hat das Rosinenscone doch wohl nich’ zufällig gegessen, oder? Also war es Selbstmord.«

Achselzuckend räumte ich die Möglichkeit ein. »Und wer bist du?«

»Ich bin der glückliche Hob, den du jetzt befreien wirst. Außer du bist genauso wie er.«

»Ich bin nicht wie er. Das fängt schon mal damit an, dass ich noch lebe. Du antwortest jetzt ehrlich auf meine Fragen, Schluss mit dem Rumgerede. Wer bist du, und warum hat dich Gordie hier gefangen gehalten?«

»Wollte mich verkaufen, hat er gesagt. Er is’ ein Feenhändler, ja, das is’ er. Oder er war’s zumindest.«

»Unsinn.« Ich pochte mit dem Stock auf den Boden. »Raus jetzt mit der Sprache!«

Der Hobgoblin richtete sich so gerade auf, wie es in dem Käfig ging – er war nur ungefähr sechzig Zentimeter groß – und legte die rechte Hand aufs Herz. Dann verwendete er die Formulierung, mit der alle Feenwesen zum Ausdruck brachten, dass sie die Wahrheit sprachen: »Ich sag’s dir dreimal, Mann. Er hat einen Käufer. Heute Abend sollte ich geliefert werden. Und ich bin nich’ der Erste, den er verkauft. Vor zwei Tagen war eine Pixie hier, is’ aber nich’ lang geblieben.« Er deutete auf einen etwas kleineren Käfig neben seinem.

Diese Auskunft war für mich sogar noch schockierender als Gordies Tod. Von den vielen Schülern, die mir weggestorben waren, hatte keiner sein Wissen über Siegel benutzt, um mit Feenwesen zu handeln. Das Beseitigen der Tinten und Füllfedern meiner alten Schüler war immer eine traurige Pflicht gewesen, weil sie als reine Seelen dahingegangen waren, die nur Gutes hatten tun wollen. Die Situation hier jedoch legte den Schluss nahe, dass man Gordie nicht zu diesen Seelen zählen konnte. Feenhandel? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es so was gab.

»Aber … wir sollen deinesgleichen doch zurück in die Feengefilde verfrachten, sobald ihr euch hier zeigt.«

»Wir, sagst du? Dann bist du also wirklich wie er. Bloß mit einem affigen Dandy-Schnurrbart, schön gewachst.«

Ich musterte ihn und überlegte, wie ich reagieren sollte. Von nackter Aggression hielten Hobgoblins nicht viel. Dafür hatten sie diesen jungenhaften Humor, den auch ich ins Spiel bringen konnte, wenn es die Situation erforderte. »Er ist nicht affig. Er ist üppig und voluminös, genau wie deine Ma.«

Der Hobgoblin gackerte los, und ich bemerkte, dass er auffallend weiße und gerade Zähne hatte. An einem Trugzauber konnte es nicht liegen, weil mein Blick noch geschirmt war. Also hatte er sie sich herrichten lassen. Seit wann zahlten Hobgoblins für kosmetische Zahnbehandlungen? Auch seine Kleidung war bemerkenswert. Trotz meiner farblich eingeschränkten Sicht konnte ich erkennen, dass er ein Paisley-Wams mit einer Kette trug, die offenbar zu einer Uhr in seiner Tasche führte. Darunter kein Hemd. Auf die rechte Schulter war eine Triskele tätowiert, wie man sie mit Druiden assoziierte. Schwarze Jeans und klobige schwarze Stiefel. Vielleicht war er doch kein ganz gewöhnlicher Hobgoblin.

Seine Augen glitzerten amüsiert. »Komm schon, Alter. Lass mich raus.«

»Gleich. Du hast mir noch immer nicht deinen Namen verraten.«

»Wozu? Willst du mir zum Julfest Blumen schicken?«

»Ich muss dich binden, damit du auch ganz sicher verschwindest.«

»Aber dann kannst du mich in Zukunft für alles andere binden, was dir einfällt. Diese Macht werde ich dir nich’ geben. Meine aktuelle Lage hat mich ein bisschen misstrauisch gemacht.«

»Und ich kann keinen Hobgoblin in einem Zimmer voller Bindetinten freilassen. Weißt du vielleicht, wer dich kaufen will? Oder warum?«

Der Hobgoblin schüttelte den Kopf. »Nein. Bloß dass dein kleiner Gordie da drüben einen Stoß Papiere hatte, in denen er immer rumgekramt und dazu vor sich hin gemurmelt hat. Die Schnepfe hat einen Blick drauf geworfen und gesagt, alles Quatsch. Aber vielleicht kann ein alter Knacker wie du mehr damit anfangen. Siehst aus, wie wenn du mal zur Schule gegangen wärst, als deine Haare noch nich’ so weiß waren wie Lilien.«

Ich trat zur Werkbank und überflog die Papiere darauf. Offenbar hatte Gordie hier Siegel zum späteren Gebrauch vorbereitet. Leider entdeckte ich keine hilfreiche Erklärung seiner geschäftlichen Angelegenheiten. Möglicherweise hatte der Hobgoblin sich das alles bloß ausgedacht – irgendwie hoffte ich das sogar, denn andernfalls war Gordie tatsächlich ein gemeiner Schweinehund gewesen und ich ein kompletter Idiot. Fest stand auf jeden Fall, dass mein Schüler in diesem Zimmer ziemlich beeindruckende Siegelarbeiten ausgeführt hatte. Arbeiten, die eigentlich seine Fähigkeiten überstiegen. Es gab Siegel, die ich ihm noch gar nicht beigebracht hatte – zum Beispiel das der Eisengalle. Dass er offenbar Geheimnisse vor mir gehabt hatte, machte mir nichts aus, weil das bei Schülern ganz normal war. Viel mehr Sorgen bereitete mir, dass ihn offenkundig jemand hinter meinem Rücken unterrichtet hatte.

»Ich glaub, ich weiß jetzt, wer du bist«, meinte der Hobgoblin hinter mir. »Da läuft doch angeblich so ein schottischer Siegelagent mit gewachstem Schnurrbart rum. Heißt du zufällig MacNärrisch oder so?«

»MacBharrais.«

»Ah, also hab ich recht. Hab gehört, dass du ein schlaues Kerlchen bist. Andererseits, wenn du dir von diesem Wichser Gordie auf der Nase rumtanzen lässt, dann bist du vielleicht doch nich’ ganz so schlau, oder, Kumpel?«

Vielleicht. Auf einem Kritzelblock hatte Gordie vor dem Zeichnen der Siegel mit Strichen den Tintenfluss überprüft. Dort war notiert: Renfrew Ferry, 20:00 Uhr.

»Du sagst, du hättest heute Abend abgeliefert werden sollen? Um acht vielleicht?«

Statt einer Antwort hörte ich ein Ächzen und das Zerreißen von Papier. Ich drehte mich um und sah einen triumphierenden Hobgoblin, der sich gerade aus dem Käfig befreite, nachdem er eins der Siegel zur Schwächung seiner Magie zerstört hatte. Eigentlich war das ein Ding der Unmöglichkeit, weil er von mehreren Siegeln dieser Art umringt war. Anscheinend war die Kraft aus der Tinte gewichen. Im Grunde kein Wunder, da Gordie tot war und nicht mehr aufpassen konnte.

Kichernd und mit blitzenden weißen Zähnen sprang der Hobgoblin vom Tisch und sauste zur Tür. Ich war schlecht postiert und viel zu langsam; ich hatte nicht einmal mehr Zeit, ein vorbereitetes Siegel der Agilen Grazie anzuwenden.

»Bis später, MacNärrisch!« Er flitzte durch die Tür. Kurz darauf hörte ich ein Klatschen und Schreie, gefolgt von dem Ausruf: »Bin froh, dass du tot bist!«, bevor sich in der Küche schockiertes Schweigen ausbreitete. Viel zu spät trat ich aus dem Zimmer und bemerkte Inspector Munro und den Forensiker, die auf dem Boden hockten und sich die Nase hielten. Der Hobgoblin war aus reinem Spaß herumgehüpft und hatte die Fäuste fliegen lassen. Gordies Leiche hatte offenbar einen Tritt eingesteckt und lag jetzt völlig verdreht da. In seinem Gesicht malte sich starres Staunen über sein plötzliches Ende. Sein Haar war zerstrubbelt, und er hatte mehrtägige Stoppeln an Hals und Wangen. Die blauen Augen hatte er weit aufgerissen – vielleicht vor Entsetzen, weil man ihn tot in seinem Ewok-Schlafanzug auffinden würde.

»Das glaub ich jetzt nicht!«, rief Inspector Munro. »Was war das denn gerade? Ein rosa Leprechaun?« Außerhalb von Gordies Tintenzimmer hatte sie den kleinen Scheißer mühelos ausmachen können.

Dank meiner eingeschränkten Sicht war mir seine Hautfarbe natürlich entgangen, also merkte ich mir diese Information zur späteren Verwendung. Munros Blick fiel auf mich, und in ihren Augen blitzte Zorn auf, als sie sich erhob. Jetzt stürmte auch noch der Constable herein, der sich ebenfalls die Nase hielt. All diese Leute störten mich hier, weil ich dringend Gordies gesamte Wohnung auf Spuren und Hinweise untersuchen musste.

Bevor sie sich auf mich stürzen konnten, zückte ich den »offiziellen« Ausweis und verpasste ihnen die volle Breitseite. »Diese Wohnung muss sofort geräumt werden! Sie verschwinden jetzt und kommen morgen wieder. Das ist ein Befehl. Los! Arbeitet an was anderem!«

Unter dem Eindruck der Siegel verkrümelten sie sich. Wahrscheinlich würden sie schon bald wieder auftauchen, wenn ihnen einfiel, dass jemand sie auf die Nase geboxt hatte und dass sie Antworten wollten. Davor musste ich meine Antworten schon gefunden haben.

Gordie hatte mich gewissermaßen im Halbschlaf überrumpelt – aber jetzt war ich hellwach.

2

Erster Punkt auf der Tagesordnung

Nachdem die Polizei verschwunden war, musste ich ununterbrochen blinzeln, und nach ein paar Sekunden wurde es richtig nervig. Wahrscheinlich eine instinktive Reaktion, der Versuch, wieder einen klaren Blick zu bekommen, nachdem man mich so offensichtlich aufs Kreuz gelegt hatte. Außerdem zeigte es mir, dass in meinem Kopf alles drunter und drüber ging. Keine guten Voraussetzungen für eine besonnene Analyse der Situation. Also zog ich meinen Mantel aus – ein langes, lohfarbenes Kleidungsstück, das mir einen noblen und gepflegten Anstrich verlieh, auch wenn es darunter etwas unordentlicher zuging –, stellte meinen Stock ab und ließ meine alten Knochen mühsam auf das Parkett sinken. Als ich saß, zog ich ohne Rücksicht auf die jammernden Knorpel die morschen Schenkel mit den Armen in die Lotusposition. Dann konzentrierte ich mich ganz auf meinen langsamen Atem, bis alle Hektik von meinem Verstand abfiel. Meditation bewirkte wahre Wunder für mich, die mit Siegeln nicht erreichbar waren: eine andere Methode zum Hacken des Gehirns.

Ruhig und bereit für die vor mir liegende Arbeit, erhob ich mich unter leisem Ächzen und nahm mir die Freiheit, das Knacken und Krachen in meinen Gelenken als Zeichen besonderer Charakterstärke zu deuten. Auf dem Handy schaute ich nach der Uhrzeit: 14:45. Nadia war also noch im Dienst. Über die Signal-App schickte ich ihr knappe Anweisungen:

Notsituation in Gordies Wohnung an der St. George’s Road. Du musst sofort kommen.

Ich trat über den Toten zur Küchenspüle und öffnete den Schrank darunter. Dort erwartete mich ein Abfalleimer voller Sardinenbüchsen – Gordies beklagenswerte Vorliebe, wegen der er ständig nach Fisch stank – und daneben eine Packung Müllbeutel. Der Geruch erinnerte mich an meinen ersten Schüler Fergus, der ebenfalls eine Schwäche für Sardinen gehabt hatte. Ich spürte ein Ziehen in der Brust und ein Kitzeln in den Augenwinkeln. Man musste nur lang genug leben, dann holten einen die Menschen aus der Vergangenheit wieder ein, Jahre nachdem sie einen zurückgelassen hatten.

Ungeduldig wischte ich mir die Augen und steuerte mit mehreren Beuteln auf das Arbeitszimmer zu. In diesem Moment vibrierte in meiner Tasche das Telefon mit einer Nachricht von Nadia. Hab heute frei. Wenn ich wegen dir zu spät zur Hochzeit meines Bruders komme, lass ich mir deine Eier braten und mit Mayo servieren.

Ich zuckte zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie nicht in der Arbeit war. Ihre Wohnung lag nicht allzu weit entfernt – ganz in der Nähe der Subway-Station Kelvinbridge –, bloß mit dem Verkehr war das immer so eine Sache. Dann drück auf die Tube, schrieb ich mit den Daumen. Die Frau, die er heiratet, magst du doch sowieso nicht.

Stimmt. Und von mir aus kann sie mit ihrem Wackelpo bei einem Betriebsunfall ins Gras beißen. Aber ich liebe ihn, verstehst du?

Schreib nicht beim Fahren. Du fährst doch schon, oder?

Ich rasier dich so glatt wie einen Delfin!

Ich runzelte die Stirn. Damit drohte mir Nadia nur, wenn sie ernsthaft erbost war. Zum Glück hatte sie bisher noch nie mit ihrem Rasiermesser vor meinem Gesicht herumgefuchtelt, und ich wollte ihr auch nicht das Gefühl vermitteln, dass es dafür allmählich Zeit wurde.

Setz den Hut auf, den ich dir zum Täuschen der Kameras gegeben habe.

Genau. Mach dich schon mal auf eine nackte Oberlippe gefasst.

Ich musste davon ausgehen, dass sie Gordie gemocht hatte und die Nachricht schwer aufnehmen würde. Auch ich hatte ihn gemocht, bis ich vor ein paar Minuten erfuhr, dass er das von mir Gelernte benutzt hatte, um andere auszubeuten und sich zu bereichern.

Im Arbeitszimmer vernichtete ich zuerst Gordies sämtliche Siegel. Ich riss sie in der Mitte durch und stopfte die Fetzen in einen Beutel. Danach konnte ich endlich das Siegel der Geschirmten Sicht deaktivieren und sah wieder normal. Für alle Fälle notierte ich jedoch in einer App auf meinem Telefon, welche Siegel er ohne meine Hilfe geschaffen hatte. Auf dem ganzen Planeten gab es außer mir nur vier Leute, die ihm das beigebracht haben konnten, und ich hatte vor, sie mir ordentlich zur Brust zu nehmen.

Als Nächstes trat ich an das Regal mit Fächern und räumte sie rücksichtslos leer, eins nach dem anderen, bis zum letzten verschlossenen, sorgfältig etikettierten Fläschchen Tinte. Diese Tinten – in deren Herstellung ich ihn nie unterwiesen hatte – passten zu den Siegeln, die eigentlich seine Kenntnisse überstiegen. Ich machte mir keine Sorgen, dass die Fläschchen Schaden nehmen könnten, als ich sie in den Beutel kippte. Sie waren aus dickem Glas und gingen nur zu Bruch, wenn man es wirklich darauf anlegte.

Auch sein Vorrat an Tinteningredienzen ging weit über das hinaus, was sich in seinem Besitz hätte befinden dürfen. Mit Sicherheit hatte er nicht die Befugnis zum Sammeln von Ganglien des Gemeinen Perlboots für Manannans Tinte gehabt und auch nicht die Zeit zum Suchen von Bananenschneckenschleim für eine äußerst rare Tinte namens Zinnoberbart. Und wie bei den neun Höllen war er überhaupt an Ganglien des Gemeinen Perlboots herangekommen? Nicht einmal ich hatte davon einen Vorrat! Wenn er sie von jemandem bezogen hatte, musste ich wissen, von wem. So oder so, der Kauf dieser Sachen hatte sicher einiges gekostet, und das Geld stammte sehr wahrscheinlich aus dem Feenhandel. Man musste damit irrsinnige Summen verdienen können, sonst wäre er das Risiko nicht eingegangen. Die robusten Ingredienzenbehälter verschwanden im nächsten Beutel.

Auch die Füllfedern und diversen Tintenfläschchen auf der Werkbank sackte ich ein, während ich darüber nachsann, wo er wohl das Geld aus dem illegalen Handel versteckt hatte. Da war wohl eine genaue Buchprüfung fällig – höchstwahrscheinlich auch mit Hackermethoden. Im Schlafzimmer stopfte ich Gordies Notebook, Telefon, Ladegeräte und zwei USB-Sticks in einen Beutel, dazu Notizbücher, Korrespondenz und Schriftstücke von seiner Hand.

Zum Glück kannte ich jemanden, der bereit war, das erforderliche Hacken im Austausch gegen einige Siegel zu übernehmen: ein absolut durchgeknallter, aber ansonsten zuverlässiger Typ, der unter dem absonderlichen Pseudonym Saxon Codpiece auftrat. Ich war mir nicht sicher, ob er die Siegel später für enorme Summen weiterverkaufte oder sie zum eigenen Gebrauch behielt. Für alle Fälle achtete ich immer darauf, dass ich ihm nur harmlose Stücke überließ.

Dass Nadia eingetroffen war, merkte ich, als ich sie am Eingang fluchen hörte.

»O nein, Al, du hast schon wieder einen verloren? Der arme Gordie! Was ist denn diesmal passiert … Ach du Scheiße, Rosinen! Was für eine sinnlose Art, den Löffel abzugeben.«

Normalerweise hüllte sie sich in eine Sinfonie aus Schwarz. Dazu gehörten ein Lippenstift mit dem fröhlichen Markennamen Vaters Asche und ein Nagellack, der Satans Schwärzestes Loch hieß, wie sie mir glaubhaft versichert hatte. Doch heute trug sie die farbenprächtigen Kleider und Schmuckstücke einer traditionellen indischen Hochzeitsfeier mit Sari, Sandalen und allem Drum und Dran. Ihr Haar – üblicherweise in der Mitte zu Stacheln frisiert und an den Seiten abgeschoren – war kunstvoll an den Schädel geklebt, um die rasierten Flächen zu bedecken, und darüber hinaus mit einem edelsteingeschmückten Kopfputz in Form einer Schwimmmütze getarnt. Beim Schminken hatte sie sich nicht mit Lidstrich begnügt, und sogar Lippen und Fingernägel waren knallrot bemalt. Letzteres ging ihr offenbar am meisten auf den Wecker, denn ihr Blick folgte meinem zu dem Hut in ihrer Hand, den sie auf meine Anweisung hin beim Betreten des Gebäudes aufgesetzt hatte.

»Kein Wort über meine Nägel, Al. Oder über sonst was. Ich liebe meinen kleinen Bruder, das ist der einzige Grund für das ganze Zeug. Ich muss die Familie seiner Braut überzeugen, dass ich total normal bin und nichts mit okkulten Sachen am Hut habe. Außerdem tue ich so, als ob sich mein Uterus verzweifelt nach einer neunmonatigen Belegung mit dem Sperma irgendeines Kerls sehnt und ich im Moment bloß zu beschäftigt für so was bin. Alles klar?«

Ich nickte und öffnete die App, die Schrift in Sprache umsetzte. Nadia hatte mich in den zehn Jahren ihrer Tätigkeit als meine Managerin kaum laut reden hören, weil ich wegen des auf mir lastenden Fluchs nicht lange mit Menschen sprechen konnte, wenn ich die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten wollte. Schon nach wenigen Tagen hätten sie angefangen, mich zu hassen, und ihr Groll wäre mit jeder weiteren Äußerung von mir immer stärker gewachsen.

Ich kann wahrlich ein Lied davon singen, wie schrecklich es ist, auf diese Weise die eigene Familie zu verlieren.

Bevor ich erkannte, was mir widerfahren war, hatten sich mein Sohn und die meisten meiner Freunde mit mir entzweit. Zuerst führte ich das einfach auf meine Unausstehlichkeit zurück. Doch dann sagte ich mir, dass die Schotten schon viel Schlimmeres als mich ertragen hatten und dass da noch ein anderer Faktor im Spiel sein musste. Eine befreundete Hexe in den Highlands erkannte schließlich, dass ich mit einem Fluch belegt war, konnte ihn aber weder vertreiben noch seinen Urheber bestimmen. Inzwischen wusste ich, dass ich den meisten Leuten gegenüber stumm bleiben musste, solange der Fluch nicht von mir genommen wurde.

Die App verfügte nicht über einen Glasgower Akzent. Immerhin gab es eine Londoner Sprechweise, sodass ich wenigstens klang wie ein Brite.

[Danke fürs Kommen], sagte die App für mich in ihrer leicht gespreizten Diktion. [Du musst Gordies Tinten und sein anderes Zeug an einen sicheren Ort bringen, dann kannst du zur Hochzeit deines Bruders fahren. Wir sehen uns morgen. Dann können wir reden.]

»Mist.« Sie kniff sich in den Nasenrücken, wie um aufziehende Kopfschmerzen abzuwehren. »Also schön, wo ist der Scheiß, den ich verstauen soll?«

Ich reichte ihr die Beutel und nickte ihr dankbar zu.

»Dafür will ich eine Gehaltserhöhung, Al.«

Meine Daumen flogen über das Display des Telefons, dann redete wieder die Stimme der App. [Okay, morgen der erste Punkt auf der Tagesordnung.]

Ihre Augen leuchteten entschlossen auf, und sie legte mit zwei Fingern und erhobenem Daumen auf mich an. »Erster Punkt auf der Tagesordnung.«

Sie wusste es nicht, aber sie konnte so gut wie alles von mir verlangen. Sie hütete meine Geheimnisse, führte die Bücher meiner Druckerei und verpasste jedem, der es nötig hatte, einen Tritt in den Arsch. Mit anderen Worten, sie war die perfekte Managerin und nicht selten sogar mein Chef.

Nachdem Nadia gegangen war, musste ich mir nur noch den Computer, das Handy und die Papiere schnappen, die leicht in einer Umhängetasche Platz hatten. Ach ja, und da waren auch noch die zwei Käfige, mit deren Hilfe es vielleicht möglich war, die Pixie oder den Hobgoblin aufzuspüren. Beide konnte ich nicht mitnehmen, und ich bezweifelte, dass ich vor der Rückkehr der Polizei die Gelegenheit zu einem weiteren Beutezug haben würde. Also entschied ich mich für den Käfig des Hobgoblins, weil der – zumindest vor wenigen Minuten – noch gelebt hatte. Das Schicksal der Pixie hingegen war ungewiss.

Bevor ich aufbrach, stellte ich mich vor Gordie und sprach die reglose Gestalt laut an, weil es jetzt keine Rolle mehr spielte. »Also, ich zieh jetzt los, weil ich rausfinden muss, wie groß der Kackhaufen ist, den du hier hinter meinem Rücken hinterlassen hast. Bestimmt werde ich bald jede Menge Gründe haben, deinen Namen zu verfluchen. Trotzdem möchte ich dir eins mitgeben, Gordie, falls dein Geist hier noch irgendwo rumlungert. Diesen Tod hätte ich dir nie im Leben gewünscht. Sich ganz allein an einem Rosinenscone zu verschlucken, in dem Wissen, dass es keine Hilfe gibt und dass du in der nächsten Minute ersticken wirst – das ist wirklich grauenvoll, und es tut mir unendlich leid. Vielleicht werde ich dir wünschen, dass du in der Hölle schmorst, nachdem ich rausgefunden habe, was du getrieben hast, aber jetzt hoffe ich erst mal, dass du deinen Frieden gefunden hast.«

Mit einem endgültigen Klacken, das durch den Gang hallte, schloss sich die Tür zu seiner Wohnung, und ich musste mir erneut die Augen wischen. Solche Momente – die erdrückende Stille nach dem Tod, wenn mir klar wurde, dass ich wieder mal ein wenig einsamer auf der Welt war als zuvor – trafen mich immer schwerer als die erste Nachricht.

Sieben Schüler, verdammt noch mal.

3

Sei kein John MacKnob

Hamlet hatte recht mit seiner Bemerkung an Horatio, dass es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als seine Schulweisheit sich träumte. Zum einen gab es weit mehr Gefilde als nur Himmel und Erde. Die Feengefilde, die nordischen Gefilde, die Gefilde aller erdenklichen Pantheons … In ihnen wimmelte es nur so von Geschöpfen, Geistern und Gottheiten, die sich über ihre Rechte im Hinblick auf Besuche der Erde orientieren mussten. Als Faustregel galt, dass die menschlichen Verantwortlichen sie überhaupt nicht auf der Erde haben wollten, weil das die Vorstellung erschüttert hätte, dass die Menschen das Sagen hatten. Diese Position hatte seit Jahrhunderten Bestand, wir mussten uns also nicht mit jeder neuen Regierung beraten. Wenn es dennoch zu Besuchen von Wesenheiten aus anderen Gefilden kam, sollten diese beaufsichtigt oder zumindest überwacht werden.

In umgekehrter Richtung traf das in noch viel stärkerem Maße zu. Menschen, die sich durch Zufall oder durch ein missglücktes arkanes Ritual in andere Gefilde verirrten, kehrten nur selten zurück. Sie brauchten einen Führer und eine Erlaubnis.

Mit dem Internet ging es mir ganz ähnlich. Ich betrachtete es ebenfalls als eine Art Gefilde, weil es dort haufenweise Regeln gab und man nicht ohne einschlägige Kenntnisse darin herumpfuschen sollte. Selbst wenn man dort nur einkaufte oder Selfies postete, musste man damit rechnen, dass diese Aktivitäten verfolgt und dass persönliche Daten abgeschöpft und verkauft wurden. Wer einen Fuß in die Hölle geschützter Daten setzen wollte, konnte auf einen Hacker genauso wenig verzichten wie Dante auf Vergil.

Als ich Nadia vor einigen Jahren mitteilte, dass ich einen Hacker benötigte, meldete sie sich erst nach mehreren Tagen zurück. Dafür hatte sie einen Namen, eine Uhrzeit und einen Treffpunkt.

»Saxon Codpiece, Mittag, im Tchai-Ovna.«

[Er heißt wirklich …]

»Saxon Codpiece. Er mag es, wenn man beide Namen wie einen eigenen Ausruf betont, als wäre er ein Superheld oder so eine Comicfigur. Wie Saxonnn! Codpiece! Wenn du das machst, hast du gleich einen Stein im Brett bei ihm.«

[Ist er wegen irgendwas in Behandlung?]

»Keine Ahnung. Bin ihm nie begegnet. Ist wahrscheinlich bloß eine absurde Nummer, damit die Leute glauben, das kann’s ja gar nicht geben, weil es so lächerlich ist.«

[Aha. Ich dachte immer, Hacker haben Namen mit Zahlen oder so was in der Art.]

»Das ist, wie wenn man ein schnelles rotes Auto fährt und sich trotzdem nicht von der Polizei erwischen lässt. Dieser Typ ist langfristig im Geschäft. Geh einfach hin. Er ist nicht gefährlich.«

Der Mann, der hinten im Tchai-Ovna aufragte – einer tschechischen Teestube in der Nähe der Universität, der ständig Abriss und Sanierung drohten –, war volle zwei Meter groß. Drahtig und dunkelhaarig mit braunen Augen. Er trug, was die Jungen heute als Vintage und ich als Kleider bezeichneten. Damit meine ich die Punkkluft der Siebziger, auf die ich gestanden hatte, als ich jung war: zerrissene Jeans, Sicherheitsnadeln und jede Menge Reißverschlüsse und Knöpfe an der Lederjacke. Nach seiner Blässe zu urteilen, litt er unter einem chronischen Vitamin-D-Mangel, den er mit grellen Tattoos von den Handgelenken bis hinauf über die Arme überspielte. Die Unterseite seiner Nase war rot, und er wischte schniefend mit einem Taschentuch darüber.

»Bin erkältet, tut mir leid.« Ohne Aufforderung faltete er sich in einen Stuhl und verzichtete zum Glück darauf, mir die Hand anzubieten. »Alle Systeme sind anfällig gegen Viren, hm?« Er fixierte mich, und ein Mundwinkel wanderte nach oben. »Fantastischer Schnurrbart, Kumpel. Al, richtig?«

»Genau.«

»Voll der Wahnsinn. Ach so, hier meine Karte.« Er legte mir eine weinrote Visitenkarte hin und tippte zur Betonung zweimal darauf. Es waren nur zwei Zeilen in Großbuchstaben ohne Serifen, die untere deutlich kleiner.

SAXON! CODPIECE!

PROFESSIONELLER WICHSER

Ich lachte. »Dann sind wir anderen also bloß Amateure?«

»Wenn du nicht dafür bezahlt wirst wie ich, bist du ein Amateur.«

»Du musst dich in den dunkelsten Winkeln des Internets rumtreiben.«

»Gelegentlich, ja. Aber ich verbringe auch viel Zeit mit harmlosen Sachen. Katzenvideos, weißt du. Ausgewachsene blökende Ziegen, tanzende Ziegenbabys und Ziegen überhaupt sind ohne Ende unterhaltsam. Das verjüngt die Seele.«

»Schön. Bist du auch diskret?«

»Wegen dem Gewichse? Nein, eigentlich bin ich alles andere als diskret. Ich filme es und erziele damit ein ansehnliches Einkommen, weil ich einen ziemlich ansehnlichen …«

»Nein, nein, nein. Klappe jetzt. Deswegen bin ich nicht hier. Ich meine, bist du diskret, was deine Kunden und die Informationen angeht, auf die du stößt?«

»Ach so. Ja, absolut. Glückwunsch, du hast den Test bestanden.«

Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich einen Test ablegte. Jetzt, da ich ihn schon bestanden hatte, musste ich mir deswegen jedenfalls keine grauen Haare mehr wachsen lassen. Wir wandten uns der Angelegenheit zu, deren Erledigung mir am Herzen lag. Er regelte die Sache schnell und gut, und ich bezahlte ihn auf gleiche Weise. Bei unserem zweiten Treffen im Tchai-Ovna bot ich ihm eine andere Art von Vergütung an, denn er hatte gefragt, womit ich meinen Lebensunterhalt bestritt.

Ich erklärte es ihm. »Offiziell führe ich eine Druckerei an der High Street. In Wirklichkeit bin ich ein Siegelagent.«

»Was bist du?«

»Das ist so wie bei deinem Geschäft. Offiziell bist du ein Wichser im Internet. Doch in Wahrheit bist du ein Hacker.«

»Klar, aber ich wollte wissen, was ein Siegelagent ist.«

»Ich schreibe und vollstrecke magische Verträge mit Siegeln. Das sind mit Macht gesättigte Symbole, die zu bemerkenswerten Dingen fähig sind. Soll ich es dir vorführen?«

»So ähnlich wie Kartentricks?«

»Nein, ich meine so was.« Ich zog ein vorbereitetes Siegel der Unumstrittenen Autorität aus der Jacke, erbrach es und hielt ihm das Zeichen vor die Nase, nachdem ich die Klappe hochgeschoben hatte. Er zuckte zusammen und schluckte. Dann verlangte ich, dass er mir alles Geld in seiner Brieftasche aushändigte. Er hatte ungefähr fünfhundert Pfund bei sich. Beeindruckend.

Ich ließ es auf dem Tisch liegen. »Danke.«

»Selbstverständlich, Sir.« Nach ungefähr zehn Sekunden fing Saxon an zu blinzeln. »Hey, warum nenne ich dich Sir? Das habe ich seit meiner Kindheit zu niemandem mehr gesagt.«

»Ich habe ein Siegel benutzt, damit du einen Befehl befolgst. Es gibt viele Siegel mit ganz unterschiedlichen Wirkungen. Dieses hier kommt für dich nicht in Frage, weil es zu leicht missbraucht werden kann, wie du gerade am eigenen Leib erfahren hast. Es sollte nur beweisen, dass ich dir neben Geld noch was anderes zu bieten habe. Bitte steck deins wieder ein. Es ist alles noch da.«

Schnell sammelte er es auf und schob es wieder in die Brieftasche. Mit einem Lächeln schüttelte er den Kopf. »Der volle Hammer, Mann. Wenn ich es nicht selbst gerade erlebt hätte, würd ich es nicht glauben. Ich sage nie Sir zu Leuten, und Geld verschenke ich schon zweimal nicht. Echt krass. Wollte schon immer mal einen Hexer kennenlernen.«

»Ich bin kein Hexer, auch wenn ich oft so bezeichnet werde. Ein verbreitetes Missverständnis.«

»Wie kommt es, dass ich noch nie was von dieser Siegelgeschichte gehört habe?«

»Es gibt auf der ganzen Welt bloß fünf von uns, und wir machen keine Werbung. Falls du dich mit Siegeln bezahlen lassen möchtest, die du für dich oder für andere verwenden kannst – ich bin da ganz offen. Du musst nur den Mund halten können.«

Damit war das Thema Magie eingeführt. Danach redete ich nicht mehr und benutzte meine App, weil ich die Wirkung des Fluchs fürchten musste. Seither arbeiteten wir gut zusammen und vermieden jede Erwähnung unserer offiziellen Arbeit. Saxon ließ sich meistens mit Siegeln der Sexuellen Spannkraft entlohnen, und ich verzichtete ganz bewusst darauf, mich nach ihrer konkreten Verwendung zu erkundigen.

Saxons Stützpunkt war unter dem Tartan Greenhouse versteckt, einem rund um die Uhr operierenden Industriebetrieb in einem Lagerhaus im Schatten des Friedhofs Necropolis, wo in Hydrokulturbeeten alle nur erdenklichen Biogemüsesorten gezüchtet wurden. Über diverse Briefkastenfirmen war er Eigentümer und benutzte das Ganze zusammen mit ähnlichen im ganzen Land verstreuten Unternehmen zur Geldwäsche für seine diversen illegalen Einkünfte. Ich gehörte zu den wenigen, die seine Arbeitsräume betreten durften, eine unterirdische Höhle mit Chips und Bier, faradayschen Käfigen und einem alten Dig-Dug-Videospiel aus den Achtzigern, das er bewunderte, weil Dig Dug »Monster platzen lässt und dafür bezahlt wird«.

Um dorthin zu gelangen, betrat ich das Büro, das als Lobby diente, schritt durch eine Tür mit der Aufschrift NUR FÜR MITARBEITER, ließ die Umkleide links liegen und steuerte auf den Geräteschuppen zu, an dessen hinterer Wand eine Stecktafel mit gemischtem Werkzeug wartete. Dort musste ich ein Sägeblatt anheben, hinter dem eine Sprechanlage mit einer kleinen Ruftaste zum Vorschein kam. Wenn ich diese drückte, forderte eine Stimme ein Passwort, das sich wöchentlich änderte und mir von Saxon verschlüsselt über Signal zugesandt wurde.

Es handelte sich immer um ein Adjektiv in Verbindung mit einem Begriff für eine Speise. Letzte Woche zum Beispiel Matte Aubergine, die Woche zuvor Selbstgefälliger Taco.

[Dringender Kuchen], ließ sich mein Telefon jetzt vernehmen, und hinter der beiseitegleitenden Stecktafel kam eine schmale Treppe nach unten zum Vorschein. Mit Stock und Tasche in der einen Hand und dem Käfig des Hobgoblins in der anderen, stieg ich vorsichtig hinab.

»Alles klar, Al?« Saxon erhob sich von seinem Stuhl hinter einem Halbkreis von Monitoren und Tastaturen und warf eine zerknüllte Tüte Haggis mit Pfefferchips in einen Mülleimer. Er trug schwarze Jeans und ein T-Shirt mit einem Bild von Boris Johnson – in einem roten Kreis und mit Backslash durchgestrichen. Seit unserer letzten Begegnung hatte er sich am Kinn ein kleines Feld Barthaare wachsen lassen.

Zur Begrüßung nickte ich ihm bloß zu.

Das kannte er inzwischen schon. »Möchtest du was trinken? Ich hab eine gute Grundausstattung.« Mit großer Geste wies er auf seine Bar, die weit mehr zu bieten hatte als eine Grundausstattung. Sogar zwei Fässer regionales Craft-Bier gab es: das Black Star Teleporter von Shilling und das Bearface Lager von Drygate.

[Ein Irn-Bru vielleicht], tippte ich, obwohl ich bereits beim Gedanken an das zuckrige Zeug mit Koffein erschauerte. Saxon hatte sicher was davon auf Lager. [Ich habe Arbeit mitgebracht.]

»Ausgezeichnet!« Er klatschte in die Hände und rieb sie freudig aneinander. »Irn-Bru und Arbeit. Gefällt mir. Du hast mir gerade den Tag gerettet, Al.«

Er huschte zur Bar – sofern man das bei einem Zweimeterriesen sagen kann – und schenkte uns Getränke ein, während ich mich daranmachte, die Beutel zu leeren. Ich ließ den Käfig am Fuß der Treppe und legte das Notebook, das Telefon und die USB-Sticks auf den überfüllten Schreibtisch. Die Papiere trug ich zur Bar und warf sie auf die Kirschholzplatte, wo Saxon mein Irn-Bru bizzarerweise gerade mit einer Grapefruitscheibe garnierte.

»So, das hätten wir. Was liegt an?«

[Ein Notebook und ein Telefon hacken. Der Besitzer hat mit Feen gehandelt, und wir müssen rausfinden, wer die Käufer oder die Verkäufer sind. Oder beides.]

»Ja!« Triumphierend riss er die Faust hoch, bevor er auf mich deutete. »Das ist wild. Ich hab’s gleich gewusst. Es geht einfach nichts über deinen beknackten Scheiß, Mann!« Grinsend schlürfte er seine Limo.

Ich schrieb meine Erwiderung. [Mein beknackter Scheiß sorgt dafür, dass sich die Leute weiter über Wirtschaft und Politik den Kopf zerbrechen statt über die Möglichkeit, irgendwelche Trolle könnten ihre Kinder zum Frühstück verspeisen, deswegen sollten wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen.]

»In Ordnung, ich mach die Schulter schwer. Hast du irgendwelche Passwörter?«

[Noch nicht. Vielleicht ist bei dem Zeug hier was dabei. Ich schau’s gleich durch.]

»Gut, dann fang ich erst mal ohne an, bis du was anderes sagst.«

Er machte sich auf die Suche nach Hilfsmitteln zum Cracken der Geräte, während ich in den Unterlagen auf der Bar kramte. Viele Rechnungen, zwei altmodische Briefe, ein Wust von Quittungen, mehrere gelbe Zettel mit To-Do-Listen wie »Milch und Scones besorgen« und ein Konzertflyer einer Punkband namens Dildo Shaggins. Dazu mehrere leider völlig leere Tagebücher. Nur eins war zur Hälfte vollgeschrieben.

Darin fanden sich alle möglichen Krakeleien wie etwa »Al ist ein ahnungsloser Schwachkopf« und »MacB hat ein Hirn wie ein Spatz«.

Andere Notizen wie »Muss dringend Perlbootganglien finden« hatte er offenbar befolgt, und die Bemerkung »Pixies sind ganz anders als die Comicfiguren« beschrieb wohl seine Erfahrungen, nachdem er eine gefangen hatte. Ansonsten handelte es sich vor allem um Übungszeichnungen von Siegeln mit normaler Tinte. Es war ihm schwergefallen, sich an das Siegel der Geschwächten Magie zu erinnern, und das wunderte mich nicht, weil ich es ihm nicht beigebracht hatte. Auf Seite zehn ziemlich weit unten entdeckte ich etwas potenziell Nützliches: Die Überschrift TRESOR und danach ein offenbar zufällig generiertes Passwort aus 32 Zahlen, Buchstaben und Interpunktionszeichen.

»Ah ja, das wird mir helfen, sobald ich drin bin.« Saxon stöpselte etwas mit Drähten und Lichtern an das Notebook. »Wenn da TRESOR steht, ist es nicht das Passwort zum Entsperren seines Computers.«

[Wie lang brauchst du zum Reinkommen?]

»Hängt davon ab, wie lang sein Passwort ist. Vielleicht dauert es bloß ein paar Minuten, vielleicht auch mehrere Stunden oder Tage.«

[Dann hol ich mir doch ein Bier.]

Ich schlug einen Bogen hinter die Bar und angelte mir ein Pintglas von einem Trockengestell. Das Black Star Teleporter, so stellte ich fest, war ein süffiges Kokosnuss-Dunkelbier ohne zu viel Schaum. Die Quantität und Qualität von Schaum war wichtig, wenn man auf einen makellosen Schnurrbart achtete.

Nach ein paar Schlucken piepte die Vorrichtung an Gordies Notebook, und Saxon jaulte überrascht auf. »Ha! Er hatte bloß ein sechsstelliges Passwort! Nicht besonders schlau.« Er tippte auf eine Taste. »In Ordnung, bin drin. Hier ist sein Tresor.«

[Sein Tresor?]

»Passworttresor, Kumpel. Eine App, die alle Passwörter verwaltet. Jetzt tippen wir mal dieses 32-stellige Monster ein, und dann haben wir ihn und seine schmutzigen Geheimnisse.«

Ich ließ das Bier an der Bar, weil es offenbar wieder Zeit für Arbeit war.

Saxon machte große Augen, als er den Inhalt des Tresors überflog. »Der Typ hat mehrere Offshore-Konten. Kontonummern, Nutzernamen, alles hier in den Notizen. So was braucht man bloß, wenn man viel Knete zu verstecken hat.«

Ich tippte rasch. [Ich möchte überall nach dem Kontostand schauen, aber nichts verschieben. Anschließend schauen wir uns seine E-Mails an.]

»Wie du willst. Da haben wir’s schon.«

Gordie hatte jeweils hundertausend Pfund auf sechs Konten in diversen Steueroasen.

»Weißt du, was komisch ist? Die Konten sind alle neu. Er ist gar nicht dazu gekommen, was von dem eingezahlten Geld abzuheben, und Zinsen hat er bis jetzt auch bloß mit einem verdient.«

Ich notierte mir die Kontonamen und -nummern sowie die Daten der Eröffnung, dann forderte ich Saxon auf, sich die E-Mails vorzunehmen.

Er durchstöberte den Tresor. »Er hat drei Accounts. Mit welchem Tag willst du anfangen?« Er deutete auf den Bildschirm. Eine Adresse kannte ich; eine andere war ein Gmail-Account, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er da etwas Sensibles aufbewahrt hatte. Der dritte Name bestand fast ausschließlich aus Zahlen.

[Fang mit dem verdächtigen Nummernsalat an.]

»Da hätte ich auch angesetzt. Okay, dann wollen wir mal … ja. Ziemlich neu, nur zehn Nachrichten, kein Spam. Und schau mal, Mann – alles vom selben Absender. Der Account dient nur der Kommunikation mit diesem einen Typen.«

[Öffne bitte die älteste.]

Ich spähte über Saxons Schulter, als er auf die älteste Nachricht mit dem Betreff VORKEHRUNGEN klickte.

Bitte bringen Sie ersten Probanden am Freitag um 21:00 Uhr zur Renfrew Ferry am Nordufer. Mein Vertreter wird Sie dort treffen. Nach Überstellung des Probanden wird vereinbarte Summe auf ein von Ihnen zu benennendes Konto fließen.

– Bastille

Gordies Antwort:

Wird gemacht. Überweisung bitte auf Kontonummer 9842987241 bei Cayman-Bank. Wozu werden Probanden verwendet? Ich frage aus ethischen Gründen.

Mit einem Schnauben tippte ich: [Wenn ihm Ethik bei der Sache so wichtig war, wozu hat er dann Nummernkonten gebraucht?]

»Schwer zu sagen. Anscheinend hatte er eine rote Linie, die er nicht überschreiten wollte.«

Die Antwort von Bastille war kurz:

Für die Wissenschaft. Für die glorreiche, lebensrettende Wissenschaft.

»Seltsam«, murmelte Codpiece. »Und zwar das Warum, nicht das Was.«

[Worauf willst du hinaus?]

»Du hast gesagt, hier geht es um Feenwesen, oder?«

[Aye.]

»Na ja, bei Menschenhandel ist der Zweck normalerweise Prostitution oder die Beschaffung von billigen Arbeitskräften im Hausmeistergewerbe und in ähnlichen Berufen. Aber hier sieht es so aus, als bräuchte dieser Bastille Versuchskaninchen. Das heißt, dein kleiner Gordie hat hochpreisige Laborratten an böse Wissenschaftler geliefert.«

[An böse Wissenschaftler? Meinst du das ernst?]

»Klar. Die kommen manchmal vor. Ich meine, da gibt’s ein breites Spektrum, verstehst du? Die meisten Wissenschaftler arbeiten an Sachen, die dazu dienen, dass wir die Welt besser verstehen, oder sie jammern zu Recht darüber, dass wir die Welt seit Beginn der Industriellen Revolution immer mehr auspressen und auf den Untergang zusteuern. Die Wissenschaftler in der moralischen Grauzone erzählen uns, dass Tabak harmlos ist, oder lassen sich von Ölfirmen schmieren für die Behauptung, dass wir uns wegen der Erderwärmung nicht den Kopf zerbrechen müssen. Und dann gibt’s noch die richtigen Schweinehunde, die für Regierungen arbeiten. Und auf was für eine Art von Wissenschaft kommt es den Regierungen an? Gemeine Scheiße wie Wahrheitsseren, Halluzinogene, Bomben und Chemiewaffen zum Schutz der eigenen Nation gegen diejenigen, die sie als die Schurken ausgemacht haben. Sie haben das Geld, die Anlagen und die Macht, um so was durchzuziehen. Deswegen frage ich mich, Al, wer ist dieser Bastille, der da die Finger im Spiel hat? Der offizielle Vertreter einer Regierung kann er nicht sein, denn die kann sich das Material für ihre Experimente viel einfacher beschaffen, oder? Sie müsste das nicht so anstellen.«

Ich knurrte bloß, weil ich ihm nicht des Langen und Breiten erklären wollte, dass er da falsch lag. Mir war keine Regierung bekannt, die Zugang zu Feenwesen hatte, und das lag eben an den Siegelagenten, die mit den Verträgen zwischen den Völkern dafür gesorgt hatten, dass es auch so blieb. Und natürlich an BRIGHID, die es so haben wollte. Vielleicht hatte Gordie einer Regierung diesen Zugang verschafft, auch wenn mir nicht klar war, wie. Im Moment wusste ich noch nicht viel über diese ganze Angelegenheit, und das musste sich schnellstens ändern.

[Noch mal zurück zu deiner Bemerkung von vorhin über Prostitution und billige Arbeitskräfte als Motiv für Menschenhandel. Wie läuft das?]

»Meistens mit irgendwelchen faulen Faxen. Ist nicht mein Metier, aber so wie ich das verstehe, gibt es da eine ganze Palette von Tricks, mit denen sie die Leute zu einer Reise irgendwohin bewegen – in der Regel aus Liebe oder für Geld. Schau nur, heißt es dann, da drüben auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner, du kannst dein beschissenes Leben einfach hinter dir lassen. Wenn die Geköderten ankommen, bleiben die Versprechen natürlich unerfüllt. Sind die Opfer in einer Situation, wo sie bezahlt werden – ein Job in einem Restaurant zum Beispiel –, hängt man ihnen Schulden an, die sie nie abzahlen können, und sie sitzen in der Falle. Manchmal nehmen diese Schleimscheißer den Opfern die Pässe ab, bombardieren sie mit allen möglichen Drohungen und sperren sie zwei Tage lang ohne Essen ein. Dann kriegen sie Panik und fühlen sich komplett hilflos. Aber die Sache mit dem Köder ist der Grund, warum die Behörden nicht schon am Anfang einschreiten können. Die meisten Leute gehen freiwillig auf die Reise. Im Fernsehen wird es oft so dargestellt, dass beim Menschenhandel Leute auf offener Straße entführt und in Containern über Grenzen geschickt werden. Ich sag ja nicht, dass das nie passiert, doch es ist die Ausnahme und nicht die Regel. Normalerweise läuft das mit den Reisen ganz legal, und der Hammer trifft die Opfer erst nach ihrer Ankunft.«

[Verflucht. Dann hat Gordie – oder jemand anders – die Feenwesen unter einem falschen Vorwand hergelotst. Die Aussicht auf die Teilnahme an einem tollen naturwissenschaftlichen Experiment hat sie bestimmt nicht angelockt.]

»Genau.«

[Gut, noch mal zurück zum normalen Menschenhandel. Wenn es ein Angebot gibt, dann gibt es auch eine Nachfrage, oder? Also, wer steckt hinter der Nachfrage nach moderner Sklaverei?]

»Das ist der springende Punkt. Die Betreffenden wissen normalerweise nicht, dass sie dahinterstecken.«

[Was? Wie kann das sein?]

»Wenn das Opfer jemand in einem Restaurant ist, der deine Vorspeise kocht, oder eine unsichtbare Person, die nach deiner Abreise dein Hotelzimmer aufräumt, wie sollst du das wissen? Nehmen wir mal ein Beispiel, wo es um Sex geht. Sagen wir, du bist ein trauriger Sack namens John MacKnob, der zu einer Tagung für traurige Säcke in Liverpool fährt, und du möchtest dort zum Schuss kommen. Du gehst ins Internet – die einschlägigen Seiten sind nicht schwer zu finden – und vereinbarst das Ganze. Weil du John MacKnob bist, unterstellst du, dass deine Hostess das für das schöne Geld macht, das du ihr zahlst. Oder du meinst, sie ist einfach so unglaublich scharf auf traurige Säcke, dass sie freiwillig dem horizontalen Gewerbe nachgeht. Manchmal fragt John MacKnob sie sogar danach, und wenn das passiert, wird die Hostess natürlich immer behaupten, dass sie es macht, weil sie Spaß daran hat, und nicht, weil sie oder ihre Verwandten zu Hause mit einer üblen Strafe oder sogar dem Tod rechnen müssen, wenn sie zu fliehen versucht oder die Wahrheit sagt. Und deshalb kann sich John MacKnob nach seinem Anflug von schlechtem Gewissen leicht einreden, dass er nichts Böses tut. Dass das Ganze ein einvernehmliches Arrangement ist. Und zur Beruhigung bestellt er gleich vier oder fünf und bringt auch noch seine Freunde mit.«

[Im Ernst?]

»Das Ganze ist eine Party, verstehst du? John MacKnob und seine Kumpel von der Trauersackfront wollen Spaß haben. Unterhaltung auf Spesen. Sie zahlen für die Opfer des Menschenhandels mit Firmenkreditkarten und setzen es von der Unternehmenssteuer ab.«

[Willst du mich auf die Schippe nehmen?]

»Nein. Die Menschenhändler sind schlau. Sie wissen genau, was sie tun müssen, damit es legal wirkt. Das läuft vor den Augen der Öffentlichkeit. Zwangsprostitution ist ein wichtiger Faktor bei Tagungen aller Art. Und bei großen Sportveranstaltungen. Wenn Männer mit frei verfügbarem Geld zusammenkommen, gehört das dazu. Arschlöcher, die Partys planen. Und haufenweise Singles. Und auf der Dienstleistungsseite sind es Hotels und andere Unternehmen mit großen Gebäuden, die billiges Personal suchen. Mit dem Menschenhandel haben die Hotels nichts zu tun, aber sie vergeben Unteraufträge, und die Subunternehmer stecken bis zum Hals drin.«

[Und wie kann man das Ganze stoppen?]

Nach einem lauten Prusten seufzte Codpiece. »Wenn ich das wüsste. Das Problem sind die John MacKnobs dieser Welt und der Spätkapitalismus. Sie sorgen für die Nachfrage, weißt du. Solange es diese Nachfrage gibt, werden Menschenhändler einen Weg finden, sie zu befriedigen. Wenn die Politiker und die Polizei auf sie zeigen, haben sie vielleicht ein gutes Gefühl und können sich sagen, dass sie Fortschritte machen, doch die eigentliche Ursache bekämpfen sie damit nicht. Sobald die einen aus dem Verkehr gezogen sind, tauchen andere auf, die scharf auf das Geld sind, denn angeblich verdient so eine Organisation mit der Zerstörung von Menschenleben im Schnitt dreißigtausend Pfund pro Woche. Am besten also, man ist kein John MacKnob. Wenn die Arbeitgeber mit diesen Unterverträgen aufhören …« Er blinzelte, weil ihm anscheinend etwas eingefallen war. »Ich glaube, das wäre tatsächlich ein Ansatzpunkt. Wir müssen sie bei den Verträgen treffen. Das wird sie sowohl auf dem Sex- als auch auf dem Dienstleistungssektor bremsen.«

Das klang gut. Verträge waren genau meine Spezialität. [Wie das?]

»Für diese Tagungen braucht es Verträge zwischen den Hotels und den Veranstaltern. Wenn es in diesen Verträgen Klauseln gegen Menschenhandel gibt, ändert sich auch das Verhalten. Die Firmen werden ihren angestellten John MacKnobs mit Kündigung drohen, wenn sie so was machen. Sie werden die Bewirtungsspesen unter die Lupe nehmen. Sie werden ein Meeting im Pausenraum ansetzen und ihren Mitarbeitern klarmachen, dass ein Feuersturm auf sie niederprasseln wird, wenn sie auf Unternehmenskosten die Sau rauslassen.«

Auf Gordie war zwar kein Feuersturm niedergeprasselt, aber dafür hatte ihm ein Rosinenscone im Hals die Luftzufuhr abgeschnitten. Unwillkürlich fragte ich mich: Hatten alle meine Schüler mit Feenwesen gehandelt und waren dann durch einen unglücklichen Zufall ums Leben gekommen, oder steckte eine Absicht dahinter wie bei einem Fluch?

Aus Erfahrung wusste ich, wie subtil ein Fluch sein konnte. Vielleicht hatten meine Schüler die Feenwesen gegen sich aufgebracht und waren mit einem tödlichen Fluch belegt worden, als sie nicht aufpassten. Andererseits, wenn alle meine Schüler so wie Gordie herumgemurkst und solche Flüche auf sich gezogen hatten, brauchte ich entweder eine neue Brille, oder ich musste in Pension gehen.