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Thor, der nordische Donnergott, ist nicht nur ein Aufschneider und Rüpel, sondern viel schlimmer. Er hat viele Leben vernichtet und unzählige Unschuldige auf dem Gewissen. Atticus O'Sullivan, der letzte der Druiden, und sein Anwalt Leif unternehmen alles, um diesen nordischen Albtraum ein für alle Mal loszuwerden. Über 2.000 Jahre hat eine Überlebensstrategie für Atticus funktioniert: Halt dich fern von Thor! Aber die Dinge heizen sich auf in seiner neuen Heimat Tempe, Arizona. Russische Dämonenjäger, die sich selbst die »Hämmer Gottes« nennen, drehen komplett durch und terrorisieren die Gegend. Doch wer steckt dahinter? Trotz vielfacher Warnung reisen Atticus und Leif zur nordischen Welt Asgard, wo sie sich mit einem Werwolf, einem Zauberer und einer Armee von Eisriesen verbünden. Ein epischer Kampf gegen boshafte Walküren, zornige Götter und – vor allem – gegen den hammerschwingenden Donner-Fiesling selbst beginnt. Die Neuauflage wurde erweitert um das Kapitel »Die Bewährungsprobe«.
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Seitenzahl: 497
Kevin Haerne
Gehämmert
DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 3
Aus dem Amerikanischen vonAlexander Wagner und Friedrich Mader
Klett-Cotta
Die für die Handlung wichtigsten Götternamen und mythischen Orte sind in VERSALIEN gesetzt.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Iron Druid Chronicles 3. Hammered«
im Verlag Ballantine Books, New York
© 2011 by Kevin Hearne
Für die deutsche Ausgabe
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover und Karte: Birgit Gitschier, Augsburg
Photo-Illustration von Gene Mollica
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
E-Book: ISBN 978-3-608-12454-5
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98839-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Einer weit verbreiteten Meinung nach sind Eichhörnchen putzige kleine Wesen. Wenn sie an diesem oder jenem Ast oder Baumstamm entlangwuseln, zeigen die Leute auf sie und rufen: »Ohhh, wie niiiiedlich!«. Dabei nimmt ihre Stimme einen ganz süßlichen Tonfall an und schraubt sich in ein aufgeregtes Falsett empor. Doch ich kann Ihnen versichern, diese Tierchen sind nur niedlich, solange sie so klein sind, dass man drauftreten könnte. Wenn Sie jedoch einem verdammten Rieseneichhörnchen vom Format eines Betonmischfahrzeugs gegenüberstehen, dann verliert es einen beträchtlichen Teil seines Charmes.
Ich war nicht sonderlich überrascht, als ich zu Nagezähnen von der Größe meines Kühlschranks hinaufstarrte, zu zuckenden Schnurrhaaren so lang wie Bullenpeitschen und zu traktorreifengroßen Augen, die auf mich herabglotzten wie vulkanische Blasen schwarzer Tinte. Ich war einfach nur erschrocken, dass ich auf so spektakuläre Weise recht behalten hatte.
Granuaile, meine Auszubildende, hatte mir bei unserem Abschied in Arizona noch vorgehalten, etwas Unmögliches zu versuchen. »Nein, Atticus«, hatte sie erklärt. »Die gesamte Literatur sagt, der Weg nach Asgard führt einzig und allein über die Bifröst-Brücke. In den Eddas, in der Skalden-Dichtung, überall wird übereinstimmend auf Bifröst verwiesen.«
»Klar, dass die Literatur das behauptet«, erwiderte ich. »Es handelt sich dabei jedoch um reine Propaganda der Götter. Wenn man die Eddas sorgfältig liest, verraten sie einem die Wahrheit in dieser Angelegenheit. Der Schlüssel zur Hintertür von Asgard ist Ratatosk.«
Granuaile musterte mich ungläubig, als hätte sie nicht recht gehört. »Das Eichhörnchen, das auf dem Weltenbaum lebt?«
»Richtig. Ratatosk klettert manisch zwischen dem Adler in der Baumkrone und der Drachenschlange unten an der Wurzel hin und her. Dabei überbringt er Nachrichten, die von Gift und Galle nur so triefen. Und jetzt frag dich selbst, wie er das schafft.«
Granuaile dachte einem Moment lang darüber nach. »Nun, die Literatur behauptet, dass tief unter Asgard zwei Wurzeln Yggdrasils enden: Die eine an Mimirs Brunnen in Jötunheim, die andere in Niflheim an der Quelle Hvergelmir, wo die Drachenschlange Nidhögg lebt. Offensichtlich kennt Ratatosk also ein kleines Schlupfloch.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du wirst es nicht benutzen können.«
»Ich wette um ein Abendessen, dass ich es schaffe. Ein nettes selbstgemachtes Dinner mit Wein, Kerzen und ausgefallenen modernen Speisen wie Caesar Salad.«
»Salat ist nicht modern.«
»Nach meiner persönlichen Zeitrechnung schon. Caesar Salad wurde 1924 erfunden.«
Granuaile machte große Augen. »Woher weißt du nur immer solche Sachen?« Sie winkte ab, kaum dass sie die Frage gestellt hatte. »Nein, diesmal lenkst du mich nicht ab. Einverstanden. Die Wette gilt. Also, beweise es oder fang auf der Stelle an zu kochen.«
»Der Beweis gilt dann als erbracht, wenn ich auf Yggdrasils Wurzel hinabklettere.« Mit erhobenem Zeigefinger kam ich ihrem Einwand zuvor. »Trotzdem verblüffe ich dich jetzt schon mit meinen Plänen, damit später meine vorausschauenden Fähigkeiten in umso hellerem Licht glänzen. Ich gehe davon aus, dass Ratatosk ein ziemlich hartgesottener Bursche ist. Bedenke Folgendes: Adler fressen gerne Eichhörnchen, und bösartige Drachen wie Nidhögg verschlingen für gewöhnlich so gut wie alles, was ihnen in die Quere kommt. Trotzdem hat noch keiner von beiden versucht, Ratatosk anzuknabbern. Sie unterhalten sich einfach mit ihm. Dabei sind sie kein bisschen unfreundlich, sondern bitten ihn im Gegenteil sogar höflich, ihrem weit entfernten Feind dieses oder jenes auszurichten. Und am Ende fügen sie hinzu: ›Hey, Ratatosk, und keine Eile bitte. Lass dir ruhig alle Zeit der Welt.‹«
»Verstehe. Damit willst du also sagen, er ist ein ziemlich stattliches Eichhörnchen.«
»Nein, ich will damit sagen, er ist super-stattlich. Seine Dimensionen verhalten sich proportional zu denen des Weltenbaums. Er ist größer als du und ich zusammen. So gewaltig, dass Nidhögg ihn nicht als Appetithappen, sondern als ebenbürtigen Gegner betrachtet. Und wir haben nur deshalb noch nie von jemandem gehört, der auf Yggdrasils Wurzeln in Richtung Asgard geklettert ist, weil man dazu ziemlich verrückt sein muss.«
»Richtig«, bestätigte sie grinsend.
»Ja, richtig.« Ich wackelte kurz mit dem Kopf und erwiderte dann ihren hämischen Gesichtsausdruck.
»Also«, überlegte Granuaile laut. »Wo genau befinden sich eigentlich Yggdrasils Wurzeln? Doch vermutlich irgendwo in Skandinavien. Aber dann hätte man sie doch längst per Satellit orten müssen.«
»Die Wurzeln Yggdrasils liegen in einem völlig anderen Gefilde. Und das ist der wahre Grund, weshalb noch nie jemand versucht hat, daran emporzuklettern. Trotzdem sind sie mit der Erde verknüpft. Ebenso wie TÍR NA NÓG, Elysium oder Tartarus. Und rein zufällig ist ein dir wohlbekannter Druide ebenfalls durch seine Tattoos aufs Engste mit der Erde verbunden«, sagte ich. Dabei reckte ich meinen tätowierten rechten Arm.
Granuaile öffnete überrascht den Mund, als ihr die Tragweite meiner Worte dämmerte, und zog dann rasch die logische Schlussfolgerung. »Du willst also sagen, dass du überall hingelangen kannst.«
»M-hm«, bestätigte ich. »Aber ich brüste mich nicht damit.« Ich deutete auf sie. »Und du solltest das auch nicht tun, wenn du erst auf dieselbe Weise verbunden bist. Viele Götter sind bereits in Sorge wegen dem, was AENGHUSÓG und BRES zugestoßen ist. Doch da ich die beiden hier in unseren Gefilden getötet habe und AENGHUSÓG den Streit begonnen hat, betrachten sie mich glücklicherweise nicht als einen wahnsinnig gewordenen Götterschlächter. In ihren Augen bin ich lediglich außerordentlich geschickt in Sachen Selbstverteidigung. Daher stelle ich für sie keine tödliche Bedrohung dar, solange sie sich nicht mit mir anlegen. Allerdings glauben sie das vor allem deshalb, weil sie bisher noch nie einen Druiden auf ihrem Territorium erblickt haben und auch nicht damit rechnen. Wüssten die Götter allerdings, dass ich jeden von ihnen an jedem beliebigen Ort erreichen kann, würden sie mich wahrscheinlich als ziemlich krasse Bedrohung wahrnehmen.«
»Können die Götter denn nicht überall hingelangen?«
»M-m«, verneinte ich kopfschüttelnd. »Die meisten Götter können lediglich in zwei Gefilde gelangen: in ihr eigenes Reich und auf die Erde. Deshalb sieht man KALI nie im Olymp oder ISHTAR nie in Abhassara. Ich habe bisher nicht mal ein Viertel der Orte bereist, an die ich gelangen kann. Zum Beispiel war ich noch nie in einem der diversen Himmel, außer man zählt Sudassa dazu, einen der Rūpa-loka der buddhistischen Tradition. Es ist ein wunderschöner Ort, aber die Wesen dort sind Millionen von Jahren alt, kilometerlang und nicht im normalen Spektrum sichtbar - ich musste dazu meine magische Sehfähigkeit einsetzen. Alles in allem war es ein bisschen langweilig, denn weil sie kein Verlangen mehr kennen, wollte keiner mit mir sprechen. Sie bewegen sich geistig und körperlich einfach auf einer anderen Ebene als wir. Mag Mell ist echt traumhaft. Da musst du unbedingt mal hin. Und natürlich auch nach Mittelerde, um das Auenland zu sehen.«
»Quatsch!« Sie boxte gegen meinen Arm. »Du warst niemals in Mittelerde!«
»Klar, warum denn nicht? Es ist nur nicht durch den Glauben geschaffen worden, wie andere Gefilde, sondern durch eine enorme kollektive Einbildungskraft. Elrond lebt noch immer in Bruchtal, denn die Menschen stellen ihn sich dort vor, und nicht in den Grauen Anfurten. Außerdem kann ich dir an dieser Stelle versichern – er sieht kein bisschen aus wie Hugo Weaving. Einmal bin ich auch in den Hades hinabgestiegen, um Odysseus zu fragen, was die Sirenen so zu erzählen hatten. Und das war ein echter Knaller. Leider darf ich es dir nicht verraten.«
»Und jetzt werde ich sicher gleich wieder zu hören bekommen, dass ich dafür noch zu jung bin.«
»Nein. Aber du musst es mit eigenen Ohren hören, um es richtig zu würdigen. Unter anderem geht es um Hasenpfeffer, Seeschlangen und das Ende der Welt.«
Granuaile fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen und sagte: »Schon gut, verrat’s mir lieber nicht. Also, wie sehen deine Pläne für Asgard aus?«
»Zuerst muss ich mich für eine der Wurzeln entscheiden. Was nicht weiter schwer ist: Da ich Ratatosk lieber aus dem Weg gehe, ersteige ich die Wurzel, die in Jötunheim endet. Ratatosk benutzt sie nur selten. Außerdem brauche ich auf ihr nicht so weit zu klettern wie von Niflheim aus. Und da du offenbar alles darüber gelesen hast, kannst du mir sicher sagen, in welcher Himmelsrichtung in unserem Gefilde der Ort liegt, der mit Mimirs Brunnen verknüpft ist.«
»Osten«, erwiderte Granuaile wie aus der Pistole geschossen. »Jötunheim liegt immer im Osten.«
»Richtig. Im Osten Skandinaviens. Mimirs Brunnen ist verknüpft mit einem subarktischen See nahe der russischen Kleinstadt Nadym. Dorthin werde ich mich begeben.«
»Ich habe meine kleinen russischen Städtchen im Augenblick nicht ganz parat. Wo genau liegt Nadym?«
»Im westlichen Teil Sibiriens.«
»Verstehe. Du fährst also zu diesem speziellen See. Und was dann?«
»In diesen See ragt eine Baumwurzel und saugt Wasser daraus. Allerdings ist es vermutlich keine Esche, sondern irgendein verkrüppelter Nadelbaum, da er mitten in der Tundra steht. Sobald ich die Wurzel gefunden habe, berühre ich sie, verknüpfe mich mit ihr und ziehe mich an der Verbindung entlang. Bis ich irgendwann die Wurzel von Yggdrasil in den nordischen Gefilden umklammert halte und der See zu Mimirs Brunnen wird.«
Granuailes Augen leuchteten. »Ich freu mich schon, wenn ich so was auch mal kann. Und von da an heißt es dann tüchtig klettern, richtig? Denn die Wurzel des Weltenbaums muss gewaltig sein.«
»Ja, so ist der Plan.«
»Und wie weit entfernt von Yggdrasils Stamm liegt IDUNS Wohnort?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich war noch nie dort. Also muss ich improvisieren. Leider konnte ich auch keine Landkarten von dieser Gegend finden. Eigentlich sollte man ja davon ausgehen, dass inzwischen irgendjemand einen Atlas sämtlicher Gefilde erstellt hat, aber Fehlanzeige.«
Granuaile runzelte die Stirn. »Weißt du überhaupt, wo IDUN wohnt?«
»Nö«, erwiderte ich mit einem betrübten Lächeln.
»Dann wird es aber ziemlich schwer, einen Apfel für Laksha zu stehlen.«
Ja, es war ein kühnes Unterfangen. Doch abgemacht war abgemacht: Ich hatte versprochen, einen goldenen Apfel aus Asgard zu stehlen, als Gegenleistung für zwölf tote Bacchantinnen in Scottsdale. Laksha Kulasekaran, die indische Hexe, hatte ihren Teil der Vereinbarung bereits erfüllt. Jetzt war ich an der Reihe. Es gab eine gewisse Chance, diesen Raub ohne allzu gravierende Folgen durchzuziehen, außerdem sah ich nicht die geringste Chance, mein Wort zu brechen, ohne dass Laksha zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen gegriffen hätte.
»Es wird in jedem Fall ein Abenteuer«, verkündete ich Granuaile.
Und zwar ein Abenteuer mit Eichhörnchen, schoss es mir durch den Kopf, als ich dann mit offenem Mund auf dem Stamm des Weltenbaums stand und zu dem gewaltigen Nagetier über mir hinaufgaffte.
Ich hatte gehofft, Ratatosk wäre auf der anderen Wurzel unterwegs oder er würde zu dieser Jahreszeit Winterschlaf halten. Es war der 25.November. In Amerika war jetzt Thanksgiving. Und Ratatosk sah aus, als hätte er kürzlich die gesamten Truthahnbestände von Rhode Island vertilgt. Er war gut gemästet und bereit, bis zum Frühjahr durchzuschlafen. Doch dummerweise hatte er mich erspäht. Und selbst wenn er mir mit seinen gewaltigen Hauern nicht den Kopf abbeißen würde, würde er höchstwahrscheinlich irgendjemandem davon berichten, dass ein fremder Mann die Wurzel von Midgard emporkletterte. Worauf in Kürze ganz Asgard über meine Ankunft informiert wäre. Von einer geheimen Mission konnte dann wohl kaum mehr die Rede sein.
Der Aufstieg hatte mir keine Mühe bereitet, weil ich unterwegs meine Knie, Stiefel und Jacke mit der Baumrinde verknüpft und mit den Händen Energie aus dem Stamm gezogen hatte. Schließlich handelte es sich um den Weltenbaum Yggdrasil, und nach meinem Wechsel der Gefilde war er als solcher mit der Erde identisch. Doch obwohl ich gut vorankam und an keinem Punkt herabzufallen drohte, machte ich mir keine Hoffnungen, es mit Ratatosks Tempo und Agilität aufnehmen zu können. Im Vergleich zu ihm bewegte ich mich eher mit der Geschwindigkeit eines Gletschers. Und Asgard lag immer noch Meilen entfernt.
Wütend schnatterte er auf mich ein. Sein Atem blies mein Haar zurück und erfüllte meine Nase mit dem schalen Dunst modriger Nüsse. Obwohl ich schon wesentlich Schlimmeres gerochen hatte, war es alles andere als ein lieblicher Duft. Und es gibt sicher einen Grund, warum Bath & Body Works keine Pflegeserie namens Fauchendes Rieseneichhörnchen führt.
Ich aktivierte den Anhänger an meiner Halskette, den ich als Feenbrille bezeichne. Mit seiner Hilfe kann ich Ereignisse im magischen Spektrum und die verborgenen Verknüpfungen von Dingen wahrnehmen. Zudem gelingen mir meine eigenen Bindezauber schneller, weil ich die von mir geschlungenen magischen Knoten in Echtzeit sehe.
Ratatosk war fest an Yggdrasil gebunden. In vielerlei Hinsicht war er wie eine Verzweigung des Weltenbaums, eine Erweiterung seines inneren Wesens. Ich nahm das mit Bedauern zur Kenntnis. Wenn ich das Eichhörnchen verletzte, würde ich damit zwangsläufig dem Baum schaden, und das wollte ich unbedingt vermeiden. Dennoch blieb mir wohl kaum eine andere Wahl. Es sei denn, ich brachte Ratatosk dazu, mir sein großes Pfadfinderehrenwort zu geben und niemandem davon zu erzählen, dass ich im Anmarsch war, um einen von IDUNS goldenen Äpfeln zu stehlen.
Ich konzentrierte mich auf die Verknüpfungen, die sein Bewusstsein repräsentierten. Vorsichtig verband ich diese mit meinem Geist, bis eine Verständigung möglich war. Zum Glück beherrschte ich immer noch das Altnordische, das in ganz Europa bis zum Ende des 13.Jahrhunderts gebräuchlich gewesen war. Ich baute darauf, dass Ratatosk es ebenfalls beherrschte, da er eine Schöpfung altnordischen Geistes war.
Ich grüße dich, Ratatosk, schickte ich durch die von mir erzeugte magische Verknüpfung. Die Worte in seinem Kopf ließen ihn heftig zusammenzucken. Er wirbelte herum, und sein buschiger Schwanz peitschte mein Gesicht. Dann machte er einige Sätze den Baumstamm hinauf, schoss erneut herum und betrachtete mich argwöhnisch. Vielleicht hätte ich zu den Worten besser auch meinen Mund bewegen sollen.
›Wer in HELS frostigem Reich bist du?‹, erwiderte das Eichhörnchen, wobei seine enormen Schnurrhaare vor Erregung zitterten. ›Was hast du auf der Wurzel des Weltenbaums zu suchen?‹
Da ich mich auf der Wurzel zum mittleren Gefilde befand, gab es nur drei Orte, aus denen ich kommen konnte. Ich war definitiv kein Frostriese aus Jötunheim. Und dass ein gewöhnlicher Sterblicher die Wurzel emporkletterte, hätte er mir niemals geglaubt. Also musste ich ihm ein Lügenmärchen auftischen, das er mir hoffentlich abkaufen würde. Ich bin ein Bote aus Nidavellir, dem Reich der Zwerge, erklärte ich. Ich bin nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine neue Erfindung. Daher mein flammend rotes Haar und der widerwärtige Gestank, der mich umgibt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich für ihn roch. Doch da ich in neuer Lederkleidung steckte, die einen starken Gerbdunst absonderte, stank ich für ihn wohl wie ein Haufen toter Kühe. Außerdem hielt ich es für sicherer, meinen Geruch und meine Person als prinzipiell ungenießbar darzustellen. Die nordischen Zwerge waren berühmt dafür, magische Kreaturen zu erschaffen, die wie normale Lebewesen herumspazierten, häufig jedoch spezielle Fähigkeiten besaßen. Einmal hatten sie für den Gott FREYR einen Eber gefertigt, der auf dem Wasser laufen und mit dem Wind fliegen konnte; außerdem hatte er eine goldene Mähne, die nachts hell leuchtete. Sie nannten ihn Gullinbursti, was so viel bedeutet wie »Goldene Borsten«. Kein Scherz.
Mein Name ist Eldhár, geschaffen von Eikinskjaldi, Sohn des Yngvi, Sohn des Fjalar, erklärte ich Ratatosk. Die drei Zwergennamen hatte ich direkt aus der Lieder-Edda entlehnt. Auch Tolkien hat die Namen all seiner »Zwerge« aus dieser Quelle, genauso wie den Gandalfs. Daher sah ich keinen Grund, mich nicht ebenfalls für meine eigenen Zwecke daraus zu bedienen. Eldhár, der Name, den ich mir selbst gegeben hatte, bedeutete nichts weniger als »Feuerhaar«. Da ich vorgab, eine magische Schöpfung zu sein, schien mir das auf einer Linie mit Namen wie Gullinbursti zu liegen. Ich bin im Auftrag des Zwergenkönigs unterwegs nach Walhalla, um dort mit Allvater ODIN zu sprechen, dem einäugigen Wanderer, dem grauen Runenschöpfer, dem Reiter von Sleipnir und Schleuderer von Gungnir. Es ist eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, da den NORNEN Gefahr droht.
›Den NORNEN!‹ Ratatosk war so alarmiert, dass er tatsächlich mal für eine halbe Sekunde stillhielt. ›Die drei, die bei der Quelle von Urd leben?‹
Eben die. Willst du mir bei meiner Reise behilflich sein, damit diese äußerst wichtige Botschaft ihr Ziel so schnell wie möglich erreicht und dem Weltenbaum jeglicher Schaden erspart bleibt? Die NORNEN waren dafür zuständig, den Baum beständig aus der Quelle zu wässern, in einer Art fortwährendem Kampf gegen Verfall und Alter.
›Nur zu gerne bringe ich dich nach Asgard!‹, erwiderte Ratatosk. Erneut wechselte er die Richtung und krabbelte rückwärts. Dann streckte er galant ein Hinterbein in meine Richtung aus und hob vorsichtig seinen buschigen Schwanz beiseite. ›Kannst du auf meinen Rücken klettern?‹
Ich brauchte dazu länger, als mir lieb war, doch schließlich saß ich auf seinem Rücken, verband mich fest mit seinem roten Fell und erklärte mich bereit für den Ritt.
›Auf geht’s‹, rief Ratatosk schlicht. Dann schossen wir den Stamm empor, in einer so wilden, ungewöhnlichen Gangart, dass ich befürchtete, meine Milz könnte zerquetscht werden.
Trotzdem konnte ich mich nicht beschweren. Ratatosk übertraf meine Erwartungen: Er war nicht nur außergewöhnlich groß und schnell, er war zudem äußerst leichtgläubig und hilfsbereit gegenüber Fremden, zumindest sofern sie Altnordisch sprachen. Vielleicht musste ich ihn am Ende doch nicht töten.
Die meisten bildhaften Darstellungen nordischer Mythologie basieren auf dem Prinzip des »Es gibt keine Verbindung von hier nach dort«. Das hängt damit zusammen, dass ihre Kosmologie nicht nur in dem Sinne magisch ist, dass sie jeder wissenschaftlichen Erklärung spottet. Sie ist außerdem schon in sich derartig widersprüchlich, dass ein Wanderer zwischen den Gefilden, wie ich einer bin, ständig Gefahr läuft, sich in seinen eigenen Verknüpfungen zu verstricken. So liegt Helheim einigen Quellen nach in Niflheim, dem Reich des Eises. Laut anderen hingegen ist Helheim ein eigenständiger, von Niflheim völlig getrennter Ort. Will man HEL einen Besuch abstatten, muss man also buchstäblich an zwei Orten zugleich sein. Muspellheim wiederum, das Reich des Feuers, liegt einfach »südlich«. Allerdings scheint niemand zu wissen, wie man dorthin gelangt. Zum Glück hatte ich nicht vor, einen der beiden Orte aufzusuchen. Meine Mission führte mich nach Asgard, um dort einen von IDUNS goldenen Äpfeln zu stehlen. Nur so konnte ich verhindern, dass Laksha in mein Gehirn eindringen würde, um es abzuschalten. (Im Grunde hatte ich keine Ahnung, ob sie tatsächlich in mein Gehirn eindringen konnte. Ich hoffte, dass mein Amulett mich vor dergleichen bewahren würde. Trotzdem wollte ich es lieber nicht auf einen Versuch ankommen lassen.)
Ratatosk trug mich in die richtige Richtung und ich war zuversichtlich, es bis nach Asgard zu schaffen, von meiner gequetschten Milz einmal abgesehen. Doch was mich dort erwartete, stand in den Sternen. Im schlimmsten Fall würde ich mitten in eine Versammlung der Götter an der Quelle von Urd platzen, direkt bei den NORNEN. Ratatosk würde mich vor ihnen abwerfen und verkünden: ›Hallo, alle zusammen! Eldhár hier bringt schlechte Nachrichten von Nidavellir!‹ Und anschließend würden sie mir wohl den eigenen Kopf auf einem Silbertablett servieren. Vielleicht sollte ich versuchen, dies nach Möglichkeit zu vermeiden.
Ratatosk, wie lange dauert es noch bis nach Asgard?, fragte ich, während wir die riesige Baumwurzel hinaufrannten. Sie war um vieles dicker als ein Mammutbaum, und die Rinde war glatt und grau anstatt rot und rissig.
›Weniger als eine Stunde‹, erwiderte das Eichhörnchen.
Mann, ist das schnell. ODIN wird dich sicher für deine Schnelligkeit loben, wenn ich ihm berichte, wie sehr du mir geholfen hast. Weißt du zufällig, ob die Götter im Augenblick eine Ratsversammlung an der Quelle von Urd abhalten?
›Sie sind Frühaufsteher. Sicher sind sie um die Zeit schon fertig. Aber die NORNEN werden noch dort sein. Warum erzählst du ihnen nicht einfach selbst von dem Problem? Hey.‹ Ratatosk blieb abrupt stehen, von einem plötzlich aufgetauchten, verwirrenden Gedanke gebremst. Wäre ich nicht fest mit seinem Fell verknüpft gewesen, wäre ich vermutlich ein ganzes Stück nach oben weitergeflogen, bevor mich die Schwerkraft wieder eingeholt hätte. ›Sehen die NORNEN denn die Gefahr nicht selbst kommen? Warum müssen wir überhaupt jemanden warnen?‹
Offenbar konnte Ratatosk nicht gleichzeitig denken und rennen. DieseGefahrdroht von außerhalb Asgards, erklärte ich ihm und spann meine Lügengeschichte weiter aus. Die Bedrohung kommt von den Römern. Die römischen Schicksalsgöttinnen – die PARZEN – haben BACCHUS und sein Gefolge losgeschickt, um die NORNEN zu erschlagen. Und sie wissen, dass die NORNEN nicht in der Lage sind, ihre Ankunft vorherzusehen.
›Oh.‹ Ratatosk sprang wieder los, bremste dann aber nach ein paar Schritten erneut. Offenbar blockierte ein weiterer Gedanke seine motorischen Funktionen. ›Warum weiß der Zwergenkönig davon, aber ODIN nicht?‹
Ein verdammt neugieriges Eichhörnchen. Er hat es vom König der Dunkelelfen erfahren. Der ganze finstere Plan wurde in ihren, äh, finsteren Gehirnen ausgebrütet. Wenn du mal nicht mehr weiterweißt, schieb einfach die Schuld auf die Dunkelelfen.
›Ohhhh‹, sagte Ratatosk wissend. Offenkundig war er überzeugt, dass, wenn jemand imstande war, etwas vor ODIN geheim zu halten, es die Dunkelelfen waren. ›Wann kommt BACCHUS?‹
Der Zwergenkönig glaubt, dass er möglicherweise bereits im Anmarsch ist. Die Zeit drängt. Beweis durch Eile deinen Eifer, Ratatosk.
›Ich will’s.‹ Sichtlich beruhigt und von neuen Kräften belebt, sprang Ratatosk noch schneller als zuvor die Wurzel Yggdrasils hinauf. ›Ist BACCHUS ein mächtiger Gott?‹
Es heißt, große Helden hätten sich bei seinem bloßen Anblick in die Hose gemacht vor Angst. Er treibt die Menschen buchstäblich in den Wahnsinn. Aber ich habe keine Ahnung, wie er sich gegen die NORNEN schlagen würde. Die eigentliche Gefahr liegt in seiner Überraschungstaktik. Wenn die NORNEN ihn nicht kommen sehen, erwischt er sie möglicherweise unvorbereitet. Meine rechtzeitige Warnung wird ihr bester Schutz sein. Und mit deiner Hilfe werden die Götter Asgards diesem römischen Parvenü einen angemessenen Empfang bereiten.
›Hoffentlich habe ich Gelegenheit, das mitzuerleben‹, sagte Ratatosk in freudiger Erwartung. ›Es ist schon viel zu lange her, dass die Götter jemanden seiner Nüsse beraubt haben.‹
Sein merkwürdiger Euphemismus ließ mich stutzen, bis ich mich daran erinnerte, dass ich mit einem Eichhörnchen sprach. Die Bilder und Gefühle unserer mentalen Verbindung machten deutlich, wie sehr er das Bezwingen eines Feindes meinte, nicht mehr.
Ich gab ihm recht und verfiel dann in Schweigen, während ich über den möglichen wahren Kern meiner Lügengeschichten nachdachte. Nach unserem Aufstieg gen Asgard mussten wir damit rechnen, bei Yggdrasils Stamm auf die NORNEN zu treffen. Mit Sicherheit hatten sie keinen Schimmer, dass ich es war, der sich im Anmarsch befand. Nicht etwa, weil ich wie BACCHUS ein Gott eines anderen Pantheons war, sondern weil mich mein Amulett vor Hellseherei schützte. Doch vermutlich wussten sie, dass Ratatosk in diesem Augenblick irgendjemanden oder irgendetwas mitbrachte. Sie waren zumindest neugierig, im schlimmsten Fall sogar paranoid. Und wenn Letzteres zutraf, führten sie möglicherweise etwas Unerquickliches gegen mich im Schilde. Vielleicht schickten sie sogar jemanden herunter, um herauszufinden, wer da auf Ratatosk ritt. Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, umgab ich mich selbst, meine Kleider und mein Schwert vorsichtshalber mit einem Tarnzauber. Die nordischen Götter waren wohl kaum in der Lage, diesen zu durchschauen, zumindest wenn man ihrer Mythologie glauben durfte. Ständig legten sie einander mit den simpelsten Verkleidungen herein, von raffinierten Tarnzaubern ganz zu schweigen.
Wir hatten noch ein gutes Stück Weg vor uns, und ich beschloss, die Zeit zu nutzen und Ratatosk ein wenig auszuhorchen. Ich erklärte ihm, mein Schöpfer Eikinskjaldi hätte mir nur eine sehr vage Vorstellung von Asgard vermittelt. Ob er wohl so freundlich wäre, meine Wissenslücken zu schließen? Das Eichhörnchen war damit einverstanden, und so löcherte ich ihn mit Fragen aus den alten Mythen: War LOKI immer noch mit den Eingeweiden seines eigenen Sohns gefesselt? Ja. War die Bifröst-Brücke noch begehbar und wurde sie noch immer von dem Gott HEIMDALL bewacht? Ja. Waren dem Adler und dem Drachen die Beleidigungen ausgegangen, mit denen sie sich gegenseitig belegten?
›Keineswegs!‹, kicherte Ratatosk. ›Willst du die neueste hören?‹
Unbedingt.
›Nidhögg sagt, der Adler sei ein schleimscheißender Federwisch, der nicht mal seinen eigenen Namen kennt!‹
Nicht schlecht, pflichtete ich bei. Zutreffend und doch kurz und bündig. Hatte der Adler eine schlagfertige Antwort parat?
›Ja, der Adler hatte eine Antwort. Ich war gerade auf meinem Weg nach unten, um sie zu überbringen, als mir die NORNEN befahlen, diesen Weg einzuschlagen, um nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau zu halten. Hey!‹ Wieder hielt er inne. ›Sie müssen dich gemeint haben, denn du bist ziemlich merkwürdig.‹
Das höre ich nicht zum ersten Mal, gab ich zu.
›Also wissen sie, dass du kommst. Das ist gut‹, sagte Ratatosk und rannte die Wurzel weiter hinauf. Doch ich fand das überhaupt nicht gut. Die Bestätigung, dass die NORNEN mich erwarteten, klang in meinen Ohren ausgesprochen übel.
›Wie auch immer‹, fuhr das Eichhörnchen fort. ›Der Adler hat gesagt: »Nidhögg kann die linke Spitze seiner gespaltenen Zunge in meine Kloake stecken und schmecken, was es mir bedeutet, einen Namen zu haben«. Aber ich glaube, etwas ganz Ähnliches hat er schon vor dreihundert Jahren gesagt.‹
Was für eine seltsame Beziehung die beiden haben. Apropos. Da wir gerade von seltsamen Beziehungen sprechen, warum in aller Welt ist IDUN mit BRAGI, dem Gott der Dichter, vermählt? Es war nicht gerade die subtilste Art, um auf das eigentliche Ziel meiner Mission in Asgard zu sprechen zu kommen. Doch offenkundig war Feingefühl bei Ratatosk nicht unbedingt vonnöten.
Ratatosk verlangsamte zwar merklich das Tempo, während er darüber nachdachte, blieb dieses Mal aber nicht stehen. ›Ich nehme an, weil sie sich gerne miteinander paaren‹, antwortete er, bevor er wieder beschleunigte.
Das spielt ganz sicher eine wichtige Rolle, stimmte ich zu. Aber ich denke, das Leben wird für die beiden dadurch doch sehr unpraktisch. Wachsen IDUNS Äpfel nicht weit entfernt von der Stadt Asgard und damit auch weit weg von BRAGIS göttlichem Publikum?
Ratatosk schnatterte schrill, was mich erschreckte. Doch dann spürte ich durch unsere mentale Verbindung, dass er sich amüsierte. Dieses Geräusch war offenkundig sein Lachen. ›Keiner weiß, wo die Äpfel wachsen. Aber die beiden leben tatsächlich ziemlich weit weg von Asgard.‹
Ah, da habe ich also doch recht. Wo leben sie denn?
›Nördlich der Asgard-Berge. Sie wohnen an der Grenze zwischen Vanaheim und Alfheim. IDUNS Halle liegt auf der Seite von Vanaheim, und auf der anderen liegt die Halle von FREYR. Du kannst sie nicht verfehlen.‹
Tatsächlich? Warum nicht?
›Weil nachts die Mähne des Riesenebers Gullinbursti den Himmel erleuchtet, und das sogar aus seinem Stall heraus.‹
Man hat mir zwar erzählt, dass FREYRS Halle in Alfheim liegt, aber ich wusste nicht, dass sie sich direkt an der Grenze befindet. Ich würde diesen Gullinbursti zu gerne mal kennenlernen, da er ebenso wie ich eine künstlich erschaffene Kreatur ist. Aber meine Schöpfer haben mir nur wenig Wissen mitgegeben, abgesehen von der Wegbeschreibung nach Gladsheim. Vielleicht besuche ich ihn, wenn ich meine Botschaft überbracht habe. Wie komme ich denn von Gladsheim aus zu FREYRS Halle?
›Renn immer schnurstracks nach Norden‹, sagte Ratatosk. Natürlich hatte mir nie jemand auch nur das Geringste über Asgard erzählt. Daher erkundigte ich mich, wie all die berühmten Hallen und Gemarkungen der Sagen in Beziehung zu Gladsheim lagen, um allmählich einen Eindruck vom Aufbau dieses Gefildes zu gewinnen und mich darin zurechtfinden zu können. Ich fühlte einen kurzen Stich meines schlechten Gewissens, weil ich die Gutgläubigkeit meines pelzigen Gefährten so ausnutzte. Doch dann schob ich alle Skrupel rücksichtslos beiseite und fuhr fort, ihn auszuquetschen. Informationen erhöhten meine Überlebenschancen beträchtlich. Außerdem war Ratatosk eine unerschöpfliche Quelle für saftigen Klatsch und Tratsch aus der Götterwelt. HEIMDALL verbrachte neuerdings viel Zeit in FREYJAS Halle. FREYJAS Katzen hatten kürzlich Junge geworfen, doch hatten ODINS Hunde drei davon gefressen. Und ODIN verlangte, dass in seiner Gegenwart nie wieder jemand BALDUR erwähnen durfte.
›Da wir gerade von ODIN sprechen, Hugin und Munin ziehen ihre Kreise!‹
Wo?
›Zu deiner Linken.‹
Zwei entfernte schwarze Schemen zerteilten die kobaltblauen Lüfte und kündeten die Nähe von ODINS Raben an. Der Gott sah, was auch immer sie sahen. Und ich fragte mich, ob sie wohl meine Tarnung durchschauten. Ich hoffte inständig, dass sie nicht dazu imstande waren.
Ich kann sie sehen, sagte ich zu Ratatosk.
›Deine Nachricht ist doch für ODIN, richtig? Warum gibst du sie nicht einfach an sie weiter?‹
Ich kann mit ihnen nicht so sprechen wie mit dir. Möglicherweise hätte ich es gekonnt. Doch das Letzte, was ich wollte, war mein Bewusstsein mit dem ODINS zu verknüpfen, wie indirekt auch immer die Verbindung sein mochte.
›Du bist nicht dazu imstande? Nun, dann kann ich eine Botschaft für dich übermitteln. Sag mir einfach, was ich ihnen mitteilen soll.‹
Die schwarzen Schemen wurden größer. Dummerweise konnte ich keine Ausflüchte machen und behaupten: »Ich muss meine Nachricht ODIN persönlich überbringen.« Denn diese Raben waren in ganz realem Sinn ODIN selbst. Sie waren Gedanke und Erinnerung ODINS. Also war es Zeit für weitere Lügenmärchen – und erneute Schuldzuweisungen an die Dunkelelfen.
Sag ihnen, dass BACCHUS im Anmarsch ist, um die NORNEN zu erschlagen, erklärte ich. Die Dunkelelfen von Svartálfheim arbeiten mit den Römern zusammen. Sie wollen BACCHUS durch einen geheimen Stollen, an dem sie seit einem Jahrhundert graben, nach Asgard einschleusen. Ich werde ODIN alles im Detail berichten, wenn ich an seinem Thron in Gladsheim angelangt bin.
›In Ordnung, ich übermittle es ihnen.‹ Wir stoppten abrupt, damit Ratatosk sich konzentrieren und mit den Raben sprechen konnte, wie auch immer er das anstellte. Ich hörte ihn jedenfalls keinen Laut von sich geben. Aber nach ein paar Sekunden drehten die Raben ab und kehrten auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. ›ODIN ist zornig‹, verkündete Ratatosk und setzte sich wieder in Bewegung. ›Trotzdem wird er bis zu deiner Ankunft in Gladsheim abwarten.‹
Danke, sagte ich. Ich wusste ODIN lieber in Gladsheim als in seiner anderen Residenz, Valaskjálf. Dort hatte er einen silbernen Thron namens Hlidskjálf, und die Legende wollte es, dass er von dort aus alles sehen konnte – vielleicht sogar einen mit einer Tarnung versehenen Druiden.
›Es ist nicht mehr weit‹, fügte Ratatosk hinzu. ›Bald werden wir durch den Kern von Yggdrasil schlüpfen und an der Oberfläche von Asgard wieder auftauchen.‹
Ich blickte aufwärts, hatte jedoch Schwierigkeiten, irgendetwas zu erkennen, wegen der heftigen Turbulenzen, die das Eichhörnchen verursachte. Immerhin konnte ich ausmachen, dass der Himmel über uns verschwunden war. Stattdessen befanden wir uns im Schatten eines gewaltigen… Brocken Landes. Es war das Gefilde von Asgard.
Klumpen fetter brauner Erde klebten zwischen nackten Felsen. Dünne trockene Wurzeln wehten im Wind, wie Haare, die wild und ungepflegt aus den Ohren alter Männer wuchern.
Es war keine Lücke zwischen der Erde über uns und der Wurzel Yggdrasils zu erkennen, kein Spalt, durch den das Eichhörnchen hätte schlüpfen können. Ich dachte schon, wir würden frontal dagegen prallen – oder vielleicht einfach hindurchpreschen, wie durch eine dieser raffinierten optischen Illusionen, mit denen Batman seine Höhle tarnt. Doch stattdessen schlitterte das Eichhörnchen in ein großes Loch in der Wurzel des Weltenbaums. Es war unserem Blick verborgen, bis wir uns unmittelbar davor befanden. Für einen kurzen Moment– etwa einen halben Atemzug lang – schossen wir horizontal durch eine Art Einlass. Es war eine kleine Höhle am unteren Ende eines langen hölzernen Schlunds, der über uns gähnte. Die hintere Wand dieses Schlunds war glatt, während der Boden unter uns rauh und mit leeren Nussschalen und ausgefallenem Fell übersät war. Durch einen kurzen Nebengang erspähte ich in einem schummrigen Raum einen Haufen ungeknackter Nüsse und ein provisorisches Nest aus Blättern. Vermutlich war dies der Ort, an dem Ratatosk Winterschlaf hielt. Die innere Wand des Schlunds – oder besser gesagt die Innenseite der Baumrinde – war rissig und löchrig, bot also idealen Halt. Ratatosk warf sich (und mich) herum, sodass er daran weiterklettern konnte.
Wir stiegen durch Schleier stygischer Schwärze empor. Nur das hohle Pfeifen des Windes, der in meinen Haaren zauste, gab mir ein Gefühl für die Ausdehnung des Raums. Wie lange werden wir in der Dunkelheit unterwegs sein?, fragte ich Ratatosk.
›In wenigen Augenblicken wirst du Licht sehen‹, antwortete das Eichhörnchen. ›Durch das Loch in der Wurzel über dem grasbedeckten Gefilde von Idafeld.‹
Wie hoch über den Gefilden befindet sich das Loch?
›Nur die Länge eines Eichhörnchens.‹
Du meinst deine Länge?
›Natürlich. Wenn das Loch auf Bodenhöhe wäre, wäre es doch voller Schlamm.‹
Jetzt kann ich das Licht sehen. Ausgezeichnet. Du bist ganz ohne Zweifel eines der großartigsten Eichhörnchen.
›Danke‹, erwiderte Ratatosk und klang ein wenig beschämt und stolz zugleich. Er war ein so netter Kerl, und ich lächelte kurz seinen Hinterkopf an, bevor ich vor der Helligkeit des zunehmenden Lichts die Augen zusammenkniff. Mit jedem Sprung kam das unvermeidliche Problem der NORNEN näher. Ich konnte Ratatosk keinen echten Ausweg vorschlagen. Was auch immer er tat, die NORNEN würden es vorhersehen. Inzwischen befürchtete ich mehr als alles andere, dass sie meine Paranoia teilten. In ihrem Eifer, mich auszulöschen – diese unsichtbare, unberechenbare Bedrohung auf Ratatosks Rücken –, würden sie vermutlich Kollateralschäden in Kauf nehmen und beide, Freund wie Feind, ausschalten. Ich wollte nicht, dass Ratatosk Schaden nahm. Aber ebenso wenig wollte ich, dass er stehen blieb. Auf ein derartiges Manöver wären die NORNEN vorbereitet. So wie die Dinge standen, brachte er mich direkt zu ihnen. Auf dem Rücken des Eichhörnchens, flach an seinen Rumpf gepresst, bot ich ihnen eine perfekte Zielscheibe. Scheiß drauf!
Ratatosk schoss aus dem Loch in der Wurzel und drehte sich sofort auf der Außenseite des Baums nach unten. Sobald ich die Erde wenige Meter unter mir sah, löste ich die Bindung an sein Fell. Ich sprang von seinem Rücken und machte einen Salto, um auf meinen Füßen zu landen. Ein heiserer, gebrüllter Fluch und ein Lichtblitz ließen mich mitten im Sprung erschrocken zusammenfahren. Ich hörte den Aufschrei des Eichhörnchens, als ich mit einem stechenden Schmerz in den Fußgelenken und Knien landete. Während das Eichhörnchen weiter brüllte, ließ ich mich fallen und rollte mich zur Seite ab. Ich befürchtete, unter ihm zermalmt zu werden, wenn es vom Baum herabfiel. Doch nichts dergleichen geschah. Ratatosks Stimme erstarb abrupt und die mentale Verbindung zwischen uns riss ab. Ich blinzelte nach oben. Doch da war nichts weiter zu sehen als eine Wolke aus Asche und herabregnenden Knochensplittern, wo er sich an den Weltenbaum geklammert hatte.
Ich starrte fassungslos hinauf, und möglicherweise stieß ich dabei sogar einen leisen Klagelaut aus. Die NORNEN hatten ihn vollständig ausgelöscht. Eine Kreatur, die sie seit Jahrhunderten kannten. Und das alles nur wegen mir. Es war, als würde man dabei sein, wie der Weihnachtsmann Rudolph das Rentier erschießt.
Ganz offensichtlich hielten mich die NORNEN für eine furchtbare Bedrohung, sonst hätten sie nicht so überstürzt gehandelt. Ich löste mich von dem entsetzlichen Anblick und musterte die drei Gestalten argwöhnisch. Dabei verhielt ich mich absolut ruhig, um die Wirkung meiner Tarnung nicht zu schwächen.
Sie konnten mich nicht sehen. Ihre glühenden gelben Augen, aus deren Höhlen Rauch kräuselte, fixierten immer noch die umherwirbelnden Überreste Ratatosks. Es waren gebückte alte Weiber mit klauenartigen Fingern. Ihre Gesichter waren zu wilden Grimassen verzerrt, zu solchen, vor denen Mütter ihre Kinder immer warnen, damit sie ihnen nicht für immer bleiben. Die drei waren in schmutzige graue Lumpen gehüllt, farblich passend zu den fettigen Haarsträhnen, die von ihren Schädeln herabfielen. Vorsichtig näherten sie sich dem Baum, um sich zu vergewissern, dass die von ihnen prophezeite Bedrohung ausgelöscht war.
Sie war es nicht.
Es dauerte nicht lange, bis sie diesen Umstand in Worte kleideten. Eine von ihnen neigte den Kopf auf dem faltigen Hals und sagte: »Er ist immer noch da. Die Gefahr ist nicht gebannt.«
Gefahr für wen? Schließlich war ich nicht gekommen, um Streit mit ihnen anzufangen. Ich war lediglich auf ein sehr seltenes Obst aus. Sie hätten alle drei einen ordentlichen Tritt in den Allerwertesten verdient gehabt für das, was sie mit Ratatosk angestellt hatten. Trotzdem hielt ich es nicht für die beste Idee, mich mit ihnen anzulegen. Immerhin hatten sie im Handumdrehen ein gigantisches Nagetier pulverisiert. Ich trat einen Schritt nach rechts, um meine Flucht einzuleiten. Doch sie mussten die Bewegung wahrgenommen haben, denn ihre Köpfe zuckten nach unten, um mich mit ihren hasserfüllten, dottergelben Augen anzustarren.
»Da ist er!«, schrie die mittlere und deutete auf mich. Dann sangen sie im Chor etwas in einer altertümlichen Sprache und schleuderten ihre Hände in meine Richtung, wobei ihren schmutzigen Fingernägeln ein übelriechender Staub entwich.
Ich hatte keine Ahnung, was genau dieser Staub bewirken sollte. Vermutlich mein rasches Dahinscheiden. Vielleicht dachten sie in ihrem fortgeschrittenen Alter auch, sie würden Konfetti nach mir werfen, wobei ihr Verhalten jedoch alles andere als freundlich und einladend wirkte. Ganz im Gegenteil. Mein Amulett aus kaltem Eisen wurde für einen Augenblick glühend heiß. Es war die eindeutige Bestätigung, dass sie einen tödlichen Anschlag auf mich versucht hatten. Gleichzeitig drehte sich mein Magen um, meine Innereien verkrampften sich und ich ließ einen ordentlichen Furz fahren.
Normalerweise lache ich über so etwas. Es gibt nichts Besseres als einen Furz, um eine angespannte Situation aufzulockern. Doch dieser war kein natürliches Resultat meiner Verdauungstätigkeit. Es war ein todernster Furz. Er bedeutete nämlich, dass etwas von der Magie der NORNEN mein Amulett überwunden hatte – vielleicht einige Partikel dieses Staubs – und das bereitete mir Kopfzerbrechen.
»Er ist immer noch am Leben!«, fluchte die NORNE zur Rechten. Damit war endgültig jeder Zweifel über ihre wahren Absichten zerstreut.
Möglicherweise hätte ich mein Heil in der Flucht suchen sollen. Andererseits hätten sie dann sofort Alarm geschlagen, und in kürzester Zeit wäre mir ganz Asgard auf den Fersen gewesen. Strategisch, logisch und instinktiv sprach alles dafür, die NORNEN unschädlich zu machen. Wenn man in einem kritischen Moment so eine Entscheidung fällt, ist das Ergebnis nur selten ruhiges, wohlüberlegtes Vorgehen. Vielmehr folgt eine rasche Aktion, befeuert von den urtümlicheren Regionen des Gehirns.
Die Lumpen, die an den knochigen Körpern der NORNEN hingen, bestanden aus natürlichen Wollfasern. Somit waren sie für eine einfache magische Manipulation perfekt geeignet. Während die NORNEN ihre Klauen auf der Suche nach mehr Staub in ihre Taschen stopften und dabei etwas anderes, noch Schrecklicheres in ihrer alten Sprache skandierten, murmelte ich einen Bindezauber über den Stoff auf ihren Schulterblättern. Kaum war ich damit fertig und gab den Befehl zur Ausführung, wurden sie schlagartig nach hinten gerissen. Sie waren jetzt ohne die Möglichkeit, sich zu regen, Rücken an Rücken gebunden und bildeten ein menschliches Dreieck. Das stoppte ihren Fluch und sorgte stattdessen für ein beträchtliches Heulen und Zähneknirschen. Ich hielt einen Moment inne. Und beinahe hätte ich sie so zurückgelassen – gefesselt mit ihren eigenen Kleidern und für den Augenblick außer Gefecht gesetzt. Doch dann verstummten sie plötzlich und begannen sich im Kreis zu drehen, wobei sie mit tiefer Stimme etwas extrem bösartig Klingendes intonierten. Dabei wandten sie sich mir abwechselnd zu, zogen je einen Faden aus dem vorderen Teil ihres Gewands und gaben ihn an ihre Schwester zur Linken weiter. Die NORNEN begannen, diese Fäden zu verweben, und zogen immer weitere heraus. Sie krümmten sich und sangen unaufhörlich, während sie spannen. Es war über die Maßen gruselig. Mir war klar, wenn ich sie ihr Werk beenden ließe, bedeutete dies mit Sicherheit mein Ende. Also zückte ich Moralltach und rannte los. Dabei war es mir egal, ob sie mich hörten. Ihre gelben Augen weiteten sich, als sie mein Näherkommen wahrnahmen. Doch sie hörten nicht auf, ihren Fluch zu singen, weswegen ich mir nicht erlauben durfte, meinen Angriff zu unterbrechen. Mit einer einzigen weit ausholenden Bewegung fegte ich Moralltach durch ihre Hälse. Ihre Köpfe segelten davon wie Bälle aus schäbiger grauer Wolle. Und auf diese Weise waren die nordischen Völker von den Ketten des Schicksals befreit worden. Ich hingegen hatte eine Verdammnis von galaktischen Ausmaßen über mich heraufbeschworen.
»Verdammter Mist!«, rief ich, unvorstellbar frustriert, wie übel sich alles entwickelt hatte. Ich löste meinen Bindezauber und ließ die drei Leichen in sich zusammensacken. Dann sackte ich selbst zu Boden, niedergedrückt von dem Gewicht meiner Taten.
Du stiehlst einen Apfel und kannst anschließend ohne großes Tamtam verschwinden. Das war mein Plan gewesen. Aber schlachte eine Manifestation des Schicksals ab und »sie werden dich finden«, wie schon Hans Gruber in Stirb langsam sagte.
Ich kaute eine Weile auf der Idee herum, meine Mission abzubrechen. Die Vorstellung hatte einen angenehm leichten Geschmack und das pikante Aroma von Überraschung. Vielleicht könnte ich mich in Grönland ohne feste Anstellung durchschlagen. Womöglich könnte ich so unterhalb des Radars bleiben. Laksha jedenfalls würde mich niemals dort aufstöbern, da war ich mir sicher.
Doch die nordischen Götter würden mich irgendwann ganz bestimmt finden. Außerdem wäre Oberon sehr traurig. Die Vorstellung hatte einen bitteren Beigeschmack.
Trotzdem hätte ich dadurch Zeit, etwas Besseres auszuhecken. Schließlich musste ich den goldenen Apfel erst am Neujahrstag abliefern. Erst dann würde sich Laksha auf die Suche nach mir machen, womit mir ausreichend Luft bliebe, mein Verschwinden gründlich zu planen.
Der Haken dabei war nur, dass ich dann sowohl vor Laksha wie auch vor sämtlichen nordischen Gottheiten davonlaufen müsste. Denn ob es mir gefiel oder nicht: Dass ich die NORNEN in Notwehr erschlagen hatte, machte mich zum Feind des gesamten Pantheons. Einen Apfel zu klauen konnte es an diesem Punkt kaum schlimmer machen. Darum beschloss ich, die Mission zu Ende zu bringen und auf diese Art zumindest meine Schuld bei Laksha zu begleichen.
Ich wischte Moralltach säuberlich am Gewand einer der NORNEN ab und steckte das Schwert zurück in die Scheide. Dann kniete ich mich hin und schob meine Finger durch das welke Laub in den federnden Boden Asgards. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Hochmoor – jedenfalls in der unmittelbaren Umgebung Yggdrasils. Durch meine Tätowierungen sprach ich mit der Erde. Sie antwortete mir, auch wenn sich ihre Reaktion irgendwie gepresst und weit entfernt anfühlte, so als müsste sie sich durch eine dicke Schicht Mull kämpfen. Gehorsam teilte sie sich und ließ die Leichen der NORNEN in ihren torfigen Tiefen versinken. Und ebenso willig schloss sie sich wieder, wobei sie keinerlei Spuren von dem, was den dreien zugestoßen war, zurückließ. Nachdem das erledigt war, suchte ich die Erde rund um den Stamm des Weltenbaums ab. Ich fand dort ein paar kleine Überbleibsel von Ratatosk, dem besten aller Eichhörnchen. Ich war froh, dass ich ihn zuletzt stolz auf sich selbst gemacht hatte. Sorgfältig verstaute ich die Knochensplitter in einem Beutel an meinem Gürtel. Später wollte ich ein paar Abschiedsworte für ihn sprechen.
Man würde die NORNEN wohl kaum vermissen, ehe die Götter am nächsten Morgen Rat hielten. Also blieb mir bis dahin Zeit, den goldenen Apfel zu stehlen und mich aus dem Staub zu machen. Eigentlich konnte ich es mir nicht leisten zu trödeln, trotzdem nahm ich mir einen Moment Zeit, um am hoch aufragenden Stamm Yggdrasils emporzublicken. Die Größe des Weltenbaums überstieg jede Vorstellungkraft. Da er sich meilenweit in jede Richtung ausdehnte, wirkte er weniger zylinderförmig, sondern eher wie eine hölzerne Wand. Ich ging davon aus, dass es irgendwo in dem Stamm noch ein weiteres Loch gab, das Ratatosk als Zugang zur Wurzel nach Niflheim gedient hatte. Nachdem ich ein paar Minuten gegen den Uhrzeigersinn um den Stamm getrabt war, fand ich es. Es sah ein wenig größer und benutzter aus als das andere. Zufrieden, dass ich die beiden Öffnungen nun nicht mehr verwechseln und den falschen Rückweg einschlagen konnte, folgte ich der Richtung, die Ratatosk mir gewiesen hatte. Ich wandte mich nicht in Richtung Gladsheim, sondern direkt zur Halle IDUNS. Ich rannte westlich und eine Spur südlich auf den nördlichsten Teil der Berge Asgards zu. Wenn ich sie nach Anbruch der Dunkelheit erreichte, was wahrscheinlich war, konnte ich darauf hoffen, dass Gullinburstis Mähne mich wie ein Leuchtfeuer leiten würde. Bei jedem Schritt zog ich ein wenig Energie aus der Erde, um ohne Ermüdungserscheinungen laufen zu können. Wenn ich dort anlangte, würde ODIN wohl gerade seine Götter mit Gerüchten über den Verrat in Svartálfheim und die Invasion einer römischen Gottheit in helle Aufregung versetzen. Ich hatte einen ordentlichen Schlag gegen den nordischen Ameisenhaufen gelandet. Jetzt würden die Götter herausströmen, auf der Suche nach etwas, das sie beißen konnten.
Ich bin in vieler Hinsicht enttäuscht, dass Raumschiff Enterprise nie zu einer echten Religion geworden ist. Obwohl der archetypische Grundaufbau stimmt, hatte man nie den Ehrgeiz, mehr als nur eine TV-Serie daraus zu machen. Hätte man die Sache wirklich groß aufgezogen, hätten die Anhänger eine Anweisung von den nebulösen Göttern der Föderation erhalten, neue Welten zu erforschen und dorthin vorzudringen, wo kein Mensch je zuvor gewesen ist. Die Mannschaft der Enterprise hätte den Rang von Halbgöttern eingenommen – Engel vielleicht. Sie hätten uns hilfreich geführt, sobald wir an die Grenzen unserer eigenen, persönlichen Existenz vorgestoßen wären. Spock wäre der Engel der Logik auf deiner linken Schulter gewesen, der dich auf Fehlschlüsse in deiner Argumentation hinweist und dir zu Handlungen rät, die auf Bergen von Beweisen basieren. Während Kirk der Engel der Gefühle auf deiner rechten Schulter gewesen wäre, der dich ermutigt hätte, auf dein Bauchgefühl zu hören und deinen Instinkten zu folgen.
»Töte sie alle, Atticus«, raunte der imaginäre Kirk in mein rechtes Ohr. »Ein Streich mit Moralltach, mehr braucht es nicht. Sie können dich nicht sehen. Es wird ein Kinderspiel.«
»Das wäre unklug«, widersprach der imaginäre Spock in die ausgefransten Gewebefragmente, die an meiner linken Schädelhälfte klebten. Vor drei Wochen hatte mir eine deutsche Hexe den größten Teil meines linken Ohrs abgeschossen. Und obwohl die Heilung besser verlief als bei meinem rechten, das mir vor längerer Zeit von einem Dämon abgenagt worden war, sah es immer noch nicht wirklich gut aus. »Ein klügeres Vorgehen besteht meiner Ansicht nach darin, die Mission heimlich zu beenden. Die Wahrscheinlichkeit von Verletzungen oder Tod steigt exponentiell, sobald man von deiner Anwesenheit erfährt. Außerdem gibt ihnen das mehr Zeit, alle anderen zu alarmieren.«
Doch Kirk wollte nichts von Selbstbeherrschung wissen. »Verdammt, Spock. Wir befinden uns hier auf einer völlig anderen Ebene der Wirklichkeit. Und manchmal muss man einfach sagen: scheiß drauf. Da heißt es, Klöten aus Stahl haben und ran an den Speck. Stimmt’s, Atticus? Mach sie alle platt! Für Ratatosk!«
»Captain, unsere Mission besteht ausschließlich darin, einen Apfel zu entwenden, der die Vitalität der Jugend verleiht. Ein generelles Gemetzel erscheint mir weder ratsam noch notwendig.«
»Was ist los mit Ihnen, Spock? Immer nur Umsicht, Vernunft und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Haben Sie keine Eier in Ihren vulkanischen Hosen?«
»Meine Reproduktionsorgane sind vollständig und absolut funktionsfähig, Captain. Aber das ist wohl kaum von Belang für unsere Diskussion. Man kann nicht jedes Problem mit blankem Machismo und Gewalt lösen.«
»Warum nicht? Bei Chuck Norris funktioniert das.«
So halte ich mich selbst bei Laune, wenn ich stundenlang sprinten muss und mir nicht länger über die neunundneunzig Todesarten Sorgen machen möchte, die mich ereilen könnten.
Unter meinen Füßen wurde der moorige Grund um Yggdrasils Stamm von der Ebene von Idafeld abgelöst. Es war eine beeindruckende Ausdehnung nicht domestizierten Graslands, in dem sich plumpe Fasane, Lemminge und schlanke rote Füchse verbargen. Wolken hingen wie Baumwollfetzen am strahlend blauen Himmel, und eine spätherbstliche Brise wehte mir den Duft von Gras und Erde ins Gesicht. Es war ein wunderschöner Tag, trotzdem konnte ich ihn nicht genießen. Selbst ein absolut unerfahrener Verfolger hätte die von mir hinterlassenen Spuren lesen können. Und obwohl dies zu meiner Taktik im bevorstehenden Spiel mit dem Titel ›Suche und vernichte den Eindringling‹ gehörte, hatte ich ein mulmiges Gefühl, aufgrund meiner auffälligen Erscheinung.
Ich ertappte mich selbst bei dem Wunsch, Scotty – der Schutzpatron aller Reisenden?– möge mich quer durch dieses Gefilde direkt zu IDUNS Halle beamen. Teleportation war seine gottgleiche Gabe. Und natürlich die Fähigkeit, seine Motoren nicht nur auf Warp-Geschwindigkeit, sondern gleich auf mehrfache Warp-Geschwindigkeit zu beschleunigen. Wozu er lediglich ein paar Röhren extra und einige mysteriöse Überbrückungen benötigte.
Die Menschen dachten lange Zeit, Druiden wären zur Teleportation imstande. Das ist natürlich Blödsinn. Ich habe mich niemals an irgendeinem Ort in Atome zerlegt, um mich dann an einem anderen Ort wieder zusammenzusetzen. Allerdings bin ich schon häufig meilenweit gesprintet, ohne zu ermüden. So wie ich es jetzt tat, und zwar in einem höheren Tempo, als jeder gewöhnliche Sterbliche es konnte. Außerdem habe ich des Öfteren getrickst, indem ich Abkürzungen durch TÍR NA NÓG nahm. Dort kann jeder heilige Hain in magische Verbindung mit jedem beliebigen Feen-Wald auf Erde treten. Wobei ich mit Feen-Wald meine, dass es sich um ein gesundes Gehölz handelt. Um von Arizona nach Russland zu gelangen, brauchte ich weniger als fünf Minuten: Ich wechselte hinüber in das Gefilde von TÍR NA NÓG, dort fand ich die Verknüpfungen, die – einer Art magischen Eisenbahnlinie vergleichbar– zu einem Wald in Sibirien führten. Dann zog ich mich an ihnen entlang, bis ich auf der anderen Seite des Globus im Land des Borschtsch und der lustigen Fellmützen landete. Um diesen Wechsel des Gefildes zu vollziehen, musste ich mich jedoch zunächst in die Wildnis des Aravaipa-Canyons in der Nähe von Tempe begeben. Für diesen Weg brauchte ich zwei Stunden. Sobald ich dann in Russland in einem ordentlichen Wald angelangt war, lief ich in drei Stunden querfeldein bis zu dem See in der Hochtundra, der mit Mimirs Brunnen verknüpft war.
Doch nun gab es keine Abkürzungen mehr. Ich würde überallhin rennen müssen. Aber das war nicht unbedingt von Nachteil. Und mein Wunsch nach Teleportation ließ nach, während ich mich langsam an das Gefühl der Erde und die magischen Strömungen unter ihrer Oberfläche gewöhnte. Unter den vielen angsterfüllten menschlichen Visionen des Lebens nach dem Tode ist Asgard eine der netteren. Es ist ein wenig karg. Die Lebensformen sind nicht sonderlich vielfältig, ähnlich wie in den kalten Einöden, in denen man die nordischen Götter anbetete. Doch es hat klare Formen und Konturen, duftet nach Mysterium, und der scharfe Geruch von Gefahr weht durch die Luft.
Zugegebenermaßen war das mit der Gefahr möglicherweise etwas, das ich selbst auf den Wind projizierte. Dies war kein lockerer Freizeitlauf, sondern wahnwitzig gefährlich.
Ratatosk hatte mir erklärt, dass ich Vanaheim sofort erkennen würde, wenn ich es erreichte. Zum einen würden die violetten Gipfel der Asgard-Berge gewaltig vor mir aufragen. Zum anderen würde die Ebene von Idafeld in abgeerntete Äcker und idyllisches Farmland übergehen, an dessen Horizont Scheunen und Getreidespeicher leuchtende Farbtupfer setzten wie die flüchtigen, nachträglichen Einfälle eines impressionistischen Malers. Eine Landschaft, bereit für den ersten Schneefall des Winters. Als ich dort anlangte, ging die Sonne gerade vor mir unter. Und ich bewunderte die Fantasie der nordischen Völker, die offensichtlich davon ausgingen, dass Phänomene wie Sonne, Schwerkraft und Wetter bei einem scheibenförmigen, an einem Eschenbaum befestigten Gefilde ebenso funktionierten wie auf der Erde.
Wie auch immer, sie hatten ihr Paradies gut ersonnen. Und wenn ich nicht gerade auf dem besten Weg gewesen wäre, der meistgesuchte Mann dieses Gefildes zu werden, hätte ich gerne noch ein Weilchen hier zugebracht.
Begleitet von den Dämmerungsgesängen der Vögel rannte ich weiter. Um mich vor Zusammenstößen zu schützen, schaltete ich meine Nachtsicht ein. Ich war inzwischen mehr als acht Stunden unterwegs, mit einem Tempo von gut zehn Meilen pro Stunde, und die Berge Asgards waren jetzt nahe. Wie babylonische Zikkurats ragten sie in den abendlichen Himmel.
Nach einer weiteren Meile wurde ich durch den Anblick eines blassgelben Lichtscheins belohnt. Er glomm nordwestlich der Baumkronen eines Waldes, auf den ich mich rasch zubewegte. Entweder handelte es sich um ein gewaltiges Lagerfeuer, was ich für eher unwahrscheinlich hielt, oder um die goldene Mähne Gullinburstis. Da ich offenkundig etwas zu weit nach Süden gerannt war, änderte ich meinen Kurs und hielt direkt darauf zu. Doch schon kurz darauf musste ich zum ersten Mal, seit ich die NORNEN verlassen hatte, meinen Lauf unterbrechen. Vor mir lag ein Fluss, den es zu überqueren galt. Dieser markierte laut Ratatosk eindeutig die überlieferte Grenze Vanaheims. Ich war zwar nicht sonderlich scharf auf Schwimmen, hatte aber ganz offensichtlich keine andere Wahl. Wäre ich in Gestalt einer Eule hinübergeflogen, hätte ich die meisten meiner Habseligkeiten zurücklassen müssen. Also seufzte ich achselzuckend und watete hinein. Alles, was trocken bleiben musste, war ohnehin sicher in einem wasserdichten Beutel verstaut.
Glücklicherweise strömte der Fluss an dieser Stelle eher gemächlich dahin. Daher gelangte ich trotz meiner Kleider und meines Schwerts ohne größere Probleme hinüber, von einem Kälteschauer einmal abgesehen. Und ich gebe zu: Gewisse Körperteile waren deutlich geschrumpft.
Das beste Mittel gegen Frösteln schien mir Rennen zu sein. Also trabte ich erneut auf den blassen Lichtschimmer zu, bevor ich nach kaum zwanzig Metern erneut abbremste. Kurz bevor ich zwischen den Bäumen untertauchen konnte, strahlte das gelbliche Licht hell auf und irgendetwas wurde aus dem Wald emporkatapultiert. Ein blendender, phosphoreszierender Komet schoss in den Himmel, gefolgt von einem rollenden Donner und einer dunklen Wolkenbank, die Sekunden zuvor noch nicht da gewesen war. Vor Nässe tropfend und immer heftiger fröstelnd verharrte ich auf der Stelle. Nicht zuletzt deshalb, weil diese besonderen fliegenden Objekte Götter waren und möglicherweise nach mir suchten.
Es war der Fruchtbarkeitsgott FREYR, der auf Gullinburstis Rücken ritt. Und hinter ihm folgte THOR in seinem Streitwagen, der von zwei Ziegen gezogen wurde. Sie waren unterwegs in Richtung Yggdrasil.
Ich wartete, bis sie fast außer Sichtweite waren, bevor ich mich wieder zu rühren wagte. Dann setzte ich meinen Weg fort, der mich direkt nach Nordwesten führte. Nun war ich mir sicher, dass es die richtige Richtung war und nicht mehr weit.
Und das war gut so. Denn mein Zeitbudget war nun deutlich knapper geworden. Ich hatte gehofft, verschwinden zu können, bevor irgendjemand die Abwesenheit der NORNEN bemerkte. Doch das war inzwischen höchst unwahrscheinlich. Und wie schnell man meine Spur aufnehmen würde, hing jetzt nur noch davon ab, wann sie den Gott HEIMDALL auf mich ansetzten. Er besaß Sinnesorgane der Superlative, die ihn zu einem ausgezeichneten Fährtenleser machten. Wäre er in der Nähe gewesen, hätte er ohne Zweifel längst meinen Herzschlag hören und meinen Angstschweiß riechen können.
Unter diesen Umständen hieß es rasch handeln. Vermutlich hatte ODIN meine List mittlerweile durchschaut. Er hatte ausreichend Zeit gehabt, um sich klarzumachen, dass weder BACCHUS im Anmarsch war, noch die Dunkelelfen etwas gegen ihn im Schilde führten. Allerdings wusste er noch nicht, wer oder was ich war, welches Ziel ich verfolgte und wo ich steckte. Also waren THOR und FREYR unterwegs zu Yggdrasil, um Fakten zu sammeln. Möglicherweise folgten ihnen weitere Götter – aber nicht ODIN selbst. ODIN war mit ziemlicher Sicherheit unterwegs zu seinem Silberthron, wenn er ihn nicht bereits erreicht hatte. Von dort aus würde er eine Suche nach mir starten, um dann eine angemessene Willkommensparty für mich zu veranstalten. Deshalb musste ich zur Tat schreiten, bevor er von seinem Thron aus »alles sehen« konnte. Ratatosk hatte sich recht vage ausgedrückt, was die Entfernung zwischen Gladsheim und Valaskjálf anging. Daher war es schwer zu sagen, wie viel Zeit mir noch blieb.
Nach etwa vier Meilen ging der chaotische Wildwuchs des Waldes in geordnete Reihen stattlicher Obstbäume über. Die Pfirsich-, Pflaumen- und Apfelbäume standen für meine heimliche Durchreise Spalier. Kurz darauf kam ein langsam dahinströmender, tiefer Fluss in Sicht, vielleicht derselbe, den ich vorhin bereits durchquert hatte. In der Annahme, dass dies die Grenze zwischen Vanaheim und Alfheim war, blieb ich auf der südlichen Seite und hielt nach an den Ufern gelegenen Hallen Ausschau. Eine weitere Meile Fußmarsch brachte mich zu ihnen.
Am gegenüberliegenden nördlichen Ufer des Flusses, inmitten eines üppigen Gartens, der im späten November immer noch in voller Blüte stand, ragte FREYRS Halle wie eine kräftige Eiche empor. Sie schien eher organisch gewachsen, als planvoll konstruiert. Trotzdem waren eindeutig Wände und ein wasserdichtes Dach zu erkennen, so wohnlich und sicher wie bei jeder anderen Halle. Überall auf dem Grundstück standen geschnitzte hölzerne Sockel mit geflochtenen Körben, die von frischem Obst und Gemüse überquollen. Kleine nachtaktive Tierchen taten sich an diesen Gaben gütlich. Und eine Eule schwebte herab, um sich ihrerseits an den kleinen nachtaktiven Tierchen gütlich zu tun. Man konnte den warmen Schein von FREYRS Herdfeuer durch die Fenster sehen, die ebenso wie die Tür weit offen standen. Ein Pfad führte von der Haustür durch den weitläufigen Garten, bog dann nach links und verbreiterte sich, bis er am Fluss auf eine hübsche, robust wirkende Brücke stieß. Über ihre kräftigen, breiten Holzbohlen konnten leicht drei Personen nebeneinanderher gehen und offenkundig konnte sie auch große Tiere und Wagen tragen.
Der Pfad verlief auf der anderen Seite der Brücke auf meiner Seite des Flusses weiter. Er führte direkt zu einer kleineren, niedrigeren Halle, die eindeutig nicht gewachsen, sondern planvoll errichtet worden war. Jeder freie Zentimeter des Gebäudes war mit Runen und Szenen aus dem Heldenleben der Wikinger verziert. Ich schlich mich näher, bis ich die Runen entziffern konnte. Es waren skaldische Verse, die verkündeten, dass dies die Halle IDUNS und BRAGIS war, ihnen langes Leben und Liebe beschert sein möge etc. etc.
Leise, eindringlich klingende Stimmen, die aus der Halle ertönten, unterbrachen meine Kunstbetrachtung. Die Tür und die Fenster standen offen, genau wie bei FREYRS Halle, und das Feuer im Inneren diente wohl eher als Beleuchtung denn als Wärmequelle.
»Geh näher ran«, sagte der imaginäre Kirk. »Ich will hören, was sie sagen.«
»Ich stimme zu«, sagte der imaginäre Spock. »Zusätzliche Informationen könnten sich als durchaus hilfreich erweisen.« Ich teilte den beiden mit, dass es mir besser gefiel, wenn sie sich gegenseitig in den Haaren lagen. Dann schlich ich mich vorsichtig an, bis ich unter dem vorderen Fenster der Halle kauerte.
Die warme, volltönende Stimme einer Frau tropfte in meine Ohren: »…was das bedeutet? Wenn die NORNEN wirklich tot sind, dann sind ihre Prophezeiungen womöglich null und nichtig. Dann könnten wir beide wahrhaft frei sein, BRAGI. Stell dir nur vor!«
Ein sonorer Bariton sinnierte nachdenklich: »Ragnarök null und nichtig?« Ein lautstarkes dumpfes Plumpsen und das Kratzen eines Stuhlbeins über den Boden verrieten, dass jemand sich auf eine Sitzgelegenheit hatte fallen lassen. »Vielleicht gibt es dann doch Hoffnung für uns.«
»Ja!«, begeisterte sich die Frau, die ich für IDUN hielt. »Und vor allem gibt es Hoffnung in einer ganz bestimmten Hinsicht! Verstehst du denn nicht? Vielleicht können wir endlich ein Kind bekommen. Der Fluch, mit dem sie uns belegt haben, ist womöglich mit ihnen untergegangen!« Ich hörte Kussgeräusche und dann ein kehliges Lachen des Baritons.
»Ah, verstehe. Und es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, stimmt’s?« Die Kussgeräusche nahmen an Intensität zu. Und bald folgten weitere, wenig züchtige Laute und schweres Atmen. Ich hockte mich frustriert auf meine Hacken, als mir klar wurde, dass das jetzt eine ganze Weile dauern konnte. Die beiden waren keine Teenager mehr, die so ein Geschäft in wenigen hitzigen Minuten abwickelten. Die Langlebigen wussten, wie man ausdauernd liebt.
Doch die kurze Unterhaltung, die ich belauscht hatte, gab mir genügend Stoff zum Nachdenken. IDUN hatte angedeutet, dass die beiden zur Unfruchtbarkeit verdammt waren. Und ihr Verhalten machte deutlich, dass sie es kaum erwarten konnten, diesen Fluch abzuschütteln. Außerdem waren sie offenbar immer noch ineinander verliebt. Sterbliche kriegen nie die Chance, zu erfahren, ob ihre Liebe die Jahrhunderte überdauern würde. Bei IDUN und BRAGI war das eindeutig der Fall. Anfänglich machte mich das ein wenig eifersüchtig, dann sorgte es für richtiggehenden Herzschmerz, wegen der Erinnerungen, die es in mir aufwühlte.
Es hatte einmal eine Frau in Afrika gegeben, die ich mehr als zweihundert Jahre lang geliebt hatte. Nachdem ich mit den Horden Dschingis Khans an den Rand des östlichen Europas zurückgekehrt war, wurde mir rasch klar, dass ich dort wenig zu suchen hatte. Daher hatte ich mich durch Arabien geschlagen, ein merkwürdiger Fremder im Kalifat. Dann tauchte ich tief in den afrikanischen Kontinent ein und verlor mich in diesem wundersamen Land der Savannen, Dschungel und Wüsten. Erst zu Beginn des 15.Jahrhunderts tauchte ich wieder in Europa auf, wodurch ich glücklicherweise auch der Pest entgangen war. Und was noch besser war: Über die gesamte Zeit hinweg hatte AENGHUSÓG