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Überfallen E-Book

Kevin Hearne

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Beschreibung

Die Götter des Altertums leben und die moderne Welt ist ihr Spielball. Mitten drin steckt Atticus O' Sullivan, der zweitausend Jahre alte Druide. Neun fesselnde Erzählungen, die nicht nur der Druidengehilfin Granuaille zur Anschauung dienen, sondern den Leser gleichermaßen das Lachen und das Fürchten lehren. Im alten Ägypten nimmt Atticus an einem Überfall auf die Geheimkammer unter der Bibliothek von Alexandria teil. Doch wer hätte gedacht, dass im Team des Wachdienstes ausgerechnet zwei ägyptische Götter arbeiten? In England trifft der letzte Druide den großen William Shakespeare – und findet sich wenig später zusammen mit einem Hexentrio in einem Kessel kochenden Wassers wieder. Während des Goldrauschs in San Francisco tritt Atticus höchstpersönlich gegen den Avatar der Gier an und wird dabei unterstützt von Sheriff Jack Coffee Hays. Dunkelmänner, fiese Hexen, zornige Geister, Vampirhorden – Kevin Hearne, der Großmeister der Urban-Fantasy mit mythologischem Hintergrund, serviert in diesen neun Stories das komplette Menü.

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Seitenzahl: 387

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Kevin Hearne

Überfallen

STORIES AUS DERCHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN

Aus dem Amerikanischenvon Friedrich Mader

Impressum

Für Levi und Roscoe.Ich glaube fest daran, dass ihr es noch weit bringen werdet.

Die für die Handlung wichtigsten Götternamen sind

in VERSALIEN gesetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgaben erschienen unter den Titeln

»Besieged. Stories from the Iron Druid Chronicles«

im Verlag Del Rey, an Imprint of Random House, New York 2017

© 2017 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung einer Illustration des Originalverlags von © Gene Mollica

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: 978-3-608-98147-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11514-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Das Auge des HORUS

Atticus erzählt diese Geschichte während Granuailes Ausbildung, zwischen Getrickst und Zwei Raben und eine Krähe.

Ein Lagerfeuer unter einem weiten Himmel kann Menschen zusammenschweißen wie kaum etwas anderes. Obwohl wir soziale Geschöpfe sind, treiben uns die Umstände allzu oft in die Isolation. Unsere Hautfarbe ist nicht die der Leute um uns herum, wir sprechen eine andere Sprache, oder die Religion verhindert, dass uns die Nachbarn zum Abendessen einladen. Speziell der letzte Punkt hat bei mir dafür gesorgt, dass ich lange Zeit allein war. Auf der Erde wandeln keine Druiden mehr, es sei denn, man zählt die verschiedenen neuheidnischen Versionen dazu, die auf Rekonstruktionen des neunzehnten Jahrhunderts beruhen.

Auch wenn ich eine Schülerin habe, wird sie wohl kaum eine Druidin werden wie ich: eine, die an die altirischen Götter glaubt, ihnen Ehrfurcht entgegenbringt und zu ihnen betet, die alle Riten befolgt wie die Iren in der Zeit vor der Invasion durch die Christen. GAIA fordert für die Bindung an sie keinen Glauben an eine bestimmte Gottheit. Sie verlangt nur einen gut ausgebildeten Verstand und bedingungslosen Einsatz für ihre Erhaltung. Granuaile ist durchaus in der Lage, Göttlichkeit zu sehen und sowohl das Wunderbare als auch das Schreckliche daran anzuerkennen, doch von Anbetung will sie nichts wissen.

Für Lagerfeuer allerdings hat sie eine Schwäche. Nach den täglichen Mühen der Ausbildung ist das wie ein Bad in einem Teich der Ruhe. Ich fordere ihren Geist bis zur Erschöpfung mit Sprachen und Kopfraumübungen und ihren Körper mit Training in den Kampfkünsten. Wenn dann endlich am Abend die Sonne hinter den in der Hitze backenden Sandsteinklippen des Navajo-Reservats verschwindet, verliert sie sich gern in dem rötlich gelben Flackern der Flammen. Und stellt Fragen nach meiner Vergangenheit.

»Aahhh.« Sie ließ sich bei unserer Feuerstelle auf den Boden plumpsen und hebelte klickend eine Dose Bier auf. »Was für ein Tag. Schade, dass ich Kung-Fu auf die langsame Art lernen muss und es nicht einfach hochladen kann wie Neo.« Mit einem leisen Zucken wegen irgendeines schmerzenden Muskels lehnte sie sich an einen mit Bettzeug gepolsterten Fels und nahm einen Schluck. »Erzähl mir was über die alte Zeit, Atticus, als du noch jung warst und überall durch Kot gelatscht bist, weil es noch keine Toiletten gab.«

»Interessiert dich das wirklich?«

»Ich würde gern irgendeinen alten Scheiß hören. Na ja, es muss nicht um richtige Scheiße gehen, wenn dir das lieber ist. Ich bin einfach müde. Hauptsache, es ist eine Geschichte.«

›Hey, ich weiß, was du uns erzählen kannst‹, bemerkte Oberon über unsere mentale Verbindung. Er lag ausgestreckt über meinen Füßen am Feuer und hatte den Bauch bequem zum Kraulen nach oben gedreht. Auch wenn sie nichts davon mitbekam, konnte Granuaile gut folgen, weil ich meinen Teil der Unterhaltung laut aussprach.

»Was denn, Oberon?«

›Erinnerst du dich noch, wie uns damals diese riesige Meute von Katzen durch halb Kairo gehetzt hat? Du weißt schon, wegen dieser Katzengöttin.‹

»Ach, du meinst BAST. Ja, ich erinnere mich. So was vergisst man nicht so leicht.«

›Erzähl uns, warum sie so wütend auf dich war.‹

»Du kennst doch den Grund für ihre Wut. Sie wollte, dass ich das Buch über die Mysterien ihres Kults zurückgebe, das ich vor langer Zeit gestohlen hatte.«

›Stimmt, aber die genauen Einzelheiten hast du mir nie verraten. Wo hast du es denn gestohlen? Und warum hast du überhaupt ein Buch geklaut, das sich ausschließlich um Sex zwischen Katzenliebhabern dreht? Wurde es von Mumien bewacht? Und wenn ja, haben sie streng gerochen oder dich gebeten, ihren Verband zu wechseln?‹

»Ah, ich verstehe, was du meinst. Ja, ich glaube, das wäre eine gute Geschichte für den Abend. Mann, ist das schon lange her. Im dritten Jahrhundert war das. Damals habe ich mich noch in Europa rumgetrieben.«

»Moment mal, Atticus«, warf Granuaile ein. »Dauert das länger?«

»Weiß nicht. Haben wir’s eilig?«

»Ich will dich nicht mittendrin unterbrechen. Also werde ich zuerst noch dem Ruf der Natur folgen.«

›Das ist mein Lieblingsruf. Pinkeln kann ich immer.‹

»Gut. Wir kommen wieder zusammen, sobald die natürlichen Bedürfnisse erledigt sind.«

Manche Verstecke sind besser als andere. Am besten sind die mit freundlicher Gesellschaft, und mit freundlich meine ich Leute, denen es egal ist, wo man herkommt oder was man da für Tattoos am Arm hat. Sie begnügen sich mit einem Namen, dem Gefühl, dass man einen Beitrag zum Überleben der Gruppe leisten kann, und dazu vielleicht mit einem gelegentlichen Witz oder dem Austausch von Zärtlichkeiten im Heu. Ich vermisse die mühelose Anonymität von damals. Ich konnte einfach mit einem erfundenen Namen so lange in einem Ort bleiben, bis ich aus irgendeinem Grund wieder auf Magie zurückgreifen musste und dadurch den Feenwesen meinen Aufenthalt verriet. Ich schloss neue Freundschaften, machte mich nützlich und verschwand manchmal jahrelang von der Bildfläche.

Das heißt jedoch nicht, dass ich unauffindbar war. Die MORRIGAN konnte mich jederzeit aufspüren. Diesmal entdeckte sie mich bei den Westgoten in einer Gegend, die ganz im Süden des heutigen Moldawien liegt – ich war damals bemüht darum, dem römischen Reich aus dem Weg zu gehen. Als ich gerade Reisig für das abendliche Feuer sammelte, landete sie auf einem Baum und ließ ihre Augen rot aufglühen, zum Zeichen, dass sie keine normale Krähe war.

Vorsichtig schaute ich mich um. Ich war ganz allein. »Hallo, MORRIGAN. Anscheinend ist die Luft rein. Willst du mir etwas mitteilen?«

Sie flog herunter, und die roten Kohlen in ihren Augen erloschen, als sie ihre menschliche Gestalt annahm. »Ich grüße dich, Siodhachan. Ja, ich komme mit einer Botschaft. OGMA will dich dringend sprechen. Du musst sofort aufbrechen und dich mit ihm in Byzanz treffen.«

»In Byzanz? Da geht doch momentan alles drunter und drüber.«

Daran waren die Westgoten, bei denen ich mich aufhielt, nicht unmaßgeblich beteiligt. Byzanz und der größte Teil des Imperium Romanum machten gerade eine schwere Zeit durch, die von heutigen Historikern als »Reichskrise des dritten Jahrhunderts« bezeichnet wird. An den Grenzen gab es mehrere Invasionen, die Währung ging baden wie die Senatoren in ihren mosaikgefliesten Waschhäusern, und ein Soldatenkaiser löste den nächsten ab. Man schrieb das Jahr 269, kurz bevor Aurelian die Macht ergriff und das Reich wieder auf Vordermann brachte.

»Es wird noch schlimmer, vor allem in Ägypten. Ich habe es gesehen.«

»Was genau hast du gesehen?«

Im Mundwinkel der MORRIGAN blitzte ein winziges Lächeln auf. »Dich – in Gefahr. Und das bedeutet, dass du dich auf den Weg machen wirst.«

»Irgendwie finde ich deine Worte nicht besonders ermutigend.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, dich zu dieser Reise zu ermutigen. Dafür ist OGMA zuständig. Ich muss dich nur zu dem Treffen mit ihm in Byzanz bewegen.«

»Du musst? Warum? Was hast du davon?«

»Gefälligkeiten. Die wertvollste Währung überhaupt.«

Eine nicht besonders subtile Anspielung. Ich schuldete der MORRIGAN gleich mehrere Gefälligkeiten und verdankte ihr im Grunde sogar mein Leben. Daher konnte ich ihr diese Bitte nicht abschlagen. »Wo genau in Byzanz?«

»In einer Taverne namens Kelch Cäsars. OGMA wird dich da erwarten.«

»Dorthin werde ich eine Weile brauchen.«

»Dessen ist er sich bewusst. Auf jeden Fall solltest du bald aufbrechen.«

»Gut. Lebewohl, MORRIGAN.«

»Bis zum nächsten Mal, Siodhachan.« Sie verwandelte sich wieder in eine Krähe und flog hinaus in die Abenddämmerung. Ich trug mein Reisigbündel zum Dorf und fachte das Gemeinschaftsfeuer an. Während alle beim Abendessen saßen, packte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und schlich im Schutz der Dunkelheit davon.

Mehrere Wochen später betrat ich den Kelch Cäsars. Um als ganz normaler Römer zu erscheinen, der sich ein Glas genehmigen wollte, hatte ich meine druidischen Tätowierungen sorgfältig verhüllt. OGMA saß tatsächlich am Ende eines langen Tischs, vor sich einen Becher einer Plörre, die damals als kostbarer Wein galt, und ein Brett mit Brot und Käse. Sein Kopf war kahl geschoren, und auch er hatte seine Tattoos verborgen.

Er nickte mir zu und signalisierte mir mit einem Wink, dass ich ihm gegenüber Platz nehmen sollte. »Keine Namen bitte. Und sprich Lateinisch mit mir. Willst du einen Becher?«

»Klar.«

Er rief nach einem und schenkte mir von dem tiefroten Tropfen ein. »Sei gegrüßt. Hat sie dir den Grund unseres Treffens erklärt?«

»Sie hat bloß Aegyptus erwähnt, mehr nicht.«

»Richtig. Die Palmyrer werden sich bald erheben, und die Antwort Roms wird nicht lange auf sich warten lassen. Das heißt, dass die große Bibliothek von Alexandria in Gefahr ist.«

Ich schnaubte. »Die ist doch ständig in Gefahr. Schon Julius Cäsar hätte sie vor zwei Jahrhunderten fast niedergebrannt.«

»Diesmal rechnen wir mit dem Schlimmsten.«

»Wir?«

OGMAS Blick wanderte zu zwei Männern am Tisch, die sich nicht unterhielten. Wahrscheinlich hörten sie uns zu.

»Ich, meine Schwester und die Krähe.« Damit meinte er BRIGHID und die MORRIGAN. »Viel Wissen wird für immer verloren gehen. Manches davon sollte bewahrt werden. Es sind ganz bestimmte Schriftrollen, die mich interessieren.«

Ich zuckte die Achseln. »Schön. Und warum erzählst du mir das?«

»Ich möchte, dass du sie für mich holst.«

Ungefähr drei Sekunden lang starrte ich ihn stumm an, dann senkte ich den Blick auf meinen Becher. »Ich verstehe nicht. Du verfügst über die gleichen Fähigkeiten wie ich – und mehr. Es wäre doch ganz einfach für dich, das selbst zu machen.«

OGMA gluckste leise. »Von einfach kann nicht die Rede sein; tödlich trifft die Sache schon eher. Diese Schriftrollen sind gut geschützt.«

»Die Informationen darin müssen ja geradezu fantastisch sein.«

»In der Tat. Und jetzt fragst du dich sicher, warum du dich darauf einlassen solltest.«

»Ich gebe zu, das ist mir in den Sinn gekommen.«

»Du wirst den Auftrag übernehmen, weil dort wahrhaft wundersame Informationen warten. Alles, was du über das von mir Verlangte hinaus mitnimmst, darfst du behalten.«

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Kannst du mir vielleicht ein Beispiel nennen, damit ich weiß, ob es sich lohnt, mein Leben aufs Spiel zu setzen?«

Mit einem raschen Seitenblick überzeugte sich OGMA davon, dass die beiden Männer sich noch immer nicht unterhielten. Er deutete zur rückwärtigen Seite der Taverne. »Da hinten ist ein kümmerlicher kleiner Garten. Wollen wir unser Gespräch in der Sonne fortsetzen?«

»Gern.«

Wir standen mit unseren Bechern in der Hand auf und schlenderten vorbei an Tischen und neugierigen Blicken. Jetzt im Sommer musste es auffallen, dass wir vom Hals bis ganz unten bedeckt waren, da nackte Beine ab den Knien in dieser Kultur üblich waren.

OGMA wechselte nun ins Altirische und wandte sich in gedämpftem Ton an mich. »Diese Kerle sind unfähig, aber hartnäckig. Schon kurz nach meiner Ankunft in der Stadt haben sie sich an meine Fersen geheftet. Gleich werden wir wohl erfahren, ob sie die Maskerade aufgeben und uns folgen.«

Im Garten hielten sich außer uns nur zwei Leute auf, weil es draußen heiß und der Schatten begrenzt war. Es gab mehr Hecken und Blumenbeete als Bäume, und alles dürstete nach Wasser. Der karge Schutz, den die Wedel einer einsamen, vertrockneten Palme boten, war bereits besetzt. Wir schritten zur gegenüberliegenden Seite, die voll in der Sonne, aber dafür weit weg von lauschenden Ohren lag.

Wieder auf Lateinisch sprach OGMA so leise, dass nur ich ihn hören konnte, obwohl niemand in der Nähe war. »Zurück zu deiner Frage. In der Bibliothek wirst du die Mysterien von Göttern finden, die sich deutlich von den TUATHA DÉDANANN und anderen unterscheiden. Rituale, Zauber und Geheimnisse – sie liegen schon lange im Dunkeln verschlossen und können dir vielleicht von Nutzen sein, sollte dich AENGHUS eines Tages aufspüren. Bannsprüche, die Magiern größte Vorsicht und Opferbereitschaft abverlangen und die du anpassen und in elegante Bindungen umgestalten kannst.«

»Klingt nicht besonders großartig für mich.«

»Sollte es aber. Außerdem langweilst du dich. Wie alt bist du inzwischen? Dreihundert? Und seit fünf Jahren lebst du bei den Westgoten, richtig?«

»Bezaubernde Menschen und beeindruckende Lagerfeuerköche. Die wissen, wie man einen Hasen am Spieß brät, das kannst du mir glauben. Und sie erzählen unterhaltsame Geschichten über ihre Missgeschicke beim Sex.«

»Ach, komm. Du sehnst dich doch nach was anderem, Siodhachan! Du hast Hundert-Schlachten-Conn sein Schwert Fragarach gestohlen. Du hast dir AIRMEDS mächtige Kräuterkunde zu eigen gemacht und sie bewahrt. Erzähl mir nicht, dass du mit einem Dasein in idyllischer Eintönigkeit zufrieden bist, dass du dich begnügst mit deinem jetzigen Wissen und nicht noch mehr zu erfahren trachtest.«

»Mag sein, dass du recht hast. Doch das heißt nicht, dass ich dir zuliebe dem Tod in die Arme laufe. Verzeih, wenn ich mich so klar ausdrücke, OGMA.«

»Auch du hast einen Nutzen davon, wie bereits erwähnt. Wenn du mir diesen Dienst leistest, dann schulde ich dir einen Gefallen. Und diese Währung hat einen höheren Wert als jede römische Münze.«

Das war allerdings wahr. Wenn einem ein Gott für die Zukunft eine echte, noch zu benennende Gefälligkeit versprach, musste man sich die Antwort schon genau überlegen, bevor man sich so eine einmalige Gelegenheit entgehen ließ. Vielleicht sogar ein lebensrettendes Eingreifen in der Zukunft. Manche Gefälligkeiten, rechtzeitig eingefordert, waren womöglich entscheidend dafür, dass man dem Tod noch einmal von der Schippe springen konnte. Allerdings hatte OGMA ziemlich deutlich durchblicken lassen, dass ich nicht mit seiner Hilfe rechnen durfte, falls ich in Alexandria auf Probleme stieß. Und wenn er dort mit einer tödlichen Bedrohung rechnete, war die Gefahr für mich doppelt so groß.

»Ich lege mich noch nicht fest«, erwiderte ich, »aber ich bin ganz Ohr. Erzähl mir mehr. Worauf bin ich aus, wo finde ich es, und was steht mir im Weg?«

OGMA lächelte wie ein Sieger und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Unter der Bibliothek liegt ein versiegeltes Verlies mit Schätzen, so ähnlich wie die Grabkammern der Pharaos in ihren Pyramiden. Dort befinden sich Schriftrollen und sogar einige gebundene Bücher. Vielleicht gibt es auch Zepter und Ähnliches, deren Besonderheit mehr in ihrer Macht als in ihrer Schönheit liegt. Ich will vier Schriftrollen, die in einer lackierten und mit dem Auge des HORUS gekennzeichneten Kassette eingeschlossen sind. Ist dir dieses Symbol vertraut?«

»Ja. Aber ist es nicht ziemlich weit verbreitet? Möglicherweise gibt es dort mehrere solche Kassetten.«

»Keinesfalls.«

»Woher willst du das wissen, wenn der Raum versiegelt ist?«

»Die TUATHA DÉ DANANN haben ihre allsehenden Augen.«

»Ah, die MORRIGAN.«

»In der Tat.«

»Und was ist so besonders an diesen Schriftrollen?«

Der Gott der Sprachen zuckte die Achseln. »Genau weiß ich das erst, wenn ich sie gelesen habe.« Offenbar wollte er mir nichts darüber erzählen.

»Wer hat die Kammer errichtet und sie versiegelt?«

»Ihre Erbauer sind zweifellos inzwischen tot. Mindestens ein Teil des Inhalts soll der Privathort der ägyptischen Göttin SESCHAT sein.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Die Göttin der Schrift und der Wissensbewahrung.«

»Aha, dann kann ich mir leicht ausmalen, dass sie das Wissen auch vor Dieben bewahrt.«

»Ja. Du musst dich wohl auf einige Flüche einstellen.«

»Welcher Art?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Aufgebracht riss ich die Hände hoch. »Diese unterirdische, versiegelte Kammer liegt doch sicherlich in totem Bruchstein. Das heißt, ich bin von GAIA abgeschnitten und praktisch ohne Kraft. Ich weiß nicht, wie das gehen soll!«

OGMA nickte mir mit einem leisen Grinsen zu. Auf diesen Einwand war er offenbar gefasst. »Ich habe etwas, das dir zumindest dabei helfen kann.« Aus den Falten seiner Tunika brachte er einen goldenen, mit Flechtwerk geprägten Wendelring zum Vorschein. »Das habe ich zusammen mit BRIGHID vorbereitet.«

»BRIGHID ist an der Sache beteiligt?«

»Ja. Sie möchte ebenfalls einen Blick auf diese Schriftrollen werfen.« Er reichte mir den Ring. »Darin ist Kraft gespeichert, von der du zehren kannst.«

Ich fuhr mit dem Finger über das Flechtwerk. »Sind das Bannsprüche?«

»Richtig. Ein wirksamer Schutz gegen einige Arten ägyptischer Flüche, denen wir begegnet sind.«

»Wann?«

»In der Antike. Kurz nachdem GAIA als Reaktion auf den Tod des Sahara-Elementargeistes die TUATHA DÉ DANANN an sich gebunden hat.«

»Verstehe.«

»Wir wollten zumindest ein gewisses Maß an Ordnung herstellen und die zerstreute freie Magie wieder mit dem Nil verknüpfen. Das ägyptische Pantheon zeigte sich … nicht gerade gastfreundlich. Nur dank dieser Bannsprüche kamen wir mit dem Leben davon. Sie können die Flüche zwar nicht gänzlich ablenken, doch sie sollten ihre Stärke mindern.«

»Verschweigst du mir etwas? Ist damals jemand gestorben?«

»Natürlich. Wir hätten die Bannsprüche nicht erschaffen können, wenn wir vorher nicht die Wirkung der Flüche erlebt hätten.«

»Und obwohl du diesen Schutz hast, willst du die Schriftrollen nicht selber holen. Warum?«

OGMA deutete auf den Wendelring. »Diese Bannsprüche haben vor Tausenden von Jahren ihren Zweck erfüllt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Ägypter inzwischen neue Flüche haben.«

Ich atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf. »Da wirst du mir einen ziemlich großen Gefallen schulden. Was mir Kopfzerbrechen macht, ist die Frage, warum sie überhaupt dieses Risiko eingehen. Warum schreiben sie Dinge auf, von denen niemand anders erfahren soll? Warum bewahren sie die Geheimnisse nicht einfach in mündlicher Tradition auf, so wie wir?«

»Die Weitergabe von Wissen ist ein schwerwiegender Machtfaktor«, erwiderte er – und ich habe die Wahrheit seiner Worte später oft bestätigt gefunden. »Es geht immer darum, die Überlieferung nach den eigenen Vorstellungen zu lenken, und nichts aufzuschreiben ist die extremste Form des Lenkens. Damit können wir unsere Geheimnisse bewahren, doch zugleich schränkt es die Fähigkeit ein, unsere Weisheit zu verbreiten. Denk nur an diese neue Religion namens Christentum, die ihren Ursprung in Jerusalem hat. Sie haben ein paar Geschichten über diesen JESUS aufgeschrieben, und das spricht sich viel schneller herum, als wir die Lehren des Druidentums weitergeben können. Nur die wenigsten können lesen, aber diese Priester halten einfach ein paar Papyri hoch und rufen: ›CHRISTUS wird wiederkehren, so steht es geschrieben!‹ Und die Leute akzeptieren es als wahr. Ich habe Angst vor dem Erscheinen dieser Priester in Irland. Auch das geschriebene Wort trägt Mysterien in sich. Denk darüber nach, Siodhachan.«

In diesem Moment traten die zwei Männer, die uns in der Gaststube belauscht hatten, durch die Hintertür und bemerkten, wie wir über einem Ring aus reinem Gold die Köpfe zusammensteckten. Beim Anblick dieses wertvollen Gegenstands ließen sie von ihren läppischen Spionagebemühungen ab und gingen direkt zu offener Streitlust über.

»Entschuldigung«, bemerkte der eine, der einen breiten Hals und Arme wie Schweinekeulen hatte, »seid ihr römische Bürger?«

Bürger besaßen bestimmte Rechte und durften sich frei bewegen. Alle anderen konnten von den Behörden schikaniert und grundlos eingesperrt werden. Die beiden ahnten bestimmt, dass wir keine Bürger waren, und wollten offenbar bloß Gewissheit, damit sie unter irgendeinem Vorwand den Ring beschlagnahmen konnten.

»Tarnung«, flüsterte mir OGMA zu. Er band seine Pigmente an die Umgebung und wurde plötzlich unsichtbar. Damals hatte ich meine Anhänger noch nicht und verfügte nicht über seine Fähigkeiten. Daher musste ich eine Sandale abstreifen und Kraft aus der Erde ziehen, bevor ich die Bindung sprach. Die zwei Kerle stießen einen verblüfften Schrei aus, als OGMA verschwand, und befahlen mir, mich nicht zu bewegen. Ich tat ihnen den Gefallen, bis ich nach wenigen Sekunden ebenfalls verblasste.

Fluchend schauten sie sich um. Vielleicht hatte ich mich ja bloß sehr schnell bewegt, während sie blinzelten? Eine natürliche Reaktion von Menschen, wenn sich jemand vor ihren Augen in Luft auflöst, und ich nutze das immer zu meinem Vorteil. Möglichst lautlos entfernte ich mich ein kleines Stück von der Stelle, auf die sie konzentriert waren, und OGMA machte es sicher genauso. Das war auch nötig, denn die nächste natürliche Reaktion besteht darin, den Raum, wo die verschwundene Person zuletzt wahrgenommen wurde, mit dem Tastsinn zu erkunden. Tatsächlich traten sie mit ungläubig ausgestreckten Händen vor, weil sie sich überzeugen wollten, dass wir wirklich nicht mehr da waren. Sie griffen ins Leere, auch wenn ich ziemlich in der Nähe stand. Ich hätte den Arm ausstrecken und dem breithalsigen Burschen auf die Schulter klopfen können.

Sein Begleiter, ein dünner jüngerer Mann mit peitschenartigen Muskeln, hatte eine Theorie parat. »Davon habe ich schon mal gehört. Vielleicht sind es Druiden.«

»Druiden? Hier? Ich dachte, die gibt es nur in Gallien!«

Der Dünne nickte. »Genau dort habe ich davon gehört. Die Legionen erwischen sie trotzdem, weil sie nicht richtig verschwinden. Sie sind noch immer da, auch wenn wir sie nicht sehen. Vielleicht können wir sie ein bisschen pieksen.« Er griff nach seinem Gladius und hatte es zur Hälfte aus der Scheide gezogen, da knautschte sich seine linke Gesichtsseite mit einem klatschenden Geräusch wie beim Fleischklopfen nach innen, und Zähne flogen ihm in einer blutigen Gischt aus dem Mund. OGMAS Hieb hatte ihn aus heiterem Himmel getroffen, und er brach zusammen. Diesem Beispiel folgend, bearbeitete ich den Breithals aus der entgegengesetzten Richtung und brach mir an seinem Kinn prompt einen Fingerknöchel. Aber die Hauptsache war, dass er zu Boden ging und beide fürs Erste niemandem mehr nachschleichen konnten.

»Reden wir woanders weiter«, schlug OGMA auf Altirisch vor. »Wir müssen die Stadt verlassen. So was wie das hier spricht sich schnell herum, und dann werden alle nach zwei Druiden suchen.«

»Gut.«

Wir ließen die zwei stöhnenden Späher im Dreck zurück und schlüpften aus der Taverne. Erst draußen auf der Straße lösten wir unsere Tarnung auf. Einige Leute erschraken bei unserem plötzlichen Erscheinen, dachten sich aber dann wohl, dass sie uns irgendwie übersehen haben mussten. Zügig steuerten wir auf das nächste Tor zu und traten hinaus, bevor die Kunde zu den Wachen vordrang, dass sie nach verdächtigen Gestalten Ausschau halten sollten.

»Nun, was sagst du, Siodhachan?«, fragte OGMA. »Willst du diese Schriftrollen holen, nach Belieben andere Gegenstände mitnehmen und dir eine Gefälligkeit verdienen? Oder wirst du diesen Schatz der Zerstörung durch die Römer überlassen?«

Auch wenn es mir nicht gefiel, ging ich nicht darauf ein, wie er die Sache auf ein Entweder-Oder zuspitzte. »Wann muss es passieren?«

»Du hast noch ein wenig Zeit für die Reise dorthin, aber je früher, desto besser. Schließlich willst du nicht in der Stadt festsitzen, wenn der Aufstand beginnt und die Römer zurückschlagen. So hat es BRIGHID vorhergesehen.«

»Es gibt dort keine Haine zum Wechseln?«

»Leider nein.«

»Das heißt, ich muss wochenlang auf einem Pferd sitzen? Na ja, immerhin vergrößere ich mit jedem Schritt den Abstand zu AENGHUS ÓG. Schön, OGMA. Ich mache es.«

»Ausgezeichnet.«

Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, schüttelte ich die Hand aus und wirkte einen Heilzauber, um den gebrochenen Knöchel wieder zusammenzubinden. Dabei streifte mich eine Ahnung, dass das erst der Anfang war.

Vor der großen Bibliothek von Alexandria atmete meine Nase Salz, Fisch und gebackenen Stein, Schweiß, Blut und verrottenden Abfall ein. Drinnen roch es anders: nach Staub und modrigem Lammfell, Tinte und Klebstoff auf Papyrus und gelegentlich einem Hauch parfümierter Salben, die verzweifelt von einem Paar ungewaschener Achseln abzulenken trachteten.

Vor dem Eintreten hatte ich mein Pferd in einen Stall gebracht und überprüft, ob meine Tätowierungen auch wirklich vollständig verborgen waren. Außerdem hatte ich etwas, das heutige Gamer vielleicht als Bag of Holding bezeichnen würden, in meine Robe geknüpft und Fragarach darin versteckt. Nun hieß es lächeln, nicken und einige koptische Worte wechseln. Die meisten Schriftrollen waren nicht offen ausgestellt. Man musste sich zunächst an einen Bibliothekar wenden, der dann veranlasste, dass das Gewünschte geholt wurde. Immerhin gab es im Hauptgeschoss einige frei zugängliche Regale, in die ich mich zum Schein vertiefte, während ich mich beiläufig nach einer Treppe zu den Kellerräumen umschaute. Kaum hatte ich die Tür entdeckt, durch die sämtliche Bibliothekare kamen und gingen, streifte ich mir OGMAS goldenen Wendelring um den Hals und spürte sofort die darin wohnende Kraft. Diese nutzte ich für einen Tarnzauber und betrat das Treppenhaus. Ganz unten gelangte ich in einen Keller, dessen dicke Staubschicht davon zeugte, dass sich nur selten jemand hierher verirrte. An den Wänden und auch zwischen den Säulen zogen sich hohe Regale hin. Nach einem schnellen Rundgang war klar, dass nur wenige Bibliothekare hier herabstiegen, deren Kommen man obendrein schon lange vorher hörte. Um Energie zu sparen, löste ich den Tarnzauber auf. Was mir auffiel, waren die mit Hieroglyphen bedeckten Säulen – ungewöhnlich, da diese Zeichen schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr in Gebrauch waren. Einige Passagen waren auch auf Demotisch und sollten wohl so ähnlich wie beim Rosettastein modernen Lesern beim Entschlüsseln der Hieroglyphen helfen. Allerdings war auch diese Sprache inzwischen praktisch völlig vom Koptischen verdrängt worden.

Zur Lage der verschlossenen Kammer hatte sich OGMA bloß sehr vage geäußert. SESCHAT hatte den Eingang nicht nur versiegelt, sondern ihn auch verborgen. Obwohl ich die Hieroglyphen nicht lesen konnte, betrachtete ich die Säulen nacheinander sorgfältig, bis ich auf dreien das Auge des HORUS entdeckt hatte. Ausschließlich diese suchte ich nach Mustern und Hinweisen auf SESCHATS Kammer ab: Ich drückte auf die Augen, prüfte die Regale zu beiden Seiten der Säulen auf Unregelmäßigkeiten und forschte nach Sprüngen, die auf eine verborgene Tür und eine Treppe in einer hohlen Mauer hätten schließen lassen. Nichts. Zweimal hörte ich sich nähernde Schritte und versteckte mich, bis der Bibliothekar wieder verschwand.

Ich musste einen neuen Ansatz finden. Als ich nachmaß, wie die Säulen mit dem Auge des HORUS zueinander standen, dämmerte mir, dass sie ähnlich manchen Pyramiden ein vollkommen gleichschenkliges Dreieck bildeten. Auf der Suche nach dessen Mitte fand ich mich in einem Gang wieder, wo ich am Boden ein in den Stein gemeißeltes Auge entdeckte. Kauernd erkannte ich feine Linien um das Auge, die erahnen ließen, dass es vielleicht als zusammenhängendes Siegel in den Boden sinken konnte. Unter Umständen reichte schon ein fester Daumendruck. Doch hier war natürlich Vorsicht angebracht. Mit der Energie des Wendelrings hob ich den Schleier meines weltlichen Blicks und betrachtete das Bild mit magischer Sicht.

Es war tatsächlich ein einfacher Schalter, der über einen Hebel ein unter meinen Füßen verborgenes Steingetriebe in Gang setzte – allerdings nur, wenn eine magische Sperre gelöst wurde. Diese vermutete ich am ehesten unter einem massiven Regal links von mir – auf dem sich bis hoch hinauf Schriftrollen in Holzschatullen türmten –, denn die magische Bindung um den Schalter zuckte bis zu ihrem Verschwinden in diese Richtung.

Ich bezweifelte, dass ich das ganze Regal verschieben konnte oder es auch nur versuchen sollte. Zuerst musste ich überprüfen, ob die Bindung dahinter in andere Gänge führte. Nein, sie endete unter dem Regal. Schließlich wandte ich mich dem Brett ganz unten zu und entdeckte eine Schatulle, auf deren eine Seite in verblasstem Blau das Auge des Horus gemalt war. Das musste ein Hinweis sein. Da ich keine magische Sicherung erkennen konnte, zog ich die Schatulle vorsichtig unter den anderen heraus und öffnete sie. Während ich die Rolle entfaltete, kehrte ich zur normalen Sicht zurück.

Es war eine Karte des Verlieses unter mir, und auf der Umrahmung war in Hieroglyphen sowie in demotischer und koptischer Schrift die Warnung angebracht, dass nur Hohepriester ungestraft eintreten durften. Mir lag auf der Zunge zu fragen: »Hohepriester welcher Religion?« Wahrscheinlich waren die hieroglyphischen Darstellungen mehrerer Gottheiten darunter die Antwort. Ich erkannte HORUS, ANUBIS, OSIRIS, ISIS, BAST, TAWERET und eine weitere, auf die ich mich dank OGMA schon eingestellt hatte: SESCHAT.

Dort unten gab es einen Schalter, mit dem man den Eingang hinter sich schließen konnte, und sieben um einen Gang gruppierte Räume: jeweils drei zu beiden Seiten und einen großen am Ende. Das waren sechs Kammern mehr, als OGMA erwähnt hatte, und keine trug die hilfreiche Bezeichnung Hier befindet sich, was OGMA sucht. Sie waren überhaupt nicht gekennzeichnet, und es gab auch keine Anweisungen zum Öffnen. Was hatte mir OGMA in Byzanz erklärt? Überlieferung konnte man lenken. Ein Pfeil und Instruktionen auf Demotisch und Koptisch zum Schließen des Eingangs waren die einzigen Hinweise darauf, was mich erwartete. Aber es waren sieben Gottheiten abgebildet, und es waren sieben Kammern. Möglicherweise hatte also jede ihre eigene. Demnach musste ich nur die mit einem Bild von HORUS finden – oder die von SESCHAT, da sie für die Bewahrung des Wissens zuständig war.

Blieb noch immer das Problem, wie ich dort hinunterkommen sollte. Vielleicht erforderte das Regal mehr Aufmerksamkeit.

Ich enfernte alle Schriftrollen über der Stelle, wo die Bindung verschwunden war – unter anderem auch die Schatulle mit dem Auge des Horus darauf. Dann hatte ich eine Fläche schwarzer Schatten vor mir, die nichts verhieß außer vielleicht Spinnen.

Mit Nachtsicht bemerkte ich allerdings im Boden des Regals ein gebohrtes Loch, das ungefähr so groß war wie ein Okayzeichen mit Daumen und Zeigefinger. Was unter dem Loch war, konnte ich nicht erkennen. Sollte ich einen Finger hineinstecken oder lieber nicht? Ich fand, dass ich notfalls auf einen verzichten konnte, und probierte es. Vorsichtig schlängelte ich den kleinen Finger hinein und tastete das Loch ab. Dann den Steinboden darunter. Nichts biss mich.

Ermutigt setzte ich den linken Daumen hinein und drückte. Die Fläche senkte sich, und durch die Stille hallte ein dumpfes Klicken. Sonst passierte nichts. Ich wechselte wieder zur magischen Sicht und sah, dass die rote Bindung zum Buchregal verschwunden war. Das hieß, dass der Mechanismus jetzt funktionieren sollte. Ich presste mit dem Daumen auf das Auge im Boden und sprang zur Seite, als es unter mir rumpelte und knackte. Wie ein Mannloch öffnete sich der Boden, und eine Leiter mit steinernen Sprossen forderte mich zum Abstieg auf. Mit aktiver Nachtsicht ließ ich mich darauf ein und stieß auf den von der Karte angekündigten Schalter zum Schließen der Tür. Er setzte auch Lichter in Gang: natürlich keine elektrischen, sondern grün flammende Leuchter auf halber Höhe der Gangmauern. Wovon sich das Feuer nährte, war nicht zu erkennen. Der Begriff dafür existierte damals noch gar nicht, und der Anblick war zugleich umwerfend und verdammt unheimlich.

Probeweise drückte ich den Schalter noch einmal, und die Lichter erloschen mit dem Öffnen der Pforte. Nachdem ich mich auf diese Weise vergewissert hatte, dass ich einen Fluchtweg hatte, schloss ich die Vorrichtung wieder, und die unheimlichen Lichter flammten erneut auf.

Bevor ich mich ans Werk machte, zog ich Fragarach und meinen Beutesack aus der Robe und schlang mir beide kreuzweise über die Schultern. Ich wollte für alles bereit sein.

Die erste Tür links trug das Zeichen der Nilpferdgöttin TAWERET, das oft als Siegel des Schutzes verwendet wurde. Ich ließ die Finger von ihrer Kammer. Wenn ein Dieb mit einer Falle rechnen musste, dann bei einer Schutzgöttin. Der Raum gegenüber gehörte ISIS, mit der ich mich ebenfalls nicht anlegen wollte. Auf der linken Seite kam als Nächstes BAST. Das war schon eher eine Versuchung für mich, zumal ich nicht unbedingt ein Katzenliebhaber bin.

Die schriftlichen Erklärungen an dieser Tür beschränkten sich auf Hieroglyphen, die ich nicht verstand. Doch links davon gab es einen Steinkreis, den man wohl drücken musste. Knarrend glitt die Pforte nach innen, drinnen erblühten Lichter, und ich stand vor einem weit größeren Wunder als Howard Carter später im Grab von König Tutanchamun. BAST-Figuren aus Gold und Obsidian, Lapislazuli, Alabaster und anderen Stoffen; Schriftrollen und Bücher aus gebundenem Pergament, viele in demotischer und koptischer Schrift. Dort entdeckte ich das in Katzenleder gebundene Buch der Sexmysterien BASTS und auch Nützliches, wie von OGMA angedeutet: Zum Beispiel eine Schriftrolle mit genauen Erläuterungen zu Bannsprüchen – von denen in der Kammer keiner aktiv war. Lediglich die fein gemeißelten Kunstwerke waren auf diese Weise geschützt, wie ich im magischen Spektrum feststellte. Ich betrachtete sie, ohne sie zu berühren.

Gegenüber am Gang lag die Kammer des OSIRIS, und soweit ich das erkennen konnte, war sie völlig ungeschützt. Vielleicht waren seine Hohepriester der Ansicht, dass sein weltlicher Besitz nach der Wiederkehr von den Toten nicht mehr so besonders wichtig war. Ich mopste ein paar vielversprechende Schriftrollen und zog weiter.

Die nächsten zwei Kammern gehörten ANUBIS und SESCHAT. Mit ANUBIS war nicht gut Kirschen essen, und SESCHATS Pforte war mit mehreren Bannschichten beschirmt, deren schwindelerregende Komplexität unmöglich von einem Priester stammen konnte. Die Quantität und Qualität der Magie vor meinen Augen konnte nur das Werk der Göttin persönlich sein, und ich bekenne ohne Scham, dass ich vor Nervosität ein paarmal schlucken musste. Bis dahin hatte ich mich mit dem Gedanken beruhigen können, dass ich hier bloß durch die Schätze von Menschen stöberte, denn mit Menschen wurde ich in der Regel gut fertig. Doch es ist ziemlich ernüchternd, wenn man plötzlich erkennt, dass man kurz davor ist, sich den Zorn einer Göttin zuzuziehen, die nichts für junge Iren übrighat. Es wurde allmählich Zeit, dass ich die Sache zu Ende brachte und wieder verschwand. Ich konnte nur hoffen, dass ich dafür nicht durch diese Tür musste.

Die große rückwärtige Kammer gehörte HORUS, und man konnte sie mühelos betreten. Ich näherte mich der Pforte, weil ich davon ausgehen konnte, das Gesuchte dort zu finden. Im Gegensatz zu SESCHATS Tür vibrierte hier zumindest nicht alles von schlechten Omen. Trotzdem war die Sicherheitslage drinnen – anders als in den Räumen von BAST und OSIRIS – nicht eben unproblematisch.

Das fing schon mit dem Toten an, der gleich hinter dem Eingang lag. Er war nicht mehr besonders frisch und auch keine Mumie. Skarabäen und Würmer hatten sich über den Unglücklichen hergemacht, und wahrscheinlich hätte man nicht einmal mit einer Wagenladung Rosenblüten etwas gegen den Geruch ausrichten können. Nur durch den Mund atmend, inspizierte ich die Leiche vom Gang aus, ohne die Schwelle zu überschreiten.

Aufgrund der faltenfreien Haut – oder dem, was davon übrig war – schätzte ich ihn auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Keine Zeichen von Gewaltanwendung wie ein eingeschlagener Schädel oder ein Speer im Brustkasten. Nur seine Fingernägel waren zerrissen, manche fehlten auch völlig. Das lieferte mir den entscheidenden Hinweis. Er war eingetreten – und dann war hinter ihm die Tür zugeschlagen. Er saß in der Falle. Er war ohne Essen und Wasser eingeschlossen, und alle Hilferufe waren zwecklos, denn schließlich handelte es sich hier um ein geheimes Verlies unter einem Keller, der nur gelegentlich von Bibliothekaren besucht wurde. Zweifellos waren seine Schreie ungehört verhallt. Irgendwann hatte er aus Angst vor dem Tod den Verstand verloren und versucht, sich mit den Fingern einen Weg nach draußen freizuscharren. Das hieß, dass sich die Tür von innen nicht öffnen ließ.

Ich fasste sie näher ins Auge, zumal sie sich von den anderen unterschied. Diese hatten die übliche rechteckige Form und bewegten sich durch ein System von Rollen und Gegengewichten in den Mauern. Die Pforte von HORUS hingegen war rund und konnte sich aufgrund ihrer Konstruktion viel schneller öffnen und schließen. Wenn man auf den Schalter links drückte, um sie zu öffnen, senkte sich ein Teil des Bodens zu einer schrägen Rampe ab, über die sie beiseite rollte, bis sie krachend einrastete. Wahrscheinlich schob sich die Bodenplatte automatisch wieder zurück, sobald sich die Tür schloss. Noch hatte ich keine Ahnung, was die Falle ausgelöst hatte, aber wie auch immer, ich hatte nicht vor hineinzutappen.

Mit der Kraft des Wendelrings band ich die steinerne Tür fest an den Rahmen und vor allem an den Boden, damit sie offen blieb und nicht zurückrollen konnte, auch wenn ich denselben Mechanismus auslöste wie der unglückliche Eindringling.

Dann trat ich über die Schwelle und die Leiche und schaute mich um. OSIRIS hatte gar nichts geschützt und BAST nur die herrlichen Statuetten ihrer katzenhaften Schönheit. HORUS oder seine Priester hingegen hatten den größten Teil des vor mir verteilten Inventars mit Bannsprüchen belegt – nach welchen Kriterien war allerdings nicht erkennbar. Wahrscheinlich einfach nach persönlicher Wertschätzung. Außerdem entdeckte ich unmittelbar vor all den Wertgegenständen und schon deutlich hinter der Tür eine Art magischen Stolperdraht, der quer über den Boden lief. Das war es: Wer sich den Prunkstücken näherte, löste den magischen Schalter aus, und die Tür fiel zu. Ich trat auf den Draht und wackelte darauf herum. Die Pforte blieb offen.

Das war natürlich nur der leichte Teil. Die Suche nach OGMAS lackierter Kassette war bestimmt viel schwieriger, vor allem falls sie sich nicht hier befand, sondern in SESCHATS Kammer. Die frühere Ordnung in den Regalen hier bestand nicht mehr, weil der Tote wohl vor seinem Ableben viele Sachen in einem Wutanfall auf den Boden gewischt oder durch die Gegend geschmissen hatte.

Es gab exquisit gemeißelte Statuetten wie in BASTS Raum. Dazu mehrere Bücher, Schatullen, Scherben, die vielleicht von keramischen Gefäßen stammten, einen Krummstab und eine Geißel aus reinem Gold, ein Anch aus Obsidian und anderes.

Zuerst untersuchte ich die herumliegenden Kästchen, konnte aber auf keinem das Auge des HORUS entdecken. Auch ihr verstreuter Inhalt lockte mich nicht.

Schließlich wandte ich mich von ihnen ab und trat über die Sicherheitslinie zu den Regalen. Und tatsächlich entdeckte ich ganz hinten eine lackierte Kassette mit dem Auge des HORUS darauf. Links und rechts davon war alles leergefegt. Anscheinend hatte der Verstorbene sie sogar in seiner Todesangst gemieden. Vielleicht, weil sie geschützt war.

Nachdem ich nun das Gesuchte aufgespürt hatte, nahm ich das restliche Inventar in Augenschein. Viele Bücher und Schriftrollen machten einen vielversprechenden Eindruck. Als Erstes steckte ich die ungeschützten in meinen Sack. Die anderen, deren Schutz im magischen Spektrum rot und gelb schimmerte, hob ich für später auf. Dann überlegte ich mir genau, wie ich die Sachen beginnend mit OGMAS Schatulle einsammeln und mich dabei der Tür nähern konnte. Mit der rechten Hand hielt ich die Klappe des Sacks auf und machte mich auf den Weg. Bei jeder Berührung mit einem Objekt rechnete ich damit, gleich von irgendeinem Voodoo umgehauen zu werden.

Doch nichts passierte. Nacheinander stopfte ich all meine Wunschgegenstände in den Sack und spürte nicht einen einzigen magischen Tritt in die Nieren. Seltsam. Konnte es sein, dass mich OGMAS Wendelring so gut schützte? Oder war die Wirkung dieser Flüche eher langfristig?

Zu guter Letzt schloss ich den Sack und zückte Fragarach, bevor ich mit klopfendem Herzen zurück über die Schwelle trat. Grinsend schlang ich mir meine Beute über die Schulter. Das Schwert behielt ich zur Vorsicht in der Hand. Beschwingt und fast schon übermütig steuerte ich auf den Schalter am Ende des Gangs zu, mit dem ich die Pforte zur Leiter nach oben öffnen konnte.

Doch bevor ich ihn betätigen konnte, schob sie sich bereits auf. Da war jemand auf dem Weg nach unten. Hastig huschte ich zurück und legte flach an BASTS Tür gedrückt einen Tarnzauber über mich.

Auf dem nackten Oberkörper der Gestalt, die die Leiter herabstieg, kräuselten sich schwellende Muskeln, und mir war sofort klar, dass ich es hier nicht mit einem ungewöhnlich durchtrainierten Bibliothekar oder einem Hohepriester zu tun hatte. Tatsächlich war das gar nicht schwer zu erkennen, denn die Gestalt hatte kein Menschenhaupt. Vielmehr hatte sie den glatt gefiederten Kopf eines Falken – und zwar keine kunstvoll gemalte Maske wie in Stargate. Nein, es war ein echter Falkenkopf, allerdings ein abnorm großer mit einem rasiermesserscharfen Schnabel, der sich öffnete und schloss, und beängstigenden schwarzen Augen, die blinzelnd auf die offene Tür am Ende des Gangs starrten. Es war HORUS persönlich.

Und offenbar konnte er mit beiden Augen bestens sehen. Eines hatte er eigentlich bei einem Kampf mit SETH verloren und es nach seiner magischen Heilung für die Wiederauferstehung des OSIRIS geopfert. Wahrscheinlich hortete er irgendwo in einem Glas extragroße Ersatzfalkenaugen, die nur auf ihren Einsatz warteten, sobald eine Höhle frei wurde. In typischer Vogelmanier ruckte er zur Unterstützung der Raumwahrnehmung mit dem Kopf hin und her, was er sich hätte sparen können, wenn nur ein Auge funktioniert hätte. Halb blind wäre er mir lieber gewesen.

Was hatte ihn auf den Plan gerufen? Sicher nicht das Öffnen der Tür. Und auch nicht das Auslösen der Falle, denn er hatte weder den unbekannten Eindringling weggeschafft noch das Chaos aufgeräumt, das dieser hinterlassen hatte. Es musste daran liegen, dass sich jemand an seinen magischen Kinkerlitzchen vergriffen hatte – vielleicht sogar genau an dem, das ich in OGMAS Auftrag gestohlen hatte. Ja, für diese Theorie sprach vieles, denn der tote Eindringling hatte die Kassette nicht angerührt. Möglicherweise war der Voodoo, den ich erahnt hatte, gar kein Fluch, sondern ein Alarmsignal an HORUS. Und er hatte prompt reagiert.

Er war so darauf konzentriert herauszufinden, warum die Tür zu seiner Kammer offen stand, dass er vergaß, die Pforte nach oben zu schließen, und mir damit eine Fluchtmöglichkeit ließ. Schnell hatte ich mir einen überaus schlauen Plan zurechtgelegt. Ich wollte getarnt warten, bis er auf dem Weg zu seinem Raum an mir vorbei war, und dann die Leiter hinaufflitzen, bevor er merkte, dass man ihn hereingelegt hatte.

Leider laufen meine Pläne selten nach Wunsch.

Horus schritt an dem ersten Türenpaar vorbei, dann blieb er direkt auf meiner Höhe stehen, und das tote linke Auge fixierte mich aus seinem Profil wie eine Hieroglyphe. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht wirklich anstarrte. Eigentlich war ich unsichtbar, doch womöglich besaß er außersinnliche Fähigkeiten – oder einfach sehr feine normale Sinne. Vielleicht konnte er meinen Ellbogen riechen oder meine Zehennägel wachsen hören.

Nun bewegte sich seine rechte Hand zur Hüfte und zog eine Art Metallstab heraus. Dieser wuchs in beide Richtungen und verwandelte sich an den Enden in erkennbare Formen: Oben in den Kopf eines Benu-Reihers, unten in eine scharfe Sichel. Damit hielt er eine Art Was-Zepter, ein Symbol der Macht, das in diesem Fall offenkundig auch eine Waffe war. Seine Brust hob sich, als er tief Luft holte, und mehr an Warnung bekam ich nicht. Beim Ausatmen führte er einen mörderisch schnellen Schlag aus, der meinen Kopf abtrennen sollte.

Ich duckte mich, und er verfehlte mich haarscharf. Das Zepter krachte in die Mauer, und ein Steinsplitter furchte durch meine Kopfhaut, als ich mit Fragarach nach ihm senste und ihm mit der Spitze eine rote Linie über den Bauch zog. Dass er blutete, war ermutigend, doch dass er der größten Wucht des Hiebes ausgewichen war, fand ich weniger erfreulich, denn das hieß, dass er meine Waffe gesehen oder sie trotz der Tarnung zumindest irgendwie wahrgenommen hatte.

HORUS tänzelte nach hinten und versperrte mir so den Fluchtweg. Ich wirbelte nach links in die Mitte des Gangs und ließ mich ein wenig zurückfallen, um Zeit für die Aktivierung der Bindung zur Steigerung meiner Geschwindigkeit zu gewinnen. Ich musste mich beeilen, denn dem Wendelring ging allmählich der Saft aus.

Währendessen senkte HORUS kurz den Blick auf seine Wunde und kreischte. Danach wurde seine Stimme zu einer Art tieffrequentem Zwitschern. Ich wusste nicht, ob er an einer Heilung oder an einem vernichtenden Zauber gegen mich arbeitete, jedenfalls musste ich ihn davon abhalten.

Der neuromuskuläre Schub durchzuckte meinen Körper wie der Klang einer Stimmgabel, und ich stürzte mich auf ihn. Diesmal war ich darauf gefasst, dass er meinen Hieb mit dem Zepter parierte. Kein Zweifel, HORUS konnte mich trotz meiner Tarnung irgendwie spüren. Schnell setzte ich mit einem Tritt in den Bauch nach, und der saß: Alle Luft wich ihm aus der Lunge, und sein Singsang brach ab. Benommen taumelte er nach hinten, und ich nützte meinen Vorteil zu einem weiteren Tritt gegen den noch immer gesenkten Schnabel. Krächzend bäumte er sich auf und fiel beinahe auf den Rücken. Ich grinste, als mir klar wurde, was das bedeutete: Er nahm zwar mein Schwert war, mich selbst aber nicht. Solange ich Fragarach weit weg vom Körper hielt, konnte er meine Bewegungen nicht abschätzen. Bei seinem ersten unheimlich zielsicheren Schlag nach meinem Kopf hatte er einfach gut geraten, ausgehend davon, dass ich das Schwert in der rechten Hand hatte.

Es dauerte etwas zu lang, bis ich das alles durchdacht hatte. HORUS fand sein Gleichgewicht wieder und stieß einen Schrei aus. Dann schwang er sein Zepter in einem rotierenden Muster so ähnlich wie dem, das du gerade mit dem Stab lernst, Granuaile. Meine Kampfkunstausbildung in China lag noch ungefähr sieben Jahrhunderte vor mir, daher hatte ich so etwas noch nie gesehen. Ich wich zurück und überlegte fieberhaft, wie ich seinen Schlagwirbel durchbrechen konnte. Wenn es mir gelang, machte ihn das sicher für kurze Zeit anfällig. Vielleicht. Offen gestanden hatte ich keine Ahnung, über welche Abwehrtechniken er verfügte, und ich fühlte mich schon jetzt hoffnungslos unterlegen.

Da er auf die Position meines Schwerts fixiert war, vollführte ich als Erstes eine Finte nach rechts und versetzte ihm, als er in diese Richtung schwenkte, von links einen Tritt. Ich traf ihn am Ellbogen und unterbrach damit den Wirbel, doch in diesem Moment verlängerte sich sein Zepter nach oben, und er peitschte es mit einem heftigen Hieb nach unten, dem ich nicht ausweichen konnte. Er erwischte mich knapp unter dem Schlüsselbein, und ich stolperte ächzend zurück, bis ich gegen Stein prallte.

Dummerweise war es nicht bloß irgendeine Mauer. Er hatte mich zurück an die massiv geschützte Tür von SESCHATS Kammer getrieben. Falls er das absichtlich getan hatte, war es ein verdammt schlauer Schachzug.

Meine Muskeln verkrampften sich, und der Schmerz schoss durch meine Nerven, als ich zu Boden sank. SESCHATS Abwehrmagie durchbebte mich trotz der schützenden Bindungen des Wendelrings. OGMA hatte allerdings erwähnt, dass ihre Wirkung beschränkt war, und ich stieß eine wüste irische Beschimpfung aus, als ich mich möglichst klein zusammengefaltet von HORUS wegrollte. Bis ich das Gefühl hatte, wieder halbwegs Herr über meinen Körper zu sein, war ich fast wieder vor seiner Kammer, und mir dämmerte, dass mich SESCHATS Bannflüche ohne den Schutz des Wendelrings wohl sofort getötet hätten, mochte er auch noch so unausgegoren sein.

HORUS jedenfalls schien fest damit gerechnet zu haben, denn als ich mich aufrappelte, stand er noch immer an seinem Platz und blinzelte verwirrt. Er hatte mich also wirklich mit Absicht an die Tür der Katzengöttin getrieben. Und vielleicht beschlich ihn jetzt wenigstens ein Teil der Unsicherheit, die ich empfand. Wie bei allen neun Höllen sollte ich hier bloß die Oberhand behalten?

Im Grunde eine überflüssige Frage: Ich konnte nicht gewinnen, sondern höchstens fliehen. HORUS war mir in der Kampfkunst weit überlegen und zudem nicht auf einen begrenzten Vorrat an Kraft angewiesen. Ich konzentrierte mich auf den Gedanken, dass ich ihn nicht vernichten musste. Entscheidend war nur, dass ich an ihm vorbeikam.

Weil er im Moment keinen Abwehrwirbel einsetzte, stürmte ich auf ihn los, den rechten Arm weit vorgestreckt, damit Fragarach seine Aufmerksamkeit auf sich zog und er meine Position falsch einschätzte. Prompt riss er das Zepter hoch und ließ es beidhändig niedersausen. Gerade noch rechtzeitig zog ich den Schwertarm ein, und sein Hieb senste knapp rechts von mir vorbei, während ich ihm mit Wucht die Ferse meines ausgestreckten linken Beins in die Kehle rammte. Als er mit einem gurgelnden Laut zu Boden stürzte, trat ich mit dem anderen Fuß auf seine Brust und rannte weiter zum Ausgang.