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Befreit von jeglicher Form des Schicksals sind die altnordischen Gottheiten Loki und Hel bereit für die Entfesselung des Endkampfs Ragnarök – der Apokalypse auf Erden. Und in den Regionen vieler Pantheons haben sie Verbündete für ihren verheerenden Plan gefunden. Es braut sich ein den ganzen Globus umspannender Krieg zusammen, in dem der Druide Atticus kaum eine Überlebenschance für sich sieht. Ihm bleibt keine Wahl: Er muss auf die Hilfe einer Tyromantin, einer indischen Hexe und eines Trickster-Gottes zurückgreifen, die ihm den Rücken freihalten sollen, damit er Gaia retten und vielleicht sogar den nächsten Sonnenaufgang erleben kann. Schließlich geht es nicht nur um ihn, sondern auch um einen Hund namens Oberon. Und vor allem geht es um den Fortbestand Jahrtausende alten Druidentums. Mit Band 9 ist die Kultserie aus der Feder von Kevin Hearne abgeschlossen.
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Seitenzahl: 432
Kevin Hearne
Zerschmettert
DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 9
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
Für Tricia, die Metal-Lektorin, die das Ganze erst möglich gemacht hat
Die für die Handlung wichtigsten Götternamen sind in VERSALIEN gesetzt.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Scourged. The Iron Druid Chronicles Book 9«
im Verlag Del Rey, an Imprint of Random House, New York 2018
© 2018 by Kevin Hearne
Für die deutsche Ausgabe
© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburgunter Verwendung der Illustration des Originalverlags © Gene Mollica
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN978-3-608-98134-6
E-Book: ISBN 978-3-608-19186-8
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Atticus O’Sullivan, im Jahr 83 vor Christus als Siodhachan Ó Suileabháin geboren, war einen Großteil seines Lebens als Druide auf der Flucht vor AENGHUS ÓG, einem Gott aus den Reihen der TUATHA DÉ DANANN. AENGHUS ÓG wollte Fragarach zurückhaben, ein magisches Schwert, das Atticus im zweiten Jahrhundert gestohlen hatte; und auch die Tatsache, dass Atticus gelernt hatte, dauerhaft jung zu bleiben, und einfach nicht sterben wollte, war ihm ein Dorn im Auge.
Als AENGHUS ÓG Atticus in seinem Versteck in Tempe, Arizona, aufspürt, entschließt sich Atticus zum Kampf, statt weiter zu fliehen. Mit dieser schicksalhaften Entscheidung löst er ohne sein Wissen eine Kettenreaktion von Ereignissen aus, die über ihn hereinbrechen wie eine Lawine.
In Gehetzt gewinnt er mit Granuaile eine Schülerin, birgt eine Halskette, die der indischen Hexe Laksha Kulasekaran als Zufluchtsort für ihren Geist dient, und entdeckt, dass ihn seine Eisenaura sogar vor dem Höllenfeuer schützt. Mit Unterstützung der MORRIGAN, BRIGHIDS und des örtlichen Werwolfrudels besiegt er AENGHUS ÓG. Dabei fügt er jedoch einem Hexenzirkel Schaden zu, der den Einzugsbereich von Phoenix bisher vor gefährlicheren Bedrohungen schützte.
Mit den Folgen sieht sich Atticus im zweiten Band Verhext konfrontiert, als ein rivalisierender und weitaus tödlicherer Zirkel den Schwestern der Drei Auroras ihr Territorium streitig macht und eine Gruppe von Bacchantinnen in Scottsdale Fuß zu fassen versucht. Atticus trifft Vereinbarungen mit Laksha Kulasekaran und dem Vampir Leif Helgarson, damit sie ihm helfen, die Stadt von diesen Bedrohungen zu befreien.
Im dritten Band Gehämmert muss Atticus seine Versprechen einlösen. Sowohl Laksha als auch Leif verlangen, dass Atticus nach Asgard zieht und den ASEN in ihren Methallen die Stirn bietet. Mit einem handverlesenen Team von Recken fällt Atticus zweimal in Asgard ein, obwohl ihn die MORRIGAN und JESUS warnen, dass das keine gute Idee ist und er stattdessen lieber sein Wort brechen sollte. Es kommt zu einem epischen Blutbad mit großen Verlusten aufseiten der ASEN: unter anderem sterben die NORNEN und THOR, und ODIN wird schwer verwundet.
Der Tod der NORNEN, die einen Aspekt des Schicksals darstellen, führt dazu, dass die alten Prophezeiungen über den Endkampf Ragnarök nicht mehr zutreffen und dass die Unterweltgottheiten HEL und LOKI sich ohne große Gegenwehr der ASEN an ihr finsteres Werk machen können. Allerdings wird Atticus bei einem seltsamen Zusammentreffen mit dem finnischen Helden Väinämöinen auch an eine andere Prophezeiung erinnert – die der Sirenen an Odysseus. Von nun an treibt ihn die Sorge um, dass es vielleicht nur noch dreizehn Jahre dauern könnte, bis die Welt bei einem alternativen Ragnarök in Flammen aufgeht.
Weil ihm die Konsequenzen seines leichtfertigen Handelns immer stärker auf den Nägeln brennen und er zudem für die Ausbildung seiner Schülerin Zeit braucht, täuscht Atticus im vierten Band Getrickst mithilfe von COYOTE seinen Tod vor. Tatsächlich taucht HEL auf, die Atticus für die dunkle Seite zu gewinnen hofft, nachdem er so viele ASEN getötet hat. Atticus weist ihr Angebot schroff zurück. Später wird er von Leif Helgarson verraten und entrinnt nur knapp dem Mordanschlag eines alten Vampirs namens Zdenik. Dennoch endet das Buch mit der Hoffnung, dass Atticus seine Schülerin Granuaile ungestört ausbilden kann.
In der Erzählung »Zwei Raben und eine Krähe« erwacht ODIN aus seinem langen Genesungsschlaf und schließt eine Art Waffenstillstand mit Atticus, unter der Bedingung, dass der Druide THORS Rolle im Endkampf Ragnarök übernimmt, falls es dazu kommt – und sich bis dahin vielleicht auch noch um ein paar weitere Details kümmert.
Im fünften Band Erwischt ist Granuaile nach zwölf Jahren Ausbildung bereit für ihre Bindung an die Erde, doch es hat den Anschein, als hätten die Feinde des Druiden nur auf sein Wiedererscheinen gewartet. Atticus muss sich mit Vampiren, Dunkelelfen, Feenwesen und dem römischen Gott BACCHUS herumschlagen. Vor allem Letzteres weckt die Aufmerksamkeit eines der ältesten und mächtigsten Pantheons der Welt.
Sobald Granuaile eine vollwertige Druidin ist, muss Atticus daher mit ihr durch ganz Europa fliehen, um den Pfeilen von DIANA und ARTEMIS zu entrinnen, die ihm übelnehmen, wie er BACCHUS und die Dryaden am Olymp im fünften Buch behandelt hat. Damit Atticus, der im sechsten Buch Gejagt wird, einen Vorsprung bekommt, opfert die MORRIGAN ihr Leben. Rennend und kämpfend entzieht er sich einem koordinierten Mordkomplott und gelangt nach England, wo er sich die Hilfe von Herne dem Jäger und von FLIDAIS, der irischen Jagdgöttin, sichert. Dort gelingt es Atticus, die OLYMPIER zu besiegen und mit ihnen ein fragiles Bündnis gegen HEL und LOKI auszuhandeln. Am Ende des Buchs entdeckt er, dass sein Erzdruide in Tír na nÓg auf einer Zeitinsel gefangen ist. Als er ihn befreit, ist die Laune seines alten Lehrers so schlecht wie eh und je.
Im siebten Buch Erschüttert findet der Erzdruide Owen Kennedy einen Platz im Tempe-Rudel und hilft Atticus und Granuaile bei der Vereitelung eines Putschversuchs in Tír na nÓg gegen BRIGHID. Granuaile hat in Indien eine harte Auseinandersetzung mit LOKI, die sie für immer verändert, und ein Sendbote des alten Vampirs Theophilus ermordet einen von Atticus’ ältesten Freunden.
In der Erzählung »Vorspiel zum Krieg« sucht Atticus den Rat einer Tyromantin in Äthiopien, um zu erfahren, wie er am besten gegen die Vampire zurückschlagen kann, während Granuaile zum zweiten Mal LOKI gegenübertritt – nur dass diesmal sie ihn in einen Hinterhalt lockt.
Im achten Band arbeitet Atticus mit Leif Helgarson zusammen, damit der uralte Vampir Theophilus Aufgespießt und ein für alle Mal besiegt wird. Granuaile erfährt, dass LOKI auf der ganzen Welt Bündnisse mit dunklen Mächten schließt und einen ungewöhnlichen Seher befragt, wann er Ragnarök beginnen soll; gemeinsam mit ihr bringt PERUN einen alten Feind zur Strecke und raubt LOKI damit seine Quelle der Voraussicht. Owen gründet in Flagstaff einen neuen Druidenhain, erhält ein magisches Paar Messingknöchel von CREIDHNE und hat eine anstrengende Begegnung mit einem Troll, die für beide schlecht verläuft. Im Abkommen von Rom erklären sich die Vampire bereit, sich aus Polen und aus dem nordamerikanischen Gebiet westlich der Rocky Mountains zurückzuziehen.
Nach den Ereignissen in Aufgespießt klären Oberon und Atticus in der Gegend von Portland zwei Verbrechen, die in Oberons blutige Fälle geschildert werden. Dabei schließen sie Freundschaft mit einem gewissen Earnest Goggins-Smythe, der als Hundehüter einspringt, wenn Atticus und Granuaile auf Reisen sind. Infolge der Ermittlungen adoptieren sie einen weiteren Hund, einen Boston Terrier namens Starbuck.
In Überfallen, einer Sammlung von Geschichten aus dem Umfeld des Eisernen Druiden, erfahren wir von Ereignissen, die sich direkt auf den Fortgang der Handlung auswirken. FLIDAIS begeht einen verhängnisvollen Fehler, als sie PERUN in einen »Kuschelkerker« in Edinburgh führt; Granuaile muss das Abkommen von Rom gegen mehrere abtrünnige Vampire in Krakau unter der Führung von Kacper Glowa durchsetzen; die Druiden werden nach Tasmanien gerufen, um dort unter Beteiligung von Owens Hain die Beutelteufel vor dem Aussterben zu bewahren; zuletzt erfährt Atticus von der MORRIGAN, dass der Beginn von Ragnarök unmittelbar bevorsteht, und erzählt aus diesem Grund Oberon, was seinem Gefährten Faolan, einem Vielfraß, vor Jahrhunderten zugestoßen ist.
Außerdem kommen im Verlauf der Handlung gelegentlich auch Pudeldamen und Würste zur Sprache.
Ich habe einmal einen Becher Wein mit Galileo getrunken. Von allen Menschen, die mir in den einundzwanzig Jahrhunderten meines Lebens begegnet sind, bleibt er für mich einer der genialsten und auch einer der mutigsten. Was für unglaubliche Cojones muss er gehabt haben, dass er der katholischen Kirche die Stirn bot zu einer Zeit, als diese regelmäßig Monarchen stürzte und Menschen tötete zum Ruhm ihres Gottes (den ich übrigens in Arizona einmal zu einem Whiskey einladen durfte und der die in seinem Namen begangenen Morde nicht als besonders ruhmreich empfand). Es verlangte sehr viel Mumm, der gesamten Christenheit trotz aller Drohungen unter die Nase zu reiben, was für ein Quatsch ihr Geozentrismus war. »Ich habe nachgerechnet«, erklärte er mir über den Rand seines Bechers hinweg. »Und die Zahlen sind – wie dieser erlesene Jahrgang, den wir gerade genießen – nachweisbar, wahrnehmbar und objektiv, kurz: völlig unabhängig von irgendwelchen menschlichen Glaubensvorstellungen.«
Wahrhaft ein Mann, der nach den Sternen griff, dieser Galileo! Auch wenn meine Wortspiele schon mal besser waren.
Letztlich musste die Kirche Galileo recht geben und lange nach seinem Tod auch einräumen, dass sein Leben und Werk den Ausgangspunkt für große Errungenschaften bildeten. Das Erblühen der Naturwissenschaften, die seine Methoden verwendeten, bescherte der Menschheit viele Wunder. Und viele Übel.
Inzwischen stellt sich mir die Frage, ob ich nicht ebenfalls ein solcher Ausgangspunkt für Gutes und Schlechtes bin, obwohl ich stets um Anonymität bemüht war. Den größten Teil meines Lebens habe ich darauf geachtet, mich aus den historischen Ereignissen herauszuhalten, und dabei immer mehr Historisches hinter mir gelassen. In den zurückliegenden über zweitausend Jahren hatte ich kaum je das Gefühl, auf einen großen Höhepunkt zuzusteuern oder etwas anderes zu erreichen als mein fortgesetztes Überleben. Erst die jüngeren Entwicklungen haben mich eines Besseren belehrt.
Die MORRIGAN hat mich in einem Albtraum heimgesucht und mir mitgeteilt, dass Ragnarök schon in wenigen Tagen beginnen und für niemanden gut ausgehen wird, weil Apokalypsen ihrem Wesen nach eher kein glückliches Ende nehmen. Vielleicht schaffe ich es noch, den Schaden zu begrenzen; doch egal, was ich tue, es ändert nichts an der Tatsache, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn ich nicht die NORNEN erschlagen und damit das Schicksal des altnordischen Pantheons aus den Fugen gebracht hätte. Die Verantwortung liegt fast ausschließlich bei mir, und das Schuldbewusstsein hängt mir wie ein neun Tonnen schwerer Albatross um den Hals. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so leicht davonkomme wie Coleridges alter Seemann. Für ein Gemurkse von epischen Dimensionen wäre es eine ziemlich milde Strafe, wenn man seine Geschichte immer wieder irgendwelchen Hochzeitsgästen vortragen muss.
Glücklicherweise habe ich einen Freund, der mir hilft, diese Bürde zu schultern, und der sogar dafür sorgt, dass ich sie manchmal ganz vergesse.
›Erzähl mir bitte Genaueres von deinen Plänen zu diesem kulinarischen Großereignis‹, bat Oberon, als er vor dem Wechsel ins heimatliche Oregon die Pfoten an einen gebundenen Baum in Tasmanien setzte. Mein irischer Wolfshund erwartete vor meinem Aufbruch in die Schlacht gegen Götter, Monster und diverse Dämonen aus den Pantheons dieser Welt einen angemessenen Festschmaus und hatte mich aufgefordert, für ihn, Orlaith und unseren neuen Boston Terrier Starbuck eine Fleischtheke mit Soßen nach dem Vorbild eines Salatbüfetts zu arrangieren. Starbuck hatten wir im Zuge einer Verbrecherjagd in Portland adoptiert, die Oberon in pompöser Manier als den »Fall des entführten Pudels« bezeichnete. ›Wird es alle Formen umfassen, die ich eines Tages in mein Werk Das Buch der fünf Fleischsorten aufzunehmen gedenke, oder willst du uns bloß das übliche Zeug präsentieren?‹
»Die fünf Fleischsorten werden vertreten sein«, versicherte ich ihm.
›Und die Soßen? Es gibt doch hoffentlich mehr als eine, oder?‹
»Natürlich.«
›Gut. Weißt du, dazu habe ich nämlich sogar eine Maxime. Das ist die beste Stelle aus Das kommunistische Manifest von diesem Karl, von dem du mir erzählt hast: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Fleischlichkeiten.«‹
»Ähm … ich glaube, das Zitat stimmt nicht ganz, Oberon. Es müsste eigentlich heißen: ›jedem nach seinen Bedürfnissen.‹«
›Nun, ich brauche was anderes, deshalb habe ich den Wortlaut etwas angepasst.‹
Amüsiert stellte ich fest, dass Oberon die sexuelle Bedeutungskomponente des Begriffs Fleischlichkeit offenbar völlig entgangen war. »Hervorragend hingebogen. So bekommt der Ausspruch auf einmal einen viel tieferen Sinn. Also, dann mal los.« Ich beförderte uns zu unserer Hütte beim McKenzie River im Willamette National Forest.
Gleich nach der Ankunft rief Oberon mental den anderen Hunden zu: ›Hey, Orlaith! Starbuck! Wir sind wieder da, und ratet mal! Atticus macht uns ein ganzes Büfett mit Fleisch und Soßen!‹
Starbuck antwortete sofort in seiner höheren Stimmlage mit seinem begrenzten Vokabular: ›Ja Essen!‹
›Das klingt nach einer der besten menschlichen Erfindungen seit dem Fleischwolf!‹, fügte Orlaith hinzu.
Dann platzten beide zur Begrüßung durch die Hundetür, Orlaith ein wenig hinterdrein, weil sie hochschwanger und kurz vor der Entbindung war.
Eine geraume Weile musste ich mich vollschlabbern lassen und versuchen, mit zwei Händen drei Hunde zu kraulen, während sie Einzelheiten über das geplante Büfett hören wollten. Ich räumte ein, dass ich die näheren Details selbst noch nicht kannte.
Oberon konnte das kaum fassen. ›Moment mal jetzt, Atticus. Welche Informationen fehlen dir denn genau? Dir sind doch sicher die Grundbedingungen des hündischen Daseins geläufig. Dort draußen sind sämtliche Fleischsorten, so wie die Wahrheit dort draußen ist, und wir wollen sie alle essen! Reicht dir das?‹
»Alle Fleischsorten? Das ist unmöglich, Oberon.«
›Ach, tatsächlich? Wieso?‹
»Weil es einfach nicht geht. Zumindest nicht in der Zeit, die mir zur Verfügung steht. Vielleicht ein faszinierendes Mannschaftsziel für später. Im Moment müssen wir uns darauf beschränken, was wir in Eugene besorgen können. Ist Earnest hier?«
Earnest Goggins-Smythe war unser im Haus wohnender Hundehüter, den wir stark in Anspruch genommen hatten, seit Orlaiths Niederkunft immer näher rückte. Er hatte einen Rassepudel namens Jack und einen Boxer namens Algernon, kurz Algy, die beide mit ihm drinnen geblieben waren.
›Ja, er ist hier‹, erwiderte Orlaith.
»Ich sag mal Hallo und frage ihn, ob es in Ordnung geht, wenn Jack und Algy auch bei dem Gelage mitmischen. Und für danach hätte ich einen Vorschlag: Möchtet ihr drei mich nach Eugene begleiten und mich beraten, damit ich auch die richtigen Sachen einkaufe?«
›Das wäre wunderbar!‹, schwärmte Orlaith.
›Ja Essen!‹, rief Starbuck.
›Ich rate dir hier und jetzt, alles zu kaufen‹, meinte Oberon.
»Willst du mitkommen oder nicht?«
›Selbstverständlich. An meinem Rat wird das zwar nichts ändern, aber ich möchte die Nase in den Fahrtwind halten und auf deine Polster haaren.‹
»Gut. Ich rede kurz mit Earnest und bin gleich wieder da.« Nachdem geklärt war, dass Jack und Algy zumindest in Maßen an den kulinarischen Ausschweifungen teilnehmen durften, drängten sich die Hunde in den blauen Chevrolet-Pick-up von 1954. Diesen hatte ich mir bei einem Abenteuer zugelegt, dem Oberon den Titel »Das Eichhörnchen auf dem Zug« verliehen hatte.
Jetzt spähte er durch das hintere Fenster auf die Ladefläche. ›Ich bin mir nicht sicher, ob der Frachtraum wirklich reicht für das ganze Fleisch, das wir brauchen, Atticus.‹
»Da ist mehr als genug Platz, Oberon.«
›Aber die Reste, Atticus! Die Reste für die Zeit, in der du nicht bei uns sein wirst!‹
»Im Augenblick verspreche ich nicht mehr als eine ansehnliche Auswahl an Fleischsorten und Soßen. Und vielleicht eine Geschichte über einen berühmten Hund für die Fahrt, um dich ein bisschen abzulenken. Du bist ja total aufgedreht.«
›Was für ein berühmter Hund?‹ Orlaith spitzte die Ohren.
»Eher ein kleingewachsener Bursche – ein Beagle, um genau zu sein.«
›Ach, Beagles mag ich‹, ließ sich Oberon vernehmen. ›Die wissen genau, wie man Kaninchen aufspürt, und dann kann ich übernehmen und sie jagen.‹
›Hatte der Hund auch einen Namen?«, erkundigte sich Orlaith.
»Ja. Bingo.« ›Ach, wie in dem Lied über den Farmer, der einen Hund hatte?‹
»Genau wie in dem Lied. Das ist nämlich die Geschichte von dem wahren Bingo, auf dem das Lied beruht.«
›Er hat eine Geschichte?‹ Orlaith drehte mir den Kopf zu, als wir auf die Straße bogen. Im Führerhaus war es eng – die Hunde passten kaum hinein, und Starbuck hockte vor Begeisterung zitternd auf meinem Schoß. ›In dem Lied heißt es, »Bingo war sein Name-o«, das ist alles.‹
»Sicher, aber es gibt auch frühere Versionen, die wahre Heldentaten erahnen lassen. Und ich kenne die Einzelheiten dieser Heldentaten.«
Oberon vergaß seine Fantasien über eine mit Köstlichkeiten gefüllte Ladefläche. ›Also gut, Atticus, ich habe angebissen. Erzähl uns von Bingo.‹
Im achtzehnten Jahrhundert, kurz vor der Landwirtschaftlichen und Industriellen Revolution, lebte ein Kohlfarmer in den Southern Uplands von Schottland – das ist die Region, die der Grenze zu England am nächsten ist. Sein Name lautete Dúghlas Mac Támhais, das ist die gälische Form von Douglas McTavish. Neben einem Hang mit Kohlköpfen und einem Heufeld besaß er auch einen Stall mit einigen Tieren: eine Milchkuh, ein Ackergaul und vor allem mehrere Hühner. Weil Hühner – diese bescheidenen Nachfahren der Dinosaurier – so köstlich schmecken, mussten sie vor den Füchsen geschützt werden. Und weil Kohl manchen Tieren wie etwa Kaninchen mundet, brauchte er ebenfalls Schutz. So fand Bingo seinen Platz. Eine Hälfte seiner Aufgabe bestand darin, die Farm zu bewachen, die andere Hälfte darin, hinreißend zu sein. In beiden Bereichen leistete Bingo Außerordentliches.
Doch er machte sich Sorgen um seinen Menschen. Dúghlas, müsst ihr wissen, war von einer Tragödie heimgesucht worden: Seine Frau war bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben, und kurz darauf war auch das Kind vom Fieber dahingerafft worden. Aus Kummer trank er große Mengen Ale und verfiel immer mehr dem Alkohol, und Bingo hatte Angst, er könnte nie mehr davon loskommen.
Eines Abends fixierte Dúghlas mit finsterem Gesicht eine Kartoffelkohlpastete, die er zum Abendessen gekocht hatte – ein Gericht namens Rumbledethumps –, da veranstaltete Bingo draußen plötzlich einen Riesenradau, und Dúghlas ging zu Recht davon aus, dass sie unerwünschten Besuch hatten. Er hatte bereits einen in der Krone, als er nach seiner Flinte griff, die genau für solche Notfälle geladen und schussbereit im Schrank wartete.
Ein Fuchs versuchte, in den Hühnerstall einzudringen, und Bingo verjagte ihn in Richtung einer Nachbarsfarm. Weil das Verhältnis zum Nachbarn gut war, gab es einen Zauntritt. Diesen benutzte der Fuchs, und Bingo sauste ihm nach. Deswegen hieß es im ersten Vers des ursprünglichen Lieds: »Der Farmerhund sprang übern Tritt, sein Name war kleiner Bingo.« In der zweiten Strophe geht es um die Trinksucht des Farmers, die verewigt wurde, weil Dúghlas in seinem Rausch das Besteigen steiler Stufen über einen Zaun besser unterlassen hätte. Er schaffte es zwar ganz nach oben, doch der Weg nach unten wurde ihm zum Verhängnis. Er rutschte auf der ersten Stufe aus, feuerte mit einem krampfhaften Ruck am Abzug die Muskete ab und schlug sich an der untersten Stufe ziemlich übel den Kopf an. Blutend verlor er das Bewusstsein.
Nun, als Bingo den Schuss hörte und merkte, dass das Brüllen seines Menschen verstummt war, ließ er sofort von der Jagd auf den Fuchs ab. Er rannte zurück zu Dúghlas und versuchte, ihn aufzuwecken. Er sabberte ihm sogar auf die Nase, doch es nützte nichts. Also flitzte er zu der Nachbarsfarm und bellte sich die Lunge aus dem Leib, bis sich Menschen zeigten. Dann lief er so lange hin und her, bis sie kapierten, dass er ihnen etwas zeigen wollte.
Sie folgten Bingo zu Dúghlas und brachten den Verletzten ins Haus. Dort wuschen sie ihn und verbanden ihm den Kopf. Das waren die Mayfields, die gerade eine Cousine zu Besuch hatten, die junge Kimberly. Sie fand Dúghlas stattlich und Bingo hinreißend. Sie gab Bingo sogar ein Stück Wurst mit Soße, weil er so ein tapferer Hund war. Und als Dúghlas aufwachte, fiel sein Blick als Erstes auf die schöne Kimberly, die sich rührend um ihn kümmerte und offenbar auch von seinem Hund geliebt wurde. Da blieb ihm praktisch keine andere Wahl – er verliebte sich in sie. Deswegen geht die nächste Strophe des alten Lieds so: »Der Farmer liebte eine hübsche junge Maid und gab ihr einen Trauring-o.«
Danach erfährt man nicht mehr viel, bloß dass er zu trinken aufhörte und wieder richtig glücklich wurde. Deswegen also wurde Bingo in dem Lied verewigt. Er schützte die köstlichen Hühner, rettete seinem Menschen das Leben und verhalf ihm zu einer neuen Liebe. Im Lauf der Zeit ging viel von der ursprünglichen Geschichte verloren, bis nur noch die schlichte Weise übrig war, die von Kindern noch heute gesungen und geklatscht wird.
Orlaith hatte Fragen. ›Woher weißt du das alles? Hast du Dúghlas gekannt?‹
»Nein, aber viele Jahre später bin ich in Amerika seinem Sohn begegnet – ein Kind von Kimberly. Viele Farmer sind während der Agrarrevolution in Schottland über den Atlantik gekommen.«
›Atticus, ich erkenne da ziemlich bedeutsame Parallelen‹, bemerkte Oberon.
»Ach?«
›Ja, und wie! Erstens bekommst du von mir hervorragenden Schutz, und zweitens bin ich hinreißend. Nicht wahr, Orlaith?‹
›Er hat recht, Atticus. Er ist wirklich hinreißend.‹
›Siehst du? Ich bin genau wie Bingo! Außer dass es bisher noch kein Lied über mich gibt, und ich finde, das ist ein schweres Versäumnis. Können wir nicht eins dichten?‹
»Vielleicht. Hast du eine Idee?«
›Es war mal ein Hund, der hieß Oberon,
Und er liebte die Soße von Würsten!
S-O-S-S-E! S-O-S-S-E!
S-O-S-S-E!
Und er liebte die Soße von Würsten!‹
›Ja Essen!‹, applaudierte Starbuck.
Auf der restlichen Fahrt amüsierten sie sich damit, weitere Strophen zu erfinden und abwechselnd den Kopf durchs Fenster zu stecken.
Nach unserer Ankunft in Eugene blieben die Hunde auf der Ladefläche, während ich das Fleisch und die notwendigen Soßenzutaten besorgte. Ich schickte ihnen mentale Bilder von den verfügbaren Sachen und überließ ihnen die Auswahl. Für mich war das praktisch, weil ich nicht die Zeit und in der Küche auch gar nicht den Platz hatte, alles zuzubereiten. Doch ich wollte mich auf jeden Fall ins Zeug legen und ein unvergessliches Festmahl für sie zusammenstellen, weil ich nicht wusste, wann ich das nächste Mal nach Hause kommen konnte. Eine Weile lang verlor ich mich in den Anblick des in roten Wellenlinien verpackten Rinderhacks, als ich begriff, dass ich vielleicht nie wieder heimkehren und stattdessen irgendwo liegen bleiben würde, unerreichbar selbst für meinen Seelenfänger und Nahrung für die Würmer; zwar umschlossen von Haut statt von Styropor und Zellophan, doch ansonsten kaum anders als das Angebot mit zehn Prozent Fett. Oberon hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er mich begleiten wollte, doch ich konnte einfach nicht zulassen, dass er verletzt wurde. Ich brauchte ein Zuhause, in das ich zurückkehren konnte. Bei der bloßen Vorstellung, dass er ohne mich oder ich ohne ihn leben sollte, stiegen mir die Tränen in die Augen. Schonungslos ausgedrückt, erwartete uns in diesem Fall ein Dasein als einsamer, armer Hund. Und dann würde uns bestimmt nicht mehr der Sinn nach so einem Festschmaus stehen. Wahrscheinlich würden wir ohne die Gesellschaft des anderen am liebsten gar nichts mehr essen wollen.
Oberon riss mich aus meiner rührseligen Versunkenheit. ›Atticus, hier draußen im Wagen bahnt sich gerade ein leichtes Sabberproblem an. Vielleicht besorgst du eine Rolle von diesem Küchenpapier. Vorzugsweise supersaugfähig. Und beeil dich.‹
›Meine Welpen brauchen Nahrung‹, fügte Orlaith hinzu.
Sie sind wirklich die besten aller Hunde.
Zu Hause packte auch Earnest mit an, und in der Küche wuselten fünf Hunde zwischen unseren Beinen herum, bis ich sie nach draußen in die nähere Umgebung beorderte, wo sie Speichel absondern und die Aromen kommentieren konnten, ohne uns ins Straucheln zu bringen. Wir hatten einen Schmorbraten im Ofen, schmurgelnde Junghähnchen, Räucherwürste, Spareribs auf dem Grill und vier verschiedene Soßen, die auf der Platte simmerten. Außerdem kochte Fisch für ein Ceviche in Limonensaft, Schwertfischsteaks teilten sich den Grillplatz mit den Spareribs, und fein geschnittene Wurstwaren lagen aufgefächert auf Zedernbrettern.
Als alles fertig war, arrangierten wir das Festmahl mangels einer echten Büfettbar auf dem Esszimmertisch und gaben die Soßen in Terrinen. Earnest und ich riefen die Hunde herein und machten Fotos, wie sie in hungriger Vorfreude vor den Köstlichkeiten saßen. Dann ließen wir ihnen die Auswahl und richteten jedem einen Teller her, obwohl sie sicher alles probieren und bestimmt noch einen Nachschlag von den Sachen wollten, die ihnen am besten schmeckten.
›Wahnsinn, Atticus, das ist einfach das beste Essen aller Zeiten‹, schwärmte Orlaith.
›Ich stimme zu. Das schlägt sogar noch diese Bisongoldgrube, die wir damals in South Dakota aufgetan haben.‹
›Ja Essen!‹, fiel Starbuck ein.
Der Abwasch war eine Mammutaufgabe, der sich Earnest und ich tapfer stellten. Ich fand sogar noch ein paar Stunden Schlaf, bevor ich die Hunde früh am Morgen noch einmal träge am Bauch kraulte und zur Bekundung meiner Liebe zärtlich auf den Kopf küsste. Dann schlüpfte ich durch die Hintertür in der Gewissheit, dass sie in Sicherheit waren, wenn ich mich daranmachte, den Murks zu reparieren, den ich angerichtet hatte. Ich musste mir endlich diesen neun Tonnen schweren Albatross vom Hals schaffen.
Bei ihrem Traumbesuch hatte sich die MORRIGAN eher vage ausgedrückt. Sie hatte nur erwähnt, dass LOKI sehr bald handeln würde – ohne Zeit und Ort zu nennen. Wenn ich eine wirksame Gegenstrategie entwickeln wollte, brauchte ich nähere Angaben, und ich wusste genau, an wen ich mich dafür wenden musste. Ein Staborakel war viel zu unpräzise; nur der beste aller Seher konnte die Zukunft bis in die kleinsten Einzelheiten lesen. Die Tyromantin Mekera hatte mir schon zweimal beigestanden, und auch diesmal setzte ich auf ihre Fähigkeiten.
Seit Kurzem lebte sie in Emhain Ablach – einem irischen Gefilde, das von MANANNAN MAC LIR regiert wurde –, nachdem ich ihr gegen den Widerstand einiger aufdringlicher Vampire zur Flucht verholfen hatte. Da die betreffenden Vampire jedoch inzwischen das Zeitliche gesegnet hatten, stellten sie keine Bedrohung mehr dar, und sie konnte zur Erde zurückkehren, falls sie es wünschte.
Und natürlich wünschte sie es. Sie wirkte ein wenig gehetzt, als ich sie aufsuchte.
»Was ist los?«
»Hier treiben sich Geister herum. Ich meine, sie sind erst vor Kurzem angekommen. Sehr seltsam.«
»Haben sie dich angegriffen?«
»Nein, trotzdem finde ich sie gruslig.«
»Hm. Vielleicht liegt es daran, dass MANANNAN MAC LIR seine Aufgaben als Seelenführer nicht mehr erledigt. Die MORRIGAN genauso wenig. Kein Wunder also, dass die Toten herumirren, anstatt ihre Bestimmung zu erreichen.«
»Jedenfalls will ich hier weg.«
»Genau aus diesem Grund bin ich gekommen. Außerdem möchte ich um einen Käse bitten.«
Ihre Schultern sackten nach unten. »Natürlich. Was willst du diesmal wissen?«
»Mir wurde gesagt, dass Ragnarök unmittelbar bevorsteht. Ich würde gern erfahren, wann und wo die ersten Angriffe zu erwarten sind.«
»Na schön«, erwiderte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Was richtig Nettes und Leichtes, wie üblich. Wo wird heutzutage hervorragender Käse gemacht?«
Ich zuckte die Achseln. »An vielen Orten. Was hältst du von Frankreich? Warst du da schon mal?«
Mekeras Miene hellte sich auf. »Ah, der Fromage der Franzosen! Gute Idee. Ich glaube, ich möchte von ihnen lernen und ihnen vielleicht auch ein, zwei Dinge beibringen.«
Ich half ihr, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen, dann wechselten wir zu einer kleinen Baumgruppe außerhalb von Poitiers, in der Ziegenkäseregion Frankreichs. Auch wenn es Mekera letztlich vielleicht noch in einen anderen Landstrich ziehen würde, ich fand ihn reizvoll. Jedenfalls war es ein guter Ort für die Suche nach dem Benötigten, ohne dass wir uns mit dem Trubel in Paris herumschlagen mussten. Immerhin war sie seit Langem an ihr Einsiedlerdasein gewöhnt, und schon Poitiers musste einen gewaltigen Schock für sie darstellen.
»Mein Französisch ist ein wenig eingerostet. Wahrscheinlich sogar stark verwittert.«
»Das fällt dir sicher wieder ein. Fürs Erste kannst du dich auch mit Englisch durchschlagen.«
»Meinst du?« Verzagt spähte sie durch die Straßen. Wir steuerten auf einen Supermarkt zu, wo sie die Grundbestandteile für die Herstellung von Käse einkaufen konnte. »Die Menschen hier sehen alle ganz anders aus als ich. Vielleicht war das Ganze doch keine so gute Idee.«
Ich musste grinsen, weil ich mit diesen Zweifeln gerechnet hatte. »Gehen wir doch erst mal in den Laden und machen danach wenigstens einen Käse. Wenn du dich am Ende nicht wohler fühlst, bring ich dich woandershin.«
Mit unsicher umherhuschenden Blicken und eng an den Körper gedrückten Armen erklärte sich Mekera einverstanden. Doch sobald sie mit einem Korb in der Hand im Laden stand, fiel ein Teil der Anspannung von ihr ab und sie fing an, mit kundigem Eifer nach Zutaten zu suchen. Unter den Kunden bemerkte sie andere Gesichter, die ebenfalls nicht weiß waren, und sie nickte ihnen im Vorbeigehen steif lächelnd zu. Das änderte sich am Kühlregal. Nachdem sie mehrere Flaschen Ziegenmilch herausgenommen und sich umgedreht hatte, entdeckte sie eine Frau, die wie sie nach eritreischer Mode gekleidet war: Sie trug eine leichte Robe mit einem gold-schwarz bestickten Ausschnitt, der sich zu einem senkrechten Streifen verband und bis zur Taille reichte. Bei Mekera war die Stickerei blau und schwarz, ansonsten war die Tracht fast gleich. In den Augen der beiden flackerte es.
Die andere, deren Haut wie die Mekeras ein tiefes Umbrabraun mit kühlen Tönen zeigte, ergriff als Erste das Wort. »Sind Sie aus Eritrea?«, fragte sie auf Französisch.
»Oui«, antwortete Mekera. »Et vous?«
Die Unbekannte bejahte und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Dann wechselten beide sofort in ihre Muttersprache, und ich verstand kein Wort mehr. Rasch verschwand ich aus Mekeras Blickfeld, damit sie nicht das Gefühl bekam, mich vorstellen zu müssen. Das klappte wunderbar. In ihrer Begeisterung darüber, so fern der Heimat einer Eritreerin zu begegnen, vergaß sie mich völlig.
Als sich das Gespräch in die Länge zog und ich mich zum Schein für die Inhaltsstoffe auf einer Packung Cracker interessierte, glaubte ich etwas Neues in ihren Stimmen zu bemerken und riskierte einen kurzen Blick auf ihre Auren. Tatsächlich: Ein Hauch von Erregung. Anscheinend hatte es zwischen den beiden gefunkt. Cool.
Die andere stellte eine Frage, die Mekera in Erinnerung rief, dass sie nicht allein gekommen war. Sie schaute sich nach mir um, und ich reagierte mit einem zarten Winken. Leicht verlegen stellte sie mich als ihren guten alten Freund Connor Molloy vor. Ihre neue Bekannte präsentierte sich als Fiyori.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich auf Französisch. »Sie können ruhig noch ein wenig plaudern, ich habe es nicht eilig.« Dann zog ich mich wieder zurück und vertiefte mich erneut in mein Studium der Cracker-Packung.
Nach einer Weile fand Mekera schließlich zu mir, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. »Fiyori hat mir ihre Telefonnummer gegeben! Weißt du, was das bedeutet?«
»Dass sie dich mag.«
»Nein! Ich meine, ja, aber es heißt auch, dass ich mir ein Telefon zulegen muss!«
»Da ist was dran. Machen wir das und sehen dann zu, dass du loslegen kannst.«
Wir nahmen die Einkäufe mit zu einem Hotel, wo wir für einen Monat ein Apartment mit Kochnische mieteten. Unsere stillschweigende Übereinkunft war, dass ich Mekera im Austausch gegen ihre tyromantischen Dienste – hier oder anderswo – beim Start in ein neues Leben helfen sollte. Auf diese Weise hatte sie Zeit, ihr Vermögen auf neue Konten zu übertragen und sich etwas Dauerhafteres zu suchen.
Ich unterdrückte den Drang, ungeduldig auf und ab zu tigern, als sich Mekera an die Zubereitung eines weichen Ziegenkäses machte. Mit ihren unerreichten tyromantischen Fähigkeiten konnte sie in dessen Gerinnungsmustern die Einzelheiten der Zukunft sehr viel genauer ausmachen als ich mit meinen Wahrsage-Ritualen. Ich schrieb ihr eine Frage auf, die sich aus mehreren Teilen zusammensetzte. Als sie bereit war, las sie sie laut vor: »Wann und wo werden LOKI, HEL und Jörmungandr auftauchen, um Ragnarök zu beginnen?« Mit einem leichten Kopfschütteln seufzte sie auf. »Also gut. Fangen wir an.« Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie in den Stahltopf, während sie Lab zugab und die Masse sich allmählich verdickte.
Ich hielt einen Stift über einem Hotelblock gezückt.
»Zuerst Jörmungandr. Vor einer kleinen Halbinsel südlich von Skibbereen. In der Nähe von einem dieser Befestigungshügel.«
»Wann?«
»Am Donnerstagvormittag. Genauer geht es nicht.«
Donnerstag. THORS Tag. Für LOKI lag diese Wahl natürlich auf der Hand. Bis dahin waren es nur noch zweiundsiebzig Stunden.
»Und die anderen?«
»LOKI und HEL werden zusammen und am selben Tag erscheinen, am mittleren Nachmittag. Oben in Schweden. Am nördlichen Rand eines Sees …?«
»Den Ort kenne ich. Dort endet die Wurzel Yggdrasils. Verdammt. Ich muss dringend mehrere Anrufe machen.«
»Ich muss auch telefonieren, und dafür brauche ich ein Handy«, mahnte Mekera.
»Stimmt. Ich besorg dir eins. Bin gleich wieder da.«
Wenig später hatte ich einen Laden entdeckt, der Einweghandys im Angebot hatte. Nachdem ich eins gekauft und aktiviert hatte, überreichte ich es Mekera mit bestem Dank.
Schließlich wünschte ich ihr alles Gute. »Am besten, du rufst bald bei Fiyori an.«
»Warum?«
»Weil sie dich mag. Und wegen Donnerstag. Ich werde mein Bestes geben, Mekera, trotzdem kann es sein, dass es schlecht ausgeht. Setz lieber keine Käselaibe an, die altern müssen.«
»Das ist nicht witzig, mein Freund.«
»Stimmt. Eher das Gegenteil.«
Gibt man der Welt bloß eine halbe Chance, dann verwandelt sie sich in Kacke. Das wussten wir schon vor zweitausend Jahren, und Siodhachan hat mir erzählt, dass es dazu jetzt sogar ein hochtrabendes Gesetz gibt. So ähnlich wie diese widerlich stinkenden Fischeier, die man auf einen ganz normalen Cracker schmiert und dann als Kaviar bezeichnet. Dieses Gesetz ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik und besagt, dass bei einem geschlossenen System die Entropie zunimmt und … rutscht mir doch den Buckel, bleiben wir einfach dabei, dass sich alles in Kacke verwandelt, und damit hat sich der Fall. Von mir aus nennen wir es den ersten Hauptsatz von Owen.
Bloß dass man die Kacke wegputzen kann, wenn man den Schneid und den Willen dazu hat – das wäre dann der zweite Hauptsatz von Owen. Und entsprechend stolz bin ich auf meine Schüler wegen der Arbeit, die sie gerade leisten.
Wir sind nämlich zurzeit in Tasmanien und retten eine hundeähnliche Beuteltierart namens Teufel vor dem Aussterben. Sie haben sich in den Neunzigern einen seltsamen ansteckenden Gesichtskrebs zugezogen, der sie fast ausgemerzt hätte, und jetzt haben wir die Aufgabe, diesen Krebs auszumerzen. Deswegen spüren wir nacheinander alle Teufel auf der Insel auf und helfen ihnen. In den Medaillons, die ich meinen Schülern gemacht habe, stecken tasmanische Murmeln, durch die der Elementargeist Energie lenkt. So können sie die Teufel heilen, obwohl sie noch lange keine richtigen Druiden sind.
Tasmania glaubt, dass wir nicht darauf warten können, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, und ich kann ihr nur zustimmen. Meiner Meinung nach werden diese neuen Druiden tatsächlich vor allem GAIAS Heiler sein und gegen die Kacke der Menschen kämpfen müssen, die sich in den letzten Jahrhunderten angesammelt hat. Ich frage mich, ob es auch irgendein hochtrabendes Gesetz für das Prinzip gibt, dass die Menschen alles kaputt machen, solange es Gewinn bringt. Vielleicht ist das einfach der Kapitalismus. Wie auch immer, zur Bereinigung aller Schäden werden Generationen von Druiden nötig sein.
Greta ist bei mir, die meisten Eltern der Kleinen ebenfalls, und es ist ein erhebendes Gefühl für uns, dass wir so viel Gutes tun können. Wenn ich den Knirpsen beim Heilen Tasmanischer Teufel zuschaue, fällt es mir leicht zu glauben, dass man alles irgendwie wieder ganz machen kann. Vielleicht lässt sich sogar der Bruch zwischen FAND und BRIGHID kitten, damit sich die Feenwesen nicht mehr untereinander bekriegen. Und unter Umständen ist sogar eine Annäherung zwischen den Feen und Siodhachan möglich … wenn auch nicht unbedingt wahrscheinlich, denn er ist schließlich immer noch der verdammte Eiserne Druide. Mir würde es schon reichen, wenn er und Greta das Kriegsbeil begraben würden.
Siodhachan hält sich ebenfalls in Tasmanien auf, aus dem gleichen Grund wie wir, nur in einer anderen Gegend. Wenigstens ist ihm Greta nicht gleich an die Gurgel gegangen, als wir kurz zusammengetroffen sind. Wenn es um ihn geht, wird sie sauer wie Milch, die tagelang in der Hitze gestanden hat. Aber vielleicht wird sie sich in ein, zwei Jahren entspannen wie ein Lehrer, der sich nach der Schule zur Beruhigung ein Glas Bourbon gönnt. Ich muss mich damit abfinden, dass das Ganze seine Zeit brauchen wird.
Wir haben eine Höhle mit fünf betroffenen Teufeln entdeckt. Einer von ihnen ist dem Tod so nah, wie er überhaupt sein kann, ohne die Grenze zu überqueren. Ich kümmere mich um ihn, und die Schüler widmen sich den anderen. Als wir fast fertig sind, macht mich Greta darauf aufmerksam, dass sich jemand nähert. Im Farn unter dem Eukalyptus raschelt es. Da wir weit entfernt von jeder Siedlung sind, tippe ich auf einen Wanderer oder Jäger, doch da liege ich falsch. Es ist BRIGHID, die Oberste unter den Feen, die nach mir sucht.
Aus mir unbekannten Gründen ist sie in voller Rüstung, und die rote Mähne wallt ihr über die Schulterplatten. Dieser Anblick alarmiert mich. Rechnet sie mit einem Kampf? Hoffentlich hat sie es nicht auf mich abgesehen.
Sie hat einen Feenheini dabei, eine von diesen hochgewachsenen, schlanken Gestalten, wie man sie aus der Werbung kennt, die immer so gelangweilt wirken, weil sie so attraktiv, begehrenswert und spärlich bekleidet sind. Bloß dass dieser Bursche eine schmucke silbern-grüne Hoflivree mit reichlich Stickereien und eine gepuderte Perücke mit Schläfenlocken trägt. Auch ohne auf Wahrsicht zu schalten, spüre ich, dass er mit Bannzaubern bedeckt ist, die noch mächtiger sind als die BRIGHIDS.
»Sei gegrüßt, Eoghan Ó Cinnéide.« Sie nickt mir knapp zu.
»Auch ich grüße dich, BRIGHID.«
Die Oberste unter den Feen deutet auf ihren Begleiter. »Das ist Coriander, Außerordentlicher Herold der neun Feengefilde.« Ich bin mir nicht sicher, was mit außerordentlich gemeint ist. Vielleicht, dass er genauso schnöselhaft klingt, wie er aussieht.
Ich nicke ihm zu. »Wie geht’s immer so, Cory? Ich bin Owen.«
Mit einer Verneigung, die nur so trieft vor Affektiertheit, setzt er zu einer milde säuselnden Ermahnung an: »Sehr erfreut, Euch kennenzulernen, Sir. Ich bevorzuge allerdings die Form Coriander, so es Euch nicht widerstrebt.«
Wenn er auf dergleichen besteht, werden wir wohl kaum beste Freunde werden. Ich stelle Greta und meine Schüler vor und winke auch kurz in Richtung der Eltern.
BRIGHID nimmt die Kleinen zur Kenntnis und weist darauf hin, dass sie sich bald dem Baolach Cruatan unterziehen müssen. »Doch ich bin in einer anderen und sehr dringenden Angelegenheit gekommen. Können wir uns kurz zurückziehen und unter vier Augen sprechen?«
»Natürlich.« Ich bitte die jüngste Schülerin Tuya, die Heilung meines Teufels zu beenden, und verspreche allen, dass ich gleich wieder da bin.
BRIGHID und ich treten ins Unterholz, und der Außerordentliche Herold schwebt uns in einem Abstand von drei Schritten nach.
»Mir ist zu Ohren gekommen«, sagt BRIGHID, »dass einer der altnordischen Götter mit der Apokalypse seines Pantheons beginnen will. Sie nennen es Ragnarök. Bist du damit vertraut?«
»Aye. Siodhachan hat mir diesen ganzen Scheißdreck erklärt.«
»Dies stellt eine ernsthafte Bedrohung für uns dar. Sollten sie einer beträchtlichen Zahl der irischen Bevölkerung Schaden zufügen, wird das eine entsprechende Minderung unserer Macht nach sich ziehen und schlimmstenfalls sogar dazu führen, dass die Verbindungen von Tír na nÓg zu den anderen Gefilden abreißen.«
»Es geht also um die Verteidigung der Heimat.«
»Ja. Doch wir allein sind wahrscheinlich nicht genug. Alle Feen müssen sich beteiligen. Und auch alle TUATHA DÉ DANANN.«
»Du meinst, wir brauchen FAND und MANANNAN MAC LIR.«
»Richtig. Siodhachan sagt, dass sie sich im Moor der MORRIGAN versteckt halten.«
»Aye, das habe ich auch gehört.«
»Nach meiner Überzeugung kannst nur du das Zerwürfnis zwischen uns aus der Welt schaffen, Eoghan.«
»Ich habe mir auch gerade überlegt, dass eine Versöhnung angebracht wäre, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass ich dabei eine Rolle spielen könnte. Ich bin eher einer, der Zerwürfnisse auslöst.«
»Mit mir oder Siodhachan wird FAND gar nicht sprechen. In ihren Augen und in den Augen all ihrer feeischen Anhänger sind wir durch Eisen in unserem Kern verdorben. Sie kann uns nicht anhören, ohne vor ihren Unterstützern das Gesicht zu verlieren. Du hingegen bist ein Druide vom alten Schlag und hast in der Vergangenheit ihre Gastfreundschaft genossen. Du wirst zumindest eine Audienz erhalten.«
»Verzeih, BRIGHID, aber das glaube ich nicht. All diese Feenwesen und die Eibenmännchen der MORRIGAN werden mich niedermähen, bevor ich FAND auch nur ein freundliches Lächeln zuwerfen kann.«
»Aus diesem Grund entsende ich Coriander als deinen Begleiter. Niemand wird es wagen, ihn oder jemanden unter seinem Schutz anzugreifen.«
»Unter seinem Schutz?« Ich schiele kurz nach dem perückentragenden Feenheini und frage mich, ob er in der Lage ist, auch nur seine eigenen Klöten vor einem flinken Tritt zu schützen.
BRIGHID registriert meinen Blick mit einem Lächeln. »Nur zu, Eoghan, du darfst seine Abwehrkräfte ruhig auf die Probe stellen, wenn es deine Zweifel beschwichtigt.«
»Was? Du meinst, ich kann ihm einen Nasenstüber verpassen oder so was in der Art?«
»Ganz wie es dir beliebt.« BRIGHID deutet auf den Botschafter. »Tu dir keinen Zwang an.«
»Darf ich meine Knöchel verwenden?«
Sie zögert. »Davon würde ich abraten. Beginne lieber mit den blanken Fäusten oder den Füßen.«
Mit zusammengekniffenen Augen fixiere ich den Laffen. »Bist du einverstanden, Junge?«
»Selbstverständlich, Sir. Hoffentlich werdet Ihr keine allzu schlimmen Verletzungen davontragen.«
Seine Unbekümmertheit erschüttert mein Selbstvertrauen, und ich betrachte den Herold nun doch im magischen Spektrum. Um ihn schimmern mehrere Schichten von Bannzaubern, darunter auch ein kinetischer von einer Kraft und Webart, wie ich sie noch nie gesehen habe.
»Die Rute soll mir schrumpfen, Junge, wer hat dir denn diese Bannzauber verliehen?«
»Die meisten TUATHA DÉ DANANN haben auf die eine oder andere Weise einen Beitrag geleistet. Mein Schutz ist das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung. Niemand vermag mir ein Leid anzutun, und auch ich kann anderen nur schaden, indem ich abwehre, was mich angreift. Ich werde überall in den neun Gefilden geduldet, weil ich nicht für verräterische Absichten eintreten kann.«
»Verstehe. Und falls sich die Eibenmännchen mit ihren kleinen Holzbirnen einbilden, dass ich aufgespießt gehöre, kannst du sie davon abhalten?«
»Solange Ihr von mir gedeckt seid.«
»Auf meine Flanken muss ich dann wohl selber aufpassen.«
»In der Tat.«
Ich wende mich wieder an BRIGHID. »Also schön, angenommen, ich mache es. Wie genau soll ich FAND dazu bewegen, dass sie mit dir an einem Strang zieht? Was schlägst du vor?«
»Du wirst ihr ein Angebot vorlegen, das ihr zusagen muss, wenn sie nicht völlig den Verstand verloren hat.« Sie beschreibt mir die Einzelheiten.
Ich frage, wann ich aufbrechen soll.
»Sofort, Eoghan. Ich werde diesen Eukalyptus mit Tír na nÓg verknüpfen. Du kannst inzwischen Abschied nehmen von deinen Freunden.«
»Und die Teufel …«
»… werden noch da sein, wenn wir die Oberhand behalten. Falls wir scheitern, wird ohnehin nichts bleiben.«
»Ah, danke für diese ermutigende Einschätzung. Und hast du schon mit Siodhachan geredet? Er treibt sich irgendwo auf der Insel rum.«
»Nicht mehr. Er hat eine Nachricht von der MORRIGAN erhalten und verfolgt inzwischen andere Ziele. Für den Wechsel hierher haben wir einen von ihm gebundenen Baum benutzt und mussten dann in höchster Eile über Land reisen. Sei versichert, dass auch Granuaile einbezogen wird.«
»Na gut. Bin gleich wieder da. Entschuldigt mich.«
Greta erwartet mich mit verschränkten Armen und mustert mich forschend, die Halssehnen zum Zerreißen angespannt. »Verdammt. Du lässt uns hier zurück, oder? Ich seh’s dir an der Nasenspitze an.«
»Ich muss, mein Liebes, auch wenn es mir gegen den Strich geht.«
»Du hast keine andere Wahl?«
»Nein, meine Ehre steht auf dem Spiel.«
»Deine Ehre kannst du dir sonst wo hinstecken!«, faucht sie. »Das ist genau die Denkweise, die Menschen das Leben kostet. Gunnar ist für seine Ehre gestorben, und Hal ist tot, weil sich jemand in seiner Ehre verletzt gefühlt hat. Ich will nicht, dass du aus dem gleichen Grund stirbst. Du bist mir wichtiger als deine Ehre.«
»Ich weiß nicht, ob ich in diesem Fall am Leben bleiben kann, ohne meine Ehre zu verteidigen. Ich muss FAND aufsuchen und sie dazu bewegen, dass sie uns im Kampf gegen LOKI hilft. Ragnarök steht vor der Tür, Liebes. Da kann man sich nicht zurücklehnen und darauf warten, dass sich andere darum kümmern.«
Zuerst schnaubt sie ungläubig, doch dann hält sie die Luft an. »Meinst du das ernst? Redest du … vom Ende der Welt?«
»Ja. Wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt. Jedenfalls ist es das, was LOKI will.«
»Wohin gehst du?«
»Ins Moor der MORRIGAN. Danach weiß ich noch nicht. Aber sobald ich kann, komme ich zurück und beende die Arbeit hier. Die Kinder haben den Bogen inzwischen raus. Du kannst entweder hierbleiben und auf sie aufpassen oder zusammenpacken und zurück in die Staaten fliegen. Offen gestanden, habe ich keine Ahnung, was sicherer ist.«
»Okay. Das entscheiden wir später.«
Nachdem ich mich von den Eltern verabschiedet habe, spreche ich kurz mit jedem meiner Schüler und fordere sie auf, weiter so gute Arbeit zu leisten wie bisher.
Thandi macht sich Sorgen, dass sie alles vergisst, wenn ich weg bin – einfach weil sie in jeder Situation einen Anlass zur Sorge findet. Wahrscheinlich ist die Trennung von ihrer Mutter die Ursache für diese Ängstlichkeit. Zum Glück verliert ihr Vater Sonkwe nie die Geduld und begegnet ihr immer voller Freundlichkeit. Sie wird schon bald ihre eigene Stärke erkennen.
Ozcar geht es gut, solange es seinen Eltern gut geht. Mit einem Blick kontrolliert er, wie sie mit meinem Abschied zurechtkommen. Da sie völlig unbekümmert wirken, bittet er mich nur, gut auf mich aufzupassen.
Tuya fragt mich, ob sie mehr über die Pflanzen erfahren wird, während ich weg bin. Das Heilen der Teufel ist in Ordnung, aber weitaus faszinierender sind für sie Blumen, Bäume und alles, was wächst.
»Natürlich«, antworte ich. »Wenn du Lust hast, kannst du jederzeit durch deine Murmel mit Tasmania reden.« Ich zeige auf das Medaillon um ihren Hals. »Frag sie einfach nach ihren Lieblingspflanzen, da wirst du bestimmt alles erfahren, was dich interessiert. Hast du gewusst, dass es hier Pflanzen gibt, die Ungeziefer fressen?«
»Wirklich?«
»Sonnentau zum Beispiel. Und sicher noch viele andere. Frag einfach danach.«
»Das mach ich!«
Mehdi, ein ernster Junge aus Marokko, verspricht mir, dass er und sein Vater für meine sichere Rückkehr beten werden. »Wir werden uns auch ohne dich weiter fest anstrengen«, fügt er hinzu.
Amita hat seine Worte gehört und nickt. »Wir heilen so viele Teufel, wie wir können.« Sie ist schon jetzt ein Mensch, der sich unermüdlich für ein gestecktes Ziel einsetzt. Als Erwachsene wird sie eine starke Streiterin GAIAS sein.
Den Tierfreund Luiz kümmert es überhaupt nicht, dass ich abreise. »Was? Ach. Bis später.« Plötzlich fährt er herum. »Moment. Wir müssen aber nicht mit dem Heilen der Teufel aufhören, solange du weg bist?«
»Nein, Junge. Ihr könnt ruhig weitermachen.«
»Gut. Es ist so toll.« Mit einem Grinsen lässt er seine Zahnlücken aufblitzen, dann wendet er sich wieder seinem Patienten zu und hat mich sofort vergessen.
Nachdem ich mit den Schülern durch bin, vergräbt Greta beide Hände in meinem Bart und lehnt ihre Stirn an meine. »Komm bloß wieder, Teddybär.«
»Das hab ich fest vor, Liebes.« Eigentlich habe ich gar keine Lust, mich von ihr oder von den anderen zu trennen. Das Ganze hört sich an wie eines von diesen nutzlosen Abenteuern, in die sich Siodhachan ständig stürzt. Vielleicht wird das meine Zukunft sein, weil ich einer von den wenigen Druiden bin, die von den vielen früher noch übrig geblieben sind: Alles ist ein Notfall. Ich gebe Greta einen Kuss, der ihr zeigt, dass ich gern weitermachen möchte, wo wir aufgehört haben, und verspreche ihr einen Waldlauf, sobald ich zurückkomme.
BRIGHID beendet gerade die Bindung, als ich wieder zu ihr stoße. »Dann mal los, Andy.« Ich nicke dem Herold zu. »Machen wir uns auf die Socken.«
»Ich heiße Coriander, Sir.«
Ich grinse ihn an. »In der Schlacht ist ein viersilbiger Name unpraktisch, mein Junge, und meistens auch in der Dichtung, falls dich interessiert, was die Barden zu sagen haben. Solange du nicht tatsächlich meine Knochen vor den Feen gerettet hast, kriegst du von mir nicht mehr als zwei Silben. Du kannst es dir aussuchen: Cory, Ian, Andy, Großkotz, ist mir egal. Also, was darf’s sein?«
»Coriander, Sir.« Er wirft BRIGHID einen flehenden Blick zu, die allerdings eher amüsiert scheint.
Ich lache ihn aus. »Wie wär’s mit Kackstuhl? Ja, das passt.«
Er hat keinen Bannzauber, der mich daran hindern könnte, ihm Schimpfnamen an den Kopf zu werfen. Mir ist klar, dass ich mich wie ein Arschloch benehme, aber diese Hochnäsigkeit kann ich einfach nicht ertragen. Außerdem muss ich so viel Spaß wie nur möglich aus dieser Situation herausschlagen. Denn ich bin ziemlich sicher, dass bald der erste Hauptsatz von Owen eintreten wird.
Letzte Woche ist in meiner Bar in Warschau ein Vampir explodiert. Allerdings nicht von selbst: Ich habe seinen untoten Arsch aufgelöst, als er mich bedroht hat, und daraufhin ist er auf reichlich spektakuläre Weise zerplatzt. Die Leute schrien und bekamen Panik. Nur einer von meinen Stammgästen fand das Ganze einfach metal, und seitdem hat er bei mir einen dicken Stein im Brett. Zu jedem Bier kriegt er jetzt kostenlos einen Żubrówka. Obwohl ein Großteil der vampirischen Überreste in seinem Pudding landete und seine schöne Lederjacke ruinierte, machte er einfach ganz cool Schnappschüsse von der blutigen Schweinerei für seinen Instagram-Account.
Da Atticus und Owen gerade in Tasmanien sind und dem dortigen Elementargeist helfen, bin ich – zumindest tagsüber – bei der Durchsetzung des Vertrags mit den Vampiren ziemlich auf mich allein gestellt. Besonders was den Passus angeht, der Polen zur vampirfreien Zone erklärt, wie Atticus es den Schwestern der Drei Auroras versprochen hat. Dummerweise ist inzwischen in Krakau ein Vampir namens Kacper Glowa aufgetaucht, der noch älter ist als Leif Helgarson und keine Lust hat, das Land zu verlassen. Er hat eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich geschart und dreht sowohl den Druiden als auch Leif eine lange – sehr wahrscheinlich blasse und popellose – Nase.
Eigentlich weiß ich gar nicht: Haben Vampire Popel? Leif hat endlich zugegeben, dass sie irgendwie kacken – oder genauer gesagt, einen ausgesprochen unschicklichen Ausfluss absondern –, aber das lässt natürlich keine Rückschlüsse auf Popel zu.
Leif hilft mir bei dem Problem, und gemeinsam haben wir bei der Säuberung eines Nests in Krakau zwölf von diesen Blutsaugern aus dem Verkehr gezogen. Leider war Glowa nicht dabei, obwohl das Areal ihm gehört. Leif ist der Meinung, dass die anderen erst dann kuschen und sich aus Polen zurückziehen werden, wenn wir den alten Kacper ausschalten. Jetzt müssen wir ihn bloß noch finden. Und das erweist sich als ziemlich schwierig, weil man Tote durch Wahrsagen nicht aufspüren kann. Außerdem ist er reich und hat jahrhundertelange Erfahrung im Verstecken.
Obwohl ich bei dem Angriff auf das Nest vor einigen Tagen angeschossen wurde, bin ich jetzt wieder bei der Arbeit im Browar Szóstej Dzielnicy in Warschau, in der Hoffnung, dass er einen Überfall auf mich versucht oder zumindest einen Helfer schickt, den wir vielleicht bis zu ihm zurückverfolgen können.
Doch wer sucht mich stattdessen auf? Eine äußerst niedergeschlagene Vertreterin der TUATHA DÉ DANANN, die mit ihrer Jagdmontur aus Leder und dem Bogen am Rücken einen ziemlich deplazierten Eindruck in der Gaststätte macht. Sie setzt sich neben meinem Metal-Stammgast Maciej an die Bar und zieht in ihrer Kluft, die gut für ein Renaissancefestival geeignet wäre, die Aufmerksamkeit praktisch aller Anwesenden auf sich. Dazu kommt, dass sie eine rothaarige Göttin mit legendärem Geschlechtstrieb ist. Sie hat eine fast unwiderstehliche Ausstrahlung, daher sind die Blicke überwiegend von der lüsternen und schamlosen Art.
Maciej dagegen ist vor allem verblüfft. »Oh, hey!«, ruft er auf Polnisch, das FLIDAIS sicher nicht spricht. »Du hast ja ganz ähnliche Tattoos wie Granuaile. Wie Granuaile sie hatte, meine ich.«
Das polnische Wort für Tattoos ist ganz ähnlich wie das englische, und weil er zuerst auf ihre druidischen Zeichen und dann auf meinen Arm deutet, hat FLIDAIS keine Mühe, sich das Ganze zusammenzureimen.
»Ja, meine Tätowierungen sind wie ihre«, erwidert sie müde, dann richtet sie den Blick auf mich. »Ich grüße dich, Granuaile. Könntest du … warte, was ist denn mit deinen Tattoos geschehen?«
Ich antworte nicht auf Englisch, weil Maciej nicht mithören soll. Also wechsle ich ins Altirische. »Willkommen, FLIDAIS. Ich habe sie noch. Sie sind bloß unter einem Schirmzauber verborgen, den mir die Schwestern der Drei Auroras verliehen haben. Sie haben einfach zu viel Aufsehen erregt.«
»Ihr zwei könntet echt Schwestern sein«, bemerkt Maciej auf Englisch mit starkem Akzent. »Seid ihr Schwestern?«
Ich bemerke FLIDAIS’ wachsende Gereiztheit und überlege mir, dass ich die Situation besser entschärfen sollte, bevor es zu einem Gewaltexzess kommt. »Bin gleich für dich da, FLIDAIS