Der Ruf des schwimmenden Gartens - Tara Haigh - E-Book
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Der Ruf des schwimmenden Gartens E-Book

Tara Haigh

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Beschreibung

Bremen, 1914: Sofie arbeitet als Ärztin im dortigen Krankenhaus, leidet jedoch darunter, von den männlichen Kollegen nicht ernst genommen zu werden. Da hört sie, dass deutsche Investoren auf Madeira ein Krankenhaus eröffnen wollen und händeringend nach Ärzten suchen. Bei einem Treffen beeindruckt der Geschäftsmann Richard Hauenstein Sofie mit seinem Charme und schlägt ihr vor, beim Aufbau der Tuberkulose-Station dabei zu sein.

Auf Madeira angekommen muss sie jedoch feststellen, dass das Krankenhaus noch nicht fertiggestellt ist. Und auch weitere Ungereimtheiten lassen Sofie an ihrem Entschluss zweifeln. Doch dann taucht Richards jüngerer Bruder Ludwig auf, der Sofies Herz höherschlagen lässt. Richards Eifersucht ist geweckt. Sofie dämmert, dass sie nur eine Schachfigur im Spiel um die Macht auf Madeira ist. Und ausgerechnet ein Waisenjunge in einem Nonnenkloster gibt ihr den Schlüssel in die Hand, um sich aus einem Netz aus Geheimnissen und Intrigen zu befreien ...

Vor der atemberaubenden Kulisse Madeiras kämpft eine junge Frau entgegen allen Widerständen um ihre Freiheit und ihre Liebe.

Der neue große Saga-Stoff von Kindle-#1-Bestseller-Autorin Tara Haigh.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Nachwort

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Bremen, 1914: Sofie arbeitet als Ärztin im dortigen Krankenhaus, leidet jedoch darunter, von den männlichen Kollegen nicht ernst genommen zu werden. Da hört sie, dass deutsche Investoren auf Madeira ein Krankenhaus eröffnen wollen und händeringend nach Ärzten suchen. Bei einem Treffen beeindruckt der Geschäftsmann Richard Hauenstein Sofie mit seinem Charme und schlägt ihr vor, beim Aufbau der Tuberkulose-Station dabei zu sein.

Auf Madeira angekommen muss sie jedoch feststellen, dass das Krankenhaus noch nicht fertiggestellt ist. Und auch weitere Ungereimtheiten lassen Sofie an ihrem Entschluss zweifeln. Doch dann taucht Richards jüngerer Bruder Ludwig auf, der Sofies Herz höherschlagen lässt. Richards Eifersucht ist geweckt. Sofie dämmert, dass sie nur eine Schachfigur im Spiel um die Macht auf Madeira ist. Und ausgerechnet ein Waisenjunge in einem Nonnenkloster gibt ihr den Schlüssel in die Hand, um sich aus einem Netz aus Geheimnissen und Intrigen zu befreien ...

Prolog

Madeira, 1881

Der Steinboden, den sie mit ihrer Stirn berührte, war kalt wie Eis. Obwohl ein Gewand aus dicht gewobener Baumwolle sie vor der Kälte in der Kapelle schützte, kroch der eisige Atem des Klosters unerbittlich in sie hinein. Sie fröstelte und begann, am ganzen Körper zu zittern, wie so oft in diesen Gemäuern. Da half es auch nichts, sich in Erinnerung zu rufen, dass dieser heilige Ort den Worten der Mutter Oberin nach mit innerer Wärme gesegnet sei, die das Licht Gottes verströme und man sie nur in sich hineinlassen müsse. Das Mauerwerk war in jedem Raum sogar an sonnigen Tagen so feucht und kühl, dass selbst der große Kamin im Speisesaal nicht gegen die nagende Kälte anzukämpfen vermochte. Auch nach einer heißen Suppe blieben die Finger während der Mahlzeit steif. Und das auf einer Insel, der man ewigen Frühling zusprach. Der stetige Wechsel aus Sonne und Regenschauern kam ihr vor, als ob sich der launenhafte April, wie sie ihn aus der alten Heimat kannte, in den Hügeln Funchals eingenistet hätte. Immerhin raste ihr Herz jetzt nicht mehr so wie zu Beginn der Initiierung, als sie sich vor dem Bischof und allen Nonnen, die hinter ihr auf den Bänken saßen, auf den Steinboden gelegt hatte – die Arme seitlich weit von sich gestreckt wie der Gekreuzigte, der über dem Altar thronte, um das Ordensgelübde in einer dem Akt gebührenden Pose abzulegen. Ihre wild umherkreisenden Gedanken waren dabei ebenfalls zur Ruhe gekommen. Weihrauch, den eine der Schwestern zu Beginn der heiligen Messe entzündet hatte, tat nun sein Übriges. Sein würziger Duft erfüllte mittlerweile den Raum. Er beruhigte und klärte zugleich die Sinne. Sollte man sie beim Ablegen der Profess nicht alle beisammenhaben? Die Worte des amtierenden Bischofs hatte sie zwar im Ohr, doch sie drangen nicht zu ihr, weil sie wusste, dass dieser Akt nichts weiter als eine notwendige Inszenierung war, um ihre Ziele zu verfolgen. In der Taufe sei sie aus dem Wasser und dem Heiligen Geist zu neuem Leben geboren und Gott geweiht worden. Es klang aus seinem frohlockenden Mund nach einem Geschenk, über das man sich freuen sollte. Der Herr hatte ihr aber zeitlebens Schmerz statt Freude oder gar inneren Frieden beschert.

Ob sie bereit sei, die Profess abzulegen, wollte er nun wissen. Sie bejahte seine Frage mit vor Kälte angeschlagener Stimme. Ob sie dazu entschlossen sei von heute an in gottgewollter Keuschheit, in Armut und Gehorsam zu leben, um der Gemeinschaft der Schwestern zu dienen, die evangelischen Räte auf sich zu nehmen und sie treu zu befolgen. Erneut bejahte sie die obligatorischen Fragen des Weiheversprechens. Angeblich wurde der Geist dann frei für neue Aufgaben, vor allem mittels Verzichts auf die körperliche Liebe. Wenigstens dies würde ihr leichtfallen. Gehorsam eher weniger, denn die Worte Gottes zu hören und von nun an als seine Braut ihm zu gehören, was die Begrifflichkeit des Wortes gehorsam rein theologisch betrachtet erklärte, kam aus zwei Gründen nicht infrage. Sie hörte ihn nicht und hatte sich bereits vor ihrer Abreise nach Madeira geschworen, künftig nur sich selbst zu gehören. Lieber tat sie so, Gott zu gehorchen und ihm zu dienen, als außerhalb dieser Mauern des Mannes Götzen zu sein, dessen Phallus ihn zu Sündhaftigkeit trieb und ihn und diejenigen, die er befleckte, aber auch die Früchte seiner Saat ins Unglück stürzte. Einer geistlichen Hirtin konnte er nichts anhaben. Das Gelübde verlieh zudem Macht, weil ihr gewöhnliche Menschen künftig Ehrfurcht erweisen mussten.

»Du wirst kraft deiner Stellung über sie herrschen, kannst dich und andere beschützen«, schien ihr in diesem Moment der Teufel ins Ohr zu flüstern, oder war es die Stimme des Herrn? Ein Ruf nach Gerechtigkeit? Eine Mission oder gar ihre Berufung? Waren seine Wege nicht unergründlich?

»Der Allmächtige möge dir durch seine unermessliche Gnade die Kraft in Erfüllung deiner Profess geben.«

»Amen!«, sagte sie nur deshalb mit kräftiger Stimme, weil sie sich nun gewiss sein konnte, künftig eine der Schwestern zu sein.

Es war Zeit, sich zu erheben und das Gelübde von einer Schrift in ihren Händen abzulesen. Sie trug es vor wie ein Gedicht – verzückt, entrückt, glückselig. Sollten sie doch alle glauben, dass die neue Professin zur Heiligkeit berufen war, beflügelt vom Heiligen Geist. Das Noviziat lag nun hinter ihr. Abgewandt hatte sie sich von den Dingen der Welt, aber nicht von dem Wunsch nach einem Leben in Würde. Hatte es nicht geheißen, non es facilis tribuatur ingressus? Der Eintritt in dieses neue gottgeweihte Leben war nicht leicht. Das wusste sie. Sollte sie die Einladung zum Streben nach Heiligkeit vielleicht doch annehmen? Nach seelischem Reichtum eifern? Würden Weihrauch, Gehorsam und viele Gebete die bösen Geister vergangener Tage vertreiben? Hier im Paradies auf Erden gelang es sicher eher, der vom gefallenen Engel regierten Welt zu entkommen, sie aus geschützter Distanz zu beobachten, zu formen und zu lenken. Dazu bedurfte es aber noch eines letzten Akts. Ihr musste der schwarze Schleier übergeben werden, als Zeichen der bräutlichen Bindung an den Orden und die Kirche, auch ein neuer Habit, der sie hoffentlich genauso wärmen würde wie das weiße Novizinnengewand.

Als die Mutter Oberin ihr den Schleier anlegte, fühlte es sich an wie eine Krönung. Was für ein sündhafter und zugleich erquickender Gedanke, mit Fleiß und Eifer eines Tages Macht ausüben zu können wie eine Herrscherin. Wie sie das bewerkstelligen konnte, wusste sie. Die Königin des schwimmenden Gartens des Atlantiks. Sie ließ sich die symbolische Krone aus schwarzem Stoff mit einem siegessicheren Lächeln auf ihr Haupt legen.

Kapitel 1

Bremen, April 1914

Die Allgemeine Krankenanstalt in der St.-Jürgen-Straße war nicht nur das größte Krankenhaus Bremens, sondern galt als eines der modernsten – verglichen mit deutschen Standards. Ein imposantes dreistöckiges Ziegelgebäude mit erhöhtem Mittelbau und Rundbogenfenstern, das im internationalen Vergleich mithielt. Zumindest was die Architektur und das geräumige Innenleben betraf. Von Modernität in jeder Hinsicht konnte Sofies Meinung nach aber schon allein deshalb nicht die Rede sein, weil sie die einzige Ärztin in der Lungenheilkunde war. Ohne ihr Studium in der Schweiz und einer einjährigen Tätigkeit im renommierten Londoner St. Thomas Hospital hätte sie die Stelle vermutlich gar nicht erst bekommen. Es fehlte an Fachkräften, die auf dem neuesten medizinischen Stand der Dinge waren. Und ihrer Meinung nach an weiblicher Intuition, aber auch Empathie und Einfühlungsvermögen, was ihre männlichen Kollegen oft vermissen ließen. Pionierarbeit also, um es mit Vaters Worten zu sagen, der ihr das Studium in der Schweiz, wo Frauen bereits seit über vierzig Jahren der Zugang zum Medizinstudium möglich war, nur unter der Bedingung finanziert hatte, dass sie nach Bremen zurückkehrte. Dem Land dienen und eine Vorreiterrolle spielen – Vaters Idee, gegen die an sich nichts einzuwenden war. Allerdings zu einem hohen Preis, weil ihr Wissen und Erlerntes nicht selten mit dem ihrer Kollegen kollidierten. Das fing bereits bei der Hygiene an. Sofie wusch sich wie jeden Morgen vor dem Dienst die Hände mit Lavendelseife. Einem deutschen Kollegen zu erzählen, dass Lavendel desinfizierende Eigenschaften hatte und in England das ätherische Öl sogar bei der Reinigung der Patientenzimmer zum Einsatz kam, grenzte hier an Ketzerei. Von Hahnemann und der Homöopathie hatten die Kollegen sowieso keine Ahnung – alles Dinge, über die Ärzte im St. Thomas Hospital zumindest Bescheid wussten. Wenigstens die Gesichtsmasken aus dreilagigen Mullbinden hatte Sofie jüngst durchsetzen können. Sie boten nach heutigem Wissensstand im Umgang mit Patienten, die an Tuberkulose erkrankt waren, den besten Schutz. Und der war hier in der Klinik dringend erforderlich. Zuerst hatte es geheißen, dass Seeleute und Zuwanderer aus dem Osten die Krankheit einschleppten, doch Sofie wusste, dass die meisten Tuberkulosefälle in erster Linie auf die zunehmende Verarmung der Bevölkerung, aufgrund einer immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich, zurückzuführen waren. Die im Volksmund genannte Schwindsucht, der auch ihre Mutter zum Opfer gefallen war, als Sofie die neunte Klasse besucht hatte, grassierte trotz massiver Aufklärung über Hygieneregeln vor allem in den Mietskasernen, bei schlecht bezahlter angelernter Arbeiterschaft und unter den Obdach- und Arbeitslosen. Armut schuf nahezu paradiesische Zustände für Bakterien, die sich ungehindert ausbreiten konnten – bis vor Kurzem mangels breit angelegter Aufklärung in fast allen Bevölkerungsschichten. Die Stadtverwaltung ließ mancherorts sogar Schilder aufstellen, auf denen »Ausspucken verboten« stand.

Die Maske, die Sofie sich nun anlegte, schützte sie vor einer Tröpfcheninfektion über die Atemwege. Sie überprüfte den korrekten Sitz. Eine ihrer blonden Haarsträhnen hatte sich in der Schlaufe am Ohr verfangen und ragte aus dem Maskenrand. Das passierte regelmäßig, wenn man sie mangels ausreichend Personal nach einem Spätdienst gleich am nächsten Morgen um halb sechs in der Früh antanzen ließ. Sofie zupfte sie heraus und steckte sie unter eine der Haarklammern, die ihr schulterlanges Haar zu einem Dutt bändigten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen setzte sie sich zusätzlich eine Schutzbrille auf. Es reichte schließlich, wenn einer der Lungenkranken, die in einem gesonderten Trakt untergebracht waren, sie unabsichtlich anhustete, um sie über die Augen zu infizieren. Professor Helmreich, der Leiter der Pneumologie, trug keine, was sicherlich in erster Linie daran lag, dass er während der Visite keinem der Patienten zu nahekam – auch im übertragenen Sinn. Ein persönliches kurzes Gespräch, aufmunternde Worte oder einfach nur ein offenes Ohr für die Kranken zu haben, galt auf seiner Station als verpönt.

Die Maske saß. Sofie verließ das zum Desinfektionsraum umgestaltete kleine Bad und begab sich zum Sprechzimmer. Der Vorteil des Frühdienstes war, dass die Wartezimmer um die Zeit noch nicht überquollen. Das für die Tuberkulosetests sowieso nicht. Mehr als drei Menschen durften sich in diesem stets gut belüfteten Raum nicht aufhalten. Durch die Glastür sah sie lediglich einen älteren Mann, der sicher darauf wartete, getestet zu werden.

Sofie trat ein und begrüßte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. Nur an seiner Augenpartie, die kleine Fältchen warf, konnte sie erkennen, dass er es erwiderte. Er hielt sich ein Tuch vor den Mund. Es war sauber. Sofie konnte keine Blutflecken oder sonstigen Auswurf darauf entdecken.

»Guten Morgen. Sie kommen zum Tuberkulosetest?«

Er nickte und erhob sich.

»Wie fühlen Sie sich? Hatten Sie Fieber? Bekommen Sie gut Luft?«

»Schlimmer Husten.« Er keuchte.

Sofie hatte genug Erfahrung mit Tuberkulosepatienten und mittlerweile ein gutes Gespür, aber auch Gehör dafür entwickelt, ob jemand daran erkrankt war. Kolleginnen schrieben ihr schon den siebten Sinn zu. So wie er hustete, klang es eher nach einer tiefsitzenden Bronchitis. Seine Gesamtkonstitution sprach sowieso dagegen.

Er folgte ihr ins Sprechzimmer und krempelte sich bereits den Arm hoch. Offenbar war das nicht sein erster Test.

»Ihr Name?«

»Wilhelm Schneider. Ich war schon mal hier.«

Sofie ging zum Schreibtisch und wühlte im Karteikasten. Wie sie es sich gedacht hatte, war auf dem Datenblatt für den Sechsundfünfzigjährigen bisher kein positives Testergebnis verzeichnet. Sie sah an seiner Anschrift, dass er in einer der Mietskasernen wohnte, an seiner Kleidung, dass er nicht der Oberschicht angehörte. Ein Wunder, dass er bislang gesund geblieben war.

Herr Schneider hielt ihr routiniert den Unterarm hin – bereit für die sogenannte Pirquet-Probe.

Sofie desinfizierte seinen Arm großzügig mit Alkohol, der zugleich die Haut entfettete, und trug dann mit einer Pipette das Tuberkulin an zwei Stellen etwa im handbreiten Abstand auf. Damit allein war es leider zum Unmut der Patienten nicht getan. Die Substanz musste mit scharfen Klingen regelrecht in die Haut eingeritzt werden. Beim Skarifizieren, wie sich das nannte, gab Herr Schneider keinen Mucks von sich. An einer Stelle, die weiter weg lag, führte Sofie die Prozedur erneut durch. Das war notwendig, um unspezifische Reaktionen abzugrenzen und somit eine negative Kontrollstelle zu haben. Zeigten sich nach achtundvierzig Stunden keine Knötchen, konnte sie sicher davon ausgehen, dass er sich tatsächlich nur eine Bronchitis zugezogen hatte. Das ihr bekannte Rasseln in seiner Lunge und ein begleitender Pfeiflaut sprachen dafür. Abhören brauchte sie ihn nicht mehr, um sich dessen gewiss zu sein.

»In der Apotheke am Eck sollten Sie sich Naturlakritz und Thymianöl besorgen.«

»Dass Lakritz gut für die Lunge ist, habe ich schon gehört, aber Thymian?«

»Ätherisches Öl! Träufeln sie sich ein wenig auf ihr Kopfkissen. Noch besser wäre, damit zu inhalieren. Zwei Tropfen in eine Schüssel mit heißem Wasser geben. Darüberbeugen und ein Handtuch über den Kopf legen.«

»Und das soll helfen?«

Herr Schneider klang wie Professor Helmreich, der grundsätzlich alles ablehnte, was sie aus ihrer Zeit in England an Wissen erworben hatte und eben nicht in schulmedizinischen Lehrbüchern stand. Sofie nickte entschlossen.

Herr Schneider ebenfalls, während er sich den Ärmel seines Hemds wieder nach oben krempelte. »In unserem Stockwerk gibt es zehn Mieter mit Auszehrung. Hoffentlich ist es wirklich nur ein Husten.«

»Nicht jeden erwischt es. Händewaschen. Türklinken mit dem Hemdsärmel öffnen. Abstand halten.«

Herr Schneider winkte ab. Sofie war sich sicher, dass er diese Regeln kannte und auch befolgte. Bevor sie sich von ihm verabschieden konnte, schneite Schwester Käthe, die Dienstälteste auf der Station, herein.

»Helmreich will dich sprechen«, sagte sie zwischen Tür und Angel, ehe sie mit ihrem Rollwagen, in dessen Etagenfächern Tabletts mit dem Frühstück für die Patienten lagen, von dannen zog.

Wahrscheinlich ging es Helmreich darum, ihren Jahresvertrag zu verlängern oder auch nicht, wobei Sofie letzteres für eher unwahrscheinlich hielt.

»Gute Besserung und denken Sie an das ätherische Öl. Thymian«, sagte sie Herrn Schneider, nachdem sie ihn hinausgeleitet hatte.

Im Grunde genommen war Professor Helmreich ein sehr umgänglicher Zeitgenosse. Sofie ließ kein schlechtes Wort über ihn kommen, was in erster Linie daran lag, dass er sie vor zwei Jahren nach einem zugegebenermaßen harten und fast zweistündigen Bewerbungsgespräch, das man eher als intellektuelle Anamnese bezeichnen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken eingestellt hatte. Ihre sehr guten Referenzen aus der Schweiz und aus England waren jedoch mit Sicherheit genauso ins Gewicht gefallen wie der akute Personalmangel. Auf die pneumologische Station wollte niemand. Dennoch raubte der vollbärtige Mittfünfziger mit Glatze ihr den letzten Nerv. Vor allem bei der Visite und wenn sie gut begründet anderer Meinung war. Unterschwellig gab er ihr stets das Gefühl, seine Erfahrung wäre mehr wert als ihr interdisziplinäres Wissen. Er konnte Sofies Meinung nach nicht über den Tellerrand hinaussehen und gerade in Anwesenheit von männlichen Kollegen gestand er ihr nie zu, eventuell doch recht zu haben. Sich dumme Bemerkungen über die weibliche Intuition anhören zu dürfen, brachte sie in Rage. Und dennoch konsultierte er sie, wenn es um Neuigkeiten aus der Welt der Medizin ging, seien es andere Behandlungsmethoden, die er in einer Fachzeitschrift aufgeschnappt hatte, oder neue Verfahren, von denen er annahm, dass sie ihr nicht fremd waren. Zuletzt war es um ihren Vorschlag gegangen, ein anderes Testverfahren anzuwenden. Sie kannte es aus der Schweizer Klinik. Statt die Haut aufzuritzen, wurde dort auf die vorgereinigte Haut lediglich eine Tuberkulinsalbe aufgetragen – absolut schmerzfrei. Bildete sich ein Ekzem, war der Patient positiv. Bei Erwachsenen blieb es beim bisherigen Testverfahren, doch Professor Helmreich hatte sich breitschlagen lassen, dass die sogenannte Percutan-Probe fortan bei Kleinkindern auch auf ihrer Station angewendet werden durfte.

Sie betrat sein Büro gleich neben dem Treppenhaus und er überraschte sie mit einem Lächeln. Das tat er nur, wenn er etwas von ihr wollte.

»Guten Morgen, Sofie. Wie geht es Ihnen?«

Als ob ihn das wirklich interessieren würde. »Gut.« Sie nahm Platz.

Professor Helmreichs Lippen bewegten sich mit geschlossenem Mund in alle Himmelsrichtungen. Das war seine ihr bekannte Denkerpose. Sie sah ihn nur fragend an. Wahrscheinlich überlegte er sich, wie hoch die überfällige Gehaltserhöhung bei Vertragsverlängerung ausfallen würde, doch da täuschte sie sich. Die auf dem Tisch bereitliegende Pralinenschachtel schob er nämlich in ihre Richtung.

»Sind die für mich?«, fragte sie sicherheitshalber nach.

»Ein herzliches Dankeschön von Marianne.«

Sofie nahm die Pralinen schmunzelnd entgegen. Sie konnte sich denken, warum sich seine Frau erkenntlich zeigte. »Dass der Naturlakritz so schnell wirkt«, deutete sie an.

»Der Mageninfekt ist weg, zumindest die Symptomatik. Woher wussten Sie das?«

»Die Engländer lieben Lakritz. Er hat antibakterielle Eigenschaften. Gut für die Lunge und für den Magen.«

Professor Helmreich nickte, obwohl ihm das sichtlich schwerfiel.

»Aber hängen Sie das bloß nicht an die große Glocke!«

»Ich bin verschwiegen wie ein Grab.« Sofie amüsierte sich über sein Verhalten und schmunzelte. Die Kräuterhexe aus England hatte wieder einmal recht behalten. Das passte ihm natürlich nicht.

»Und was diese Kügelchen betrifft ... Wir sind eine seriöse Klinik.«

Mit den Kügelchen meinte er homöopathische. Ein rotes Tuch auch für ihn. »Aber empfehlen darf ich den Patienten die Kügelchen schon?«

Professor Helmreich stöhnte auf.

»Nicht offiziell, versteht sich.«

»Ich habe nichts gehört und nichts gesehen«, sagte er sicherlich mit gutem Grund, denn Arnika-Globuli hatten bei ihm gut angeschlagen. Die Schnittwunde, die er sich im OP-Saal zugezogen hatte, war seinen Worten nach ungewöhnlich schnell verheilt.

»Ich wünschte, es gäbe diese Mittelchen auch gegen die Tuberkulose. Aufklärung allein hilft uns ja anscheinend nicht weiter. Sie isolieren, damit sie niemanden anstecken? Oder am besten gleich alle Patienten mit Bussen in den Süden ans Meer karren, damit sie genug Sonne und klare Luft abbekommen? Das ist doch die einzige Therapieform, die überhaupt Aussicht auf Heilung verspricht.«

»Oder auf einen warmen Sommer hoffen«, sagte sie.

Es löste sich sogar wieder ein Lächeln in seinem Gesicht.

Sofie tat es gut, dass er ihr Wertschätzung dieser Art zukommen ließ – zumindest unter vier Augen.

An Schwester Käthes Augenringen erkannte Sofie, dass sie hoffnungslos übernächtigt war. Sie schenkte Sofie dennoch ein von Herzen kommendes Lächeln, als sie gegen neun die Stationsküche betrat. Es mangelte nicht nur an Ärzten, sondern auch an Pflegepersonal, was jedem aufgrund von Sonderschichten den Schlaf raubte. Käthe, die Dienstälteste, hatte die Aufgabe, den Laden zusammenzuhalten, um es mit Professor Helmreichs Worten zu sagen. Das tat sie mit Leib und Seele. Allerdings wollte der Leib nicht mehr so recht mitspielen. Die Eisenbetten zu bewegen, ging ins Kreuz. Sie konnte sich noch nicht einmal mehr, ohne aufzustöhnen, bücken, um die Tabletts aus dem Servierwagen zu holen.

»Lass mich das machen«, sagte Sofie.

»Ach was, das geht schon.«

Sofie ließ das aber nicht gelten und packte trotzdem mit an. Sie holte die untersten Tabletts heraus und stellte das benutzte Geschirr auf die Küchenarbeitsplatte neben der Spüle.

Käthe befreite die Teller mit einem Messer von den Essensresten und säuberte sie unter fließendem Wasser. »Rate mal, wer den Abwasch macht«, sagte Käthe unvermittelt.

»Ist Sieglinde noch immer krank?« Eine ihrer beiden Putzkräfte hatte sich einen Magen-Darm-Infekt eingefangen. Die andere fehlte aus dem gleichen Grund bereits seit zwei Tagen.

Käthe nickte. »Ich habe Gott sei Dank nur noch sechs Monate bis zur Rente. Länger kann ich das hier auch nicht mehr«, erklärte Käthe, wobei sich Sofie sicher war, dass ihre Kollegin die Arbeit vermissen würde. »Du solltest von hier weggehen. Was hält dich hier?«, fragte Käthe unverblümt.

»Ich kann in meinem Fachbereich arbeiten.« Trotz ihrer schnellen Antwort gestand sich Sofie aber zugleich ein, dass sie sich diese Begründung selbst zurechtgelegt hatte, um die Frotzeleien und Demütigungen der männlichen Kollegen zu ertragen.

»Das könntest du in der Schweiz genauso. Dein Vater will doch sicher nur dein Bestes.«

Käthe wusste von Sofies Versprechen, nach der Ausbildung in Bremen zu arbeiten.

»Er will nicht allein sein. Wer will das schon, wenn man älter wird.« Mit ihrer Tätigkeit irgendetwas für das Ansehen deutscher Ärztinnen beizutragen, brauchte sie Schwester Käthe nicht zu sagen. Sie würde lauthals loslachen. Vaters Argument war sicherlich seinerzeit vorgeschoben gewesen. Das wusste Sofie nur allzu gut.

»Es ist ein Jammer. Du weißt bestimmt mehr als Helmreich, von den jungen Ärzten ganz zu schweigen. Und die werden befördert. Brenner ist jetzt Oberarzt. Dir wird man auch jemanden vor die Nase setzen, wenn Helmreich in Rente geht.«

Damit hatte Käthe sicherlich ebenfalls recht.

»In Amerika würdest du ein Vermögen machen. In der Schweiz ebenso. Und hast du nicht erzählt, dass Frauen dort die besten Aufstiegsmöglichkeiten in den Kliniken haben? In London stünden dir bestimmt genauso viele Türen offen.«

»Du willst mich also unbedingt loswerden«, sagte Sofie schmunzelnd. Natürlich hatte sie bereits darüber nachgedacht, doch so einfach war das nicht. Es war ja nicht nur der Umstand, dass Vater dann auf sich allein gestellt wäre. Die trockene Art der Eidgenossen lag ihr nicht. London? Eine zu große Stadt und die Deutschen waren dort nicht gern gesehen. Und nach Amerika gehen? Allein? Wie die Aussiedler Anfang des Jahrhunderts? In ein Land, das Farbige diskriminierte? Das in weiten Teilen kulturell so flach war wie seine riesigen Steppen, auf denen Rinder grasten? Sofie seufzte und reichte Käthe den letzten Teller.

»Ich sehe schon. Du wirst hier festwachsen, genau wie ich. Und als alte Jungfer enden.«

Käthe brachte gleich noch Sofies nächsten wunden Punkt auf den Tisch. Ärzte hatten treu sorgende Gattinnen, die ihnen den Rücken freihielten, sich um den Haushalt und die Kinder kümmerten. Ärztinnen, und das war selbst in der Schweiz nicht anders, hatten nur ihre Patienten und jede Menge Arbeit. Sie waren tauglich, um kranken Menschen zu helfen, jedoch untauglich als Heimchen am Herd, wonach die Männerwelt dürstete.

»Wobei ich manchmal froh darüber bin.« Käthe schmunzelte.

»Wolltest du nie Kinder und eine Familie?«

»Dazu braucht man den richtigen Mann. Und um ganz ehrlich zu sein. Die Arbeit war mein Leben. Die Patienten meine Familie. Das aufgeben, um Socken zu stopfen?«

Sofie nickte. Ihr ging es ähnlich, nur mit dem feinen Unterschied, dass Käthe es zur Stationsschwester gebracht hatte und sie vermutlich weiterhin ihr Licht unter den Scheffel der männlichen Kollegen stellen müsste.

Obwohl der Frühdienst schlauchte, brachte er es mit sich, den ganzen Nachmittag zur freien Verfügung zu haben. Sofie erreichte ihr Haus in der Straßburger Straße in wenigen Gehminuten. Gegen drei zu Hause zu sein, hieß aber in der Regel auch, sich zuerst um den Haushalt zu kümmern oder die auf dem Heimweg erledigten Einkäufe einzuräumen. Eine Haushaltshilfe kam nur einmal in der Woche, um sich der Wäsche anzunehmen und zu bügeln, was nicht daran lag, dass sie sich keine fest angestellte Zugehfrau hätten leisten können, die sie bekochte und alles in Ordnung hielt. Vater ertrug es nicht, wenn Fremde im Haus waren. Es störte ihn bei der Arbeit, was verständlich war, denn seine Anwaltskanzlei befand sich im Erdgeschoss.

An sonnigen Tagen wie heute zog es Sofie normalerweise in den Kräutergarten hinter dem Haus, den einst ihre Mutter gleich neben der Terrasse an der Mauer zum Nachbargrundstück angelegt hatte. Am schönsten war es dort im Herbst, wenn der Lavendel blühte und den Garten in seinen entspannenden Duft hüllte. Ein kleines Blumenbeet durfte nicht fehlen. Es gab immer etwas zu tun und nichts entspannte sie so sehr wie Gartenarbeit. Heute entschied sich Sofie dagegen, denn durch das große zur Straße hin ausgerichtete Wohnzimmerfenster erspähte sie ihren Vater im Lesesessel, die Zeitung in der Hand. Eine Teekanne nebst Tasse stand auf dem Beistelltisch daneben. Wie immer trug er tagsüber einen feinen Anzug mit Weste und statt einer Krawatte, wie bei Geschäftsleuten üblich, eine farblich passende Fliege. So stellte man sich einen erfolgreichen Anwalt für internationales Vertragsrecht vor. Anscheinend schien ihn der Artikel, den er gerade gelesen hatte, aufgewühlt zu haben. Wenn das der Fall war, fuhr er sich stets durch sein grau meliertes Haar, in Richtung seines licht gewordenen Scheitels, und zupfte an den Haarspitzen herum. Vielleicht konnte sie Vater dazu überreden, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, was um die Jahreszeit eher ungewöhnlich für Bremen war. Das würde ihn sicher auf andere Gedanken bringen, überlegte Sofie, als sie die Haustür aufschloss und hineinging.

»Ah. Sofie. Möchtest du eine Tasse Tee? Er ist noch warm«, sagte er, während sie sich aus ihrer Jacke schälte und sie am Kleiderständer aufhängte.

»Gerne. Hattest du denn heute Nachmittag nicht einen Termin? Mit diesem Hartmann, der in Lissabon ein Geschäftshaus kaufen will?«, fragte sie, als sie das Wohnzimmer betrat und zu ihm ging.

»Er hat telefonisch abgesagt. Magen-Darm-Geschichte.« Vater faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

»Die geht bei uns auch um. Die zweite Putzfrau hat es erwischt. Und wir finden nicht so schnell Ersatz. Personal fehlt an allen Ecken und Enden.«

Vater schüttelte mitleidig den Kopf. »Dabei sollte man doch denken, dass sich die Leute heutzutage um Arbeit reißen.«

Sofie holte sich eine Teetasse aus der Glasvitrine mit dem guten Service und schenkte sich etwas Tee aus der Kanne ein, bevor sie sich auf das kleine Sofa gegenüber setzte. »Wir hätten nicht einmal Zeit, sie einzuarbeiten«, erklärte sie ihm.

»Gerade habe ich gelesen, dass die Lebensmittelpreise wieder steigen. Dank der Schutzzölle. Unsere Regierung ist unfähig.«

Sofie bereute augenblicklich, sich zu ihm gesellt zu haben, denn was er besonders spannend fand und ihn bewegte, nämlich Wirtschaft und Recht, empfand sie äußerst ermüdend. Wenn sie die Zeitung meist nach dem Abendessen in die Hand nahm, las sie viel lieber den Kulturteil oder Berichte über interessante Begebenheiten auf der ganzen Welt.

»Und dann noch dieses Geschwätz, dass unser Wilhelm zu sehr mit den Säbeln rasselt und wir in einem Krieg enden, wenn er so weitermacht.«

»Den Engländern passen seine Ambitionen in Sachen Seehoheit ganz und gar nicht. Die deutsche Kriegsflotte stellt für sie eine Bedrohung dar.« So viel hatte Sofie in England mitbekommen.

»Ob es ihnen passt oder nicht. Niemand wagt es, sich mit dem Kaiserreich anzulegen. Einen Krieg? Nie im Leben.« Vater trank einen weiteren Schluck Tee.

»Wie war dein Tag?«, fragte er dann doch noch.

»Helmreich hat mich sprechen wollen. Er hat mir Pralinen von seiner Frau übergeben.«

»Wegen deiner Lakritztherapie?« Vater amüsierte sich darüber genau wie sie.

»Ich sehe es ihm nach, dass er so skeptisch gegen alles Naturheilkundliche ist. Er weiß es nicht besser und hat auf unserer Station ganz andere Sorgen. Die Tuberkulosefälle steigen wieder an. Wir hoffen auf einen milden Sommer«, erklärte sie.

Vater nickte wissend, doch mit sich verfinsternder Miene. »Wenn wir auf Madeira geblieben und nicht zurück nach Deutschland gegangen wären, würde deine Mutter vermutlich noch leben«, sagte er dann unvermittelt.

»Helmreich meinte heute, dass man alle Tuberkulosefälle mit Bussen in den Süden karren sollte.«

»Auf Madeira bauen Deutsche eine neue Klinik, mit einer großen Abteilung für Tuberkulosepatienten. In Funchal, soviel ich weiß.«

»Auf Madeira?« Dass die Insel ein Luftkurort war und sich ideal zum Auskurieren einer solchen Erkrankung eignete, wusste Sofie, doch wie um alles in der Welt kamen Deutsche dazu, dort eine Klinik zu bauen?

»Sie suchen händeringend nach Ärzten.«

»Woher weißt du das?«

»Von einem meiner Klienten. Du hättest da ideale Arbeitsbedingungen, Aufstiegschancen und nicht zu vergessen ein ganzjährig angenehmes Klima.«

Sofie verschlug es die Sprache. Bis zum heutigen Tag hatte er ihr Klagen über die Zustände im Klinikum abgetan und nichts davon hören wollen, dass sie sogar schon mit dem Gedanken spielte, ins Ausland zu gehen. Nach manchen besonders üblen Tagen gar in die Schweiz. Und nun kam er mit Madeira daher? Sie kannte die Schwärmereien ihres Vaters über die Blumeninsel, wo er ein glückliches Jahr mit ihrer Mutter verbracht hatte, privat und als Geschäftsmann, doch es gab Wolken über dem Paradies im Atlantik.

»Aber Madeira ist doch von den Engländern besetzt. Das hast du selbst erzählt, und dass dadurch alles anders sei als früher.«

»Besatzung. Was heißt das schon? Alles heiße Luft. Wenn es um die Gesundheitsversorgung geht, haben die lokalen Behörden das Sagen.«

»Du meinst, ich soll ...?« Sofie wagte es gar nicht, auszusprechen. Allein der Gedanke, auf dieser Insel zu leben, sprengte momentan ihre Vorstellungskraft.

»Ich kann dich mit Richard Hauenstein bekannt machen, wenn du möchtest. Er vertritt die deutschen Investoren und ist gerade in Bremen. Die Hauensteins haben ein Weingut auf der Insel. Gute Geschäftsleute und langjährige Kunden.«

»Kämst du überhaupt ohne mich hier allein zurecht? Jetzt vielleicht schon, aber wenn du älter bist?«

»Wer weiß, möglicherweise verbringe ich meinen Lebensabend dort. Das Klima hier tut meinen Knochen nicht gut«, sagte er.

Auch das überraschte Sofie, denn bisher hatte er kein Wort darüber verloren.

»Richard wird dir gefallen.«

»Gefallen?«

»Nun. So meinte ich das nicht. Eher seine charakterlichen Qualitäten und sein gutes Händchen bei Geschäften. Wobei ... Er ist adrett und attraktiv, sofern ich das als Mann beurteilen kann.«

Sofie starrte ihren Vater ungläubig an. Das alles war zu viel auf einmal. Eine Stelle auf Madeira in einem nagelneuen Krankenhaus mit ihrem Spezialgebiet und Aufstiegschancen? Dazu ein Leben im Paradies und ein attraktiver Mann, den Vater ihr anscheinend versuchte, schmackhaft zu machen? Und das alles ausgerechnet jetzt, eine Woche bevor ihr Jahresvertrag auslief. Ein Wink des Schicksals oder hatte Vater ihren Vertrag noch in Erinnerung?

Sofie holte tief Luft. »Ich kann mir ja mal anhören, was dieser Richard Hauenstein zu sagen hat.«

Vater strahlte daraufhin wie ein Honigkuchenpferd. Käthes Worte, von hier wegzugehen im Ohr, schien sich gerade auf schier wundersame Weise die Tür zu einem neuen Leben zu öffnen. Zu schön, um wahr zu sein, und genau das irritierte Sofie.

Vater war jemand, der Nägel mit Köpfen machte. Ihren freien Tag zu nutzen, lag zudem auf der Hand. Außerdem, wie er ihr am Vorabend beim Abendessen nach einem Telefonat mit Richard Hauenstein gesagt hatte, wäre dieser nur noch für drei Tage in Bremen. Sofie sah dem Treffen trotz der Schwärmereien ihres Vaters mit gemischten Gefühlen entgegen. Es war zu Tisch um gar nichts anderes mehr gegangen als um die Blumeninsel, die Vater immer wieder dazu brachte, selbst aufzublühen. Erinnerungen an sein ehemaliges Haus, an Mutter und wie oft sie im Landesinneren gewandert waren, teilte er gerne mit ihr. Bessere Zeiten seien das damals gewesen. Mit Fritz Hauenstein, Richards Vater, verband ihn offenbar eine langjährige Freundschaft, die sich aus einer gemeinsamen Zeit in einer Burschenschaft und wohl auch aus der daraus resultierenden Geschäftsbeziehung entwickelt hatte. Ohne Vaters Hilfe hätte Hauenstein weder eine Immobilie auf Madeira erwerben noch seinen Wein vermarkten können. Zur Vertragsunterschrift sei er als Hauensteins Anwalt zugegen gewesen. Sofie hatte sich darüber gewundert, dass der Name bisher nie gefallen war, wo Vater doch sonst so viel über Madeira erzählte. Vor allem nach dem Abendessen, wenn er sich ein Glas Likörwein zum Dessert gönnte. Natürlich einen aus Madeira, was absolut nicht den Gepflogenheiten der dort Ansässigen entsprach, wie Sofie just von ihrem Vater wusste, weil er auf Madeira eher als Aperitif die Zunge löste.

Nach dem Frühstück fuhren sie zum Hillmann Hotel und Vater schwärmte weiterhin von Madeira und den Möglichkeiten – ein Umstand, der selbst für Vaters Verhältnisse, der gelegentlich aufkeimenden Verklärung seiner vergangenen Tage auf der Insel, ungewöhnlich war. Anscheinend hatte sein Geschäftskontakt viele Schubladen seiner Erinnerungen an eine glückliche Zeit geöffnet.

Das altehrwürdige Hotel am Herdertor direkt beim Wallgraben gehörte zu den ersten Adressen Bremens. Ein wuchtiger vierstöckiger Bau im neoklassizistischen Stil wartete auf sie. Immer wieder umgebaut und modernisiert, strotzte es nun mit dreihundert Betten. Seit einigen Jahren gab es in jedem Zimmer sogar ein eigenes Bad. Vater wusste das, weil manche seiner Klienten dort abstiegen. Das richtige Ambiente für Vater, der mit Wonne seinen nagelneuen Opel mit dreißig Pferdestärken, ein Automobil, das zur Klientel dieses Hotels passte, vorfuhr. Ein Anwalt konnte sich so ein Gefährt leisten.

Sofie kannte das vornehme Hotel bisher nur von außen. Sein Innenleben entsprach allerdings ihren von Vaters Erzählungen genährten Vorstellungen. Die hohe Decke der weitläufigen Eingangshalle und die der Gänge zierten, wie von ihm beschrieben, Reliefs. Römisch anmutende Säulen umrahmten einen Aufzug, den sie aber auf dem Weg zu einem der Salons, in denen Getränke serviert wurden, nicht in Anspruch nehmen mussten. Überall lagen edle Orientteppiche aus, Läufer in Rottönen, die vorzüglich zu den Fächerpalmen in riesigen Blumentöpfen passten. Das Mobiliar im Salon, einem mit Polstermöbeln zu Sitzgruppen arrangierten und geschmackvoll eingerichteten kleinen Saal, an dessen Ende eine Theke stand, erweckte einen äußerst einladenden Eindruck. Der Raum diente der gehobenen Geschäftswelt sicherlich als idealer Besprechungsort. Die eleganten, meist dunklen Anzüge der dort zusammensitzenden Geschäftsleute deuteten darauf hin.

Ein Herr stach heraus – und das nicht nur, weil er zu ihnen hersah und ihnen ein anscheinend aus tiefstem Herzen kommendes Lächeln schenkte. Er trug einen hellen Leinenanzug, der eher zu einer Kreuzfahrt in den sonnigen Süden passte. Das musste Richard Hauenstein sein. Sofie schätzte ihn auf um die dreißig. Adrett, und da hatte Vater sich nicht getäuscht, ein wahrlich attraktiver Mann mit schwarzem Haar und markanten Gesichtszügen, die ein kleiner Schnurrbart zierte. Er erhob sich von seinem Sessel und ging ihnen ein paar Schritte entgegen.

»Frau Doktor Schultheiß?«

Sein einnehmendes Wesen und eine tiefe und doch geschmeidige Stimme gefielen ihr. Sie nickte und reichte ihm die Hand, zu der er sich hinunterbeugte und ihr einen aus der Zeit gefallenen Handkuss andeutete. Sofie kam sich gerade vor wie am Hof von Marie Antoinette. Vater hingegen bedachte er mit einem kräftigen Händedruck.

»Erich. Schön, dass es so schnell geklappt hat«, sagte Hauenstein. »Wollen wir es uns nicht bequem machen? Was möchten Sie trinken, Frau Doktor Schultheiß?«

»Vielleicht einen Tee, einen schwarzen.« Erstaunlich, dass er sie nicht mit Fräulein Schultheiß angesprochen hatte. Scheinbar machte nicht nur eine Eheschließung aus einem Fräulein eine Frau, sondern auch die Promotion in Medizin, was sogar Logik in sich barg, denn anscheinend schloss das Ärztinnendasein eine Ehe sowieso kategorisch aus.

»Für mich ebenfalls, aber bitte mit Milch«, sagte Vater zum Ober, der bereits Gewehr bei Fuß stand, als sie Platz nahmen.

»Ihr Vater hat Ihnen bestimmt schon berichtet, weshalb ich ihn um ein baldiges Treffen gebeten habe«, sagte Hauenstein an Sofie gewandt.

»Es geht um ein deutsches Krankenhaus auf Madeira, nicht wahr? Das hat mich offen gestanden sehr überrascht.« Sofie nahm das Heft gleich in die Hand, obwohl ihr Vater bereits dazu angesetzt hatte, etwas zu sagen, genau wie sie es vom Klinikleben in einer von Männern dominierten Welt gewohnt war. Das schien Hauenstein zu gefallen, denn er nickte anerkennend.

»In der Tat. Die Gesundheitsversorgung auf Madeira lässt zu wünschen übrig. Es fehlt an Geld, gerade jetzt in diesen schwierigen Zeiten, doch die Idee dazu kam einer Gruppe von deutschen Investoren schon vor einigen Jahren. Sie können sich ja sicher vorstellen, wie lange es dauert, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, einzureichen und Genehmigungen zu beantragen.«

»Jahre ...«, sagte Vater.

Er schien schon länger in diese Pläne eingeweiht zu sein, was Sofie angesichts der freundschaftlichen Bande mit den Hauensteins allerdings nicht sonderlich überraschte.

»Mittlerweile genießen wir die volle Unterstützung der Regierung«, erklärte Hauenstein.

»Ein Allgemeines Krankenhaus? Ein Sanatorium?« Sofie wollte es nun genau hinterfragen.

»Beides, doch wie Sie wahrscheinlich aufgrund Ihrer Tätigkeit in der Pneumologie wissen, ist Madeira nicht nur als Kurort sehr beliebt. Das Klima ist ideal für Lungenerkrankungen. Wir errichten die größte Tuberkuloseklinik Portugals. Ein gewisses Kontingent an Patienten, die sich keinen Arzt leisten können, bekommen die Behandlung umsonst.«

»Wie lässt sich das denn finanzieren?«, fragte Sofie neugierig nach.

»Wir erhalten für den Bau Steuervergünstigungen. Ich will auch keinen Hehl daraus machen, dass dies ein Zugeständnis an die Regierung war, um alle Genehmigungen und Konzessionen zu bekommen. Sie könnten beim Aufbau dieser Fachabteilung behilflich sein. Von Anfang an dabei sein.«

Offensichtlich wollte er sie mit einer fast schon ansteckenden Euphorie ködern. Sofie machte sich klar, dass sie in diesem Fall höhere Aufstiegschancen hätte und kein Mauerblümchendasein mehr unter vielen männlichen Kollegen fristen müsste. Größeren Einfluss auf das Geschehen zu haben, reizte sie. Was sie aber am meisten beeindruckte, war die gute Sache. Eine kostenlose Behandlung für schwer Erkrankte. Das entsprach ganz und gar ihrer sozialen Einstellung und ihrem Berufsethos. In einer deutschen Klinik wäre das nahezu unmöglich. Sofie konnte sich vorstellen, dass es auf Madeira keine Krankenversicherung wie für die arbeitende deutsche Bevölkerung gab. All dies überwog den beunruhigenden Gedanken an einen Sprung ins kalte Wasser, auf sich allein gestellt in einem fremden Land ein neues Leben zu beginnen, doch so fremd war es ihr aufgrund Vaters Vorleben auf der Insel letztlich gar nicht und so glücklich, wie er dort gewesen war, schien etwas sehr Schönes auf sie zu warten.

Vater und Hauenstein tauschten vermutlich deshalb Blicke, weil sie sich schweigend ihren Gedanken hingegeben hatte.

»Wann wird das Krankenhaus seinen Betrieb aufnehmen?« Darüber hatte Hauenstein noch kein Wort verloren. Beim Aufbau behilflich zu sein deutete jedenfalls darauf hin, dass dort bisher kein einziger Patient ein und aus ging.

»Schon bald. Daher ist es so wichtig, jemanden wie Sie an unserer Seite zu haben.«

»Sind denn schon andere deutsche Ärzte mit an Bord?« Auch das Interessierte sie brennend.

»Nein. Sie sind die Erste, mit der ich darüber spreche.«

»Die erste Ärztin? Es gibt also bereits Gespräche mit männlichen Kollegen?«

Hauenstein schüttelte den Kopf. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Es ist nicht so einfach, jemanden zu finden wie Sie, mit Ihren Qualifikationen. Ausbildung in der Schweiz, in England, weshalb Sie sicher auch des Englischen mächtig sind. Eine beträchtliche Zahl an Patienten reist aus dem Vereinigten Königreich an. Und dann haben Sie, wenn ich das richtig verstanden habe, bereits Berufserfahrung im Bremer Krankenhaus gesammelt. Die wenigsten Ärzte wollen ihre Heimat verlassen, haben hier Familie. Madeira ist weit weg.«

Sofie nickte nachdenklich. Das war alles nachvollziehbar.

»Die Bezahlung wird besser sein als hier. Wir möchten die Klinik mit genügend Personal ausstatten, sodass das Klinikleben für die Ärzteschaft, aber auch für Patienten so angenehm wie möglich ist.«

»Dein Vertrag läuft aus. Das wäre der richtige Zeitpunkt«, sagte Vater.

»Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?« Die Frage war für Hauenstein bestimmt, doch Sofie sah ihren Vater daraufhin an, weil sie neugierig war, wie er darauf reagierte. In ihr keimte der Verdacht auf, dass ihr Vater dabei die Finger mit im Spiel hatte, was sich prompt bestätigte.

»Ich wusste von der Klinik. Richard war gerade in Bremen und da war es naheliegend, mit ihm darüber zu sprechen«, sagte Vater.

»Sie sind also angereist, um nach Personal für die neue Klinik Ausschau zu halten?« Sofie gedachte, Hauenstein auf den Zahn zu fühlen.

»Ganz und gar nicht. Ich vertreibe unseren Wein, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuche ich, weitere Gelder für dieses Projekt zu akquirieren. Nennen wir es einen glücklichen Zufall.«

»Wann würde meine Tätigkeit beim Aufbau der Tuberkulosestation beginnen?«

»So bald wie möglich.«

Sofie überlegte kurz. »Also frühestens in zwei Wochen.«

»Eigentlich hatte ich nicht geplant, so lange in Bremen zu bleiben, aber wenn Ihnen das recht wäre, könnte ich Sie nach Madeira begleiten.«

»Eine ausgezeichnete Idee. Dann bist du während der Überfahrt in guten Händen«, sagte Vater.

»Selbstverständlich würden wir Ihnen eine Kabine in der ersten Klasse buchen. Die Reiseroute entlang der französischen und spanischen Küste ist sehr reizvoll und meistens hält das Schiff in Lissabon. Kennen Sie die Stadt?«

Sofie schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.

»Und wo würde ich wohnen? Gibt es Hotels in der Nähe des neuen Krankenhauses?«

Vater und Hauenstein tauschten Blicke, was Sofie keineswegs entging.

»Meine Familie wohnt in einem großen Anwesen mit drei Gästezimmern, eigenem Bad und einer Angestellten, die sich um das Haus kümmert und kocht.«

Vater schmunzelte verlegen, als sie ihn musterte. Das alles hatten die beiden bestimmt schon hinter ihrem Rücken ausgeheckt. Sofie war unsicher, ob ihr es gefiel, eine Art Marionette zu sein. Gut, aber eine Marionette, der man Wünsche auf dem Silbertablett präsentierte.

»Sie können sich das ja alles noch in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

Hauensteins Vorschlag klang dennoch so, als ob es gar nichts weiter zu überlegen gäbe. Sofie fühlte sich überrumpelt.

»Am besten ich erzähle Ihnen ein wenig über unsere Pläne, und vielleicht interessiert Sie das Gesundheitswesen auf der Insel?«

Sofie nickte in Gedanken an die Tragweite einer Entscheidung, nach Madeira zu gehen.

Der Ober war mit einem Tablett im Anmarsch. Ihr war jetzt wirklich nach einer Tasse Tee.

Gut, dass Schwester Käthe nur einen Katzensprung von ihrem Haus entfernt wohnte. Ein spontaner Besuch bei ihr während ihrer gemeinsamen dienstfreien Zeit kam nicht oft vor, weil sie selten gleichzeitig frei hatten. Dementsprechend groß war Käthes Freude über den Überraschungsbesuch gewesen. In ihrer kleinen Wohnung im Parterre eines Sechsfamilienhauses saßen sie nun seit gut einer Stunde in ihrem Wohnzimmer zusammen, das aus einem gemütlichen Sammelsurium aus verschiedenen Sesseln, einem Schrank mit geschirrgefüllter Vitrine und einer frisch aufgepolsterten olivgrünen Couch bestand. Der Besuch war dringend notwendig gewesen, denn bei Vater brauchte sie ihre Bedenken nicht zu äußern. Er hatte zudem einen Termin außer Haus wahrnehmen müssen. Nach dem Gespräch mit Hauenstein, in dem er ihr weitere Einzelheiten über die Pläne der deutschen Investoren vorgetragen hatte, war Sofie nach kompetentem Rat und jemandem, dem sie vertrauen konnte. In diesem Fall kam sowieso nur Schwester Käthe infrage. Zudem war sie eine gute Zuhörerin und vom Fach. Das Projekt schien sie zu interessieren.

»Und sie haben wirklich gleich mehrere Sanatorien geplant?«, fragte Käthe nach.

»Ein Großprojekt mit gigantischen Ausmaßen. Das waren seine Worte gewesen.«

»Und du an vorderster Front. Als Frau? Sind die Portugiesen denn nicht ein streng katholisches Volk? Werden sie eine Ärztin überhaupt akzeptieren?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Eigentlich rechnete ich damit, dass er dabei ins Schlingern gerät, doch dem war nicht so. Wer zahlt bestimmt, meinte er.«

Nach dem ersten Stück von Käthes leckerem Apfelkuchen war vom anfänglichen Anflug von Euphorie, die Käthe wie Sofie im Hotel zunächst ergriffen hatte, nicht mehr viel übrig geblieben, obwohl Käthe genau wie Sofies Vater das Angebot als einmalige Chance wertete.

Sie starrte mittlerweile auf das zweite Stück Apfelkuchen, das sie sich und Sofie auf den Teller lud. »Ich würde dich vermissen. Entsetzlich vermissen.« Sie seufzte.

»Ich dich auch.«

»Kommen denn dann deutsche Schwestern? Oder englische? Du müsstest bestimmt Portugiesisch lernen. Erinnerst du dich noch? Wir hatten doch einmal einen Kaufmann aus Lissabon auf der Station. Also, mir gefiel die Sprache nicht.«

Sofie lachte auf. Es stimmte. Italienisch und Spanisch hatten eine ganz andere Klangfarbe, eine angenehmere Melodie. Die vielen »sch« und eher guttural klingende Laute waren auch Sofie in Erinnerung geblieben.

»Bei den Brasilianern klingt es besser.«

»Stimmt. Wie hieß er noch gleich? Dieser Arzt aus Rio ...«

»De Oliveira? Ich könnte mir trotzdem vorstellen, die Sprache zu lernen. Eine schöne Herausforderung.«

»Besser, als hierzubleiben. Was hast du zu verlieren? Du kannst nur gewinnen. Und dieser Hauenstein. Gefällt er dir?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»So wie du ihn mir beschrieben hast. Adretter Kerl. Über deine Augen ist dieser gewisse Schimmer gehuscht. Das machst du immer, wenn wir einen hübschen Patienten zu Gast auf unserer Station haben.«

»Er ist attraktiv.«

»Ein Grund mehr. Ach, jung müsste man noch einmal sein.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich es Helmreich beibringen soll.«

»Dein Vertrag läuft aus. Sag ihm doch einfach, was du vorhast. Glaub mir, er wird zwar nicht begeistert darüber sein, aber es verstehen.«

Mittlerweile starrte Sofie in Gedanken daran auf ihren Kuchen. Käthe hatte recht. Sie hatte nichts zu verlieren.

Kapitel 2

Kurz und schmerzlos. Anders konnte man es kaum bezeichnen. Helmreichs Bekundungen vor zwei Wochen, wie sehr das Krankenhaus sie brauche und jeder sie schätze, waren in Sofies Augen nichts weiter als Katzenjammer gewesen. Schon wenige Stunden nachdem sie ihn in einem persönlichen Gespräch darüber informiert hatte, dass sie ihren Arbeitsvertrag nicht zu verlängern gedachte und auch warum, hatte Sofie die ersten dummen Bemerkungen von Kollegen aufgeschnappt. Dass eine Frau wie die Faust aufs Auge zu einer Blumeninsel passen würde, war noch das Charmanteste gewesen, was sie zufällig aus dem Ärztezimmer mit angehört hatte, als sie etwas früher zur Arbeit erschienen war. Käthes Ohren waren sowieso überall. Dass die Kollegen froh wären, sie loszuhaben, damit hatte Sofie gerechnet. Dabei ging es sicher nicht darum, eine Stufe auf der Karriereleiter freizumachen, sondern um fortan einkehrende Ruhe. Keine Diskussionen mehr um alternative Behandlungsformen oder ihre berühmt-berüchtigte weibliche Intuition, die sich wie bei Herrn Schneider wieder einmal bewahrheitet hatte. Eine Bronchitis hatte er gehabt und keine Schwindsucht.

Sofie saß gedankenverloren neben einem geöffneten Koffer auf ihrem Bett, der für leichte Kleidung, Unterwäsche und Strümpfe gedacht war. Zwei weitere Koffer mit Garderobe für kühlere Tage und eine Kiste, die persönliche Dinge wie ein Fotoalbum, Bücher, insbesondere ihre über all die Jahre gesammelte Fachliteratur und Schuhwerk beinhaltete, standen transportbereit neben der Tür ihres Zimmers, das sie bereits seit frühester Kindheit bewohnte. Allerdings hatte sich im Laufe der Jahre die Einrichtung geändert. Der Schreibtisch aus massivem Eichenholz begleitete sie schon seit der ersten Klasse. Den bequemen ausladenden und grün gepolsterten Sessel neben dem Fenster, in dem sie viele Stunden mit einem guten Buch in der Hand zugebracht hatte, würde sie zweifelsohne vermissen. Das Zimmer war ein Ruhepol in ihrem Leben gewesen, der ihr Halt gegeben hatte. Eine glückliche Kindheit hatte sie darin verbracht, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als ihre Mutter sich diese erbärmliche Krankheit vermutlich im Wartezimmer ihres Hausarztes eingefangen hatte. Sofies Blick fiel auf den Sessel. Sie stellte sich vor, wie sie dort auf Mutters Schoß gesessen hatte, um sich von ihr eine Geschichte vorlesen zu lassen. Diese Gedanken wärmten ihr Herz und hüllten sie in ein unbeschreibliches Wohlgefühl. Jede einzelne Körperzelle schien sich augenblicklich zu entspannen. Ein angenehmer warmer Schauer lief ihr dabei über den Rücken. Dieser schöne Moment spülte all ihre verbliebenen Zweifel, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, in ein Meer aus Urvertrauen, ertränkte sie in jenem Gefühl der Sicherheit, das ihr ihre Mutter als Kind geschenkt hatte. Es verstand sich von selbst, die gerahmte Fotografie, die kurz vor ihrer Erkrankung aufgenommen worden war, mitzunehmen. Sofie wollte sie zuletzt in den Koffer legen, sorgsam von ihrer Wäsche umhüllt und gepolstert.

Sofie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm sie an sich. So eine hübsche Frau. Vater sagte immer, dass sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Die Aufnahme war an einem sonnigen Tag an der Nordsee entstanden. Wie sie strahlte. Sofie hatte ihr zu diesem Zeitpunkt gerade einmal bis zur Hüfte gereicht, hielt ihre Hand und sah zu ihr hoch. Bewundernd und überglücklich.

»Vielleicht kann ich dort mein Versprechen einlösen. Mehr Menschen vor dieser teuflischen Krankheit retten«, sagte sie leise, bevor sie den Rahmen in ein Unterhemd aus Seide wickelte und sorgsam in den Koffer legte. Sicherlich wäre das Klima auf Madeira ihr wichtigster Verbündeter im Kampf gegen die Schwindsucht. Doch da sie es sein würde, die diese Fachabteilung aufbaute, glaubte sie, auf weniger Widerstand zu stoßen, wenn es um Hygiene, patientenfreundliche Organisation und nicht zuletzt den Einsatz von Mitteln aus der Homöopathie und pflanzlicher Substanzen ging, die das Immunsystem stärkten. Gelernt in London. Hexenwerk in Bremen. Letzteres nicht auf Madeira, nahm sie sich fest vor.

Vater sollte recht behalten. Es war mehr als ein äußerst glücklicher Umstand, dass die Berlin, eines der Flaggschiffe des Norddeutschen Lloyd, von Bremerhaven direkt nach Madeira fuhr. Direktverbindungen waren selten, wie sie von Vater wusste. Keine tagelange Schaukelei auf einem Segler, kein Umstieg in Lissabon. Normalerweise war der Luxusdampfer im Linienverkehr für eine Atlantiküberquerung von Bremerhaven nach New York im Einsatz, doch aufgrund temporär hoher Nachfrage, was Vater von einem seiner für die Reederei tätigen Klienten wusste, nun direkt mit Touristen nach Funchal unterwegs. Die Strecke nach Madeira, dann weiter auf die Kanarischen Inseln oder auf die Kapverden sei mittlerweile so beliebt, dass sie immer häufiger angeboten werde. Ein imposanter Dampfer mit zwei mächtigen Schlöten, erst seit 1909 im Dienst, also mit modernster Technik ausgerüstet, wartete auf sie. Sofies Vater erzählte ihr auf dem frühmorgendlichen Weg nach Bremerhaven, dass der Ozeanriese dreitausendfünfhundert Passagiere an Bord nehmen konnte. Zweihundertsechsundsechzig Kabinen seien für die erste Klasse bestimmt. In etwa genauso viele für die zweite und rund eintausendfünfhundert für die dritte, der es aber an Komfort für normale Ansprüche eines Reisenden an nichts mangle.

Sofie hatte das Schiff bereits mit Reisefieber geschuldetem Herzklopfen im Visier, als Vaters Opel die Anlegestelle erreichte und auf den Landesteg abbog. Sie fuhren auf eine im Licht der Morgensonne glitzernde Stahlwand zu. Um die hundertsiebzig Meter sei die Berlin lang und über zwanzig Meter breit. Bei voller Maschinenlast schaffte der Dampfer über dreißig Stundenkilometer, sodass sie im Idealfall bei guten Wetterverhältnissen und Pausen mit eingerechnet bereits in viereinhalb Tagen in Funchal sein könnte. Vater wusste das von seinem Klienten, der ihm zudem versichert hatte, dass die Fahrt sicher sei und die Berlin selbst rauer See trotzen konnte. Sofie beruhigte der Gedanke, weil der Atlantik gerade um diese Jahreszeit launenhaft sein konnte.

Am Pier herrschten reges Treiben und spürbare Nervosität. Passagiere stiegen aus Automobilen. Andere strömten zu Fuß in Richtung der Passagierbrücke. Vermutlich waren das die Reisenden zweiter und dritter Klasse, denn wer sich kein Auto oder Taxi leisten konnte, buchte sich nicht in der ersten ein. Passagiere verabschiedeten sich von ihren Familien und Freunden. Matrosen trugen Kisten und Koffer eifrig in die Ladeluke.

Vater hielt direkt hinter einem Konvoi aus privaten Fahrzeugen und Taxen, der fast bis zur Passagierbrücke reichte.

»Ich fürchte, wir müssen hier aussteigen und den Rest zu Fuß gehen. Das Bordpersonal trägt sicher dein Gepäck, wenn wir ihnen Trinkgeld geben«, sagte Vater.

Die Passagiere im Wagen vor ihnen stiegen ebenfalls aus und eilten, genau wie Vater es im Sinn hatte, mit leichten Gepäckstücken zur Passagierbrücke, die in der Tat nur noch zu Fuß zu erreichen war, weil es vor Menschen an der gesamten Mole wimmelte. Da nützte auch das Gehupe von hinter ihnen ankommenden Fahrzeugen nichts.

Als Sofie nach ihrem Vater ausgestiegen war, empfing sie ein Stimmengewirr aus allen Richtungen. Und das Schiffshorn. Der sonore Ton war so laut, dass sie seine druckvollen Schallwellen sogar in ihrem Bauch spürte. Vater hielt sich gleich die Ohren zu, aus gutem Grund, denn das Schiffshorn meldete sich noch ein zweites Mal.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte er.

Sofie folgte ihm mit schnellen Schritten. »Wollte Hauenstein nicht an der Passagierbrücke auf uns warten?« Sofie erinnerte sich daran, dass Vater dies mit ihm vereinbart hatte.

»Er wird im Verkehr feststecken. Und keine Sorge. Die fahren nicht ohne uns ab. Schlecht organisiert ist das hier. Früher hat es so etwas nicht gegeben.«

»Da gab es auch noch nicht so viele Automobile.« Sofie schmunzelte, weil sie wusste, dass ihr Vater längst vergangene Zeiten verklärte.

Sie hatten die Passagierbrücke fast erreicht. Keine Spur von Hauenstein.

»Er wird schon noch kommen.« Vater ließ seinen Blick ebenfalls suchend umherwandern. »Du hast ja rosige Wangen. Reisefieber?«

Sofie war tatsächlich heiß vor Aufregung. Die vielen Menschen, die bevorstehende Überfahrt. Und natürlich der Abschied von ihrem alten Leben.

»Es wird dir dort gefallen. Ganz sicher«, sagte er.

Sofie nickte zuversichtlich.

»Außerdem ist es eine große Ehre, dass sie dich ausgewählt haben. Und vergiss eines nicht. Du kannst dazu beitragen, dem Ruf der Deutschen in der Welt zu hellem Glanz zu verhelfen.«

»Du bist unverbesserlich, Vater.«

Daraufhin rümpfte er die Nase.

»Erich.«

Sofie fuhr herum. Das war die Stimme von Hauenstein. Er rannte mit zwei Reisekoffern in der Hand auf sie zu und erreichte sie außer Atem.

»Das Taxi. Es kam nicht mehr durch«, erklärte er.

Vater nickte wissend.

»Jetzt schnaufen Sie erst einmal durch«, sagte Sofie.

»Jawohl, Frau Doktor.«

Offensichtlich saß ihm der Schalk im Nacken. »Bitte nennen Sie mich nicht Frau Doktor. Ich bin Sofie.«

»Richard«, sagte er nach zwei tiefen Atemzügen.

Ein folgsamer Patient. So etwas sah Sofie gerne.

»Du musst mir versprechen, gut auf Sofie aufzupassen.« Vater legte seine Hand auf Richards Schulter.

»Nichts täte ich lieber.«

»Vater. Du machst dir zu viele Gedanken. Ich bin nicht die einzige Frau an Bord und wir reisen in der ersten Klasse.«

Vater nickte daraufhin einsichtig. »Ich gebe den Matrosen Bescheid, damit sie dein Gepäck holen.« Vater ging zur Ladeluke weiter vorne, an der emsiges Treiben herrschte.

»Diese Strecke bin ich schon oft gefahren, aber immer nur mit einem Linienschiff nach Lissabon. Ich habe mir sagen lassen, dass purer Luxus auf uns wartet und eine hervorragende Bordküche à la carte«, sagte Richard nun ohne Schnappatmung.

»Ist das im Ticket mit inbegriffen?«, fragte Sofie sicherheitshalber nach. Sie hatte zwar Bargeld dabei, war jedoch jemand, der mit Bedacht damit umzugehen wusste.

»Nein, aber Sie können alles anschreiben lassen. Wir übernehmen das.«

»Also kann ich mir abends auch mal ein Glas Champagner leisten?«

»Jeden Tag, und ich stoße gerne mit Ihnen an.«

»Auf was, wenn ich fragen darf?«

»Oh, da fallen mir auf der Stelle so viele Gründe ein.«

Das Schiffshorn meldete sich gefühlt noch penetranter, als Vater mit zwei Matrosen im Schlepptau zu ihnen kam.

»Ihr solltet einsteigen.« Er nahm Sofie sogleich in den Arm. »Gute Fahrt und melde dich, wenn ihr angekommen seid.«

»Wann kommst du nach?« Vater hatte ihr am Vorabend erzählt, dass er demnächst wahrscheinlich sowieso geschäftlich nach Funchal reisen müsse.

»Spätestens in zwei, drei Wochen. Das hängt von den Umständen ab.«

Die Umarmung war kurz, aber herzlich. Vater ließ auch Richard eine zuteilwerden. Er klopfte ihm noch auf die Schulter, schenkte Sofie ein warmherziges Lächeln zum Abschied und ging dann zurück zu seinem Wagen.

Richard bot Sofie seinen Arm an, als sie die Passagierbrücke betraten. Nun hielt sie bestimmt jeder für ein Paar. Der Gedanke amüsierte sie.

Ein Hotelzimmer im Hillmanns offerierte wahrscheinlich nicht einmal annähernd den Komfort wie ihre Kabine in der ersten Klasse dieses Ozeanriesen. Sofie fühlte sich wohl darin, zumal sich die Fahrt durch den Ärmelkanal und entlang der französischen Küste entgegen ihren Erwartungen, was Wind und Wellengang betraf, als äußerst angenehm entpuppt hatte. Man spürte fast nicht, auf hoher See zu sein. Edles Mobiliar und ein Himmelbett, freundliches deutschsprachiges Kabinenpersonal, das den Passagieren jeden Wunsch von den Lippen ablas, und selbst Kleinigkeiten wie der exquisite Fresskorb, gefüllt mit Champagner, Obst und feinster belgischer Schokolade, taten ihr Übriges. Am liebsten hätte sie sich eines der Bücher aus der Bibliothek des Salons besorgt, sich in den Polstersessel neben dem Bullauge gesetzt und etwas gelesen, doch es gab viel zu viel zu bestaunen, was lediglich von Deck aus möglich war. Die landschaftlich reizvollen Küstenabschnitte, an denen sie vorbeikamen, wollte sie sich genau wie die meisten anderen Passagiere natürlich nicht entgehen lassen. Die Kalkfelsen von Dover waren ein Naturspektakel, das sie bisher nur aus einem Bericht aus der Zeitung kannte. Seeluft und zugleich die der großen weiten Welt schnuppern, was könnte schöner sein? Ein Spaziergang an Deck unter strahlend blauem Himmel bot sich an, um die wilden Küstenabschnitte, an denen die Berlin vorbeifuhr, zu bewundern. Es gab sogar Liegestühle mit Decken an Bord, die allerdings aufgrund des guten Wetters die meiste Zeit belegt waren. Letztlich hatte der erste Tag an Bord darin bestanden, sich von Mahlzeit zu Mahlzeit zu hangeln und in der Zwischenzeit das Schiff und seine Räumlichkeiten zu erkunden. Die Bars, gleich zwei Restaurants, den großen Salon, der mit Zeitschriften gespickt und mit einer beeindruckenden Bibliothek gesegnet war, das Auditorium, in dem allabendlich ein Unterhaltungsprogramm dargeboten wurde. Natürlich auch den Schönheitssalon und die Kapitänsbrücke, zu der Passagiere der ersten Klasse auf Wunsch Zugang hatten. Das alles in Richards Begleitung, der sich genau wie sie von der Urlaubsstimmung an Bord anstecken ließ. Eigentlich hatte Sofie sich vorgenommen, ihm noch mehr bezüglich des geplanten Krankenhauses und der Sanatorien zu entlocken, auch über den Weinhandel seiner Familie, doch mangels Gelegenheit hatte sie davon abgelassen. Die vielen neuen Eindrücke mit ihm zu teilen und sich alles zeigen zu lassen, sorgte für genügend Gesprächsstoff. Sie erfuhr von ihm während des ersten Dinners an Bord, einem opulenten Fünf-Gänge-Menü, lediglich, dass das Vorhaben bereits seit einigen Jahren geplant worden war. Die Vision von einem Resort hatte anscheinend schnell viele Anhänger gefunden, was Sofie auch nicht verwunderte, weil sie nicht zuletzt von ihrem Vater wusste, dass die Insel schon seit Langem ein beliebter Luftkurort des Finanzadels war. Sofie empfand es als angenehm, dass Richard sie offenbar nicht mit finanziellen Details langweilen wollte. Dafür schmeckte die Ente mit Orangensoße viel zu gut. Das reichhaltige Menü und die Schokoladentorte zum Dessert machten sie so bettschwer, dass an weitere Gespräche nicht zu denken war. Auf dem Weg zurück zu ihrer Kabine kam sie zu dem Schluss, dass Richard ein sehr angenehmer Zeitgenosse war, und eine Seite gefiel ihr besonders an ihm. Die Männerwelt neigte dazu, unentwegt von sich zu erzählen, zu prahlen – meist mit Reichtümern oder ihren Berufen. Sofie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr jemals ein Mann – und schon gar nicht ein Kollege in der Bremer Klinik – auch nur eine einzige Frage über ihre familiären Verhältnisse oder die Ausbildung im Ausland hinaus gestellt hatte. Richard hingegen hatte tagsüber die Spaziergänge an Bord dazu genutzt, um sie nach ihrer Zeit in Zürich und in London zu befragen. Er kannte die Städte und der Zufall wollte es so, dass sie sich sogar an Restaurants erinnern konnten, in denen sie beide gespeist hatten. Geduldig hatte er sich schildern lassen, was sie über Pflanzenheilkunde wusste, von Hahnemann und der Homöopathie. War es darauf zurückzuführen, dass er viel in der Welt herumgekommen war und ihn eine gewisse angeborene Neugier trieb? Vielleicht lag der tiefere Grund woanders. Er lebte die meiste Zeit auf Madeira. Anscheinend prägten die dortigen Sitten auch das Gesprächsgebaren und den Umgang mit der Damenwelt, der dort ein anderer zu sein schien. Im Gegenzug hatte sich Sofie für seine berufsbedingten Reisen durch halb Europa interessiert.

Kurzum: ein gelungener erster Reisetag und der zweite begann nicht minder erquickend. Beim Frühstück erzählte er von einem Ausflug in die Champagne und nach Paris. Ersteres, um sich über die dort angebauten Weinreben kundig zu machen, letzteres, um Distributoren für seinen Madeira-Wein zu finden.

»Ich war noch nie in Paris.« Schwermut lag in Sofies Stimme.

»Aber die Stadt der Liebe lässt man sich doch nicht entgehen.« Er tunkte sein Croissant in den Kaffee, genau wie es die Franzosen taten.

»Vielleicht nur ein Klischee?«

»Doch ein sehr schönes«, sagte er augenzwinkernd.

»Der Montmartre soll auch bezaubernd sein, vor allem inspirierend.«

»Ein Rausch für die Sinne. Die unzähligen Künstler. Formen und Farben.« Richards Blick wirkte verträumt.

»Haben Sie Notre-Dame gesehen?«

»Ich habe nicht viel übrig für Kathedralen, aber sie hat mich zugegebenermaßen sehr beeindruckt. Ich ging viel lieber an der Seine spazieren oder saß in einem Café, um das pulsierende Leben der Stadt und ihrer Menschen zu erleben.«

Sofie packte angesichts dieser Schilderungen die Sehnsucht nach Paris. Sie nahm sich mit ihrem letzten Schluck Tee vor, diese Stadt auch eines Tages zu besuchen. Fragte sich nur wann.

Am Nachmittag fuhr die Berlin so nahe an der normannischen Küste vorbei, sodass Sofie eine riesige Festung auf einem Berg erspähte. Auf dem Deck fand sich so ziemlich jeder Passagier ein, nachdem der Kapitän durchgesagt hatte, dass sie den Mont St. Michel aus der Ferne sehen würden. Sofie war an diesem sonnigen Tag sowieso gleich nach dem Frühstück an der frischen Luft gewesen und hatte angefangen Die goldene Schale von Henry James, zu lesen – ein Buch in der Originalsprache, also auf Englisch, das sie im Salon der Berlin