Der Schuppenmann - Stephanie Schnee - E-Book

Der Schuppenmann E-Book

Stephanie Schnee

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Beschreibung

In einem letzten, verzweifelten Akt des Aufbäumens gegen eine Natur, die immer weniger wahrgenommen und immer mehr ausgebeutet wird, gebiert der Wald ein Mischwesen: den Schuppenmann, ein Mann, der zugleich ein Baum ist. Der Schuppenmann verfügt über gewaltige Kräfte, besitzt ein gütiges Wesen und ein großzügiges Herz. Wird alles zusammengenommen aber ausreichen, um die Zerstörung des Planeten aufhalten zu können? Diese Erzählung, in der die Worte singen, in der Sprache auf ein höheres ästhetisches Niveau gehoben wird, in der Ausdruck und Anspruch der Botschaft sich einander angleichen, richtet sich an Jugendliche und Erwachsene zugleich. Auf spannende, immer wieder auch humorvolle Weise durchlebt der Leser die Entwicklung von einem bescheidenen, staunenden Schuppenmann hin zu einem genialen Provokateur. Das Titelbild stammt von Lothar Bauer.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Stephanie Schnee

DER SCHUPPENMANN

Fantasy 16

Stephanie Schnee

DER SCHUPPENMANN

Fantasy 16

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juli 2015

Stephanie Schnee & p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 942533 87 4

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 867 8

1

Eine mächtige Erschütterung, so etwas wie ein Urschrei, aber ein dumpfer, ein Hinaufsteigen und Absacken aller Säfte gepaart mit einem anschließenden Knirschen, Knacken und Krachen Abertausender von Borken, welche gewaltsam versetzt worden waren, die Verschachtelung der Schuppen hatte sich gelöst, ereignete sich in genau dem Augenblick, als er geboren wurde. Alle Bäume im Wald hielten vergleichsweise den Atem an. Durch ihre Stämme ging ein Ruck. Ein Aufheben ihres Wurzelgeflechtes geschah für den Bruchteil einer Sekunde und in einer solchen Weise, dass man aus der Luft zwar nichts sehen konnte und dass es jeder menschlichen Fühlung entging, wie sich etwas Grundlegendes veränderte, aber die Geburt doch ausgeworfen ward.

Die Eiche, ein prächtiger und schöner Baum mit noch voller Krone und ausladenden Ästen, die sich von der Höhe des Stammes beinah gleitend hinabwarfen und ein natürliches Zelt bildeten um den Stamm, sie stand im Morgenrot wie eine Erstgebärerin. Viel Laub hatte sie in diesem Herbst um sich geschart, das nun, als Teppich, in dessen Mitte sie stand, im Licht der aufgehenden Sonne wie entflammt dalag. Noch immer war die Luft in Bewegung. Alles flimmerte, alles schien einander zu suchen und abzutasten. Die Äste der Eiche streckten sich braun oder grün in den Teich hinein, der vielfarben schimmerte: rostrot und ockergelb. Und mitten in diesem Gewühl, diesem Gemenge aus Licht, das gleichsam alles aufspießen wollte mit seinen hellen, wie vergoldeten Lanzen, da bewegte sich dann plötzlich etwas von unten in dem Laubteppich.

Kein Laut war mehr zu vernehmen, der Wald beschirmte sich selbst und verdichtete alle seine Kräfte um jenes kreatürliche Wesen, das ihn retten sollte.

Ganz zaghaft, mit langsam sich entfaltenden Fingern, streckte sich eine Hand aus dem Laubteich. Die Hand war die eines Jünglings, allerdings von seltsamer Maserung: Sie besaß die Form einer Menschenhand und ganz offensichtlich auch deren Geschmeidigkeit in der Bewegung. Von der Beschaffenheit, von ihrer materiellen Textur her glich sie hingegen einem Stück Holz, das nun, da die Sonne daran leckte und in die Mulde zwischen die Finger ein Schüsselchen von Licht goss, überirdisch schön glänzte. Wie ein vollendetes Kunstwerk sah die Hand aus, sie glich einem Relikt vergangener Zeiten, und war doch seltsam belebt.

Der Wald blieb still, währenddessen das Licht durch die eben erlittene Unruhe noch ein wenig über allen Dingen nachzitterte. Und wieder regte sich etwas in dem Blätterteich: Die schöne, formvollendete Hand griff nach der Borke des Stammes. Die Eiche hingegen stöhnte wie eine Wöchnerin, denn die Geburt war schwer gewesen.

Einzig die sie liebevoll streichelnden, ihre Borke kraulenden Finger verschafften ihr Linderung und Genugtuung zugleich. Der Baum, der vorher zusammengesackt gewesen war, streckte und entfaltete sich nun bis zur eigentlichen Höhe des Wuchses, in den ihn die Jahresringe bis vor der Geburt geworfen hatten: So badete er die Krone in der aufgehenden Sonne. Es regnete Goldfunken auf seinem Dach!

Der Wind ließ leise die Blätter lispeln, gelinde neigte sich ein Ast dem anderen zu; es klapperte dann ein wenig. Laubbüschel flogen auf und drehten ihre leise knisternden Spiralen auf der dunklen Streu. Farne wippten. Und dort, wo der Wald sich etwas lichtete und schon zu der Ansiedlung der Menschen hinüber spielte, dort brach Jubel aus über dem von Moosen bewachsenen Boden: Millionenfach rührte sich das Insektenvolk wieder, das bis hierher von den Ereignissen wie in den Bann geschlagen gewesen war.

Eine nie gekannte Zuversicht breitete sich über Feld und Flur aus. Die allgemeine Erscheinung des Lebens, das Leben selbst kehrte mit gedoppelten Kräften zurück, denn der Heilsbringer war da und stieß es wirklich kraftvoll an.

Beide Arme des kreatürlichen Wesens, welche jetzt schon bis zu den Schultern entblößt waren, waren von sehniger Erscheinung, schmal und etwas heller als eichenfarben. Darüber hinaus waren sie von den Handgelenken aufwärts überzogen von hellblondem Flaum. Noch immer streckten die Hände sich fühlend vorwärts entlang der Mutterborke. Bisweilen aber auch glitt eine von ihnen wieder hernieder, durchwühlte dann das Laub mit gespreizten Fingern und hatte offensichtlich ihren Spaß daran.

Einen echten Menschen habe ich geboren!, dachte schließlich die Eiche, zu deren Füßen der Jüngling kroch. Er stieg aus dem Laubbett und entrollte sich in einer Aufwärtsbewegung. Der Rücken wurde gerade. Der Kopf, der unterhalb der Schultern gesessen hatte, die Nase des Kopfes immer dem Nabel zugewandt, wuchs förmlich wie beschleunigt aus dem Torso heraus. Wie eine pralle, goldbeschienene Knospe mutete er an im reichlich dargebotenen Sonnenlicht!

Noch stand der Jüngling nicht ganz aufrecht da, aber schon war er prachtvoll anzusehen! Alles an ihm atmete Gesundheit und Kraft. Unter der Haut zuckten die Muskeln, Sehnenstränge bildeten sich heraus wie Wülste, sobald er seine Gliedmaßen bewegte. Das Gesicht hingegen war sehr viel weicher beschaffen, die Augen offen und groß und stark bewimpert. Nase und Kinn fielen kaum heraus aus dem Profil, die noch vollen Wangen waren prall und rund und trotz ihrer hölzernen Einfärbung und der seltsamen Maserung darauf, die aussah wie eintätowiert, Zeugen seiner gewollt jungen Jahre.

Die grünen Augen, von einem Grün, das stechend war, durchforschten kurz die Umgebung. Dann tauchte der Junge die Hände abwechselnd ins Licht, um zu sehen, was daran geschähe. Er wollte der Mutter Eiche gerne zeigen, wie gut alles an ihm geraten war, ihr sagen, dass er jetzt da sei und mit ihm ein neuer Lebensborn ungeahnter Kräfte!

Endlich schälte er sich ganz aus dem Teich, ein paar Blätter mit aufhebend, als er sich gerade hinstellte. Die Sonne fiel durch das Kronendach der Eiche und beschien zwei Füße, die seltsamer nicht hätten sein können. Sie waren über und über bewachsen mit Holzschuppen, die leise klickten, sobald der Baummensch sich rührte. Auch an den Unter- und Oberschenkeln verliefen schuppenartige Gebilde, die größer und fester wurden, je dicker das Bein beschaffen war.

Am Gesäß verliefen die Schuppen mit zugespitzten Endungen bis in die Falte hinein, hatten aber von ihrer Beweglichkeit eingebüßt. Über alles schien weiterhin die Sonne, und der Baummensch fühlte sich sehr wohl in dem warmen Licht, das allen die gleiche Zugehörigkeit zuzusprechen schien: Wie von einem goldenen Vlies behangen waren die Bäume und der Baummensch!

Das Beglückende für den Jungen war es aber weniger, sich selbst in dem Licht in seiner vollkommenen Schönheit zu erfahren, als vielmehr die Erfahrung mit einem Waldvogel! Seine Haare gingen stäbchengleich von einem Wirbel aus und sahen wohl aus wie ein Nest für den kleinen Waldsänger. Er kam herangeflogen, glitt herab und stakste in dem Nest hin und her. Mit dem Schnabel pickte er nach den Haaren und zog daran, um sie nach eigenem Gutdünken besser zu ordnen. Aber sobald das Baumgeschöpf nach dem Etwas, das leicht sein Haar durchkraulte, greifen wollte, neckte ihn der Vogel, indem er fortflog und laut pfiff.

»Was ist das?«, fragte der Junge in einer Sprache, die nur er verstand. Seine hölzernen Lippen klapperten beim Sprechen.

»Was bist du?«, wollte er wissen. Er haschte nach dem fliegenden Geschöpf, immer wieder, aber es war einfach zu wendig. Endlich tat ihm der Vogel den Gefallen, flog herab auf die eine seiner Schultern und spazierte von dort den gesamten Arm bis zur Hand hinab. Gleich war der Baummann beglückt über das Flauschige, unendlich Weiche, das er fühlen durfte!

»O, du!«, sprach er, eigentlich nur leise, unverständliche Laute murmelnd, aber in einem bittenden, fast flehentlichen Tonfall. Er wollte gerne, dass das Vögelchen blieb.

Dieses hob gleich wieder ab. Mit welch großer Eleganz es doch durch die Lüfte segelte und den Raum teilte mit seinen vor- und zurückschnellenden Schwingen! Der Baumensch seufzte auf, tief beglückt über das Schauspiel. In seine Augen trat ein großer Glanz!

Mit dem Rücken setzte er sich zur Mutter Eiche und fühlte die Rinde, die ihm die Haut ritzte. Das waren gewiss die Zeichen der Mutterschaft.

»Bäumling sollst du heißen«, deutete der Junge durch Übertragung die Schrift auf seinem Rücken, »denn vom Baum bist du und zum Baum wirst du zurückkehren.«

Er schloss zufrieden die frühlingsgrünen Augen. Die Wimpern kämmten lange Schatten auf seine Wangen. Und so harrte er, weiter an der Eiche lehnend, der Dinge, die da noch kommen sollten.

Leise vor sich hindösend, sammelte er neue Kräfte, unterdessen die Sonne weiter schien und alles Gewölk vom Himmel vertrieb: Sie legte ein Blau dort hinein, das freundlicher nicht hätte sein können. Sodann strich sie es glatt, dass es sich verlief zur Erde hin, weißlich und sehr zart. Es war ein ungewöhnlich warmer Herbst!

2

Anders als bei den Menschen war die Zeit des Erwachens für den Bäumling: nicht nur, dass er vieles gar nicht zu lernen brauchte. Eine Sprache besaß er bereits, eine Sprache sowie einen eigenen Sinn und eine eigene Deutung von den Dingen, die ihn umgaben:

Die Begriffe, die er malte, waren wie fließende Worte. Seine Beobachtungen waren sehr genau und verliefen sich bis in kleinste Einzelheiten. Darum bemerkte er auch die vielen kleinen Veränderungen um sich herum. Das von hellem grünen Moos belegte Wurzelgeflecht einer Buche, das sich so faserig, aber auch so verspielt über den Höckern ausfranste, erhielt vom Bäumling bei Tag eine andere Deutung als in der Nacht. Es erhielt eine andere Deutung, aber auch einen anderen Namen, welchen er für sich mit Genauigkeit aussprach und den er ab dem Zeitpunkt, da er ihn in seinem Sinn geformt hatte, unverwechselbar und auch für alle Zeiten in der Erinnerung zu verankern wusste.

Gerade eben lief sirrend ein Fädchen Luft über den Waldboden. Wie schön sich das anhörte! Mittlerweile war es für den Jüngling allerdings an der Zeit, den Wald zu verlassen. Er entfernte sich vom Standort der Mutter, immer staunend und immer beglückt über das viele Neue, das er sehen durfte. Der Wald wurde weiter und lichter, die Bäume vom Wuchs her kümmerlicher, fast schien es dem Jüngling, als neigten sie sich zur Erde nieder, als seien sie etwas niedergedrückt. Er verstand nicht, dass und warum sie darbten.

Nach einem weiteren Tagesmarsch gelangte er schließlich an ein von Apfelbäumen gesäumtes Feldstück. In den Bäumen hingen Mistelbüsche mit weißen, perlengleichen Früchten.

Der Bäumling wusste nicht, was Misteln waren, aber er erkannte sie durch Vergleich stets wieder. Wie große beblätterte Sterne mit lustigen Platzknospen sahen sie für ihn aus!

Mit geraden Schritten lief er über eine weiche, in Richtung Bächlein abfallende Wiese, deren Gras noch taufeucht war vom Morgennebel. In der Nacht hatte er gut geruht und so lief er also beglückt durch den nächsten Tag. Bald brannte die Sonne wieder schön auf seiner Holzhaut, es knisterte das Gras unter seinen Füßen.

Der Bäumling badete im Wechselspiel der Farben. Am Bachlauf unterlag er zunächst einem Trugspiel: Er dachte erst, die Luft über dem Wasser sei weiteres Wasser. Denn immer webten dort zarte Schleier hin und her. Endlich aber bemerkte er seinen Irrtum, und sah zwischen den Bäumen bewundernd zum Himmel hinauf. Schon lief das Blau die Rundungen hinab und wurde weißlich ausgestrichen. Es ging gen Mittag zu und die Hitze bündelte sich.

Da trieb ihn plötzlich wieder das Heimweh. Er hatte seinen ersten Ausflug hinter sich, hatte vieles lieb gewonnen unterwegs. Und das alles wollte er jetzt gerne der Mutter Eiche erzählen!

Er sprang und lief, trabte und galoppierte fast über jedes Hindernis hinweg. Unglaublich, wie viel Kraft er besaß! Und wie schön, den Raum mit seiner Kraft zu durchmessen! In der Hälfte der Zeit war er zurückgekehrt und noch nicht einmal außer Atem, als er wieder daheim anlangte. Es roch nach Harz und nach der Liebe seiner Mutter, die ihn so unendlich anschmiegsam machte!

Zwei Tage lang stellte er sich auf ihre Wurzeln und wollte sie nicht mehr verlassen. Wenn frühmorgendlich der Nebel die Eiche umwallte, dann fühlte er sich wie unter einem Kleid, unendlich geborgen! Die Vögel schmetterten ihre Konzerte und besangen dieses gegenseitige Zutrauen. Wahrscheinlich durch die Liebe seiner Mutter bedingt, wuchsen dem Bäumling weitere Kräfte zu. Er streckte sich außerdem und wurde größer. Die alten Schuppen blätterten von ihm ab und es wuchsen ihm neue.

Am Morgen des dritten Tages endlich, die Sonne schien zwar, zerriss aber nicht die Nebelbank, sondern zog nur einzelne Milchfäden zu sich herauf, die sie dann wie Flatterbänder in den Himmel streute, löste der Baummensch sich aus der Umarmung. Er vermeinte die Eiche leise lächeln zu hören.

Interessanterweise empfand er fast auf einen Schlag dazu einen grausamen Hunger. Der Bäumling musste zwingend essen!

Bis hierher hatte er von einer Art naschigem Sekret gelebt, das ihm stündlich unmittelbar vom Gaumen in den Mund getropft war. Aber nun schien jener nach Harz schmeckende Dotter leergesogen. Er musste schauen, sich eine andere, äußerlich von ihm existierende Nahrungsquelle zu erschließen. Wie fordernd stieß die Zunge noch ein paar Mal gegen den Dottersack, der jetzt leer war und nichts mehr hergab. Er fühlte etwas im Mund zwischen seinen Zähnen und spie es aus. Es war die durchscheinende Hülle, die ihm bisher am Gaumen geklebt und ihn, inwendig gefüllt, genährt hatte!

»Mutter«, stöhnte der Bäumling in seiner Sprache, als der Hunger ihn schon schwach machte. Mit einem Mal zerriss der Nebel seine Schleier. Die Sonne schickte einen goldenen Strom durch das Geäst der Eiche. Und dort, wo der Sonnenspeer auf den Boden zielte, dort entdeckte der Sohn des Waldes und der Eiche eine frisch umgewendete Erdschicht.

›Ein anderes Waldwesen muss dort gewühlt haben‹, dachte der Bäumling. Er bückte sich hungrig und entdeckte ein ganzes Lager an Eicheln, frisch glänzend und angenehm duftend. Gleich aß er ein Dutzend davon mit großer Gier. Die Schale knackte unter seinen Zähnen und er war glücklich über das neue Erlebnis, die Früchte als so wohlschmeckend erfahren zu dürfen.

Kaum dass er etwas gegessen hatte, wuchs er übrigens um einiges in die Höhe: Sein Nacken streckte sich, vom Lenden- bis zum obersten Halswirbel gab es einen Ruck. Die Schultergelenke dehnten sich und wurden breiter. Die Haut seines gemaserten Torsos wurde in die Länge gezogen, bis sie spannte. Auch die Beine stockten an Höhe auf, was drollig anzusehen war, denn irgendwie lag ein Knie an Höhe immer über dem anderen. Durch die vielen Verwerfungen der Haut über der Kniescheibe sahen sie einem Astknoten zum Verwechseln ähnlich. Nur dass sie halt miteinander wetteiferten, wer von ihnen rascher in die Höhe getragen wurde!

Auch die Füße des Baummenschen verbreiterten sich, die Fersen drückten breitere Mulden als bisher in den Boden und die Zehen, wenn sie sich durchkrümmten, sie glichen echten Wurzelhöckern.

So gewaltig war auch der Zuwachs an Energie, den der Baummann unterm Essen verspürte, dass er gleich übermütig wurde und zu einigen Späßen aufgelegt war. Er sprang in einem einzigen Satz aus der Hocke heraus nach oben, vier, fünf Meter waren es, die er in einem Zug bewältigte. Rasch fasste er die Eiche an einem Ast, der der Krone schon sehr nahe kam. Sodann lachte er aus voller Kehle, gluckste und trällerte, bis er merkte, der Mutter wurde sein Gewicht zu viel. Der Ast ächzte unter seiner Last und er hörte also auf, daran zu rütteln.

Zum ersten Mal sah er zum Wald hinaus, wie er sich von einer höheren Warte aus darstellte: wie schön die Hügel einander kreuzten! Eine bewaldete Anhöhe schnitt in die nächste ein. Das so entstandene Tal wogten die Bäume gleichsam hinab, wie fließend ergossen sie sich nach weiter unten. Auch rauschte und brauste es auf sehr angenehme Art, sobald der Wind darüber strich.

Das muss die Stimme des Vaters sein!, freute sich der Bäumling, der ganz andächtig zuhörte den säuselnden Winden.

»Wie schön, solch gute Eltern zu haben!«, sprach er sehr leise die bedeutsamen Worte für sich aus.

Nicht genug kriegen konnte er davon, zu betrachten, wie der Wald eine zusammenhängende Fläche bildete, immer leicht bewegt vom Wind für den Augenblick. Die Nadelbäume griffen schön ineinander über, verzahnten und stützten sich.

Über einem Wipfel hing ein kleines weißes Wölkchen, bauchig träge und trotzdem irgendwie flatterhaft. Es war, als könne es sich nicht gleich losreißen von seinem Platz. Langsam zerging es in Bändern, die Tannen hielt es noch ein bisschen fest.

»Wohin gehst du, Wolke?«, wollte der Bäumling wissen. Er blieb noch, sinnend, alles genau betrachtend, auf dem Ast sitzen, bis die kühlere Abendluft heraufzog und sein Holz anfing zu frieren. Ein paar dicke Dohlen umflatterten ihn, die mit ihren hellen Augen sehr klug aussahen.

Überhaupt fiel es dem Bäumling jetzt auf, wie oft es geschah, dass Vögel zur Stelle waren, sobald er sich irgendwo niederließ. Aber immer waren es andere, unterschiedliche, die kamen, sodass sein Herz nicht an einem fest umrissenen Charakter erblühen konnte.

Jedem schenkte er ein ehrliches Lächeln. Am liebsten streichelte er sie leise, sobald sie es zuließen. Schließlich kletterte er hinab vom Baum und legte sich zur Ruhe, weiter zufrieden lächelnd im Schlaf.

Am nächsten Morgen war alles ein wenig anders. Es hatte geschneit in der Nacht, über allen Dingen lag ein weißes Tuch ausgebreitet, kleine weiße Häubchen saßen auf jeder Erhebung.

Der Wald hatte seinen Wäldling geboren und nun legte er sich zur Ruhe. Er hielt seinen weißen Schlummer, lediglich der Wind fegte weiter durch das Geäst der Bäume und Büsche, welche kältestarrend rasselten. Für den Bäumling bedeutete all dies, dass er bald zu gehen habe, dass er gehen müsse.

Ihm tat der Abschied sehr weh, und er knickte dort, wo er kaum noch durchblutet war, einen Zweig von der Mutter Eiche ab. Diesen streichelte er zunächst, zur Mutter aufblickend mit großen, traurigen, den Trennungsschmerz nicht ganz verstehenden Augen. Sodann streckte er sich den Zweig zwischen zwei Schuppenränder, wo er etwas zerrieben, aber auch gut festgehalten wurde. Er weinte eine Träne, die warm die vereiste Wange hinablief und dann zur hölzernen Brust sprang, wo sie klirrend in allerlei Splitter zersprang.

Der junge Mann besaß ein wirklich ausgezeichnetes Gehör.

3

Der Bäumling lief aus dem Wald hinaus wie aus einem vertrauten Haus. Eisfäden hingen mittlerweile an den Zweigen. Es hatte kurzzeitig geschauert und daraufhin war alles gefroren.

Aber auch das ist schön, beinah zeitlos schön!, dachte er verwundert. Dabei schlug er in die Hände, und die Luft dampfte etwas davon zurück.

Es dauerte nicht lange und er lief einen hottelnden Trab, mit welchem er am Ausgang des Waldes loses Geröll, das unter dem feinen Schnee noch nicht festgebacken war, lostrat. Gleichzeitig blickte er noch immer mit größter Verwunderung um sich. Drei Birken standen am Wegesrand, Schnee hatte ihre Stämme von der einen Seite angedickt. Es schien ihnen aber nichts auszumachen. Sie trotzten dem Wind in bescheidener Stille.

»Ach, ihr zarten Schwestern«, rief, tief bewegt, der Bäumling, ohne recht zu wissen, was er ihnen eigentlich sagen wollte und worüber er jetzt seufzte.

Langsam kam er gegen ein Dorf, von dem er aber nicht gleich verstand, wie es im Einzelnen beschaffen war. Hier und da brannten Lichter, vereinzelt bewegte sich etwas hinter den Fensterscheiben. Der junge Mann zitterte vor Kälte und vor Hunger, wusste aber, dass er noch lange nicht zur Mutter Eiche zurückkehren könne.

Er kam schließlich, recht verzagt, an ein Haus, das ihn lockte. Es war fast ausschließlich aus Holz beschaffen und roch darum so eindringlich und auch so lieblich nach Harz.

Der Hunger wurde jetzt wieder sehr groß und er musste sich sehr beherrschen, nicht laut aufzustöhnen.

In dem Garten vor dem Haus befand sich ein weiblicher Mensch. Und in seiner fiebrigen Unrast, ihn anzusprechen, trat der Bäumling plötzlich von einem Fuß auf den anderen.

Es klapperte, denn seine Holzsohlen stießen auf etwas Festes unter dem Schnee! Der Mensch in dem Garten hörte das Geräusch und verharrte mit einem Mal völlig reglos. Es war eine alte Frau, die der Bäumling gesehen hatte, eine ganz besonders alte Frau, welche mit den Bäumen flüsterte und mit den Blumen sprach, immer mit einem Zwicken im Herzen, denn sie liebte sie sehr.

Jetzt, da über ihrem Kopf die alte Kastanie rauschte, schien es ihr, als wolle jene ihr etwas sagen, auf etwas deuten.

Die alte Frau stellte den Eimer mit den Grünabfällen zur Seite, den sie gerade in den Händen gehalten hatte, und blickte von der zwar entblätterten, aber immer noch großmächtigen Krone der Kastanie zu dem Schemen auf der Straße.

Der Bäumling wurde von einer Straßenlaterne gerade bleich angeblitzt, eine Schneewehe hatte sich hinter ihn gestellt wie eine Wand. Nun war er im Dunkeln aufgetan worden wie eine Erscheinung. Ein ungewöhnlicher Glanz ging von ihm aus: Er hatte schon bemerkt, dass sich seine Schuppen in der Kälte noch mehr anlegten, die feuchte, kühle Luft bestrich seine Holzhaut wie mit Firnis!

Die alte Frau näherte sich dem menschenähnlichen Gebilde vor ihrem Gartenzaun, und sie sah sich in ihren Erwartungen nicht getäuscht, dass jenes etwas mit dem Wald zu tun haben müsse. Wie lange schon hatte sie nicht bereits eine Ahnung davon gehabt, dass bald einer kommen würde, um zu schlichten und zu befreien die geknechtete und geknebelte Natur!