Der Schwarm - Frank Schätzing - E-Book
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Der Schwarm E-Book

Frank Schätzing

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Beschreibung

Das Meer schlägt zurück – in Frank Schätzings meisterhaftem Thriller erwächst der Menschheit eine unvorstellbare Bedrohung aus den Ozeanen. Frank Schätzing inszeniert die weltweite Auflehnung der Natur gegen den Menschen. Ein globales Katastrophenszenario zwischen Norwegen, Kanada, Japan und Deutschland, und ein Roman voller psychologischer und politischer Dramen mit einem atemberaubenden Schluss. Ein Fischer verschwindet vor Peru, spurlos. Ölbohrexperten stoßen in der norwegischen See auf merkwürdige Organismen, die hunderte Quadratkilometer Meeresboden in Besitz genommen haben. Währenddessen geht mit den Walen entlang der Küste British Columbias eine unheimliche Veränderung vor. Nichts von alledem scheint miteinander in Zusammenhang zu stehen. Doch Sigur Johanson, norwegischer Biologe und Schöngeist, glaubt nicht an Zufälle. Auch der indianische Walforscher Leon Anawak gelangt zu einer beunruhigenden Erkenntnis: Eine Katastrophe bahnt sich an. Doch wer oder was löst sie aus? Während die Welt an den Abgrund gerät, kommen die Wissenschaftler zusammen mit der britischen Journalistin Karen Weaver einer ungeheuerlichen Wahrheit auf die Spur. Das globale Katastrophenszenario, das Frank Schätzing Schritt für Schritt mit beklemmender Logik entfaltet, ist von erschreckender Wahrscheinlichkeit. Es basiert auf so genauen naturwissenschaftlichen und ökologischen Recherchen, dass dieser Roman weit mehr ist als ein großartig geschriebener, spannungsgeladener Thriller. Das Buch stellt mit großer Dringlichkeit die Frage nach der Rolle des Menschen in der Schöpfung. Mit Der Schwarm, seinem sechsten Buch, hat sich der Kölner Bestsellerautor Frank Schätzing in die erste Reihe großer internationaler Thriller-Autoren geschrieben. Ein seltenes Ereignis in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

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Seitenzahl: 1640

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Frank Schätzing

Der Schwarm

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Frank Schätzing

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Prolog

14. Januar

Erster Teil Anomalien

4. März

12. März

13. März

18. März

23. März

5. April

6. April

11. April

12. April

18. April

20. April

22. April

24. April

26. April

29. April

30. April

1. Mai

2. Mai

3. Mai

Zweiter Teil Chateau Disaster

10. Mai

11. Mai

12. Mai

14. Mai

24. Mai

8. Juni

Dritter Teil Independence

12. August

13. August

14. August

15. August

Vierter Teil Abwärts

Fünfter Teil Kontakt

Epilog Aus den Chroniken von Samantha Crowe

Dank

Inhaltsverzeichnis

Liebe, tiefer als der Ozean.

Für Sabina

Inhaltsverzeichnis

hishuk ish ts’awalk

Stamm der Nuu-Chah-Nulth, Vancouver Island

Inhaltsverzeichnis

Prolog

14. Januar

Huanchaco, peruanische Küste

An jenem Mittwoch erfüllte sich das Schicksal von Juan Narciso Ucañan, ohne dass die Welt Notiz davon nahm.

In einem höheren Kontext tat sie es durchaus, nur wenige Wochen später, ohne dass jemals Ucañans Name fiel. Er war einfach einer von zu vielen. Hätte man ihn unmittelbar befragen können, was am frühen Morgen jenes Tages geschah, wären wohl Parallelen zu ganz ähnlichen Geschehnissen offenbar geworden, die sich zeitgleich rund um den Globus ereigneten. Und möglicherweise hätte die Einschätzung des Fischers, eben weil sie seiner unbedarften Weltsicht entsprang, eine Reihe komplexer Zusammenhänge enthüllt, die so erst später augenscheinlich wurden. Aber weder Juan Narciso Ucañan noch der Pazifische Ozean vor der Küste Huanchacos im peruanischen Norden gab etwas preis. Ucañan blieb stumm wie die Fische, die er sein Lebtag gefangen hatte. Als man ihm schließlich in einer Statistik wiederbegegnete, waren die Ereignisse bereits in ein anderes Stadium getreten und etwaige Aussagen über Ucañans persönlichen Verbleib von untergeordnetem Interesse.

Zumal es schon vor dem 14. Januar niemanden gegeben hatte, der sich sonderlich für ihn und seine Belange interessierte.

So wenigstens sah es Ucañan, der wenig Freude daran fand, dass Huanchaco über die Jahre zu einem international gefragten Badeparadies avanciert war. Er hatte nichts davon, wenn Wildfremde glaubten, die Welt sei in Ordnung, wo Einheimische mit archaisch anmutenden Binsenbooten aufs Meer hinausfuhren. Archaisch war eher, dass sie überhaupt noch rausfuhren. Der Großteil seiner Landsleute verdiente sein Geld auf den Fabriktrawlern und in den Fischmehl- und Fischölfabriken, dank derer Peru trotz schwindender Fangmengen unverändert die Weltspitze der Fischereinationen bildete, zusammen mit Chile, Russland, den USA und den führenden Nationen Asiens. El Niño zum Trotz wucherte Huanchaco nach allen Seiten, reihte sich Hotel an Hotel, wurden bedenkenlos die letzten Reservate der Natur geopfert. Am Ende machten alle irgendwie noch ihr Geschäft. Alle bis auf Ucañan, dem kaum mehr geblieben war als sein malerisches Bötchen, ein Caballito, ›Pferdchen‹, wie entzückte Conquistadores die eigentümlichen Konstruktionen einst genannt hatten. Aber wie es aussah, würde es auch die Caballitos nicht mehr lange geben.

Das beginnende Jahrtausend hatte offenbar beschlossen, Ucañan auszusondern.

Inzwischen wurde er seiner Empfindungen nicht mehr Herr. Einerseits fühlte er sich bestraft. Von El Niño, der Peru seit Menschengedenken heimsuchte und für den er nichts konnte. Von den Umweltschützern, die auf Kongressen von Überfischung und Kahlschlag sprachen, dass man förmlich die Köpfe der Politiker sah, wie sie sich langsam drehten und auf die Betreiber der Fischereiflotten starrten, bis ihnen plötzlich auffiel, dass sie in einen Spiegel schauten. Dann wanderten ihre Blicke weiter auf Ucañan, der auch für das ökologische Desaster nichts konnte. Weder hatte er um die Anwesenheit der schwimmenden Fabriken gebeten, noch um die japanischen und koreanischen Trawler, die an der 200-Seemeilen-Zone nur darauf warteten, sich am hiesigen Fisch gütlich zu tun. An nichts trug Ucañan die Schuld, aber mittlerweile konnte er es selber kaum noch glauben. Das war die andere Empfindung, dass er sich schäbig zu fühlen begann. Als sei er es, der Millionen Tonnen Thunfisch und Makrele aus dem Meer zog.

Er war 28 Jahre alt und einer der Letzten seiner Art.

Seine fünf älteren Brüder arbeiteten sämtlich in Lima. Sie hielten ihn für einen Schwachkopf, weil er bereit war, mit einem Boot hinauszufahren, das wenig mehr war als der Vorläufer des Surf boards, um in den verödeten Weiten der Küstengewässer auf Bonitos und Makrelen zu warten, die nicht kamen. Sie pflegten ihn darauf hinzuweisen, dass man Toten keinen Atem einhauchen könne. Aber es war der Atem seines Vaters, um den es ging, der trotz seiner bald siebzig Jahre jeden Tag hinausgefahren war. Bis vor wenigen Wochen jedenfalls. Jetzt ging der alte Ucañan nicht mehr fischen. Er lag mit einem merkwürdigen Husten und Flecken im Gesicht zu Hause und schien allmählich den Verstand zu verlieren, und Juan Narciso hatte sich an dem Gedanken festgebissen, den alten Mann am Leben halten zu können, solange er die Tradition am Leben hielt.

Seit über tausend Jahren hatten Ucañans Vorfahren, die Yunga und Moche, Schilfboote benutzt, noch bevor die Spanier ins Land kamen. Sie hatten die Küstenregion vom hohen Norden bis hinunter in die Gegend der heutigen Stadt Pisco besiedelt und die mächtige Metropole von Chan Chan mit Fisch beliefert. Damals war die Gegend reich gewesen an Wachaques, küstennahen Sümpfen, die von unterirdischen Süßwasserquellen gespeist wurden. In rauen Mengen war dort das Rietgras gesprossen, aus dem Ucañan und die Verbliebenen seines Standes immer noch ihre caballitos schnürten, nicht anders als es die Alten getan hatten. Ein caballito zu bauen erforderte Geschicklichkeit und innere Ruhe. Die Konstruktion war einzigartig. Drei bis vier Meter lang, mit spitzem, hoch gebogenem Bug und federleicht, war das Binsenbündel praktisch unsinkbar. In früheren Zeiten hatten Tausende die Wellen durchschnitten vor der Küstenregion, die ›Goldener Fisch‹ geheißen hatte, weil man selbst an schlechten Tagen mit reicherer Beute heimkehrte, als Männer wie Ucañan jetzt in ihren kühnsten Träumen fingen.

Aber auch die Sümpfe verschwanden und mit ihnen das Schilfgras.

El Niño wenigstens war kalkulierbar. Alle paar Jahre um die Weihnachtszeit erwärmte sich der ansonsten kalte Humboldtstrom infolge ausbleibender Passatwinde und verarmte an Nährstoffen, und Makrelen, Bonitos und Sardellen ließen sich nicht blicken, weil sie nichts zu fressen fanden. Darum hatten Ucañans Vorfahren dem Phänomen den Namen El Niño gegeben, frei übersetzt ›das Christkinde‹ Manchmal beließ es das Christkind dabei, einfach ein wenig die Natur durcheinander zu bringen, aber alle vier bis fünf Jahre schickte es die Strafe des Himmels über die Menschen, als wolle es sie vom Angesicht der Erde tilgen. Wirbelstürme, verdreißigfachte Regengüsse und tödliche Schlammlawinen – jedesmal verloren Hunderte ihr Leben. El Niño kam und ging, so war es immer gewesen. Man konnte sich nicht unbedingt mit ihm anfreunden, aber irgendwie arrangieren. Seit jedoch der pazifische Reichtum in Schleppnetzen verendete, deren Öffnungen groß genug waren, dass zwölf Jumbo Jets nebeneinander reingepasst hätten, halfen nicht mal mehr Gebete.

Vielleicht, ging es Ucañan durch den Kopf, während die Dünung sein Caballito schaukelte, bin ich ja wirklich dumm. Dumm und schuldig. Wir alle sind schuldig, weil wir uns mit einem christlichen Schutzheiligen eingelassen haben, der weder etwas gegen El Niño tut noch gegen die Fischereiverbände und staatliche Absprachen.

Früher, dachte er, hatten wir Schamanen in Peru. Ucañan wusste aus Erzählungen, was Archäologen in den alten präkolumbianischen Tempeln nahe der Stadt Trujillo gefunden hatten, gleich hinter der Pyramide des Mondes. Neunzig Skelette hatten da gelegen, Männer, Frauen und Kinder, erschlagen oder erdolcht. In einem verzweifelten Versuch, den hereinbrechenden Fluten des Jahres 560 Einhalt zu gebieten, hatten die Hohepriester das Leben von neunzig Menschen geopfert, und El Niño war gegangen.

Wen musste man opfern, um die Überfischung zu stoppen?

Ucañan erschauerte vor seinen eigenen Gedanken. Er war ein guter Christ. Er liebte Jesus Christus, und er liebte San Pedro, den Schutzheiligen der Fischer. Kein San Pedro Day, wenn der hölzerne Heilige per Boot von Dorf zu Dorf gefahren wurde, an dem er nicht mit ganzem Herzen dabei war. Und dennoch! Vormittags liefen alle zur Kirche, aber nachts brannten die wahren Feuer. Schamanismus stand in voller Blüte. Doch welcher Gott konnte helfen, wo selbst das Christkind beteuerte, es habe mit dem neuen Elend der Fischer nichts zu tun, sein Einfluss erschöpfe sich im Durcheinander der Naturgewalten, und alles andere sei bitte schön Sache der Politiker und Lobbyisten?

Ucañan schaute in den Himmel und blinzelte.

Es versprach ein schöner Tag zu werden.

Augenblicklich präsentierte sich Perus Nordwesten als perfekte Idylle. Seit Tagen gab es keine Wolke am Himmel zu sehen. Die Surfer lagen zu so früher Uhrzeit noch in ihren Betten. Ucañan hatte sein Caballito vor gut einer halben Stunde durch die sanft heranrollenden Wellen hinaus aufs Meer gepaddelt, zusammen mit einem Dutzend weiterer Fischer, noch bevor sich die Sonne gezeigt hatte. Jetzt kam sie langsam hinter den dunstigen Bergen zum Vorschein und tauchte das Meer in pastellenes Licht. Die endlose Weite, eben noch silbern, nahm einen zartblauen Ton an. Am Horizont erahnte man die Silhouetten mächtiger Frachter, die Lima ansteuerten.

Ucañan, unbeeindruckt von der Schönheit des heraufdämmernden Morgens, griff hinter sich und förderte das Calcal zutage, das traditionelle rote Netz der Caballito-Fischer, einige Meter lang und rundum mit Haken unterschiedlicher Größe bestückt. Kritisch beäugte er die fein gewobenen Maschen. Er hockte aufrecht auf dem Rietschiffchen. Caballitos besaßen keinen Innenraum zum Sitzen, dafür einen großzügig bemessenen Stauraum im Heck für Ausrüstung und Netz. Das Paddel hatte er quer vor sich liegen, ein halbiertes Guayaquil-Rohr, wie es sonst nirgendwo mehr in Peru benutzt wurde. Es gehörte seinem Vater. Er hatte es mitgenommen, damit der alte Mann die Kraft spüren konnte, mit der Juan Narciso es niederstieß ins Wasser. Jeden Abend, seitdem sein Vater krank war, legte Juan ihm das Paddel an die Seite und die Rechte darauf, damit er es fühlte – das Weiterbestehen der Tradition, den Sinn seines Lebens.

Er hoffte, dass sein Vater erkannte, was er da berührte. Seinen Sohn erkannte er nicht mehr.

Ucañan beendete die Inspektion des Calcal. Er hatte es bereits an Land in Augenschein genommen, aber Netze waren kostbar und jede Aufmerksamkeit wert. Der Verlust eines Netzes bedeutete das Aus. Ucañan mochte auf der Seite der Verlierer stehen im Poker um die verbliebenen Ressourcen des Pazifiks, aber er hatte nicht vor, sich auch nur die geringste Nachlässigkeit durchgehen zu lassen oder sich gar der Flasche anzuvertrauen. Nichts konnte er weniger ertragen als den Blick der Hoffnungslosen, die ihre Boote und Netze verrotten ließen. Ucañan wusste, dass es ihn umbringen würde, sollte er diesem Blick je in einem Spiegel begegnen.

Er schaute sich um. Zu beiden Seiten, weit auseinander gezogen, erstreckte sich das Feld der kleinen Caballito-Flotte, die an diesem Morgen mit ihm unterwegs war, gut einen Kilometer vom Strand entfernt. Heute tanzten die Pferdchen nicht auf und nieder wie sonst. Es herrschte kaum Wellengang. Die nächsten Stunden würden die Fischer hier draußen verharren, geduldig bis fatalistisch. Mittlerweile hatten sich größere Boote hinzugesellt, solche aus Holz und ein Trawler, der an ihnen vorbeizog und das offene Meer ansteuerte.

Unentschlossen sah Ucañan zu, wie die Männer und Frauen nacheinander ihre Calcals ins Wasser gleiten ließen, sorgsam darauf bedacht, sie über ein Tau fest mit dem Boot zu verbinden. Runde, rote Bojen trieben leuchtend auf der Wasseroberfläche. Ucañan wusste, dass es auch für ihn Zeit wurde, aber er dachte an die vergangenen Tage und tat nichts, als weiter rüberzustarren.

Ein paar Sardinen. Das war alles gewesen.

Sein Blick folgte dem Trawler, der allmählich kleiner wurde. Auch dieses Jahr gab es einen El Niño, allerdings einen vergleichsweise harmlosen. Solange er sich in Grenzen hielt, zeigte El Niño mitunter ein zweites Gesicht, ein lächelndes, wohlwollendes. Angelockt von den gemütlicheren Temperaturen, verirrten sich große Gelbflossenthuns und Hammerhaie in den Humboldtstrom, denen es dort normalerweise zu ungemütlich war. Dann kamen zur Weihnachtszeit stattliche Portionen auf den Tisch. Zwar landeten vorher die wenigen kleinen Fische in den Mägen der großen statt in den Netzen der Fischer, doch man konnte nicht alles haben. Wer an einem Tag wie diesem weiter rausfuhr, hatte durchaus Chancen, einen der dicken Brocken mit nach Hause zu bringen.

Müßige Gedanken. Caballitos fuhren nicht so weit hinaus. Im Schutz der Gruppe wagten sie sich schon mal zehn Kilometer weit vom Festland weg. Die Pferdchen trotzten auch starkem Seegang, sie ritten einfach auf den Wellenkämmen dahin. Das Problem dort draußen war die Strömung. Wenn es außerdem noch rau war und der Wind landabwärts blies, musste man einiges an Muskelkraft aufbringen, um sein Caballito wieder an Land zu paddeln.

Einige waren nicht zurückgekehrt.

Kerzengerade und reglos hockte Ucañan auf den geflochtenen Binsen. Im frühen Licht hatte das Warten auf die Schwärme begonnen, die auch heute nicht kommen würden. Er suchte die pazifische Weite nach dem Trawler ab. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er mühelos Arbeit auf einem der großen Schiffe bekommen oder in den Fischmehlfabriken, aber das war nun auch vorbei. Nach den verheerenden El Niños Ende der Neunziger hatten sogar die Fabrikarbeiter ihre Jobs verloren. Die großen Sardellenschwärme waren nie zurückgekehrt.

Was sollte er tun? Er konnte sich einfach keinen weiteren Tag ohne Fang mehr leisten.

Du könntest den Señoritas das Surfen beibringen.

Das war die Alternative. Ein Job in einem der zahllosen Hotels, unter deren Übermacht sich das alte Huanchaco zusammenkauerte. Touristen fischen. Ein lächerliches Jäckchen tragen, Cocktails mixen. Oder verwöhnten Amerikanerinnen Lustschreie entlocken. Beim Surfen, beim Wasserskilaufen, spätabends auf dem Zimmer.

Aber sein Vater würde sterben an dem Tag, da Juan das Band zur Vergangenheit durchtrennte. Auch wenn der Alte nicht mehr bei Verstand war, musste er doch spüren, dass sein Jüngster den Glauben verloren hatte.

Ucañans Fäuste ballten sich, bis die Knöchel weiß hervortraten. Dann zog er das Paddel hervor und begann entschlossen und mit aller Kraft dem entschwundenen Trawler zu folgen. Seine Bewegungen waren heftig, ruckartig vor Wut. Mit jedem Eintauchen des Paddels vergrößerte sich der Abstand zum Feld der anderen. Er kam schnell voran. Heute, das wusste er, würden keine plötzlichen, steilen Brecher, keine tückische Strömung, kein heftiger Nordwestwind seinen Rückweg behindern. Wenn er es heute nicht riskierte, dann nie. Es gab immer noch Thunfische, Bonitos und Makrelen in den tieferen Gewässern, aber sie waren nicht allein für die Trawler da. Sie gehörten ebenso ihm.

Nach einer ganzen Weile hielt er inne und schaute zurück. Huanchaco mit seinen eng gesetzten Häusern war kleiner geworden. Um sich herum sah er nur noch Wasser. Keine Caballitos, deren Besitzer seinem Beispiel folgten. Die kleine Flotte war weit zurückgeblieben.

Früher lebten wir mit einer Wüste in Peru, hatte sein Vater einmal gesagt, mit der im Landesinneren. Inzwischen haben wir zwei Wüsten, und die zweite ist das Meer vor unserer Haustür. Wir sind zu Wüstenbewohnern geworden, die den Regen fürchten.

Er war noch zu nah.

Während Ucañan mit kraftvollen Schlägen weiterpaddelte, fühlte er die alte Zuversicht zurückkehren. Fast überkam ihn Hochstimmung, und er stellte sich vor, endlos über das Wasser zu reiten auf seinem Pferdchen, dorthin, wo unter der Oberfläche silberglänzende Rücken zu Tausenden dahinschossen, funkelnde Kaskaden im Sonnenlicht, wo sich die grauen Buckel der Wale aus den Fluten hoben und die Schwertfische sprangen. Ein ums andere Mal stieß sein Paddel zu und brachte ihn weiter weg vom Gestank des Verrats. Wie von selbst bewegten sich Ucañans Arme, und als er endlich das Paddel sinken ließ und erneut zurückblickte, war das Fischerdorf nur noch eine würfelige Silhouette mit weißen Tupfen drumherum – dem in der Sonne leuchtenden, sich stetig ausbreitenden Schimmel der Neuzeit, den Hotels.

Ucañan fühlte Scheu in sich aufsteigen. So weit raus hatte er sich nie zuvor gewagt. Nicht mit dem Caballito. Es war weiß Gott etwas anderes, Planken unter den Füßen zu haben als ein schmales, spitzschnabeliges Binsenbündel unter dem Hintern. Der Morgendunst über dem fernen Ort mochte ihn täuschen, aber ganz sicher lagen zwischen ihm und Huanchaco nun zwölf Kilometer oder mehr.

Er war allein.

Einen Moment lang verharrte Ucañan. Er schickte ein kurzes Gebet an San Pedro, ihn glücklich und wohlbehalten nach Hause zu bringen, das Boot voller Fische. Dann nahm er einen tiefen Zug von der salzigen Morgenluft, holte das Calcal hervor und ließ es ohne Hast ins Wasser gleiten. Die hakenbesetzten Maschen verschwanden nach und nach im gläsernen Dunkel, bis nur noch die rote Boje neben dem Caballito trieb.

Was sollte passieren? Das Wetter war schön, und außerdem wusste Ucañan sehr genau, wo er sich befand. In unmittelbarer Nähe hob sich vom Meeresboden ein Massiv aus erstarrter Lava empor, ein kleiner, zerklüfteter Gebirgszug. Seine Spitzen reichten bis dicht unter die Wasseroberfläche. Seeanemonen siedelten darauf, Muscheln und Krebse. Eine Vielzahl kleiner Fische hauste in den Spalten und Höhlen. Aber auch große Vertreter wie Thuns, Bonitos und Schwertfische kamen, um zu jagen. Für die Trawler war es zu gefährlich, hier zu fischen, sie liefen Gefahr, von den scharfen Felskanten aufgeschlitzt zu werden, und außerdem gab das Gebiet nicht genug her für einen größeren Fang.

Für den mutigen Reiter eines Caballito würde es mehr als reichen.

Ucañan lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Er schaukelte auf und nieder. Ein wenig höher als in unmittelbarer Küstennähe waren die Wellen hier schon, aber es war immer noch sehr komfortabel auf seinem Binsenfloß. Er reckte die Glieder und blinzelte in die Sonne, die fahlgelb über den Bergen aufgestiegen war. Dann ergriff er wieder das Paddel und lenkte sein Caballito mit wenigen Stößen in die Strömung. Er ging in die Hocke und richtete sich darauf ein, während der nächsten Stunde die Boje zu beobachten, die ein Stück weit vom Boot über das Wasser tanzte.

 

Nach einer knappen Stunde hatte er drei Bonitos gefangen. Fett und glänzend lagen sie im offenen Stauraum des Caballito.

Ucañan geriet in Hochstimmung. Das war besser als die Ausbeute der letzten vier Wochen … Im Grunde hätte er jetzt zurückkehren können, aber da er schon mal hier war, konnte er ebenso gut noch warten. Der Tag hatte erfreulich begonnen. Möglich, dass er noch besser endete.

Außerdem hatte er alle Zeit der Welt.

Während das Caballito gemächlich entlang der Klippen dahintrieb, ließ er dem Calcal mehr Leine und sah zu, wie sich die Boje hüpfend entfernte. Immer wieder suchte sein Blick die Wasseroberfläche nach Aufhellungen ab, wo die Felsen in die Höhe wuchsen. Es war wichtig, dass er ausreichend Abstand hielt, um das Netz nicht zu gefährden. Er gähnte.

Am Seil war ein leichtes Ruckeln zu spüren.

Im nächsten Moment verschwand die Boje im Gezack der Wellen. Dann tauchte sie wieder auf, schoss empor, tanzte einige Sekunden wild hin und her und wurde erneut hinabgerissen.

Ucañan packte das Seil. Es spannte sich in seinem Griff und fetzte ihm die Haut von den Handflächen. Er fluchte. Im nächsten Moment legte sich das Caballito auf die Seite. Ucañan ließ los, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Tief im Wasser blitzte die Boje rötlich auf. Das Seil stand steil nach unten, straff wie eine Sehne, und zog das Heck des kleinen Schilfboots langsam hinab.

Was zum Teufel war da los?

Irgendetwas musste ins Netz gegangen sein, etwas Großes und Schweres. Ein Schwertfisch vielleicht. Aber ein Schwertfisch hätte mehr Tempo vorgelegt und das Caballito mit sich fortgerissen. Was immer sich in den Maschen verfangen hatte, wollte nach unten.

Hastig versuchte Ucañan das Seil wieder in die Finger zu bekommen. Ein erneuter Ruck ging durch das Boot. Er wurde nach vorne gerissen und landete in den Wellen. Beim Untertauchen bekam er Wasser in die Lungen. Hustend und spuckend tauchte er auf und sah das Caballito halb überflutet. Der spitze Bug stand steil in die Höhe. Aus dem offenen Stauraum im Heck trieben die gefangenen Bonitos zurück ins Meer. Beim Anblick der versinkenden Fische packten ihn Wut und Erbitterung. Sie waren verloren. Er konnte ihnen nicht nachtauchen, weil er alle Hände voll zu tun hatte, das Caballito zu retten und damit sich selber.

Der Fang eines Vormittags. Alles umsonst!

Ein Stück weiter trieb das Paddel. Ucañan schenkte ihm keine Beachtung. Er konnte es später holen. Mit aller Kraft warf er sich der Länge nach über den Bug und versuchte ihn hinabzudrücken. Damit geriet er vollends unter Wasser, mitsamt dem Caballito, das weiterhin erbarmungslos hinabgezogen wurde. In fieberhafter Hast robbte er über die glatten Binsen zum Heck. Seine Rechte tastete im Innern des Stauraums umher, bis er gefunden hatte, was er suchte. San Pedro sei Dank! Sein Messer war nicht herausgeschwemmt worden, und auch nicht die Tauchermaske, neben dem Calcal sein kostbarster Besitz.

Mit einem Hieb durchtrennte er das Seil.

Sofort schnellte das Caballito nach oben und wirbelte Ucañans Körper um seine Achse. Er sah den Himmel über sich kreisen, geriet erneut mit dem Kopf unter Wasser und fand sich endlich keuchend auf dem Binsenboot liegend, das wieder gemächlich dahinschaukelte, als sei nichts geschehen.

Verwirrt richtete er sich auf. Von der Boje war nichts zu sehen. Sein Blick suchte die Oberfläche nach dem Paddel ab. Es trieb nicht weit von ihm in den Wellen. Mit den Händen steuerte Ucañan das Caballito darauf zu, bis er das Paddel zu sich heranziehen konnte, legte es vor sich hin und musterte die nähere Umgebung.

Das waren sie, die hellen Flecken im kristallklaren Wasser.

Ucañan fluchte lang anhaltend und lautstark. Er war den unterseeischen Formationen zu nah gekommen, und das Calcal hatte sich darin verfangen. Kein Wunder, dass es ihn nach unten gezogen hatte. Idiotische Tagträumereien, denen er sich hingegeben hatte. Und wo das Netz war, dort war natürlich auch die Boje. Solange es in den Felsen hing, konnte sie nicht aufsteigen, sie war ja fest damit verbunden.

Ucañan überlegte.

Ja, das war die Antwort, so musste es sein. Dennoch erstaunte ihn die Heftigkeit, mit der es ihn um ein Haar ins Verderben gerissen hätte. Es schien die einzig plausible Erklärung, dass er das Netz an die Felsen verloren hatte, aber Reste von Zweifel blieben.

Das Netz verloren!

Er durfte das Netz nicht verlieren.

Mit schnellen Paddelschlägen brachte Ucañan das Caballito dorthin zurück, wo sich das kurze Drama abgespielt hatte. Er spähte nach unten und versuchte im klaren Wasser etwas zu erkennen, aber außer einigen konturlosen Aufhellungen sah er nichts. Von Netz und Boje keine Spur.

War es wirklich hier gewesen?

Er war Seemann. Er hatte sein Leben auf dem Meer verbracht. Auch ohne technische Gerätschaften wusste Ucañan, dass er an der richtigen Stelle war. Hier hatte er das Seil kappen müssen, damit sein Binsenschiff nicht auseinander gerissen wurde. Irgendwo dort unten war sein Netz.

Er würde es holen müssen.

Der Gedanke hinabzutauchen war Ucañan alles andere als angenehm. Wie die meisten Fischer war er – obschon ein ausgezeichneter Schwimmer – im Grunde wasserscheu. Kaum ein Fischer liebte das Meer wirklich. Es rief ihn hinaus, jeden Tag aufs Neue, und viele, die ihr Lebtag gefischt hatten, konnten ohne seine Allgegenwart nicht leben, aber mit ihr lebten sie auch nicht sonderlich gut. Das Meer verbrauchte ihre Lebenskraft, behielt nach jedem Fischzug etwas davon ein und hinterließ verdorrte, schweigsame Gestalten in Hafenkneipen, die nichts mehr erwarteten.

Aber Ucañan besaß ja seinen Schatz! Das Geschenk eines Touristen, den er im Vorjahr mit rausgenommen hatte. Er holte die Tauchermaske aus dem Stauraum, spuckte hinein und verrieb den Speichel sorgfältig, damit sie unter Wasser nicht beschlug. Dann spülte er die Maske im Meerwasser aus, presste sie auf sein Gesicht und zog den Riemen über den Hinterkopf. Es war sogar eine ziemlich teure Maske, mit Rändern aus weichem, anschmiegsamem Latex. Ein Atemgerät oder einen Schnorchel besaß er nicht, aber das war auch nicht nötig. Er konnte die Luft lange genug anhalten, um ein ordentliches Stück hinabzutauchen und ein Netz von den Felsen zu zerren.

Ucañan überlegte, wie groß die Gefahr war, von einem Hai attackiert zu werden. Im Allgemeinen traf man in diesen Breiten keine Exemplare an, die Menschen gefährlich wurden. In seltenen Fällen waren Hammer-, Mako- und Heringshaie gesichtet worden, die Fischernetze plünderten, allerdings weiter draußen. Die großen Weißen ließen sich vor Peru so gut wie gar nicht blicken. Außerdem war es ein Unterschied, im freien Wasser zu tauchen oder in unmittelbarer Nähe von Felsen und Riffstrukturen wie hier, die eine gewisse Sicherheit boten. Ein Hai, schätzte Ucañan, war es ohnehin nicht gewesen, der sein Netz auf dem Gewissen hatte.

Seine eigene Unachtsamkeit war schuld. Das war alles.

Er pumpte seine Lungen auf und sprang kopfüber in die Wellen. Es war wichtig, dass er schnell nach unten gelangte, ansonsten würde ihn die eingeatmete Luft wie einen Ballon an der Oberfläche halten. Den Körper senkrecht gestellt, Kopf voran, legte er Abstand zwischen sich und die Oberfläche. War das Wasser vom Boot aus dunkel und undurchdringlich erschienen, tat sich um ihn herum nun eine helle, freundliche Welt auf, mit klarer Sicht auf das vulkanische Riff, das sich auf einer Länge von einigen hundert Metern dahinzog. Die Felsen waren gesprenkelt von Sonnenlicht. Ucañan sah kaum Fische, aber er achtete auch nicht darauf. Sein Blick suchte die Formation nach dem Calcal ab. Allzu lange konnte er nicht hier unten verweilen, wenn er nicht riskieren wollte, dass das Caballito zu weit abtrieb. Falls er in den nächsten Sekunden nichts erblickte, würde er wieder auftauchen und einen zweiten Versuch unternehmen müssen.

Und wenn es zehn Versuche kostete! Wenn es den halben Tag dauerte. Er konnte unmöglich ohne das Netz zurückkehren.

Dann sah er die Boje.

In etwa zehn bis fünfzehn Metern Tiefe schwebte sie über einem zerklüfteten Vorsprung. Das Netz hing direkt darunter. Es schien sich an mehreren Stellen verhakt zu haben. Winzige Rifffische umschwärmten die Maschen und stoben, als Ucañan näher kam, auseinander. Er stellte sich im Wasser aufrecht, trat mit den Füßen und machte sich daran, das Calcal zu lösen. Die Strömung blähte sein offenes Hemd.

Dabei fiel ihm auf, dass das Netz völlig zerfetzt war.

Fassungslos starrte er auf das Zerstörungswerk. Das hatten nicht allein die Felsen verursacht.

Was um alles in der Welt hatte hier gewütet?

Und wo war dieses Etwas gerade?

Von Unruhe ergriffen begann Ucañan an dem Calcal herumzunesteln. Wie es aussah, stand ihm tagelanges Flicken bevor. Allmählich wurde ihm die Luft knapp. Er würde es vielleicht im ersten Anlauf nicht schaffen, aber selbst ein ruiniertes Calcal besaß noch einen Wert.

Schließlich hielt er inne.

Es hatte keinen Zweck. Er würde aufsteigen, nach dem Caballito sehen und noch einmal hinabtauchen müssen.

Während er darüber nachdachte, ging um ihn herum eine Veränderung vor. Zuerst glaubte er, eine Wolke sei vor die Sonne gezogen. Die tanzenden Lichtflecken waren von den Felsen gewichen, die Strukturen und Pflanzen warfen keine Schatten mehr …

Er stutzte.

Seine Hände, das Netz, alles verlor an Farbe und wurde fahl. Selbst Wolken konnten diesen plötzlichen Übergang nicht erklären. Innerhalb von Sekunden hatte sich der Himmel über Ucañan verdunkelt.

Er ließ das Calcal los und sah nach oben.

So weit das Auge reichte, zog sich dicht unter der Wasseroberfläche ein Schwarm armlanger, schimmernder Fische zusammen. Vor lauter Verblüffung ließ Ucañan einen Teil der Luft in seinen Lungen entweichen. Perlend trieb sie nach oben. Er fragte sich, wo der riesige Schwarm so plötzlich hergekommen war. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Die Leiber schienen beinahe stillzustehen, nur hin und wieder gewahrte er das Zucken einer Schwanzflosse oder das Vorschnellen eines einzelnen Tieres. Dann plötzlich vollzog der Schwarm eine Korrektur seiner Position um wenige Grad, die alle Tiere kollektiv vollführten, und die Leiber schmiegten sich noch enger aneinander.

Eigentlich das typische Verhalten eines Schwarms. Dennoch stimmte etwas nicht damit. Es war weniger das Verhalten der Fische, das ihn irritierte. Es waren die Fische selber.

Sie waren einfach zu viele.

Ucañan drehte sich um seine eigene Achse. Wohin er auch schaute, verlor sich die gewaltige Menge der Fische im Unendlichen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah durch eine Lücke zwischen den Leibern den Schatten seines Caballito, das sich gegen die kristallen funkelnde, leicht bewegte Oberfläche abzeichnete. Dann schloss sich auch dieser letzte Ausblick. Es wurde noch dunkler, und die verbliebene Luft in seinen Lungen begann schmerzhaft zu brennen.

Goldmakrelen, dachte er fassungslos.

Auf ihre Rückkehr hatte kaum noch jemand zu hoffen gewagt. Im Grunde hätte er sich freuen müssen. Goldmakrelen brachten einen leidlich guten Preis auf dem Markt, und ein randvolles Netz davon ernährte einen Fischer samt Familie eine ganze Weile.

Aber Ucañan spürte keine Freude.

Stattdessen überkam ihn schleichende Furcht.

Dieser Schwarm war unglaublich. Er reichte von Horizont zu Horizont. Hatten die Makrelen das Calcal zerstört? Ein Schwarm Goldmakrelen? Aber wie sollte das möglich sein?

Du musst hier weg, sagte er sich.

Er stieß sich von den Felsen ab. Um Ruhe bemüht, stieg er langsam und kontrolliert auf, weiterhin Reste von Luft ausstoßend. Sein Körper trieb den dicht gedrängten Leibern entgegen, die ihn von der Wasseroberfläche, vom Sonnenlicht und von seinem Boot trennten. Jede Bewegung in dem Schwarm war mittlerweile zum Stillstand gekommen, eine endlose, glotzäugige Ansammlung von Gleichgültigkeit. Und doch war ihm, als ob die Tiere nur seinetwegen so unvermittelt aus dem Nichts erschienen wären, als ob sie auf ihn warteten.

Sie wollen mich abhalten, durchfuhr es ihn. Sie wollen mich daran hindern, wieder aufs Boot zu gelangen.

Plötzlich erfasste ihn kaltes Grauen. Sein Herz raste. Er achtete nicht mehr auf seine Geschwindigkeit, dachte nicht mehr an das zerfetzte Calcal und die Boje, nicht einmal an das Caballito verschwendete er noch einen Gedanken, nur noch daran, die schreckliche Dichte über sich zu durchstoßen und zurück an die Oberfläche zu gelangen, zurück ins Licht, in sein Element, in Sicherheit.

Einige der Fische zuckten zur Seite.

Aus ihrer Mitte schlängelte sich etwas auf Ucañan zu.

 

Nach einer ganzen Weile frischte der Wind auf.

Immer noch war keine Wolke am Himmel zu sehen. Es war und blieb ein schöner Tag. Der Wellengang hatte in kaum nennenswerter Weise zugenommen, ohne dass es für einen Mann in einem kleinen Boot ungemütlich geworden wäre.

Aber es war kein Mann zu sehen.

Niemand weit und breit.

Nur das Caballito, eines der letzten seiner Art, trieb langsam hinaus auf den offenen Ozean.

Inhaltsverzeichnis

Erster TeilAnomalien

 

 

 

 

 

Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du …

Offenbarung des Johannes, Kapitel 16

An der chilenischen Küste wurde vergangene Woche ein riesiger, unidentifizierter Kadaver angeschwemmt, der sich an der Luft rasch zersetzte. Nach Angaben der chilenischen Küstenwache handelt es sich bei der formlosen Masse nur um einen kleinen Teil einer größeren Masse, die zuvor im Wasser treibend beobachtet wurde. Die chilenischen Experten fanden keinerlei Knochen, die ein Wirbeltier selbst in einem derartigen Zustand noch hätte. Die Masse sei zu groß für Walhaut und würde auch nicht danach riechen. Die bisherigen Erkenntnisse weisen erstaunliche Parallelen zu den sogenannten Globsters auf. Diese gallertartigen Massen werden immer wieder an Küstenabschnitten angeschwemmt. Von welcher Art Tier sie stammen, kann allenfalls vermutet werden.

CNN, 17. April 2003

4. März

Trondheim, norwegische Küste

Im Grunde war die Stadt viel zu gemütlich für Hochschulen und Forschungszentren. Besonders in Bakklandet oder auf dem Mollenberg wollte sich das Bild einer Technologiemetropole partout nicht einstellen. Inmitten der bunten Idylle aus modernisierten Holzhäusern, Parks und dörflich anmutenden Kirchen, Stelzenbauten am Fluss und pittoresken Hinterhöfen kam jedes Gefühl für Fortschritt abhanden, obschon die NTNU, Norwegens große technische Universität, gleich um die Ecke lag.

Kaum eine Stadt wob Vergangenes und Kommendes so kongenial ineinander wie Trondheim. Und eben darum schätzte sich Sigur Johanson glücklich, in Mollenbergs zeitentrückter Kirkegata zu wohnen, im Erdgeschoss eines ockerfarbenen Giebeldachhäuschens mit weiß gestrichener Vortreppe und Türsturz, dass es jedem Hollywood-Regisseur die Tränen in die Augen getrieben hätte. Wenngleich er dem Schicksal dafür dankte, ihn der Meeresbiologie verpflichtet zu haben und damit einem der gegenwärtigsten Forschungszweige überhaupt, interessierte ihn das Hier und Jetzt nur sehr bedingt. Johanson war Visionär und wie alle Visionäre dem völlig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den heißen Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmöglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der große Franzose. Einzig die Gegenwart war eine Schnecke, die auf ihrem Buckel Sachzwänge und Profanitäten mit sich schleppte. Sie fand keinen rechten Platz im Kosmos Sigur Johansons. Er diente ihr, erkannte, was sie von ihm verlangte, bereicherte ihren Fundus und verachtete sie für das, was sie daraus machte.

Als er den Jeep an diesem Spätvormittag über die winterliche Ovre Bakklandet zum Forschungsgelände der NTNU steuerte, den glitzernden Lauf der Nidelva zur Rechten, hatte die Vergangenheit ein ausgedehntes Wochenende lang ihr Recht beansprucht. Er war in den Wäldern gewesen und hatte weit abgelegene Dörfer besucht, an denen die Zeit vorübergegangen war. Im Sommer hätte er dafür den Jaguar genommen, im Kofferraum einen Picknickkorb mit frisch gebackenem Brot, stanniolverpackter Gänseleberpastete vom Feinkosthändler und einer kleinen Flasche Gewürztraminer, bevorzugter Jahrgang 1985. Seit Johanson von Oslo hergezogen war, hatte er sich eine ganze Reihe Plätze zu Eigen gemacht, die nicht von erholungsbedürftigen Trondheimern und Touristen überlaufen wurden. Vor zwei Jahren war er durch Zufall ans Ufer eines versteckten Sees gelangt und dort zu seinem Entzücken auf ein kleines, arg renovierungsbedürftiges Landhaus gestoßen. Den Besitzer ausfindig zu machen, hatte Zeit gekostet – er arbeitete in leitender Position für Norwegens staatliche Erdölförderungsgesellschaft Statoil und lebte mittlerweile in Stavanger –, dafür vollzog sich der Erwerb des Hauses umso schneller. Der Mann war froh, jemanden gefunden zu haben, der es übernahm, und verkaufte es für einen Spottpreis. In den Wochen darauf ließ Johanson die marode Hütte von ein paar illegal eingereisten Russen günstig instand setzen, bis sie seiner Vorstellung jener Refugien entsprach, die Bonvivants des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Land- und Lustsitz gedient haben mochten.

Dort, mit Blick auf den See, saß er an langen Sommerabenden auf der Veranda, las die Visionäre unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H.G. Wells, hörte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Bruckner. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt. Ebenso wie seine CDs besaß Johanson auch seine Lieblingsbücher fast sämtlich doppelt. Weder auf das eine noch das andere gedachte er zu verzichten, egal, wo er sich gerade aufhielt.

Johanson steuerte den Wagen das sanft ansteigende Gelände hoch. Vor ihm lag das Hauptgebäude der NTNU, ein gewaltiger, schlossähnlicher Bau aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, überzuckert von Schnee. Dahinter erstreckte sich das eigentliche Universitätsgelände mit seinen Unterrichtsgebäuden und Laboratorien. 10000 Studenten bevölkerten ein Areal, das eine kleine Stadt für sich war. Überall wogte lärmende Geschäftigkeit. Johanson gestattete sich einen Seufzer des Wohlbehagens. Es war wunderbar gewesen am See, einsam und außerordentlich inspirierend. Im vergangenen Sommer hatte er einige Male die Assistentin des Departmentleiters für Kardiologie mitgenommen, eine Bekanntschaft aus gemeinsamen Vortragsreisen. Sie waren ziemlich schnell zur Sache gekommen, aber am Ende des Sommers hatte Johanson die Liaison für beendet erklärt. Er wollte sich nicht binden, zumal er die Realität durchaus einzuschätzen wusste. Er war 56 Jahre alt, sie 30 Jahre jünger. Schön für ein paar Wochen. Indiskutabel für ein Leben, über dessen Schwelle Johanson ohnehin nur wenige ließ und je gelassen hatte.

Er parkte auf dem für ihn reservierten Platz und ging hinüber zum Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Weg zum Büro umrundete er in Gedanken ein letztes Mal den See und übersah beinahe Tina Lund, die am Fenster stand und sich bei seinem Eintreten umdrehte.

»Du bist ein bisschen spät«, frotzelte sie. »War’s der Rotwein, oder wollte dich irgendwer nicht gehen lassen?«

Johanson grinste. Lund arbeitete für Statoil und trieb sich derzeit vorzugsweise in den Forschungsstätten von Sintef herum. Die Stiftung gehörte zu den größten unabhängigen Forschungseinrichtungen Europas. Speziell die norwegische Offshore-Industrie verdankte ihr einige bahnbrechende Entwicklungen. Es war nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit zwischen Sintef und der NTNU, die Trondheims Ruf als Zentrum der Technologieforschung mitbegründet hatte. Sintef-Einrichtungen verteilten sich über die ganze Umgebung. Lund, die es im Verlauf einer kurzen und steilen Karriere zur stellvertretenden Projektleiterin für die Erschließung neuer Erdölvorkommen gebracht hatte, hatte erst vor wenigen Wochen ihr Lager im marinetechnischen Institut Marintek aufgeschlagen, ebenfalls ein Sintef-Ableger.

Johanson betrachtete ihre hoch gewachsene, schlanke Gestalt, während er sich aus seinem Mantel schälte. Er mochte Tina Lund. Um ein Haar hätten sie was miteinander angefangen vor einigen Jahren, aber irgendwie waren sie dann auf halber Strecke übereingekommen, es besser bei einer guten Freundschaft zu belassen. Seitdem tauschten sie sich über ihre Arbeit aus und gingen manchmal zusammen essen.

»Alte Männer müssen ausschlafen«, erwiderte Johanson. »Willst du einen Kaffee?«

»Wenn einer da ist.«

Er schaute ins Sekretariat und fand eine volle Kanne vor. Seine Sekretärin war nirgendwo zu sehen.

»Nur Milch«, rief Lund.

»Ich weiß.« Johanson verteilte den Kaffee auf zwei große Becher, gab Milch in ihren und ging zurück in sein Büro. »Ich weiß alles über dich. Schon vergessen?«

»So weit bist du nie gekommen.«

»Nein, dem Himmel sei Dank. Setz dich. Was führt dich her?«

Lund nahm ihren Kaffee, nippte daran, machte jedoch keine Anstalten, Platz zu nehmen.

»Ich schätze, ein Wurm.«

Johanson hob die Brauen und musterte sie. Lund erwiderte seinen Blick, als erwarte sie eine Stellungnahme, bevor sie die Frage dazu gestellt hatte. Das war typisch. Sie war von ungeduldigem Temperament.

Er trank einen Schluck.

»Du schätzt?«

Statt einer Antwort nahm sie einen Behälter aus mattem Stahl von der Fensterbank und stellte ihn vor Johanson auf den Schreibtisch. Er war verschlossen. »Schau mal da rein.«

Johanson entriegelte den Deckel und klappte ihn auf. Der Behälter war bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Etwas Haariges, Langes wand sich darin. Johanson betrachtete es aufmerksam.

»Hast du eine Ahnung, was es ist?«, fragte Lund.

Er zuckte die Achseln.

»Würmer. Zwei Stück. Recht stattliche Exemplare.«

»Der Ansicht sind wir auch. Nur die Art macht uns Kopfzerbrechen.«

»Ihr seid eben keine Biologen. Es sind Polychäten. Borstenwürmer, wenn dir das was sagt.«

»Ich weiß, was Polychäten sind.« Sie zögerte. »Kannst du sie untersuchen und klassifizieren? Wir brauchen das Gutachten allerdings ziemlich schnell.«

»Na ja.« Johanson beugte sich tiefer über den kleinen Tank. »Wie ich schon sagte, es sind definitiv Borstenwürmer. Sehr hübsch übrigens. Schön bunt. Der Meeresboden ist bevölkert von den Viechern, keine Ahnung, welche Art es ist. Worüber macht ihr euch Gedanken?«

»Wenn wir das wüssten.«

»Nicht mal das wisst ihr?«

»Sie stammen vom Kontinentalrand. Aus 700 Metern Tiefe.«

Johanson kratzte sich das Kinn. Die Tiere im Behälter zuckten und wanden sich. Sie wollen fressen, dachte er, nur dass nichts da ist, was sie fressen könnten. Er fand es bemerkenswert, dass sie überhaupt lebten. Den meisten Organismen bekam es nicht sonderlich gut, wenn man sie aus so großer Tiefe nach oben brachte.

Er blickte auf.

»Ich kann sie mir ja mal ansehen. Morgen vielleicht?«

»Das wäre gut.« Sie machte eine Pause. »Dir ist was daran aufgefallen, stimmt’s? Es war in deinen Augen zu sehen.«

»Möglicherweise.«

»Was ist es?«

»Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich bin kein Artenkundler, kein Taxonom. Es gibt Borstenwürmer in allen möglichen Farben und Formen. Nicht mal ich kenne das komplette Angebot, und ich weiß schon eine ganze Menge. Die hier scheinen mir … na ja, ich weiß es eben noch nicht.«

»Schade.« Lunds Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Dann lächelte sie unvermittelt. »Warum begibst du dich nicht sofort an die Untersuchungen und teilst mir deine Einsichten bei einem Mittagessen mit?«

»So schnell? Was glaubst du eigentlich, was ich hier mache?«

»Wenn ich bedenke, um welche Uhrzeit du aufgekreuzt bist, kannst du jedenfalls nicht in Arbeit ersaufen.«

Dummerweise hatte sie Recht.

»Na gut«, seufzte Johanson. »Treffen wir uns meinethalben um eins in der Cafeteria. Darf ich kleine Stückchen aus ihnen rausschneiden, oder hattest du vor, dich näher mit ihnen zu befreunden?«

»Mach, was du für richtig hältst. Bis später, Sigur.«

Sie eilte hinaus. Johanson sah ihr nach und fragte sich, ob es nicht doch ganz lustig hätte werden können mit ihr. Aber Tina Lund verbrachte ihr Leben im Laufschritt. Zu hektisch für jemanden wie ihn, der es beschaulich liebte und anderen ungern hinterherlief.

Er sah die Post durch, führte eine Reihe überfälliger Telefonate und verfrachtete den Behälter mit den Würmern schließlich ins Laboratorium. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich um Polychäten handelte. Sie zählten ebenso wie Egel zum Stamm der Anneliden, der Ringelwürmer, und stellten im Grunde keine wirklich komplizierte Lebensform dar. Dass sie die Zoologen dennoch faszinierten, hatte andere Gründe. Polychäten gehörten zu den ältesten bekannten Lebewesen überhaupt. Fossile Funde belegten, dass sie seit dem Mittleren Kambrium in nahezu unveränderter Form existierten, und das lag immerhin rund 500 Millionen Jahre zurück. Während man sie in Süßwasser oder feuchten Böden selten antraf, bewohnten sie sämtliche Meere und Tiefen in großer Zahl. Sie lockerten das Sediment auf und dienten Fischen und Krebsen als Nahrung. Die meisten Menschen ekelten sich vor ihnen, schon weil die Exponate durch die Konservierung in Alkohol ihre prächtigen Farben verloren. Johanson hingegen erblickte die Überlebenden einer versunkenen Welt, und was er sah, erschien ihm von ausnehmender Schönheit.

Einige Minuten betrachtete er die rosa Körper mit den tentakelartigen Auswüchsen und weißen Borstenbüscheln in dem Behälter. Dann beträufelte er die Würmer nacheinander mit Magnesiumchlorid-Lösung, um sie zu relaxieren. Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Wurm zu töten. Die gängige war, ihn in Alkohol zu legen, in Wodka oder klaren Aquavit. Aus menschlicher Sicht versprach das einen Tod im Vollrausch, also nicht die schlechteste Art des Ablebens. Die Würmer sahen das anders und zogen sich im Todeskampf zu einem harten Klumpen zusammen, wenn man sie nicht vorher entspannte. Dazu diente das Magnesiumchlorid. Die Muskeln der Tiere erschlafften, und im Folgenden konnte man mit ihnen anstellen, was man wollte.

Vorsichtshalber fror er einen der beiden Würmer ein. Es war immer gut, ein Exemplar in Reserve zu haben, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt genetische Analysen durchführen oder stabile Isotope untersuchen wollte. Den zweiten Wurm fixierte er in Alkohol, betrachtete ihn wieder eine Weile, legte ihn auf eine der Arbeitsflächen und vermaß ihn. Er notierte knapp siebzehn Zentimeter. Dann schnitt er ihn der Länge nach auf und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Junge, Junge«, sagte er. »Du hast aber schöne Beißerchen.«

Auch innerlich wiesen die charakteristischen Baupläne das Wesen eindeutig als Ringelwurm aus. Der Rüssel, den der Polychät beim Beutefang blitzschnell ausfahren konnte, lag eingestülpt in der Körperhülle. Er war bestückt mit Chitinkiefern und mehreren Reihen winziger Zähne. Johanson hatte schon eine ganze Reihe dieser Kreaturen von innen und außen gesehen, aber die Größe dieser Kiefer übertraf alles, was er kannte. Je länger er den Wurm betrachtete, desto mehr beschlich ihn der Verdacht, dass diese Art noch nicht erfasst war.

Wie praktisch, dachte er. Ruhm und Ehre! Wann entdeckt man schon mal eine neue Art?

Noch war er sich nicht sicher, also zog er das Intranet zu Rate und stöberte eine Weile im Dateiendschungel herum. Es war in der Tat verblüffend. Es gab diesen Wurm, und es gab ihn wiederum nicht. Allmählich wurde Johanson wirklich neugierig. So fasziniert war er von seiner Arbeit, dass er beinahe vergaß, weswegen er das Tier überhaupt untersuchte. Als er schließlich unter den Glasdächern der Universitätsstraßen zur Cafeteria hastete, war er bereits eine Viertelstunde zu spät dran. Er stürmte ins Innere, erspähte Lund an einem Ecktisch und ging zu ihr hinüber. Sie saß im Schatten einer Palme und winkte ihm zu.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Hast du lange gewartet?«

»Stunden. Ich sterbe vor Hunger.«

»Wir können das Putengeschnetzelte nehmen«, schlug Johanson vor. »Es war letzte Woche ausgezeichnet.«

Lund nickte. Wer Johanson kannte, wusste, dass man sich in geschmacklichen Dingen auf ihn verlassen konnte. Sie bestellte Cola zum Essen. Er genehmigte sich ein Glas Chardonnay. Während er die Nase ins Glas hielt, um etwaige Spuren von Kork zu erschnüffeln, rutschte Lund unruhig auf ihrem Sitz hin und her.

»Und?«

Johanson trank einen kleinen Schluck und schmatzte mit den Lippen.

»Anständig. Frisch und ausdrucksstark.«

Lund sah ihn verständnislos an. Dann verdrehte sie die Augen.

»Schon gut.« Er stellte das Glas zurück und schlug die Beine übereinander. Irgendwie fand er Spaß daran, ihre Geduld zu strapazieren. Zumal, wenn sie an einem Montagmorgen mit Arbeit aufwartete, verdiente sie es, auf die Folter gespannt zu werden. »Anneliden, Klasse der Polychäten, so weit waren wir ja schon. Du erwartest hoffentlich keinen umfassenden Bericht, das wird Wochen und Monate dauern. Vorläufig würde ich deine beiden Exemplare entweder als Mutation einstufen oder als neue Art. Oder auch beides, um genau zu sein.«

»Du bist alles andere als genau.«

»Verzeihung. Wo exakt habt ihr die Dinger raufgeholt?«

Lund beschrieb ihm die Stelle. Sie lag ein erhebliches Stück vor dem Festland, dort, wo der Norwegische Schelf in die Tiefsee abfiel. Johanson hörte nachdenklich zu.

»Darf man fragen, was ihr da treibt?«

»Wir untersuchen Kabeljau.«

»Oh. Es gibt noch welchen? Wie erfreulich.«

»Lass die Witze. Du kennst doch die Probleme, wenn man ans Öl will. Wir wollen uns hinterher nicht vorwerfen lassen, irgendetwas außer Acht gelassen zu haben.«

»Ihr baut eine Plattform? Ich denke, die Förderung geht zurück.«

»Das ist im Augenblick nicht mein Problem«, sagte Lund leicht gereizt. »Mein Problem ist, ob da überhaupt gebaut werden kann. So weit draußen haben wir noch nie gebohrt. Wir müssen die technischen Voraussetzungen prüfen. Wir müssen unter Beweis stellen, dass wir umweltverträglich arbeiten. Also gehen wir nachschauen, was da alles rumschwimmt und wie die Umwelt beschaffen ist, damit wir ihr nicht auf die Füße treten.«

Johanson nickte. Lund schlug sich mit den Ergebnissen der Nordseekonferenz herum, nachdem das norwegische Fischereiministerium bemäkelt hatte, täglich würden Millionen Tonnen verseuchten Produktionswassers ins Meer gepumpt. Produktionswasser wurde von den unzähligen Offshore-Anlagen in der Nordsee und vor Norwegens Küste zusammen mit Öl aus dem Meeresboden gefördert, dem es Millionen Jahre lang beigemischt gewesen war, gesättigt mit Chemikalien. Gemeinhin wurde es bei der Förderung nur mechanisch von Ölklumpen getrennt und direkt ins Meer geleitet. Jahrzehntelang hatte niemand diese Praxis infrage gestellt. Bis die Regierung beim norwegischen Institut für Meereswissenschaften eine Studie in Auftrag gegeben hatte, deren Quintessenz Umweltschützer wie Ölkonzerne gleichermaßen aufschreckte. Gewisse Substanzen im Produktionswasser beeinträchtigten die Fortpflanzungszyklen des Kabeljaus. Sie wirkten wie weibliche Hormone. Männliche Fische wurden unfruchtbar oder wechselten das Geschlecht. Inzwischen schienen auch andere Arten bedroht. Die Forderung nach einem sofortigen Einleitungsstopp kam auf, was die Ölproduzenten zwang, nach Alternativen zu forschen.

»Es ist ganz richtig, dass sie euch auf die Finger gucken«, sagte Johanson. »Je genauer, desto besser.«

»Du hilfst mir wirklich weiter.« Lund seufzte. »Jedenfalls, beim Rumstochern am Hang sind wir ziemlich tief runtergegangen. Wir haben seismische Messungen durchgeführt und den Roboter auf 700 Meter geschickt, um Bilder zu machen.«

»Von Würmern.«

»Wir waren völlig überrascht. Wir hätten nicht erwartet, sie da unten vorzufinden.«

»Unsinn. Würmer kommen überall vor. Und oberhalb 700 Meter? Habt ihr sie da auch gefunden?«

»Nein.« Sie rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. »Was ist jetzt mit den verdammten Biestern? Ich würde die Sache gerne zu den Akten legen, wir haben noch einen Riesenhaufen Arbeit vor uns.«

Johanson stützte das Kinn in die Hände.

»Das Problem mit deinem Wurm ist«, sagte er, »dass es eigentlich zwei Würmer sind.«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Natürlich. Es sind zwei Würmer.«

»Das meine ich nicht. Ich meine die Gattung. Wenn ich mich nicht irre, gehört er zu einer kürzlich entdeckten Art, von der man bis dato gar nichts wusste. Man hat sie im Golf von Mexiko entdeckt, wo sie sich auf dem Meeresboden rumtreibt und offenbar von Bakterien profitiert, die wiederum Methan als Energie- und Wachstumsquelle nutzen.«

»Methan, sagst du?«

»Ja. Und da beginnt es spannend zu werden. Deine Würmer sind zu groß für ihre Spezies. Ich meine, es gibt Borstenwürmer, die werden zwei Meter lang und mehr. Übrigens auch ziemlich alt. Aber das sind andere Kaliber, und sie kommen ganz woanders vor. Wenn deine identisch sind mit denen aus dem Mexikanischen Golf, müssen sie seit ihrer Entdeckung ordentlich gewachsen sein. Die vom Golf messen maximal fünf Zentimeter, deine sind dreimal so lang. Außerdem wurden sie am Norwegischen Kontinentalhang bislang nicht beschrieben.«

»Interessant. Wie erklärst du dir das?«

»Du machst mir Spaß! Ich kann es nicht erklären. Die einzige Antwort, die ich im Moment parat habe, ist, dass ihr auf eine neue Art gestoßen seid. Herzlichen Glückwunsch. Sie ähnelt äußerlich dem mexikanischen Eiswurm, in der Größe und bestimmten Merkmalen jedoch einem ganz anderen Wurm. Besser gesagt einem Wurmahnen, von dem wir glaubten, dass er längst ausgestorben sei. Einem kleinen kambrischen Ungeheuer. Es wundert mich nur …«

Er zögerte. Die Region war von den Ölgesellschaften derart unter die Lupe genommen worden, dass ein Wurm dieser Größe längst hätte auffallen müssen.

»Nur?«, drängte Lund.

»Na ja, entweder sind wir alle blind gewesen, oder es hat deine neuen Freunde dort vorher nicht gegeben. Vielleicht stammen sie aus noch größerer Tiefe.«

»Was uns zu der Frage bringt, wie sie so hoch nach oben gelangen konnten.« Lund schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Wann kannst du den Bericht fertig haben?«

»Ich sehe schon, du machst mal wieder Stress.«

»Ich kann jedenfalls keinen Monat darauf warten!«

»Ist ja gut«, Johanson hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde deine Würmer in der Welt herumschicken müssen, aber wozu hat man seine Leute. Gib mir zwei Wochen. Und versuch nicht, mich noch weiter runterzuhandeln. Schneller geht’s beim besten Willen nicht.«

Lund erwiderte nichts. Während sie vor sich hinstarrte, kam das Essen, aber sie rührte es nicht an.

»Und sie ernähren sich von Methan?«

»Von Methan fressenden Bakterien«, korrigierte sie Johanson. »Ein ziemlich verzwicktes symbiotisches System, über das schlauere Leute mehr erzählen können. Aber das gilt für den Wurm, von dem ich glaube, dass er mit deinem verwandt ist. Noch ist nichts bewiesen.«

»Wenn er größer ist als der vom Mexikanischen Golf, hat er auch mehr Appetit«, sinnierte Lund.

»Mehr jedenfalls als du«, sagte Johanson mit Blick auf ihren unangetasteten Teller. »Übrigens wäre es hilfreich, wenn du weitere Exemplare deiner Monsterspezies auftreiben könntest.«

»Daran soll’s nicht mangeln.«

»Ihr habt noch welche?«

Lund nickte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Dann begann sie zu essen.

»Ein rundes Dutzend«, sagte sie. »Aber unten sind noch mehr.«

»Viele?«

»Ich müsste schätzen.« Sie machte eine Pause. »Aber ich würde sagen, ein paar Millionen.«

12. März

Vancouver Island, Kanada

Die Tage kamen und gingen, aber der Regen blieb.

Leon Anawak konnte sich nicht erinnern, wann es in den letzten Jahren so lange am Stück geregnet hatte. Er schaute hinaus auf den einförmig glatten Ozean. Der Horizont erschien als quecksilbrige Linie zwischen der Wasseroberfläche und den tief hängenden Wolkenmassen. Dort hinten begann sich eine Pause abzuzeichnen vom tagelangen Geprassel. Genau ließ sich das nicht sagen. Ebenso gut konnte Nebel heranziehen. Der Pazifische Ozean schickte, was er wollte, im Allgemeinen ohne Vorankündigung.

Ohne die Linie aus den Augen zu lassen, beschleunigte Anawak die Blue Shark und fuhr ein Stück weiter hinaus. Das Zodiac, wie die stark motorisierten, großen Schlauchboote genannt wurden, war voll besetzt. Zwölf Menschen in regenfesten Overalls, bewaffnet mit Feldstechern und Kameras, verloren gerade die Lust an der Sache. Weit über anderthalb Stunden hatten sie ausgeharrt in Erwartung von Grau- und Buckelwalen, die im Februar die warmen Buchten von Baja California und die Gewässer um Hawaii verlassen hatten, um ihren Treck in die sommerlichen Futtergründe der Arktis anzutreten. Sechzehntausend Kilometer legten sie jedes Mal zurück. Ihre Reise führte sie vom Pazifik durch das Beringmeer in die Tschuktschensee bis an die Packeisgrenze und mitten hinein ins Schlaraffenland, wo sie sich die Bäuche voll schlugen mit Flohkrebsen und Garnelen. Wenn die Tage wieder kürzer wurden, traten sie erneut den langen Weg an, zurück nach Mexiko. Dort, geschützt vor ihren schlimmsten Feinden, den Orcas, brachten sie ihre Jungen zur Welt. Zweimal im Jahr passierten die Herden der riesigen Meeressäuger British Columbia und die Gewässer vor Vancouver Island – Monate, in denen Orte wie Tofino, Ucluelet und Victoria mit ihren Whale-Watching-Stationen ausgebucht waren.

Nicht so in diesem Jahr.

Längst hätten Vertreter der einen oder anderen Spezies Kopf oder Fluke für das obligatorische Foto herhalten müssen. Die Wahrscheinlichkeit, den Säugern zu begegnen, war um diese Zeit so hoch, dass Davies Whaling Station Walsichtungen garantierte und für den gegenteiligen Fall kostenlose Wiederholungsfahrten anbot. Ein paar Stunden ohne Sichtungen mochten vorkommen, ein Tag galt schon als ausgesprochenes Pech. Eine ganze Woche bot Anlass, sich Sorgen zu machen, aber eigentlich kam es nicht vor.

Doch diesmal schienen die Tiere irgendwo zwischen Kalifornien und Kanada verloren gegangen zu sein. Auch heute fand das Abenteuer nicht statt. Kameras wurden weggepackt. Zu Hause würde es nichts zu erzählen geben, außer dass man an einer möglicherweise reizvollen Felsenküste vorbeigefahren war, die sich den Blicken hinter Vorhängen aus Regen entzog.

Anawak, gewohnt, zu allen Sichtungen Erklärungen und Kommentare abzugeben, spürte seine Zunge am Gaumen kleben. Im Verlauf der letzten anderthalb Stunden hatte er die Geschichte der Region heruntergebetet und Anekdoten zum Besten gegeben, um die Stimmung nicht gänzlich absaufen zu lassen. Inzwischen schien ihm, dass niemand mehr etwas über Wale und Schwarzbären hören wollte. Sein Vorrat an Ablenkungsmanövern war erschöpft. In seinem Schädel zirkulierte die Frage nach dem Verbleib der Wale. Wahrscheinlich hätte er sich eher um den Verbleib der zahlenden Touristen sorgen sollen, aber er konnte nicht aus seiner Haut.

»Wir fahren zurück«, beschied er.

Enttäuschtes Schweigen. Für die Rückfahrt durch den Clayoquot Sound würden sie eine gute Dreiviertelstunde brauchen. Er beschloss, den Nachmittag wenigstens rasant zu beenden. Ohnehin waren sie alle nass bis auf die Knochen. Das Zodiac verfügte über zwei PS-starke Motoren, die eine adrenalinfördernde Fahrt garantierten, wenn man sie voll aufdrehte. Alles, was er den Leuten jetzt noch bieten konnte, war Geschwindigkeit.

 

Als die Stelzenhäuser von Tofino mit dem Pier der Station in Sicht kamen, hörte es unvermittelt auf zu regnen. Die Hügel und Bergrücken erschienen wie aus grauem Karton geschnitten, die Gipfel in Dunst und Wolken gehüllt. Anawak half den Passagieren heraus, bevor er das Zodiac festmachte. Die Stiege zum Pier war glitschig. Auf der Terrasse des Stationsgebäudes versammelten sich bereits die nächsten Abenteurer, die das Abenteuer vergeblich suchen würden. Anawak verschwendete keinen Gedanken an sie. Er war es leid, sich die Sorgen anderer zu machen.

»Wenn das so weitergeht, müssen wir umsatteln«, sagte Susan Stringer, als er den Verkaufs- und Ticketraum betrat. Sie stand hinter der Theke und schichtete Prospekte in dafür vorgesehene Ständer. »Wir könnten Waldeichhörnchen beobachten, was meinst du?«

Die Whaling Station war ein gemütlicher Bazar, voll gepackt mit Kunsthandwerk, Andenkenkitsch, Kleidung und Büchern. Susan Stringer arbeitete als Office Manager bei Davies. Wie einst Anawak, nutzte auch sie den Job, um ihr Studium zu finanzieren. Anawak, seit vier Jahren promoviert, war Davies als Skipper treu geblieben. Er hatte die Sommermonate der vergangenen Jahre genutzt, um ein viel beachtetes Buch über Intelligenz und Sozialstruktur von Meeressäugern zu veröffentlichen und sich mit spektakulären Experimenten die Hochachtung der Fachwelt zu erwerben. Mittlerweile, da er als aufsteigender Stern gehandelt wurde, trudelten wohlklingende Angebote ein, verlockend dotierte Posten, neben denen das Bild vom anspruchslosen Leben inmitten der Natur Vancouver Islands zunehmend an Schärfe verlor. Anawak wusste, dass er früher oder später nachgeben und in eine dieser Städte umsiedeln würde, aus denen die Offerten kamen. Die Entwicklung schien vorgezeichnet. Er war 31 Jahre alt. Bald würde er eine Dozentur übernehmen oder einen Forschungsposten in einem der großen Institute, er würde Artikel in Fachzeitschriften veröffentlichen und zu Kongressen reisen und das kostspielige Obergeschoss eines Hauses bewohnen, gegen dessen Fundamente die Wogen des Berufsverkehrs brandeten.

Er begann, seine Regenmontur aufzuknöpfen.

»Wenn man wenigstens was tun könnte«, sagte er düster.

»Was denn tun?«

»Suchen.«

»Wolltest du nicht mit Rod Palm über die Auswertungen der telemetrischen Untersuchungen sprechen?«

»Hab ich gemacht.«

»Und?«

»Da ist nicht viel passiert, wie es aussieht. Sie haben ein paar Tümmler und Seelöwen im Januar mit Fahrtenschreibern ausgerüstet, und das war’s. Die Daten liegen vor, aber sämtliche Aufzeichnungen enden kurz nach Migrationsbeginn. Danach: Funkstille.«

Stringer zuckte die Achseln. »Mach dir keine Gedanken. Sie werden schon kommen. Ein paar Tausend Wale gehen nicht so mir nichts dir nichts verloren.«

»Offenbar doch.«

Sie grinste. »Vielleicht stehen sie bei Seattle im Stau. Bei Seattle ist immer Stau.«

»Sehr komisch.«

»Komm, mach dich locker! In früheren Jahren haben sie sich auch schon mal verspätet. Was meinst du, sehen wir uns heute Abend bei Schooners?«

»Ich … nein. Ich muss das Experiment mit dem Beluga vorbereiten.«

Sie musterte ihn streng. »Wenn du mich fragst, übertreibst du es ein bisschen mit der Arbeit.«

Anawak schüttelte den Kopf.

»Ich muss das machen, Susan. Es ist mir wichtig, und außerdem versteh ich nichts von Börsenkursen.«

Der Seitenhieb galt Roddy Walker, Stringers Freund. Er war Broker in Vancouver und verbrachte ein paar Tage in Tofino. Seine Vorstellung von Urlaub schien im Wesentlichen darin zu bestehen, jedermann abwechselnd mit seinem Handy und irgendwelchen Finanztipps auf die Nerven zu gehen, beides in gehobener Lautstärke. Stringer hatte längst begriffen, dass da keine Freundschaft heranwuchs, insbesondere seitdem Walker Anawak einen quälenden Abend lang mit Fragen nach seiner Herkunft gelöchert hatte.

»Du wirst es vielleicht nicht glauben«, sagte sie, »aber Roddy kann auch über was ganz anderes sprechen.«

»Tatsächlich?«

»Wenn man ihn nett bittet.«

Es klang ein bisschen spitz.

»Schon gut«, sagte Anawak. »Ich komme später nach.«

»Quatsch. Du kommst ohnehin nicht nach.«

Anawak grinste.

»Wenn du mich nett bittest.«

Natürlich würde er nicht kommen. Er wusste es, und Stringer wusste es auch. Dennoch sagte sie: »Wir treffen uns gegen acht, falls du’s dir überlegst. Vielleicht solltest du deinen muschelbewachsenen Arsch ja doch noch rüberwuchten. Toms Schwester ist da, und sie steht auf dich.«

Toms Schwester war nicht das schlechteste Argument. Aber Tom Shoemaker war kaufmännischer Geschäftsführer von Davies, und Anawak missfiel der Gedanke, sich allzu eng an einen Ort zu binden, den er sich gerade auszureden versuchte.

»Ich werd’s mir überlegen.«

Stringer lachte, schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Anawak bediente eine Weile hereinkommende Kunden, bis Tom erschien und ihn für den Rest des Tages ablöste. Er trat hinaus auf Tofinos Hauptstraße. Davies Whaling Station lag gleich am Ortseingang. Das Gebäude war hübsch, ein typisches Holzhaus mit rotem Giebel, überdachter Terrasse und einer vorgelagerten Rasenfläche, aus der als Wahrzeichen eine sieben Meter hohe Walfluke aus Zedernholz wuchs. In unmittelbarer Nachbarschaft begann dichter Tannenwald. Es sah hier exakt so aus, wie sich Europäer Kanada gemeinhin vorstellten. Die Einheimischen trugen das ihre dazu bei, indem sie abends im Schein der Windlichter ausführlich von Begegnungen mit Bären im eigenen Vorgarten oder Ausritten auf Walbuckeln erzählten. Nicht alles davon stimmte, aber doch das meiste. Vancouver Island pflegte seinen Mythos als Kanada-Konzentrat mit großem Eifer. Der westliche Küstenstreifen zwischen Tofino und Port Renfrew mit seinen sanft abfallenden Stränden, den einsamen, von jahrhundertealten Tannen und Zedern umstandenen Buchten, Sümpfen, Flüssen und zerklüfteten Landschaften lockte jedes Jahr Scharen von Besuchern an. Vom Ufer aus waren mit etwas Glück Grauwale zu beobachten, Otter und Seelöwen, die sich in Küstennähe sonnten. Auch wenn das Meer Regen im Überschwang schickte, kam die Insel dem Paradies nach Meinung vieler hier am nächsten.

Anawak hatte keinen Blick dafür.

Er ging ein Stück in den Ort hinein und bog zu einem Pier ab. Ein zwölf Meter langes Segelschiff lag dort vor Anker, alt und baufällig. Es gehörte Davie. Der Stationschef scheute die Kosten, um es wieder seetüchtig zu machen. Stattdessen hatte er es für einen lächerlichen Betrag an Anawak vermietet, der nun dort lebte und sein eigentliches Zuhause, ein winziges Appartement in Vancouver City, kaum noch aufsuchte. Nur wenn er längere Zeit in der Stadt zu tun hatte, kam es zu vorübergehenden Ehren.

Er ging unter Deck, nahm einen Packen Unterlagen an sich und lief zurück zur Station. In Vancouver besaß er ein Auto, einen rostigen Ford. Für die Insel reichte es, sich hin und wieder Shoemakers alten Land Cruiser auszuleihen. Er stieg ein, startete den Motor und fuhr zum Wickaninnish Inn, einem Hotel der Spitzenkategorie, das wenige Kilometer entfernt auf einem Felsvorsprung lag und einen phantastischen Blick auf den Ozean bot. Inzwischen war der Himmel weiter aufgerissen und ließ blaue Stellen sehen. Die gut ausgebaute Straße führte durch dichten Wald. Nach zehn Minuten stellte er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab und ging zu Fuß weiter, vorbei an umgestürzten, langsam verrottenden Riesenbäumen. Der ansteigende Pfad wand sich durch grünes Dämmerlicht. Es roch nach feuchter Erde. Wasser tropfte. Von den Ästen der Tannen wucherten Farne und Moose herab. Alles schien belebt.

Als das Wickaninnish Inn vor ihm auftauchte, hatte die kurze Pause abseits menschlicher Gesellschaft ihre Wirkung getan. Jetzt, wo es einigermaßen aufgeklart hatte, konnte er sich mit seinen Unterlagen in aller Ruhe an den Strand setzen. Eine Weile würde das Licht noch reichen. Vielleicht, dachte er, während er die hölzernen Treppen hinabstieg, die vom Hotel in steilem Zickzack zum Meer hinunterführten, würde er sich anschließend ein Abendessen im Wickaninnish gönnen. Die Küche war ausgezeichnet, und die Vorstellung, unerreichbar für Walker und sein dämliches Getue hier zu sitzen und den Sonnenuntergang zu sehen, besserte seine Laune um ein Weiteres.