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Schätzings neuer großer Mittelalter-Roman In seinem neuen epochalen Roman »Helden«, der den Weltbestseller »Tod und Teufel« kongenial fortsetzt, zeichnet Frank Schätzing das Bild einer abendländischen Gesellschaft im Umbruch. Vor dem Hintergrund gewaltiger Umwälzungen, in denen bereits die Renaissance und die Neuzeit aufscheinen, im ewigen Spannungsfeld von Macht und Moral, schickt Schätzing seinen Helden Jacop auf einen Höllenritt durch die Geschichte. 1263: Jacop der Fuchs steckt in Schwierigkeiten. Und zwar gewaltig, so wie vor drei Jahren, als er in eine Intrige Kölner Patrizier geriet und nur knapp dem Tod entging. Danach hat sein Schicksal eine vielversprechende Wendung genommen. Er wurde ehrbar, vom Dieb zum Kaufmannslehrling. Doch wieder muss er um sein Leben laufen, kämpfen, schwimmen… gejagt von Geistern der Vergangenheit, schottischen Söldnern und der furchteinflößenden Blonden Hexe. Hineingeworfen in einen Sturm, der ganz Europa erfasst, ausgelöst durch englische Barone, die nichts Geringeres planen, als ihren König zu entmachten und die absolute Monarchie abzuschaffen. Was ist schiefgegangen? Wäre Jacop bloß in Köln geblieben, bei seinen Freunden. Doch auch da spitzen sich die Machtkämpfe dramatisch zu… »Helden« ist historisches Drama und atemberaubender Thriller. Ein dritter Band mit Abenteuern von Jacop dem Fuchs ist in Arbeit.
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Seitenzahl: 1353
Frank Schätzing
Roman
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Frank Schätzing, geboren 1957 in Köln, veröffentlichte 1995 den historischen Roman »Tod und Teufel«, der zunächst regional, später bundesweit zum Bestseller avancierte. Nach zwei weiteren Romanen, einem Band mit Erzählungen sowie dem Thriller »Lautlos« erschien im Frühjahr 2004 »Der Schwarm«, der seit Erscheinen eine Gesamtauflage von 4,5 Millionen Exemplaren erreicht hat und weltweit in 27 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten die Bestseller »Limit« (2009), »Breaking News« (2014) und »Die Tyrannei des Schmetterlings« (2018). Auch als Sachbuchautor hat sich Schätzing einen Namen gemacht. 2006 zeichnete Bild der Wissenschaft seine Evolutionsgeschichte »Nachrichten aus einem unbekannten Universum« als bestes Wissenschaftsbuch aus. 2021 gelang ihm mit »Was, wenn wir einfach die Welt retten?« erneut der Sprung in die Sachbuch-Bestsellerliste. 2024 erscheint sein neuer Roman »Helden«, mit dem er den Weltbestseller »Tod und Teufel« kongenial fortsetzt. Frank Schätzing lebt und arbeitet in Köln.
2002 KölnLiteraturPreis
2004 Corine in der Sparte Belletristik
2005 Kurd-Laßwitz-Preis für Der Schwarm als bester Science-Fiction-Roman des Jahres
Deutscher Science Fiction Preis für Der Schwarm
Goldene Feder für Der Schwarm
Deutscher Krimi Preis für Der Schwarm
2006 Dr. Kurt Neven DuMont Medaille der Westdeutschen Akademie für Kommunikation
2007 »Stein im Brett« Preis des Berufsverbandes Deutscher Geowissenschaftler e.V. (BDG)
Premio Bancarella
2009 Elisabeth-Mann-Borgese-Meerespreis
2011 Deutscher Meerespreis
2021 Bayerischer Buchpreis: Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten
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Schätzings neuer großer Mittelalter-Roman
In seinem neuen epochalen Roman »Helden«, der den Weltbestseller »Tod und Teufel« kongenial fortsetzt, zeichnet Frank Schätzing das Bild einer abendländischen Gesellschaft im Umbruch. Vor dem Hintergrund gewaltiger Umwälzungen, in denen bereits die Renaissance und die Neuzeit aufscheinen, im ewigen Spannungsfeld von Macht und Moral, schickt Schätzing seinen Helden Jacop auf einen Höllenritt durch die Geschichte.
1263: Jacop der Fuchs steckt in Schwierigkeiten. Und zwar gewaltig, so wie vor drei Jahren, als er in eine Intrige Kölner Patrizier geriet und nur knapp dem Tod entging.
Danach hat sein Schicksal eine vielversprechende Wendung genommen. Er wurde ehrbar, vom Dieb zum Kaufmannslehrling. Doch wieder muss er um sein Leben laufen, kämpfen, schwimmen… gejagt von Geistern der Vergangenheit, schottischen Söldnern und der furchteinflößenden Blonden Hexe. Hineingeworfen in einen Sturm, der ganz Europa erfasst, ausgelöst durch englische Barone, die nichts Geringeres planen, als ihren König zu entmachten und die absolute Monarchie abzuschaffen.
Was ist schiefgegangen? Wäre Jacop bloß in Köln geblieben, bei seinen Freunden. Doch auch da spitzen sich die Machtkämpfe dramatisch zu…
»Helden« ist historisches Drama und atemberaubender Thriller. Ein dritter Band mit Abenteuern von Jacop dem Fuchs ist in Arbeit.
Widmung
Dramatis Personae
Prolog: 1238
Worringen
Juli 1263
Ärmelkanal
Drei Jahre vor dem Untergang der Maria Salome
Jaspar
Köln
Worringen
Köln
Worringen
Richmodis
Worringen
Mathias
Zwei Jahre vor dem Untergang der Maria Salome
Frankreich
Köln
Paris
Köln
Frankreich
Oktober
vor Troyes
Troyes
Juli 1263
Kentische Küste
Zwei Jahre vor dem Untergang der Maria Salome
Köln
Richmodis
Jacop
Hermann
Blumrich
Dietrich
Wilhelm
Dietrich
Herbst
Jaspar
England
Köln
Juli 1263
England, Kent
Muirgheal
Ein Jahr vor dem Untergang der Maria Salome
Everhard
Jaspar
Hermann
Everhard
Gerlach
Dietrich
Wilhelm
Everhard
Dietrich
Everhard
Wilhelm
Gerlach
Wilhelm
Gerlach
Wilhelm
Mai
Mathias
Jaspar
Mathias
Juli 1263
Dulwich
Southwark
Muirgheal
London
Ein Jahr vor dem Untergang der Maria Salome
London, Westminster Castle
Gildhalle
Die Royalisten
Die Reformer
Westminster Palace
Jacop
Ein Jahr vor dem Untergang der Maria Salome
Köln
Alarm!
Mathias
Jacop
Mathias
Jacop
Mathias
Jacop
Mathias
Nokturn
Recht und Schuld
Reisepläne
Tabula rasa
Juli 1263
Gildhalle
Muirgheal
Eleanor
Aufruhr
Eleanor
Jacop
Eleanor
Muirgheal
Devil’s Way
Der Konstabler
Jacop
Muirgheal
Acht Monate vor dem Untergang der Maria Salome
Paris
Juli 1263
Windsor Castle
Almain
Muirgheal
Frogmoor
Edward
Zehn Wochen vor dem Untergang der Maria Salome
Köln
Gereon
Sechs Wochen vor dem Untergang der Maria Salome
Brügge
Jacop
Jaspar
Nora
Juli 1263
Windsor Castle
Eleanor
Henry
Edward
Halbfrei
Acht Wochen vor dem Untergang der Maria Salome
Ijob
Juli 1263
Gottfried
Almain
Amaury
Der Wald
Amaury
Muirgheal
Heerlager
Rothenburg
Köln
Mare Ignotum
Der Himmel kein Himmel.
Anhang
Renaissance, umständehalber vorgezogen
Dank
Übersetzungen aus dem Französischen
Übersetzungen aus dem Lateinischen
Leseprobe aus "Tod und Teufel" von Frank Schätzing
11. September
Forum feni
Auf der Bach
Richmodis von Weiden
Für Rolf, meinen Vater Weil Du immer an mich geglaubt hast
Familie mit Fuchs
Jaspar Rodenkirchen
Physikus, Pleban, späterer Propst von St. Severin, gelehrt
Goddert von Weiden
Jaspars Schwager, Färber, gemütlich
Richmodis von Weiden
Godderts Tochter, Färberin, klug
Jacop der Fuchs
Dieb und Herumtreiber, jetzt ehrbar
Fürsten und Obere
Konrad von Hochstaden
Erzbischof, skrupellos, schlau
Engelbert von Falkenburg
Dompropst und späterer Erzbischof, weniger schlau
Hermann von Wittinghofen
Gesandter Engelberts
Anselm vom Buttermarkt
Bürgermeister
Patrizier
(auch: Edle, Geschlechter, Meliores) Kölner Oberschicht reicher Kaufleute, durch Erzbischof Konrad entmachtet, zu allem entschlossen
Johann Overstolz
Patriarch, würdevoll
Daniel Overstolz
Johanns Sohn, nichtsnutzig
Mathias Overstolz
Kopf der Kaufmannsvereinigung, berechnend
Gertrud Overstolz
Mathias’ Frau, sarkastisch
Winrich von der Alten Bärin
Patriarch
Gereon von der Alten Bärin
Winrichs Sohn, Finanzgenie, Aufsteiger
Richolf Kammergarn
Kontierer der Overstolzen, Absteiger
Gottfried Mommersloch
Warenprüfer, Feinschmecker
Gerhard von der Kornpforte
Patriarch
Hermann und Kunz Scherfgin
Kaufleute
Daniel und Giselher Jude
Kaufleute
Ulrich von der Salzgasse
Kaufmann
Rutger Brempt
Kaufmann
Kleingedank
Ritter, Kaufmann
Die Weisen von der Mühlengasse
alte Rivalen der Overstolzen
Schöffen
von Konrad eingesetztes Marionetten-Regime, Handwerker und kleine Händler, überwiegend korrupt
Hermann Sapiens, genannt der Fischer
ebendies: ein Fischer
Everhard von Burnheim
Gewürzhändler
Konrad Blume, genannt Blumrich
Weber
Wilhelm von der Huntgassen
Tuchhändler
Dietrich Beyn
Sattler
Gerlach Bracht
Weber
Henricus vom Berge
Tuchhändler
Bodo Schuif
Brauer
Gerhard von der Sandkulen
Fleischer
Die Worringer
Leupold und Mechthild am Spranger sowie Schwager Ott
Bauern, schlau
Gridt
Bäuerin, biestig
Jacops Familie
Bauern, tot
Sonstige
Bruno von Uden
Leibwächter von Mathias Overstolz
Vítek von Krumlova
böhmischer Graf
Adelgunde von Halitsch
ungarisch-böhmische Gräfin
Jan von Hrazany
Adelgundes Haushofmeister
Der Böhme
professioneller Spieler
Pfeffersack Kunibert
Pferdehändler, Spieler
Claude Wespiser
Gewürzgroßhändler
Adelinda Artemia
Joglaressa, Messerwerferin
Gottfried Hagen
Chronist, patrizierfreundlich
Die Royals
Henry III. Plantagenet
König von England
Eleanor de Provence
Königin von England
Edward Plantagenet
ältester Sohn des Königspaars, Thronfolger
Edmund Plantagenet
jüngerer Sohn des Königspaars, soll Sizilien bekommen
Richard von Cornwall
Henrys Bruder, römisch-deutscher König
Henry von Cornwall, genannt Almain
Richards Sohn
Nora de Montfort, geb. Plantagenet
Henrys Schwester, rebellisch, verheiratet mit Simon de Montfort
Royal loyal
John Mansel
Höfling, zieht für Henry die Fäden
Willard de Vere
Henrys Kämmerer
Amaury
normannischer Ritter, sehr loyal
Aymo de Thurumberd
Kastellan von Windsor Castle
Poitevins(Schmähname)
Henrys und Eleanors mal mehr, mal weniger loyale französische Höflinge
Lusignans, Henrys höfische Fraktion:
Guillaume de Valence
oberster Lusignan, Henrys Liebling
Savoyarden, Eleanors Fraktion:
Peter von Savoyen
Berater, Diplomat, schwerreich
Bonifatius von Savoyen
Erzbischof von Canterbury, gierig
Die Reformer der ersten Stunde
(Urheber der Provisions of Oxford)
Simon de Montfort
Earl of Leicester, Rebellenführer, Visionär, verheiratet mit Nora Plantagenet
Richard de Clare
Earl of Gloucester, mächtiger Marcher Lord, s.u.
Roger Bigod
Earl of Norfolk
Hugh Bigod
königlicher Berater, frustriert
Geoffrey Fitz Geoffrey
königlicher Justiziar, in Ungnade gefallen
Peter von Savoyen
Savoyarde, s.o.
Die Marcher Lords
Ritter und Barone aus den Welsh Marches, dem Grenzland zu Wales, mehr oder minder reformtreu
Roger de Clifford
Ritter und Gutsherr
Godric Wick, genannt Bulldogge
Cliffords Mann fürs Grobe
Roger of Leybourne
Ritter und Gutsherr
Richard de Clare
Earl of Gloucester, s.o.
Gilbert de Clare
Richard de Clares Sohn
Roger Mortimer of Wigmore
mächtig, wieder auf Henrys Seite
Isabella Mortimer
Roger Mortimers Tochter
Sonstige
Thomas Fitz-Thomas
Bürgermeister von London, Reformer
Arnold Ungefug
Aldermann der Kölner Gildhalle in London
Simon Stock
Prior von Aylesford, Reformer
Finje
Bierkutscher
Dugald Macruairi [duɡeld mac ˈruˌri]
König der Inseln, Kopf der Galloglass
Muirgheal, genannt Blonde Hexe [mir ˈɡæl]
Heerführerin der Galloglass
Nyx, Erebos, Moros, Ker, Thanatos, Apate
Muirgheals Luftwaffe
Llywelyn ap Gruffydd [leˈwɛlin ap ˈɡrifid]
Walisischer Freiheitskämpfer
Louis IX., genannt der Fromme
König von Frankreich
Marguerite de Provence
Königin Eleanors Schwester, Königin von Frankreich
Gilles de Châtillon
Agent der Overstolzen in Troyes
Urquhart von Monadhliath
Armbrustmörder, Nihilist, tot
Mergelin
Jacops Mutter, tot, aber gesprächig
Baal
Dämonenkönig, spinnenleibig
Guisfredo Lazzari
Reitender Bote
Michael Palaiologos
Byzantinischer Kaiser, weit weg
Der Junge lief durch die Felder nordwärts.
Sehr schnell kam ihm alles wieder vertraut vor. Konnte das sein? War er wirklich nicht weiter gelangt in der Nacht zuvor, als er sich klopfenden Herzens, nur mit einem Klumpen Brot als Proviant, aus der Hütte gestohlen hatte? Eine Nacht, fiebriger als die meisten Tage. Das Heer der Insekten bis Sonnenaufgang gezähmt, winzige Monde in nie blinzelnden Facettenaugen. Ein einziges Starren, so war es ihm vorgekommen. Die Welt überreif. Das Zittern der Ähren, Zittern der Fühler. Sein Herz eine berstende Frucht.
Geduckt hatte er sich die Hufe entlanggeschlichen, im Haar noch Halme vom Nachtlager, das frisch hätte aufgeschüttet werden müssen, gleich am Morgen – seine Aufgabe, doch dann würde er nicht mehr da sein. Auch das Haus würde nicht länger dort sein. Was man hinter sich ließ, verschwand. Hörte auf zu existieren. War es nicht so? Dafür die Stadt! Vergoldet von Erinnerungen an Isabella von England, die seine Liebe nie würde erwidern können – Jahre waren vergangen, seit er in Köln ihr Gesicht gesehen hatte, an der Hand seiner Mutter. Das Strahlen der einen, Lächeln der anderen. Liebe und Gnade im Überfluss. Kein größeres Glück hatte es geben können – kein größeres Unglück! Die Mutter tot, Isabella dem Kaiser anvermählt, an allen Orten zugleich und nirgends, doch ihre Stimme rief ihn, nie verstummend, und nun, da er älter wurde, zeigte sich ihm die Welt, wie sie war: das Städtische auf den Anfang, das Ländliche auf das Ende der Dinge gerichtet. Jeder Spatenstich, um Leben zu säen, ein Ausheben des Grabes.
Wie hätte er nicht weglaufen können?
Die Elemente schienen seine Flucht einmütig zu begünstigen. Der Mond wies ihm den Weg, über den Wäldern glühte der Himmel, als verweilte die Sonne dicht unter dem Horizont. Nach allen Seiten lauschend, hatte er sich davongemacht. Das Schnarchen des Vaters, leiser werdend. Der Gesang der Zikaden, die ihre Geschichten woben. In geheimen Sprachen wurden Anfang und Ende beschlossen. Als er das Bauernhaus nicht mehr sehen konnte, war er losgerannt, dem Wald entgegen. Schwarz und furchterregend. Dran vorbei. Unter den Bäumen hindurch wäre der Weg kürzer gewesen, doch bei Nacht empfahl es sich, Wälder zu meiden. Nichts Gutes widerfuhr einem dort. Geister und Bestien lauerten im Unterholz, die schlimmsten in Menschengestalt. Man wurde verschleppt oder gefressen oder beides. So war er über Wiesen und Brachen gelaufen, ohne Rast, bis die Seitenstiche ihren Tribut forderten.
Nur einen Moment, nur kurz verschnaufen.
Das kleine Herz festhalten.
Bienensummen. Verwirrung. Der Zauber der Nacht war verflogen, über ihm Gottes sengendes Auge.
Ungnädig schaute der Herr auf ihn herab und wollte wissen, wie er seinen Vater und seinen Bruder hatte alleinlassen können, da sie doch auch für ihn schufteten und nur gemeinschaftlich die Pacht für den Grundherrn aufbringen konnten. Erfüllung suchen in der Stadt? War ein Leben in Demut nicht Erfüllung genug? Nichts zu wollen, das war Gottes Wille! So sprach die Stimme, die bei genauem Hinhören eher die Stimme des Dorfpfarrers war, von dem man wusste, dass er zwischen Schweinen und Kuhdung den Bauerstöchtern nachstieg und auch sonst mannigfachen Lastern ergeben war, vom Trunk bis zum Glücksspiel, jedenfalls sah man ihn öfter in der Schänke vor Würfeln sitzen als vor dem gekreuzigten Heiland knien, und was das Kapitel Demut betraf, bescherte ihm seine Pfründe mehrmals im Monat Wein, gefüllten Kapaun und Braten.
Der Junge zögerte.
Dann trottete er – über sich eine Wolke schlechten Gewissens – zurück Richtung Worringen. Ziemlich schnell fand er den Pfad wieder, der zu den Hufen führte, und seine Enttäuschung schwoll an, weil er dachte, in der Nacht nicht sonderlich weit gekommen zu sein. Was sich als Irrtum erwies. Obschon er schneller und schneller lief, verstrich der halbe Nachmittag, bis er die Lücke in der Hecke fand, hinter der das Pachtland des Vaters begann. Traurig quetschte er sich hindurch. Es würde Prügel setzen, so viel war sicher. Na und? Wann setzte es keine Prügel? Ungewiss war immer nur, ob es ihn traf oder seinen Bruder. Sie steckten es weg. Irgendwann gäbe es Brei, an guten Tagen Obst und Gemüse. Sie würden wie gehabt die Schweine hüten, ernten, jäten und pflügen, auf den Feuchtwiesen Heu machen, die Saat ausbringen und unter Geschrei und Händeklatschen Steine nach den Krähen werfen.
Kein berauschendes Leben, aber ein Leben.
Sein Blick wanderte die Gewanne mit den abgesteckten Landstreifen entlang bis dorthin, wo das klumpige, kleine Bauernhaus hätte kleben müssen.
Doch seine Kindergedanken hatten es ausgelöscht.
War das möglich?
Was man hinter sich lässt, verschwindet. Hört auf zu existieren.
Das hatte er gedacht. Und genau so war es geschehen. Sein Zuhause existierte nicht mehr. Weil er es gedacht hatte.
Tatsächlich war es nicht wirklich verschwunden, sondern bis auf den Grund niedergebrannt. Auch waren es nicht seine vernichtenden Gedanken, die sich darüber ballten, sondern rußige Schwaden, in denen die Überreste von Strohlehm, Fachwerk und Reet trieben. Der Flechtzaun stand noch, Wohnhaus und Scheune waren ein Raub der Flammen geworden, ebenso die Hälfte der Ställe. Wie durch ein Wunder hatte der Arbeitskarren keinen Schaden genommen, während vom Heuwagen lediglich ein verkohltes Gerippe geblieben war.
Davor zwei Körper.
Er ging näher heran. Und sah – sah –
Du schwebst, also bist du ein Bote Gottes geworden, wenn auch dem Himmel ferner als der Hölle.
Nein, du stürzt!
Ein fallender Cherub.
Taumelnd und mit gebrochenen Schwingen.
Entlang schattendurchwirkten Strebewerks fährst du hinab in ein gotisches Abyssal, an dessen Grund zerschmettert ein Riese liegt, das Haar zum Teppich gebreitet, die Züge entstellt, doch die Augen unter den abgesengten Brauen leuchten wie Feuer in der Esse des Schmieds. Ein höhnisches Willkommen liegt auf seinen Lippen, als er dir im Sterben die Arme entgegenreckt, gepanzerte Klauen spreizt, denen immer noch genug Kraft innewohnt, um deinen Schädel zu umspannen und zu zerquetschen wie eine reife Frucht.
Du wirst mich niemals los! – Sein Flüstern von allen Seiten.
Fuchs?
Ich bin ein Teil von dir. Ich bin in dir. Ich bin in euch allen –
Jacop? He, Füchschen!
»Jacop.« Gereons Stimme. »Wach auf.«
Kein Sturz, kein höllischer Schlund. Sanft ging es abwärts. Ein Wellental.
»Das Feuer. Sie haben das Leuchtfeuer entzündet!«
Auf seiner Taurolle, in die Bugrundung geschmiegt, ließ Jacop den Blick einen Moment im jenseitigen Meer der Sterne ruhen, die ungewöhnlich klar und fast ohne zu funkeln am Firmament standen. Nein, kein Meer, korrigierte er sich. Planeten fixiert in Sphären. Einander umkapselnd, wie gelehrte Männer ihm eingetrichtert hatten, starrten sie herab auf die sublunare Welt der Verfehlungen. Das Himmlische und das Sublunare, dargelegt im Tractatus de Sphaera von Johannes de Sacrobosco, gütiger Gott! – Wie hatte es geschehen können, dass sich die Kerzen des Wissens in Jacops Kopf beim bloßen Anblick der Objekte von selbst entzündeten? Dass er alle diese Dinge behielt?
Wie viel Wissen passte da überhaupt noch rein?
Pah, Füchschen, würde Jaspar zwischen zwei Schlucken sagen, wir haben gerade erst angefangen.
Doch der Physikus war weit weg.
Jacop sprang auf die Beine. Der böse Traum wich, fuhr einem exorzierten Geist gleich ins Segel und blähte es, wie um mit baldiger Wiederkehr zu drohen.
Du wirst mich niemals los –
»Ich soll geschlafen haben?«
»Aber nein!« Gereon grinste. »Nur geschnarcht, dass mir bange war, jemand säge den Kiel entzwei. Was, Bruno?«
Der Kölner Leibgardist grunzte. Er war groß wie ein Berg und klang, wie ein Berg eben grunzen würde.
»Seid dankbar, ihr Affen. Ich schnarche, damit ihr beim Wacheschieben nicht einschlaft.«
»Ja, du bist auf dem besten Wege zur Heiligkeit«, spottete Gottfried. »Wer schnarcht, schläft. Wer schläft, sündigt nicht. Wer nicht sündigt –«
»– wird heilig«, nickt Gereon feierlich.
Sie prusteten los.
Jacop ließ sie feixen und beugte sich über die Reling. Sog die salzige Luft in sich auf, genoss die Kühle der Gischt auf der Haut. Es war eine jener magischen Nächte, wie man sie selten bei Überfahrten erlebte. Die See schmolz das Mondlicht, von Westen her drängten lang gezogene flache Wellen herein, Ausläufer eines Sturmes vielleicht, der dort wütete, wo die endlose Wasserwüste begann, der Weltozean mit seinen Höllenkreaturen und Gürteln aus Feuer und Eis. Voller schrecklicher Fährnisse, ohne den tröstenden Anblick von Land. Doch hier, im Strahlen der coelestia, sah Jacop das vertraute Stück Steilküste schimmern, an die sich im Osten Hythe schmiegte, einer der Häfen der Cinque Ports, von denen ungewiss war, ob sie noch der Gewalt Henrys, des englischen Königs, unterstanden oder schon von Montforts Rebellenhorden kontrolliert wurden.
Weshalb sie nicht in Hythe anzulegen gedachten.
Offiziell würden sie nirgendwo angelegt haben, wenn sie am kommenden Morgen in Dover Anker warfen. Die Montfortianer sollten glauben, die Maria Salome käme geradewegs vom Festland herbeigesegelt, eine reguläre, ganz und gar unverdächtige Handelsfahrt der geschätzten Kölner Kaufleute. Soweit bekannt, hielten die Rebellen Dover besetzt, um sicherzustellen, dass keine ausländischen Söldner auf dem Seeweg zur Unterstützung des Königs ins Land gelangten – den Warenverkehr würden sie kaum einschränken. Auch Aufständische liebten Rheinwein, zudem wusste Simon de Montfort bei aller Hoffärtigkeit, dass England ohne florierenden Handel mit dem Festland nicht lebensfähig war.
Ungewiss war, ob seine Männer ihren Wirkungskreis auf die weiter westlich gelegenen Häfen der Cinque Ports hatten ausweiten können, Hastings, Romney, Sandwich und Hythe. Vor Wochen, als Kölner Kaufleute mit Henrys Vertrauten in London jenes Geheimabkommen getroffen hatten, dem die Maria Salome ihre Mission verdankte, war bereits unleugbar gewesen, dass Montfort mit jedem Glockenschlag, den der König – geschwächt an Moral und Gesundheit – verschanzt im Tower hockte, dramatisch an Macht gewann. Wie groß sich der Einfluss des Barons zum jetzigen Zeitpunkt bemaß, ließ sich nur ahnen. Englische Seeleute waren, bevor die Maria Salome Rotterdam verlassen hatte, mit neuer Kunde eingetroffen, doch in der Vielfalt ihrer Darstellungen erschienen sie wenig verlässlich. Einige wollten gehört haben, Montfort sei von Canterburys Erzbischof Bonifatius, einem standhaften Royalisten, gefangen gesetzt worden, der dem Spuk damit ein Ende bereitet habe, andere berichteten, eben jener Bonifatius sei bei Nacht und Nebel vor den Rebellen nach Frankreich geflohen. Ihnen zufolge zog der abtrünnige Baron mit einem Heer Richtung Südwestküste, um die Cinque Ports geschlossen auf seine Seite zu bringen und Henry so vollständig vom Seeweg abzuschneiden.
Ein Herrscher ohne Flotte und Häfen war wie an Armen und Beinen gelähmt.
Doch wo immer der Rebellenbaron derzeit stand, in jedem Fall war es klug, die Zwischenlandung der Maria Salome, die niemals stattgefunden haben würde, nächtens abseits der Cinque Ports vorzunehmen –
»– also vorbei an Hythe und dann noch mal drei Seemeilen, bis Ihr eine doppeltürmige Burgruine auf einem Hügel erblickt«, hatte Willard de Vere, Henrys Kämmerer, Gereon erklärt. »Sehr hoch, nicht zu übersehen. Direkt davor wird die königliche Abordnung bereitstehen – sagen wir, zur zweiten Stunde nach Mitternacht?«
Gereon hatte zweiflerisch dreingeblickt.
»Oh, verstehe.« Willards Brauen waren in die Höhe gewandert. »Zu vage – Ihr rechnet in temporalen Stunden. In London sind alle Stunden schon gleich lang.«
»In Köln auch, stellt Euch vor«, hatte Gereon spitz versetzt. »Nur die allerdümmsten Mönche passen die Stundenlänge noch den Jahreszeiten an.«
Und Jacop – als Gereon ihm Tage später von dem Gespräch berichtet hatte – war versucht gewesen, sich mit einem »Das weiß doch jedes Kind« der Herablassung schuldig zu machen, dabei hatte er die meisten Jahre seines Lebens weder von gleich langen noch von ungleich langen Stunden noch überhaupt je etwas von Stunden gehört. Seiner Zeiteinteilung war mit Tagesanbruch, Mittagshunger, Einsetzen der Dunkelheit und Nacht gedient gewesen, hinreichend für jemanden, der als Gaukler und Dieb die Märkte unsicher gemacht hatte.
»Worauf ich hinauswill«, hatte Gereon zu Willard gesagt, »ist der Landeplatz. Wo legen wir an?«
»Wir könnten Boote rausschicken.«
»Wir können die Ritter auch gleich ins Meer werfen. Ihr wollt fünfzig kettengepanzerte Männer nicht auf hoher See in Boote umsteigen sehen.«
»Vrai aussi. Bauen wir einen Landungssteg.«
Gereon war skeptisch geblieben.
»Sind die Küstengewässer dort nicht sehr flach? Das müsste ein recht langer Steg sein.«
»Macht Euch keine Sorgen. Wir bauen ihn weit genug ins Meer hinein, dass eine Kogge vor Anker gehen kann, ohne aufzusitzen.«
»Aha. Und das soll unbemerkt bleiben?«
»Verehrter Freund.« Willard hatte sich zurückgelehnt und sein kultiviertestes Lächeln aufgesetzt. »Wir sind Engländer. Wir lieben es, Piers zu bauen! Man wird uns noch einmal rühmen für unsere Piers! In einer einzigen Nacht bauen wir einen auf und sofort wieder ab.«
»Wenn Ihr es sagt.«
»Seid versichert. Und ich werde ja mit Euch an Bord sein. Wir halten uns einfach ans Leuchtfeuer.«
»Ein Leuchtfeuer? Ist das nicht zu riskant?«
»Desperate Gegend, niemand wird etwas bemerken. Riskanter wäre, keines zu entzünden.«
Der unterseeischen Felsen wegen, hatte Willard hinzugefügt. Tückisch und schroff, doch das Feuer würde sie leiten.
Und da war es.
Ein heller Schein, verwaschen in einer Nebelbank.
Auch der Kapitän auf dem Achterkastell sah es. Augenblicklich gab er Handzeichen, die Lautstärke zu dämpfen. Überall konnten sich Rebellen herumtreiben. Keine Fackel, kein Kienspan brannte an Bord. Dunkel wie die See selbst glitt das Schiff dahin. Befehle wurden gezischt statt geschrien, wie sonst üblich auf einer achtzig Fuß langen Kogge, wenn man im Sturm sein eigenes Wort nicht verstand und krachend die Seen über den Bug kamen. Doch diese Nacht war ruhig, fast wie verzaubert, die Mannschaft aufeinander eingeschworen. Nur die Erfahrensten hatten sie für die Mission rekrutiert. Lautlos wie Geister holten und fierten sie die Brassen, und die Rah mit dem schweren Segel begann sich langsam zu drehen. Ein Ächzen durchlief den Rumpf, als der Rudergänger das Blatt sechs Strich backbord legte. Die Maria Salome segelte nun vor dem Wind und hielt geradewegs auf das Leuchtfeuer zu.
Jacop fixierte das makellose Rund am Himmel.
Und du, dachte er, kalt und prachtvoll in deiner lunaren Sphäre, bist ein Verräter.
Der Vollmond versilberte die Nacht. Und gab das Schiff der Entdeckung preis. Wer hoch genug auf den Klippen stand und über den Nebel hinweg nach Westen blickte, würde sie sehen können auf dem lichtgefluteten Meer – und plötzlich erfasste ihn Unbehagen, einen Herzschlag davon entfernt, in Erkenntnis umgesetzt zu werden –
»Mes chers amis.« Willard trat zu ihnen, Amaury im Gefolge, ein nach England immigrierter normannischer Ritter, der dem Kämmerer nicht von der Seite wich. Wie viele andere verdankte Amaury seinen Aufstieg Henrys Faible für alles Kontinentale. »Nous avons presque fini.« Obwohl in Suffolk geboren, ornamentierte Willard seine Rede gern mit höfischem Französisch. »Alles ist vorbereitet.«
»L’heure où le vent tourne«, antwortete Gereon geschliffen. Die Stunde, in der sich das Blatt wendet.
»Ja.« Willard seufzte. »Wäre es nur schon so weit. Am Ziel und doch nicht am Ziel. Dann muss es glücken, die kostbare Fracht in den Tower zu schaffen.«
Kostbare Fracht?
Seltsame Umschreibung für das, was da im Laderaum hockte, fand Jacop. Denn sie sprachen Englisch und Französisch – und er verstand jedes Wort.
»Französisch ist die Sprache des Hofes«, hatte Jaspar ihm eingeschärft. »Auch im Englandhandel unerlässlich, sofern du nicht bis an dein Lebensende anderer Leute Fässer schleppen willst. Lern Englisch und mach’s dir einfach. Lerne Französisch und läute die Glocken der Welt.«
»Warum sprechen Engländer überhaupt Französisch?«
»Presentia ex preteritis.«
»Könnten wir fürs Erste bei Französisch bleiben?«
»Weil Wilhelm der Eroberer, als er sich vor zweihundert Jahren zum englischen König krönen ließ, den gesamten einheimischen Adel gegen Franzosen austauschte.«
»Was war an denen so viel besser?«
»Nichts. Sie zogen die eleganteren Schleimspuren.«
»Das ist eklig.«
»Das ist Politik. Allez, renard! Mein Französisch ist lausig, verglichen mit meinem Latein, und das ist ebenfalls lausig. Dem Redner gehört die Zukunft. Studiere Sprachen, hörst du? Klüger als ich kannst du in diesem Leben zwar nicht mehr werden, immerhin aber in einigem besser.«
Inzwischen sprach Jacop ebenso fließend Französisch wie Gereon, und der parlierte, als wäre er ein waschechter chevalier. Nachdenklich sah er zu, wie das Leuchtfeuer den Nebel aufhellte. An seinem Englisch würde er arbeiten müssen. Es war nicht schlecht, aber grob. De facto die leichtere Sprache, doch konnte er schwerlich alles zugleich lernen, auch wenn Jaspar wild entschlossen schien, ihn einmal quer durch die Scholastik zu zerren.
Zumindest war er entschlossen gewesen.
Mittlerweile hatte der Physikus seinen Lehrplan den unbestreitbaren Grenzen menschlichen Auffassungsvermögens angepasst. Und auch in Jacop mehrten sich Zweifel, ob der Erwerb so viel Wissens nicht einen zu hohen Preis forderte. Seine Gedanken wanderten zu einem Kölner Färberhaus – er fing sie ein und verstaute sie zur späteren Betrachtung. Kaum der Moment, über Richmodis von Weiden nachzudenken. Zwischen Meeresglitzern und Sternenflut erstreckte sich das Land schwarz als Zone völliger Auslöschung, ungeschaffener Raum, gebettet auf Nebeldaunen. Einzig im Leuchtfeuer machten sich Gottes Geschöpfe bemerkbar. Er sah den Lotgänger auf dem Bugspriet hängen und das Blei einholen, den Kapitän heraneilen.
»Tiefe?«
Der Mann nahm Maß. »Zwölf Faden.«
»Weitermachen – was zum Teufel –?«
Der Ladeluke entstieg unmelodisches Grölen.
»Jesus und alle Heiligen.« Gottfried rollte die Augen. »Können diese Ritter denn nur mit dem Schwert denken?«
Da der dicke Warenprüfer keine Anstalten machte, die Sache weiterzuverfolgen, sah Jacop sich aufgefordert, unten für Ruhe zu sorgen. Für solcherlei war er da. Mochte ihn mit Gottfried und Gereon auch eine Freundschaft verbinden, so standen die beiden als Abkömmlinge Kölner Kaufmannsfamilien doch weit über ihm. Es würde Jahre dauern, bis sie ihn als ihresgleichen ansahen, er aus eigener Kraft zu Wohlstand gelangt wäre, vorzugsweise im Überseehandel, da Europas Höfe nach Exotischem gierten. In Augenblicken wie diesen war Jacop, wiewohl für seine Schläue geschätzt und für sein Mundwerk beliebt, jedermanns Handlanger und in der Pflicht, zu regeln, was Höhergeborene unter ihrer Würde erachteten.
Ergeben kletterte er die Stiege hinunter.
Im dunklen Bauch der Maria Salome herrschten ungute Gerüche. Klammes Tuch und Schimmel wetteiferten mit Ausdünstungen von Schweiß und Üblerem, das Körperöffnungen entwich. Die Kogge ging schwanger mit zweiundfünfzig rheinischen Rittern in Kettenhemden, die sich erleichterten, wo immer gerade niemand saß, ihren Urin mit Rattenpisse mischten, und ihre Knappen taten es ihnen gleich. Zusammen waren weit über hundert Menschen auf die Planken gepfercht, zusätzlich beengt durch Rollen von Tau und Leinwand sowie Dutzende Weinfässer und Käfige mit lebenden Fasanen – in ihrer Funktion als Handelsschiff sollte die Maria Salome, wenn sie später Dover anfuhr, tunlichst auch etwas zum Handeln mitführen. Ungeachtet der Nachtkühle war es stickig und heiß. Knarrend rieben die Planken aneinander, verschiedentlich wurde geschnarcht.
Einer sang. Oder tat, was er für Singen hielt.
Jacop räusperte sich.
»Dürfte ich die Herren nun bitten, die Trinklieder einzustellen? Wir nähern uns der Küste.«
»Das ist Minne, du Kotzenschalk«, scholl es ihm entgegen.
Hurenknecht, aha. Jacop hatte schon Schlimmeres über sich sagen hören.
»Es mag Minne sein –«
»Es ist Walther von der Vogelweide, du Narr. Du Esel.«
»So? Für mich klang es wie Saufgesang.« Einige lachten. »Wie auch immer, am Ende –«
»Was nimmst du dir raus, Tölpel?«
»– wird es noch Euer Grabgesang sein. Wollt Ihr etwa, dass uns die Rebellen hören?«
»Aas! Stinkender Troll! Warte, bis ich dir –«
»Er hat recht, Herr Godewin«, sagte der nächstsitzende Ritter gleichmütig. An seiner Stimme erkannte Jacop den zweiten Heerführer. »Lasst Nachsicht walten.«
»Nein. Ich wurde beleidigt, Herr Kleingedank. Aufs Übelste. Ich bin ein hochwohlgeborener –«
»Dann haltet Eure hochwohlgeborene Fresse.«
»Wie? Was? Das zahlt Ihr mir! Mit Blut, Kleingedank! Ich bin der Oberbefehlshaber dieser –«
»Und ich Eure rechte Hand. Was wollt Ihr tun? Eure Hand abschlagen?«
»Ich werde –«
Die Maria Salome schlingerte. Mehr ein freundliches Wiegen, doch es förderte die Gründe für Herrn Godewins Streitsucht zutage. In reichem Schwall erbrach er Wein und Wildbret zwischen seine Füße und verstummte.
»Besten Dank«, sagte Jacop und stieg zurück an Deck.
»Haben sie aufgehört?«, fragte Gottfried.
»Hörst du noch was?«
»– gelingen«, sagte Willard gerade. »Und Seine Gnaden König Henry wird Euren Patriotismus mehr als zu schätzen wissen. Er wird –«
»Bei aller Freundschaft, Willard«, Gereon schüttelte den Kopf, »wir sind keine Engländer.«
»Ich sprach nicht von englischem Patriotismus.«
»Das verstehe, wer will«, knurrte Gottfried.
»Daran gibt es wenig zu verstehen«, erwiderte Willard. »Ihr tut, was Ihr tut, nicht für uns.«
»Für wen dann?«, knurrte Bruno. »Die Montfortianer?«
Amaury verzog die Lippen und schwieg.
»Mais non, Ihr tut es für Euch und Euer Land«, sagte Willard. »Indem wir einander nützen, sind wir Patrioten. Würden wir einander hassen, wären wir Idioten. Es wäre zum gegenseitigen Schaden.« Er hielt kurz inne. »So wie Simon alle hasst, die keine Engländer sind. Dabei ist er selber nicht mal ein richtiger Engländer.«
»Wie gut kennt Ihr Simon de Montfort eigentlich?«, ließ Gottfried seiner Neugierde Lauf. »Also ganz im Privaten.«
»Gut genug, mon ami.«
»Etwas Persönliches?«
Willard sah ihn an. »Wenn jemand meinen König bekämpft, ist das etwas Persönliches.«
»Zehn Faden«, vermeldete der Lotgänger.
»Und? Seht Ihr ihn schon?« Der Engländer lächelte selbstzufrieden. »Unseren Pier?«
Gereon zögerte. Kniff die Augen zusammen.
»Ich bin mir nicht sicher –«
Doch, dachte Jacop, da ist etwas. Eine künstliche Struktur im Dunst, vom selben stumpfen Schwarz wie die Landmasse dahinter. Silhouetten. Fackeln.
»Neuneinhalb Faden.«
Und plötzlich wusste er, was seinen Argwohn erregt hatte. Es stand ihm vor Augen, nicht zu missdeuten, weil es schlicht das war, was er sah – was alle in diesem Moment sahen. Und womöglich gab er sich der Lächerlichkeit preis, seine Gefährten würden die Köpfe schütteln, da die Mission doch bis ins Kleinste durchgeplant war und alle längst wussten, was er als Einziger nicht mitbekommen hatte – doch die Frage steckte ihm wie eine Gräte in der Kehle, und bevor er dran erstickte, spie er sie aus:
»Warum hier?«
»Weißt du doch«, sagte Gereon, der gebannt an einem Fingernagel kaute. »Weil wir die Häfen meiden –«
»Nein.« Jacop heftete den Blick auf Willard. »Ihr hattet gesagt, Ihr baut den Pier direkt vor die Burgruine.«
Der Engländer furchte die Stirn, zwinkerte konsterniert.
»Man sieht sie nicht wegen des Nebels.«
»Doch, wenn es diese ist.« Jacop zeigte nach Osten. Hunderte Yards weiter ragten die Zinnen zweier Türme so eben aus der Nebelbank.
»Nun – ein strategisches déplacement? Sie werden ihre Gründe gehabt haben. So genau hatte ich das nicht –«
»Doch, hattet Ihr«, versetzte Gereon scharf.
Bruno trat einen Schritt vor. »Ist hier was faul?«
Amaury stellte sich ihm den Weg.
»Mes amis, s’il vous plaît.« Willard hob beide Hände. »Freunde sollten nicht streiten. Ein Feuer brennt dort, wie vereinbart.«
»Nicht ganz dort, wo es brennen sollte«, sagte Gereon.
Sie starrten einander an.
Starrten immer noch, als der Lotgänger auf dem Bugspriet herumfuhr, dass es ihn beinahe den Halt kostete.
»Keine zwei Faden mehr! Keine zwei Faden!«
Er flüsterte nicht länger.
Jetzt schrie er.
Sein Schrei fuhr durch die Gehörgänge des Kapitäns in dessen Hirnkammern, wo sein spiritus animalis Sinn und Dramatik erfasste und das Vernommene in eine gebrüllte Order gen Achterkastell umsetzte –
»Hart steuerbord!«
– welche Planken und Takelung passierte, den Steuermann auf dem Oberdeck erreichte und ihn veranlasste, seinerseits den Rudergänger im darunterliegenden Steuerstand anzubrüllen, der sich mit seinem ganzen Körpergewicht, unterstützt von Seilzügen, gegen die Pinne stemmte und das Blatt herumdrückte, jeden Muskel gespannt –
Es reichte nicht.
Noch im Verlauf des Manövers bohrte sich eine Phalanx scharfkantiger Felsen, die nur hier bis dicht unter die Wasseroberfläche reichten, in die Bordwand, zersplitterte Außenhaut und Spanten, brach Klammern und Nägel aus ihren Betten, fraß sich durch die Innenbeplankung und riss die Maria Salome oberhalb des Kielbalkens auf wie eine mürbe Tierhaut.
Ein Beben durchlief das Deck.
Es war nicht sonderlich stark, mehr, als hätte ein Schüttelfrost das Schiff gepackt. Brunos Hünengestalt geriet ins Wanken und fing sich, Gereons Rechte fuhr reflexartig zur Reling. Jeder suchte instinktiv seinen Schwerpunkt zu stabilisieren, während das Zittern spukhaft in Richtung Heck wanderte, begleitet von einem hohlen, kakophonischen Krachen, das aus der offenen Luke drang und sich unter ihren Füßen fortpflanzte. Nur einmal hatte Jacop ein ähnlich angsteinflößendes Geräusch gehört – angsteinflößend der innewohnenden Verheißung des Todes wegen: das Schnappen einer Einhand-Armbrust im Moment, als der Bolzen die Sehne verließ.
Du wirst mich niemals los –
»Mein Gott.« Gereon war totenbleich geworden, starrte ihn an. »Die Ritter.«
Eben noch eine dahindämmernde Streitmacht, jetzt ein Haufen Kopfloser, Gottes Antlitz entzogen.
In den Limbus geworfen.
Wild schäumend und brüllend verschaffte sich die See Einlass, schleuderte Plankentrümmer und eiserne Bolzen umher, trieb Holzspäne spitz wie Dolche in Körperteile, die nicht von Ketten geschützt waren, wütete in der Lichtlosigkeit, da das Wasser die einzige Kerze sofort löschte und die Versammlung in stygische Finsternis stürzte.
Geheul erhob sich.
Ritter Godewin blieb stumm – der Fels war unmittelbar neben ihm durch die Wegerung gebrochen, hatte ihm Rippen und Rückgrat zertrümmert, ihn wie einen Lumpen herumgewirbelt und auf Ritter Kleingedank abgeladen, der zwar blitzartig begriff, was da vor sich ging, jedoch unter Godewins Leib begraben nicht von der Bordwand wegkam. Auch er hörte Knochen brechen, erkannte in einem Anflug von Distanziertheit, dass es seine eigenen waren, stemmte den Leichnam mit aller Kraft beiseite und warf sich in die Mitte des Raums, während die granitenen Zähne ihr Zerstörungswerk achteraus fortsetzten, Körper ineinanderschoben, Gliedmaßen zerquetschten und Panzerungen knackten. Mehr Rittern gelang es nun, der steinernen Fräse zu entkommen, wobei sie auf die Liegenden trampelten und mit denen zusammenstießen, die bereits auf den Beinen waren. Als Folge rissen die meisten einander gleich wieder zu Boden, kaum dass sie standen. Nach dem ersten Schock hielt die Erkenntnis Einzug, dass sie hier drin elendiglich ersaufen würden, also strebte nun alles zur Stiege. Orientierungslos in der Dunkelheit, wirbelndes Wasser um die Knöchel, sahen sie die Gestürzten nicht und traten sie zu Tode, rempelten und fluchten, vergaßen die Würde ihres Standes und ihre im Heck verstauten Lanzen, abgelegten Schwerter und Topfhelme, und wer seine Kopfbedeckung noch trug, war hinter den fingerbreiten Sichtschlitzen so gut wie blind.
»Ruhe, bewahrt Ruhe!«, versuchte Kleingedank sich gegen das Chaos durchzusetzen. »Einer nach dem –«
Er wurde niedergeschrien.
Die Streitmacht wälzte sich der Stiege entgegen und versuchte, durch die sechs Fuß breite Luke aufs Deck zu gelangen.
Alle zugleich.
Währenddessen verlangsamte die Maria Salome ihre Geschwindigkeit, gebremst vom Fels, der sie aufschnitt, schaffte es jedoch fast über die Formation hinweg, bevor sie an einer einzelnen Klippe hängen blieb und sich unter Quietschen, Kreischen und Jaulen zur Seite neigte.
Diesmal gingen sie in die Knie.
Jacop sah Willard taumeln und gegen Amaury fallen, der auf dem feuchten Deck ausglitt und der Länge nach hinschlug. Brunos Pranken umspannten die Querversteifung, hinter der Jacop vorhin noch geträumt hatte, Gottfried und Gereon klammerten sich aneinander fest. Umherrudernd rang er ums Gleichgewicht, schlitterte an den Rand der Luke und fing sich im letzten Moment.
Hörte den Tumult.
Gleich würde hier oben der Teufel los sein, so viel stand fest.
Blickte sich um.
Der Lotgänger war verschwunden, wohl in die Wellen gestürzt, der Kapitän von den Füßen gehebelt und gegen die Reling geschleudert worden. Mittschiffs rappelten sich die zum Brassen eingeteilten Seeleute auf. Ein Geschrei wie aus dem Purgatorium schlug Jacop entgegen. In der Luke erschienen verzerrte Gesichter, eingefasst von Kettenhauben, hier und da ein Helm. Schultern und Oberkörper klirrten aneinander, Eisenzeug scheuerte an Waffenröcken, die vornehme Meute staute sich wie in einem Flaschenhals – dann sprang der Erste an Deck und stieß Jacop achtlos beiseite.
»Nach hinten!«, schrie Gereon.
Er rannte in Richtung Kabinen, die dem Achterkastell vorgebaut waren, während mehr Ritter und zunehmend auch Knappen dem Frachtraum entwichen. Das Deck füllte sich, jemand boxte Jacop ins Kreuz – es empfahl sich, das Feld zu räumen, doch eine Erscheinung bannte ihn auf die Stelle.
Was war das?
Willard trat neben ihn. Starrte hinaus.
Im blassen Leuchten der Nebelbank nahm etwas Gestalt an.
Dunkel und groß.
»He, ihr!« Gottfried, auf Gereons Fersen, schwenkte die Arme. »Steht nicht rum! Wollt ihr da anwachsen? Kommt!«
Wozu, dachte Jacop. Was glaubst du denn, wovor deine Kabine dich schützt, wenn erst genug Wasser eingedrungen ist? Noch schien das Felsmassiv, dem sie ihre missliche Lage verdankten, die Maria Salome halbwegs zu stabilisieren, doch sehr bald würden Druck und Verformungskräfte überhandnehmen und die Wellen das Ihre beitragen. Die Hülle würde weiter aufreißen, das Wasser mit vermehrter Kraft einschießen, die Maria Salome auseinanderbrechen und auf den Grund des Kanals sinken.
Er musste etwas Sinnvolles tun.
Doch er konnte den Blick nicht von der Erscheinung lösen.
Auch die Ritter, die es nach draußen geschafft hatten, sahen sie. Einige verharrten, blickten unsicher zur Nebelbank, während der Kapitän und zwei seiner Leute in den Frachtraum zu gelangen versuchten, wohl um nachzusehen, ob sich dort mittels Kalfat und dem Beistand gnädig gestimmter Heiliger etwas zum Besseren wenden ließe.
Hatte Willard nicht gestern erzählt, er habe Felix von Burgund, seinem Schutzpatron, vier Pence für eine sichere Überfahrt geopfert?
Doch der heilige Felix schien sich unverrichteter Dinge mit dem Geld aus dem Staub gemacht zu haben.
An Deck wurde es eng.
Immer noch hörte man Trampeln und Klirren, überlagert von Flüchen und dem Schreien der Verwundeten. Die Ritter hatten sich – nachdem Herrn Kleingedanks ordnende Rufe endlich Wirkung zeigten – ihrer Tugenden erinnert und halfen einander und ihrem Gefolge die Stiege hoch, derweil im brodelnden Wasser die Toten trieben.
»Ein Schiff!«, schrie einer.
»Wo?«
»Da! Sie kommen zur Rettung!«
Allein der Worte halber brach Jubel los – und dann glitt tatsächlich ein mächtiges Schiff aus der Nebelbank ins Vollmondlicht, Rumpf und Segel schwarz wie das Land hinter den Schwaden und größer als alles, was Jacop je hatte schwimmen sehen.
»Eben rechtzeitig«, murmelte er, obschon ihm eher ein auch das noch von den Lippen wollte.
Der Engländer antwortete nicht sogleich.
Jacop starrte ihn an, in seinen Befürchtungen bestätigt. »Was?«
Willard trat einen Schritt zurück, noch einen, bis ihm die Reling Einhalt gebot.
»Das sind nicht wir –«, sagte er tonlos.
Das Schiff kam rasch näher. Striche und Punkte lösten sich aus seiner Mitte, zogen aufblitzend wie kleine Kometen ihre Bahnen über die See, geradewegs auf die Maria Salome zu, die Luft pfiff und sang –
»– das ist die Deamhan.«
Der Mann vor ihnen stieß einen Schrei aus, der abrupt endete, als würde er ihm aus dem Mund gerissen. Wie von Geisterhand wurde er von den Füßen gehoben und prallte hart gegen Willard. Ein Schaft ragte aus seiner Brust, nicht Pfeil, nicht Lanze. Henrys Gesandter verlor den Halt und kippte rücklings über das Dollbord, während weitere Geschosse auf die Männer niedergingen, Kettenpanzer durchschlugen, Helme spalteten, gleich zwei von ihnen auf einmal durchbohrten. Jacop wirbelte herum, erwischte keine Sekunde zu spät Willards Beine und hielt sie umklammert.
Mangel an Armen, dachte er. Nicht klug von Gott, uns nur zwei zu geben. Vier wären besser.
»Das Go– Go–«
Kopfüber hing Willard an der Bordwand, bog seinen Oberkörper hoch, reckte die Hände, schrie diese immer gleichen zwei Wörter, kaum zu verstehen im Tumult. Jacop, nicht eben mit der Körperkraft eines Samson gesegnet, zog und zog, die Füße gegen die Reling gestemmt. Willard bekam das Dollbord zu fassen, krallte sich fest und plumpste an Deck.
»Das Gold«, keuchte er.
»Welches Gold?«
Neues Verderben nahte, eiserne Kugeln flogen heran. An Bord regierte jetzt blanke Panik. Ihres obersten Führers beraubt, da Herr Godewin ein unrühmlich frühes Ende gefunden hatte, rannten die Ritter plan- und ziellos umher. Manche versuchten, zurück in den Laderaum zu gelangen, den der Kapitän und seine Männer im Begriff standen zu verlassen. Hinein ins Gemenge schlug eine der Kugeln, platzte auf und verspritzte Feuer und Glut.
»Gereon hat es.« Willard schüttelte ihn. »Il l’a dans sa cabine.«
»Hat was?«, stammelte Jacop wie gelähmt.
»Das Gold!«
Die kostbare Fracht –
Ein Mann taumelte heran. Entsetzt sah Jacop seine fruchtlosen Versuche, die Flammen auszuschlagen, die ihm an Armen und Beinen emporzüngelten, während die Luft erneut zu singen begann. Willard riss Jacop zur Seite, bevor der Brennende ihn über den Haufen rennen konnte.
»Allez, mon ami!« Stieß ihn ins Getümmel. »Pas de temps à perdre. Wir müssen es in Sicherheit bringen.«
Unterdessen hatten sich die Ritter hinter der Reling verschanzt, andere scharten sich um den Mast und unter das Segel. Ein Trupp Beherzter stürmte die Stiegen hoch zum Gefechtsstand auf dem Achterkastell, die erste sinnstiftende Maßnahme. Augenscheinlich konzentrierte sich der Beschuss auf das Vorschiff, wo Knappen unter Einsatz ihres Lebens bemüht waren, das Waffenarsenal ihrer Herren aus dem zulaufenden Wrack nach draußen zu schaffen.
Zwei Feuerkugeln setzten ihren Bestrebungen ein Ende.
Jacop sah das andere Schiff – wie hatte Willard es noch genannt, Deamhan? – rasch näher kommen. Sein Denken klarte auf, die Lähmung wich aus seinen Gliedern. An Willard vorbei drängte er sich nach achtern, wand sich zwischen den Rittern hindurch, denen so langsam dämmerte, dass sie ohne Lanzen und Schwerter, Schilde und Helme quasi nackt und alles andere als schlachtentauglich waren. Manche glotzten betrübt an sich herunter, andere wanden sich jammernd auf den Planken oder lagen betend da, manche waren mausetot. Jacop übersprang den hingestreckten Körper eines Edelmanns, dem ein Bolzen den Kopf von den Schultern gerissen hatte, hörte Willard in der Blutpfütze ausrutschen und unhöfische englische Flüche ausstoßen, marschierte an Bruno und Amaury vorbei zur Backbordkabine und schaute hinein.
Fast traulich kauerten seine Freunde auf Gereons Bett. An Seilen hängend, stand es wegen der Schieflage der Maria Salome in kühnem Winkel zur Raumgeometrie, fast als wollten die beiden darauf himmelwärts aus der Kabine fliegen.
»Gott sei gepriesen, du lebst«, stieß Gottfried hervor. »Bleib, das ist der sicherste Ort.«
»Das ist er ganz bestimmt nicht«, versetzte Willard, der hinzutrat und sich nach allen Seiten umschaute. »Wo –«
»Aber sie beschießen das Vorschiff! Sie haben es auf die Streitmacht abgesehen, Willard, sie wissen genau, durch welches Nadelöhr unsere tapferen –«
»Tapfer wie Hühner, wenn der Fuchs naht.«
»Ach ja?« Gereon rutschte sichtlich erbost von seiner Pritsche. »Und warum wohl? Wo ist denn Euer famoses Empfangskomitee? Wir sind Engländer, wir lieben es, Piers zu bauen! Wir scheißen die Piers nur so ins Meer –«
Bruno steckte den Kopf hinein, die Augen weit aufgerissen.
»Festhalten!«, brüllte er.
Jacop quetschte sich an ihm vorbei nach draußen, wo die eben noch hinter die Reling geduckten Ritter wie aufgestörte Hasen zur gegenüberliegenden Seite flohen. Einige glitten auf dem abschüssigen Deck aus, purzelten den anderen zwischen die Beine und brachten sie zu Fall. Jacop erschauderte. Nicht mehr die schwarzsilberne See nahm den Großteil seines Blickfelds ein, sondern das, was dort kam und keinerlei Anzeichen erkennen ließ, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Ganz im Gegenteil schien die Deamhan beständig Fahrt zuzulegen. Unter vollem Wind, mit prall geblähtem Segel, schob sie sich heran, wirkte umso bedrohlicher, als an Bord niemand zu sehen war, ein Totenschiff, gesteuert von teuflischen Mächten –
Teufel steuern keine Schiffe, würde Jaspar sagen. Benutz deinen eingelegten Hering von Verstand!
Nein, dachte Jacop, ihr seid alle dort.
Nur nicht zu sehen.
Ihr hockt, haltet euch fest, wappnet euch –
»– für den Aufprall«, flüsterte er.
Der herannahende Bug schimmerte, wie nun zu erkennen war, von eisernen Beschlägen, um Planken und Vordersteven zu verstärken. Darüber ein Kastell, dessen Zentrum eine Apparatur entwuchs, zylindrisch, gebogen, mündend in eine Art Schnabel oder Maul. Wie eine zustoßende Schlange thronte sie dort, kalt und rätselhaft. Nichts vermochte die Kollision noch zu verhindern, der Eisenbug wuchs über Jacop in den Himmel, das feindliche Segel löschte Mond und Sterne aus, auf dem schmalen Grat zwischen Angst und Faszination verharrte er und hielt den Atem an –
Mit ohrenbetäubendem Krachen bohrte sich die Deamhan in die ungeschützte Flanke der Maria Salome.
Sie knackte die Außenhülle wie eine Nussschale, zersplitterte die Reling und fraß sich in die Deckbeplankung, Teile der Takelage mit sich reißend. Holz spritzte nach allen Seiten hinweg, rostige Klammern und Nägel sausten durch die Luft. Jacop wurde von den Füßen gehebelt, überschlug sich und prallte gegen ein vertäutes Wasserfass, das sich losriss und in wilden Sprüngen nach Backbord strebte, wobei es einen Ritter, der nicht rechtzeitig zur Seite fand, aus dem Weg drosch und einen weiteren so gegen die Brust traf, dass er über Bord ging. Unerbittlich wurde die Maria Salome gegen die unterseeischen Felsen gedrückt, an denen sie festhing. Sie kämpfte, versuchte standzuhalten. Ihr geschundener Leib sandte Signale des Protests in die Nacht, wimmerte und ächzte – dann war aus dem Laderaum eine rasche Folge endgültigen Berstens zu hören, als platzten dort große hölzerne Nähte.
Auf dem Oberdeck hingen die Ritter in der Reling und klammerten sich an die Spaken der Seilwinde.
Willard taumelte aus Gereons Kabine, an der Stirn blutend.
Stille trat ein.
Jacop hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie anhielt. Einen Herzschlag, eine Ewigkeit. Die Männer rappelten sich auf. Tasteten nach ihren Schwertern, und nicht alle waren gänzlich unbewaffnet. Hände fuhren hoch, um Helme zurechtzurücken, vorhandene und vergessene. Plötzlich erschien Jacop die Streitmacht gar nicht mehr so wehrlos – diese Leute hatten gelernt, sich notfalls mit bloßen Händen zu verteidigen, außerdem war es eine Sache, ein Schiff aus der Ferne zu beschießen, eine andere, im Kampf Mann gegen Mann zu bestehen. Auf dem Achterkastell jedenfalls waren die Wehrhaftesten versammelt. Da außer Frage stand, dass die Maria Salome demnächst sinken und der Feind jeden Augenblick über sie kommen würde, durchlief eine Welle der Entschlossenheit die Kämpfer. Bruno reckte seinen Riesenleib, die Rechte auf dem Schwertgriff, Amaury half Gottfried nach draußen. Gereon folgte beiden, eine ausladende Ledertasche geschultert.
»Kommt schon, ihr Hurensöhne!«, schrie Herr Kleingedank, der sich gekrümmt die Seite hielt. »Lasst euch zu Hack verarbeiten. Geht euch der Arsch auf Grund? Wir pissen auf euch! Wir nehmen euer Schiff und schänden eure Mütter und Frauen, häuten eure Kinder, hängen alle an die Bäume, bevor wir eure elenden Hütten niederbrennen!«
Geschwächt von der Liebe zum Detail knickte er ein. Die Ritter reckten ihre Fäuste und schrien Verwünschungen. Hinter dem eisernen Bug blieb es still. Monumental überragte er selbst das Achterkastell.
»Was ist denn, habt ihr keinen Mumm?«, keuchte Kleingedank.
Nichts tat sich auf der Deamhan.
Das ist schlecht, dachte Jacop. Was immer sie vorhaben, dieses Schweigen ist ganz schlecht.
»Ihr eigener Rammstoß hat sie umgehauen«, spottete einer.
»Warum entern wir nicht die?«, schrie ein anderer.
Wie zur Antwort standen plötzlich zwei Männer auf der Bugplattform der Deamhan, bärenhafte Gestalten in Fell, Eisen und Leder, die Helme spitz zulaufend und dunkel. Anstatt herabzuspringen und den Kampf aufzunehmen, schwenkten sie den Schlangenhals der Apparatur, bis das offene Maul auf das Achterkastell der Maria Salome zeigte, und mehr denn je wünschte Jacop Jaspar herbei. Sicher hätte der Physikus gewusst, was er da vor Augen hatte – an irgendeiner französischen Universität davon gehört, einem heimgekehrten crucesignatus beim Wein abgelauscht, in einem illuminierten Folianten erblickt.
Aber natürlich, hätte er gesagt, das kenne ich. Das ist – das ist unzweifelhaft –
Gleich darauf wusste Jacop, was es war.
Ein Fauchen entwich dem Schlangenmaul.
Im nächsten Moment schoss ein gleißender Strahl daraus hervor, ergoss sich über das Kastell und verwandelte die zuvorderst stehenden Ritter in lodernde Fackeln. Aufheulend stießen sie aneinander und prallten gegen die hinter ihnen Stehenden, die augenblicklich selbst in Flammen aufgingen. Wer von den Unglücklichen konnte, stürzte sich, halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz, ins Meer, andere verkohlten bei lebendigem Leibe, wild um sich schlagend. In Panik flohen die Überlebenden nach achtern. Der entsetzliche weiße Finger folgte ihnen, bestrich das Oberdeck und entfachte bis in den letzten Winkel ein Inferno. Im Nu brannte das komplette Heck, entzündeten sich Taue, Seilwinde, Waffenröcke, Haut und Fleisch. Das Lötzinn in den Kettenhemden schmolz, die Männer brieten in ihren Rüstungen, Köpfe siedeten in Helmen. Flüssig schien dieses Feuer zu sein, es rann die Fugen zwischen den Planken entlang und tropfte die Reling hinab, verschonte jedoch die Kabinen – ganz offenkundig galt das Vernichtungswerk gezielt den Verteidigern. Über dem Kastell ballte sich teeriger Rauch, es wurde dunkel wie im Innern eines Berges, da das Gleißen des Strahls jede andere Wahrnehmung überlagerte. Hitzewellen brandeten nach allen Seiten. Die Männer wichen zurück, die Arme erhoben.
»Gereon!«, schrie Jacop. »Gottfried!«
Sie hörten ihn nicht. Seine Stimme ging im Tosen unter. Mit Tritten und Ellbogen bahnte er sich seinen Weg zu ihnen, wurde umgerissen vom Rudergänger, der – die Haare in Flammen – aus seinem Stand gestürmt kam, wie toll das Salve Regina rezitierend, taumelte gegen einen Edelmann, kassierte einen Schlag vor die Brust und landete in den Wanten.
»Gereon! Gottfried! Springt. Springt von Bord!«
Etwas veränderte sich. Deutlicher und noch grauenvoller stachen die Schreie der Sterbenden aus dem Lärm heraus. Jacop brauchte einen Moment, bis er die Ursache dafür erkannte. Das Donnern des Feuerstrahls war verstummt, der weiße Finger verschwunden.
Sein Blick wanderte zu der Apparatur auf der Deamhan.
Ein dünner Glutfaden stieg von der Düse auf.
Eine Atempause –
Jacop kämpfte sich weiter vor. Bewaffnete sprangen vom Bug der Deamhan auf die Maria Salome und attackierten die um den Mast gescharten Männer mit Schwertern und Äxten. Im Vorschiff staute sich das verbliebene Heer samt Seeleuten und Knappen. Manche warfen sich beim Anblick der wilden Krieger lieber gleich über Bord, andere wogten zur Unterstützung ihrer Kameraden heran, entschlossen, den Kampf trotz mangelnder Bewaffnung aufzunehmen. Immer mehr Angreifer fluteten das Deck, einige davon kreisten Gereon und Gottfried ein, der auf die Knie fiel und augenrollend die Hände rang. Beide wurden gepackt und zum Bug der Deamhan gezerrt. In einer Aufwallung von Heldenmut, vielleicht auch blanker Verzweiflung, da die Mission so vollkommen schiefging, sprang Willard hinzu, versuchte Gereon die Tasche zu entreißen, sah sich gleichfalls ergriffen – und losgelassen. Wie vom Blitz getroffen stürzte sein Häscher zu Boden. Brunos Schwert beschrieb einen Halbkreis und spaltete den Helm des anderen, der Gottfried umklammert hielt. Der dicke Warenprüfer kam frei, stolperte und krabbelte auf allen vieren davon.
»Falsche Richtung«, dröhnte Bruno. »Hinter mich.«
Beidhändig hielt er die Waffe gepackt. Das Haar klebte ihm an der Stirn, sein linker Arm war nass von Blut, doch sein Anblick genügte, um die Feinde in Schach zu halten. Sicherheitshalber gingen sie auf Distanz, schauten sich zur Deamhan um, wohl auf Verstärkung hoffend. Jacop folgte ihren Blicken und sah das Maul der Flammenkanone langsam, aber stetig in Richtung Vorschiff wandern.
Die Hölle stand kurz davor, ein zweites Mal auszubrechen.
Bruno machte einen Ausfallschritt und trieb dem nächststehenden Gegner sein Schwert in die Brust, focht einen weiteren nieder, ohne verhindern zu können, dass die Angreifer Gereon zur Deamhan stießen. Einer hatte ihm die Ledertasche entwunden und hielt sie an sich gedrückt.
»Das Gold«, flehte Willard. »L’or du roi!«
»Ja doch!« Der Hüne schnaufte, ließ sein Schwert sausen, hielt die feindliche Meute in der Defensive. »Ich hol Euch schon Euer verdammtes –«
Etwas kam aus der Nacht und senkte sich auf ihn herab.
Seine Waffe klirrte zu Boden.
Krallen umschlossen den Kopf des Ritters. Jacop sah ein Paar mächtige Schwingen, weit über Manneslänge gespannt. Bruno war zu überrascht, um mehr als ein Ächzen hervorzubringen. Er wankte und versuchte das Ding von sich zu ziehen. Es stieß eine Kaskade hoher Schreie aus und begann, auf sein Opfer einzuhacken. Der Attackierte gurgelte erbärmlich, als füllte sich seine Kehle mit Blut. Taumelte vor die Glutkulisse des Kastells, wo er und die Kreatur zur Chimäre verschmolzen, ein grausiges Schattenspiel. Die riesigen, schlagenden Schwingen schienen jetzt seinen Schultern zu entwachsen, was ihm das Aussehen eines geflügelten Dämons verlieh – dann sprang ein Angreifer hinzu und versenkte sein Schwert in Brunos Sternum.
Gottfried kroch schluchzend umher.
Weitere der mörderischen Kreaturen stürzen sich auf die Ritter, die Krallen ausgefahren.
Amaury stürmte los.
Im Gewühl war eine Schneise entstanden, und er nutzte den Moment, im Lauf sein Schwert ziehend. Jacop rannte ihm hinterher. Was immer er tat, würde am Untergang der Maria Salome nichts mehr ändern, also konnte er ebenso gut versuchen, seine Freunde zu retten, bevor er sich mit einem Sprung über Bord –
Was? In Sicherheit brachte?
Lachhaft.
Die Apparatur kam zur Ruhe. Amaury duckte sich. Einer der Freibeuter schwang seine Axt. Um Haaresbreite sauste sie über Amaurys Kopf hinweg, der nicht innehielt, nicht Gereon noch Gottfried zu Hilfe eilte, Bruno und Willard ignorierte, weit ausholte –
Sein Schlag traf das Fall, die Leine zum Hochziehen der Rah. Alles unterhalb der Mastspitze hing an diesem einen, zur Armdicke geflochtenen Tau, das auf dem Bratspill, der Winde vor dem Kastell, lag. Straff gespannt hielt es Querbalken und Segel oben, robust genug, selbst Orkanstärken zu trotzen. Amaury wusste, ein einziger Hieb würde nicht reichen. Wieder und wieder ließ er die Klinge hinabfahren, blind für die Welt um sich herum, vielleicht ein Gnadengebet an den Schöpfer entsendend in der Gewissheit, bald schon geprüft zu werden. Die Klinge schnitt tief und tiefer, Seil für Seil platzte das Flechtwerk auf –
Das schrecklich vertraute Fauchen.
Ein Schatten hinter Amaury. Willard gepackt, Gottfried am Boden, Gereon und die Tasche auf dem Weg hoch zur Deamhan. Ein Mordwerkzeug, aufblitzend. Amaurys Schwerthieb, bevor die Axt auf ihn herabfuhr, ihn verfehlte, Gleißen und Tosen –
Noch während der Feuerstrahl aus dem Schlangenhals schoss, riss die letzte Faser des Falls.
Die Rah glitt ab.
In rasender Fahrt fegte sie einen Knappen ins Meer, den die Not den Mast hochgetrieben hatte, rauschte – das Segel zusammenstauchend – ins Frontkastell der Deamhan und zerschlug den Flammenwerfer, bevor sie aufs Deck knallte, Freund und Feind unter sich begrabend.
Gereon und die Tasche stürzten zurück auf die Planken.
An Bord der Deamhan brach hektische Betriebsamkeit aus. Der Todesstrahl war versiegt, doch aus dem verbogenen Schlangenhals tropfte noch gleißende Flüssigkeit und drohte die Plattform in Brand zu setzen. Männer sprangen hinzu, schaufelten Sand auf die Glut. Jacop wusste, was er zu tun hatte. Mit wenigen Sätzen war er bei Gereon, zog ihn hoch, griff sich die Tasche. Sah Willard und Gottfried, augenscheinlich mit heiler Haut, durch die Rauchschwaden irren, Teile des Vorschiffs in Flammen aufgehen, während die von Amaury geborgte Zeit verrann. Spurtete los. Licht und Hitze brannten in seinen Augen, unter Tränen sah er die geflügelten Höllenboten aufsteigen, gesandt von welchem Dämonenfürsten auch immer, schlang sich den Lederriemen um den Leib und kletterte auf die Reling.
»Warte.« Gereon, hustend und spuckend, versuchte ihn festzuhalten. »Was –«
»Wir springen.«
»Bist du verrückt? Wir werden ertrinken.«
»Wir werden verbrennen!«
Und auf dem Meeresgrund landen. So oder so. Die Tasche war schwer. Schwer genug, ihn nach unten zu ziehen, kaum verwunderlich, wenn sie enthielt, was er dachte.
Das Gold, das Gold –
Andererseits wogen die Dinge im Wasser weniger.
Willard und Gottfried keuchten heran. Jacop nickte ihnen zu, ein Abschied, vielleicht. Sprang.
Schwärze.
Drehte sich. Schlug mit den Füßen. Brausen in seinen Ohren. Dröhnen, gedämpftes Poltern, sein wild pumpendes Herz. Über sich Feuerschein, wabernde Inseln aus Licht – offenbar brannte das Teufelszeug selbst auf dem Wasser, doch ein größeres Grauen pflanzte sich darunter fort, Zeugnis eines Martyriums, als stürbe ein riesiges Tier –
Die Agonie der Maria Salome.
Das Schiff quietschte und wimmerte, brach auseinander und ließ ihn an seinen Qualen teilhaben.
Er tastete nach der Tasche.
Prall schmiegte sie sich an seinen Bauch.
Jacop trat aus, ohne den Lichtinseln merklich näher zu kommen. Dazwischen war Platz genug, aufzutauchen, doch er schien in der Tiefe wie festgenagelt, schlimmer noch, er sank unaufhaltsam. Seine Lungen begannen zu schmerzen, Blasen drängten durch seine Lippen. Er würde sich des Goldes entledigen müssen, was immer die Konsequenzen wären – es zu behalten, hätte die Konsequenz des Ertrinkens zur Folge, doch dann spürte er etwas unter seinen Füßen, scharfkantig und hart –
Das Felsmassiv!
Er stieß sich ab.
Der Schwung trug ihn endlich hinauf. Nach Luft ringend durchbrach er die Oberfläche, und sofort gewann der Lärm wieder an Schärfe und Intensität – das Brüllen der Feuersbrunst, Klatschen der Wellen, Bersten von Planken und Spanten, Schreien und Schwerterklirren, die durchdringenden Laute der Kreaturen am Himmel –
Nein, da klirrten keine Schwerter mehr.
Niemand kämpfte noch an Bord der Maria Salome.
Jacop bekam ein Stück abgerissene Reling zu packen. Klammerte sich daran fest. Um ihn herum trieben Trümmer und Leichen, versuchten die Lebenden, sich über Wasser zu halten. Die Deamhan hatte zurückgesetzt, legte Abstand zwischen sich und das brennende Schiff. So sehr viel größer war sie gar nicht und wirkte doch unbezwingbar. Ihre verheerende Waffe mochte beschädigt sein – sie würden sie reparieren. Sie? Wer, um Himmels willen, hatte sie da eigentlich angegriffen? Kaperfahrten waren so leidig wie gängig, zweimal schon hatte es Jacop getroffen. Jedes Mal war es glimpflich verlaufen, Verlust der Waren und Wertsachen, besser als durchgeschnittene Kehlen – doch die Deamhan war kein gewöhnliches Kaperschiff. Sie war eine Geißel.
In wessen Diensten?
Es schäumte und spritzte. Gottfried tauchte neben ihm auf wie ein Schweinswal, erbrach Wasser und sog gierig Luft in seine Lungen.
»Heilige Jungfrau«, japste er. »Ich dachte, ich müsste sterben.«
»Kann alles noch kommen«, gab Jacop zurück.
»Ähm – Gereon?«
»Weiß nicht.« Jacop ließ den Blick schweifen. »Er war direkt hinter mir.«
»Oh ihr Heiligen! Oh gnadenvoller, lieblicher Herr und alle Engel im Himmel –«
»Ist es mal gut?«
Gottfried verstummte, paddelte unbeholfen heran und hängte sich mit an die Planke.
»Und das – ähm –«
»Das Gold?« Jacop spuckte aus. »Ich hab euer Scheißgold. Von dem ihr mir ruhig hättet erzählen können.«
»Nun ja, es ist – geheim. Ja, geheim.«
»Es ist vor allem schwer. Wenn die Planke uns beide nicht trägt, haue ich dir aufs Maul, und du suchst dir was Eigenes, ist das angekommen?«
»War ja nicht zu überhören«, brummelte Gottfried beleidigt.
Nicht zu überhören –
Die Angreifer würden nach ihnen suchen! Verschwenderisch strahlte der Vollmond, eine unwillkommene nächtliche Sonne, die jedes Kräuseln der Wellen und alles, was darauf trieb, konturscharf herausarbeitete. Es empfahl sich, den Mund zu halten und sich totzustellen.
»Nun gut.« Gottfried kaute an seiner Lippe. »Wir sollten –«
»Schsch! Tritt Wasser.«
Wie weit mochte es bis zur Küste sein? Eine dreiviertel Seemeile, schätzte Jacop, vielleicht weniger – ungewiss der Nebelbank wegen. Die Planke trug sie, doch das Leuchtfeuer verhieß keine Rettung. Es war eine Falle, hatte sie auf die Klippen gelockt. Besser, daran vorbei in westliche oder östliche Richtung zu paddeln. Sofern sie durchhielten, würden sie wahlweise im sumpfigen Marschland um Dymchurch oder nahe des Hafens von Hythe angespült werden. Für die Sümpfe sprach, dass sie Schutz boten, sonst nichts – Meilen um Meilen unwegsames Hinterland. Hythe bedeutete Wasser, Nahrung, vielleicht Pferde – und wahrscheinlich hordenweise Rebellen.
Doch kannten die ihre Gesichter?
Während er noch im Dilemma feststeckte, hatte die Strömung begonnen, sie der Deamhan entgegenzutreiben. Das feindliche Schiff entfernte sich weiter von der Maria Salome, die auf der Seite lag und rasch sank. Dann schwenkte der eiserne Bug weg von dem Wrack. Das schwarze Segel fing Wind, und die Deamhan nahm Fahrt auf.
Direkt auf sie zu.
Das kann nicht wahr sein, dachte Jacop verzweifelt. Wir müssen Abstand gewinnen! So schnell es nur geht.
Wie besessen schlug er mit den Beinen, und Gottfried tat es ihm gleich, ohne Fragen zu stellen – auch er schien begriffen zu haben, dass ihnen ein Ende unter dem Kiel drohte. Lange würden ihre Kräfte für das Gestrampel nicht reichen, doch jetzt gerade half es gegen die Kälte – und bewahrte sie hoffentlich vor dem Zerquetschtwerden.
Die Deamhan legte ihr Ruder einige Strich steuerbord.
Mit pochendem Herzen hielt Jacop inne und riskierte einen Blick. Das Kaperschiff zog seitlich an ihnen vorbei, allzu dicht. Vor dem Mond kreiste ein Schatten, und Jacop sah, dass es kein Höllendämon war, sondern ein Vogel, wahrscheinlich ein Seeadler. Deutlich stachen die aufgefächerten Schwingen gegen das fahle Licht ab. Das Tier schlug mit den Flügeln und ging nieder, die Fänge von sich gestreckt.
Im Bug stand eine Gestalt, den Arm erhoben.