6,99 €
Hüte dich vor Dingen, die Menschen waren und nicht mehr sind, vor Dingen, die Menschen sein wollen und keine sind, und vor Dingen, die wie Menschen aussehen und keine sind. Ein Stausee, auf dessen Grund sich Mysteriöses abspielt, monströse Kreaturen aus einer anderen Welt, die ein Städtchen bedrohen und fünf Jugendliche, die das verhindern wollen …Erfolgsautorin Barbara Büchner schuf mit „Der schwarze See“ einen düsteren Phantastikroman in lovecraftscher Tradition.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Title Page
Impressum
Hüte dich vor Dingen, die Menschen waren
VORWORT
Die Stimmen im See
Die Geheimnisse von Mexen
Die Rettungsexpedition
Die Stille vor dem Sturm
Fremde in Blauenswede
Der Tag des Schreckens
In der Zwischenwelt
Die Männer in Schwarz
DIE AUTORIN
Barbara Büchner
DER SCHWARZE SEE
Edition Barbara Büchner
Band 1
Ashera Verlag
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
In der EDITION BARBARA BÜCHNER sind erschienen:
Der schwarze See
Copyright © 2020 dieser Ausgabe by Ashera Verlag
Hauptstr. 9
55592 Desloch
www.ashera-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.
Covergrafik: iStock
Innengrafiken: AdobeStock
Szenentrenner: AdobeStock
Coverlayout: Atelier Bonzai
Redaktion: Alisha Bionda
Lektorat & Satz: TTT
Vermittelt über die Agentur Ashera
(www.agentur-ashera.net)
Hüte dich vor Dingen, die Menschen waren
und nicht mehr sind,
vor Dingen, die Menschen sein wollen
und keine sind,
und vor Dingen, die wie Menschen aussehen
und keine sind.
Wie es genau dazu kam, dass die bescheidene Ortschaft Blauenswede am See binnen weniger Monate von fast allen ihren Einwohnern verlassen wurde und zu einer Geisterstadt verfiel, blieb der Öffentlichkeit verborgen. Es war auch nicht so, dass man einen bestimmten Grund angeben konnte. Hätte man die Einwohner einzeln befragt, so hätte die eine gesagt, dass sie schon längst lieber zu ihrer verheirateten Tochter gezogen wäre, und der andere, dass ihm die Luft so nah am Wasser nicht bekam. Wieder andere hätten geantwortet, dass sie in die Großstadt ziehen wollten, um zu studieren oder um näher bei dem Verlobten zu sein. Es waren alles alltägliche und vernünftige Gründe. Das Seltsame war wirklich nur, dass plötzlich fast allen Einwohnern solche Gründe in den Sinn kamen, vom Bürgermeister Lutz abwärts bis zu dem armen Arthur Glass, der schon vorher nicht ganz richtig im Kopf gewesen war und seit den Ereignissen in diesem dunklen, glühenden August vollkommen den Verstand verloren hatte.
Die Ereignisse dieses Augusts ...
Alle – oder fast alle – in Blauenswede hatten sie miterlebt und doch hörte nie ein Außenstehender davon. Niemand redete von den unruhigen heißen Nächten ohne Sterne und den missgestalteten Schatten, die da und dort an einer Wand entlanghuschten, von den seltsamen Objekten, die aus der Tiefe des Stausees hochgespült wurden und jenen unerklärlichen Botschaften, die Arthur Glass mit seiner Funkanlage empfangen zu haben behauptete. Es war, als hätte es die Hundstage, in denen der Wasserspiegel des Stausees so merkwürdig hoch stieg, anstatt in der Hitze zu sinken, nie gegeben; als wären sämtliche Einwohner von Blauenswede während dieser Tage vollkommen geistesabwesend oder betrunken gewesen, sodass sie sich an nichts mehr erinnern konnten. Nur eine einzige Person behauptete, sich zu entsinnen, nämlich eine etwas wunderliche Frau namens Laura Gerricke. Sie schrieb sogar ein Buch über ihre Erlebnisse, das ein großer Verkaufserfolg wurde. Allerdings ist man allgemein der Ansicht, dass es sich bei diesem „Tatsachenbericht“ um das Produkt einer blühenden Schriftsteller-Fantasie handelt.
Die 16-jährige Birgit Rostock war eine der wenigen Augenzeugen, die nicht unmittelbar aus Blauenswede stammten. Der Zufall – was man so Zufall nennt – hatte es gewollt, dass sie mit ihrer Mutter Eva einer von deren Schulfreundinnen einen längeren Besuch abstattete. Oder hatte ihre Anwesenheit in Wirklichkeit einen anderen und viel tieferen Grund gehabt? War es ihr bestimmt gewesen in diese unerklärlichen und unheimlichen Geschehnisse hineingezogen zu werden? Vielleicht war schon der erste drohende Schatten zukünftiger Ereignisse über sie gefallen, als sie heftig gegen den Plan ihrer Mutter protestierte.
1. August
„Das ist doch nicht möglich! Das kannst du mir nicht antun, Mama!“ Birgit kreischte vor Wut. Sie hatte beide Fäuste vor der Brust geballt und starrte ihre Mutter mit funkelnden Augen an. Ihr Gesicht, das unter dem kurz geschorenen, rötlich-blonden Haar normalerweise so blass wie Buttermilch war, glühte vor Zorn. Ihre kleine, magere Gestalt bebte. „Das kannst du nicht mit mir machen!“
Ihre Mutter – eine mollige Blondine in Jeans und Sweater – schwenkte unbeeindruckt die Pfanne, in der die Fischstäbchen für das Abendessen brieten. „Und darf ich wissen, was ich dir antue?“
Mutter und Tochter standen einander in der winzigen Küche gegenüber. Durch das weit geöffnete Fenster entwich der Geruch des Fischfetts, dafür drangen schwüle Nachtluft und der Gestank großstädtischer Abgase herein.
Birgit rang nach Luft. „Du weißt genau, dass ich Ella hasse! Sie und ihr kleines Schokoladenschwein!“
„Na schön. Du hasst sie. Und warum?“
Darauf wusste Birgit im Moment keine Antwort. Sie forschte in aller Eile in ihrem Gedächtnis nach einem Grund, warum sie Tante Ella hassen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Nichts Konkretes. Die Frau war sonderbar ... das war alles. Sie lebte davon, dass sie Karten legte und Horoskope erstellte und in ihrem kleinen esoterischen Laden Edelsteine und Pendel verkaufte, und sie hatte eine Vorliebe für formlose, sackartige Kleider aus orientalischen Stoffen. Birgit hatte sie nicht einmal besonders oft zu sehen bekommen. Genau genommen war sie das letzte Mal vor sechs Jahren zu Besuch bei ihnen gewesen.
Schließlich fiel Birgit nur das lahme Argument ein: „Ich kann Patrick nicht leiden. Ich fand das widerlich, wie er dauernd rumrotzte, an seiner Mutter klebte, sich die Schokolade in den Mund stopfte und ...“
„Als du Patrick das letzte Mal gesehen hast, war er zehn Jahre alt und hatte gerade seinen Vater verloren. Inzwischen ist er sechzehn.“
Birgit zuckte mit finsterem Gesichtsausdruck die Achseln. „Na, wenn schon.“
„Auf jeden Fall“, sagte ihre Mutter mit einer Stimme, die jeden Widerspruch von vorneherein ausschloss, „ist das die einzige Art und Weise, wie wir doch noch zu einem Urlaub kommen. Und glaub nicht, dass ich mir vier Wochen an einem herrlichen Stausee entgehen lasse, nur weil du meine Freundin Ella nicht leiden kannst.“ Sie sah Birgit scharf an. „Ich bin vollkommen fertig nach all dem Stress im Büro und jetzt, wo ich endlich Urlaub habe, möchte ich nicht den ganzen August in einer stickig heißen, halb verlassenen Stadt herumhocken und mir die geschlossenen Rollläden ansehen. Ich fahre zu Ella, und da du nicht allein zu Hause bleiben kannst, kommst du mit, ob dir Patrick nun gefällt oder nicht. Du kannst ihm ja aus dem Weg gehen.“ Sie stellte die Pfanne mit den Fischstäbchen und Kartoffeln auf den Küchentisch und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: „Jetzt komm. Iss und sei nicht so kindisch. Es tut mir ja leid, dass ich dir nichts Besseres bieten kann, aber ...“
„Schon gut“, knurrte Birgit. Sie hasste es, wenn ihre Mutter mit den Problemen der Alleinerziehenden anfing. Kein Geld. Keine Freizeit. Niemand, der auf die Kinder aufpasste. Das alles stimmte und natürlich tat Eva ihr Bestes und Birgit war alt und klug genug, um mit der Realität zu leben.
Aber nun bestand genau diese darin, dass sie einen Monat lang in das verschlafene Nest Blauenswede fuhren, zu der dicken, wunderlichen Tante Ella, die vor ewigen Zeiten einmal mit ihrer Mutter in dieselbe Schule gegangen war, und ihrem ebenso dicken und wunderlichen Sohn Patrick. Birgit hatte ihn als ein fettes, weinerliches, ständig an seiner Mutter klebendes Kind in Erinnerung und war überzeugt, dass er sich in den vergangenen sechs Jahren nicht im Geringsten geändert hatte.
Eva Rostock versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen. „Schau mal, Biggi, du kannst dort sicher einiges unternehmen: Rad fahren oder im See schwimmen ...“
Birgit stach die Zinken der Gabel brutal in die Fischstäbchen. „Ja, ich weiß. Mach dir keine Gedanken. Mir wird schon was einfallen.“ Im Stillen dachte sie: Rad fahren wäre nicht schlecht. Aber in einem Stausee schwimmen! Bloß das nicht! Sie mochte Wasser nicht besonders und eingegrenztes Wasser schon gar nicht. Sie erinnerte sich mit Schaudern daran, wie sie einmal mit der Schule ein Kraftwerk besichtigt hatten. Das unheimliche Tosen des Wassers im Abgrund der Turbinenschächte hatte sie bis in ihre Träume verfolgt.
Stauseen waren noch schlimmer. Sie waren wie riesige Grabsteine aus Wasser, die das Land bedeckten, das sie verschlungen hatten. In der undurchdringlichen Finsternis ihres Grundes befanden sich ganze Wälder, aufrecht und unbeweglich, bis sie verrotteten, und manchmal standen sogar Häuser dort unten. Häuser, in denen Menschen gelebt hatten und die jetzt leer und nass in eine immerwährende Nacht ragten. In den Zimmern wohnte das Wasser, durch die Fenster blickte das Wasser und sah wiederum Wasser, auf den Treppen stand und ging schwarzes Wasser.
Birgit fühlte, wie sie fröstelte.
„Was ist los? Was hast du?“, fragte ihre Mutter erstaunt.
Birgit schüttelte den Kopf. „Nichts. Mir war nur einen Moment lang schwindlig.“
In der Nacht träumte sie, dass sie in einem Boot auf diesem Stausee fuhr. Der Kahn war winzig klein und bewegte sich mit beängstigender Geschwindigkeit über das Wasser. Dann entdeckte Birgit, dass sich mitten im See ein Loch öffnete – ein tiefer Trichter im Wasser, als strudele der Stausee in einen unterirdischen Abfluss davon. Und ihr Boot schoss genau auf dieses Loch zu.
3. August
Zwei Tage später bestiegen Eva Rostock und ihre Tochter den Zug, der sie zu Tante Ella bringen sollte. Es war ein schwüler, gewitterdunkler Tag und beide waren bis auf die Unterwäsche nass geschwitzt, bevor sie endlich ihre Koffer und Taschen verstaut und sich selbst auf die beiden gepolsterten Sitze im rückwärtigen Teil des Waggons gezwängt hatten. Die Leute, die sich an ihnen vorbeischoben, warfen Birgit neugierige Seitenblicke zu, weil sie in Schwarz gekleidet war, Springerstiefel an den Füßen und Schmuck aus Gummi und Plexiglas trug und ihr zartes, großäugiges und sehr hübsches Gesicht an Augenbrauen, Nase und Unterlippe gepierct war. Sie hörte ihre gemurmelten Bemerkungen, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum.
Der Zug fuhr los. Eva holte einen Roman aus der Handtasche, einen dicken Band mit rotgoldenem Titelblatt – „Flammen der Leidenschaft“ – und war gleich darauf in der Geschichte versunken. Birgit hörte Musik über ihr iPhone, um sich die Zeit zu vertreiben, aber sie fand die Fahrt trotzdem unerträglich langweilig. Den Nachmittag bis in den Abend hinein rollte der Zug an Dörfern vorbei, die in der Hochsommerhitze dösten und durch gelbe und graue Städte, die halb ausgestorben wirkten.
Allmählich wurde es dämmrig und die Landschaft verwandelte sich in ein ständig wechselndes bizarres Muster aus gelben und blauweißen Lampen. Die meisten Passagiere im Zug schlummerten vor sich hin. Es war stickig in den vollbesetzten Wagen und trotz der Ventilation roch es nach verschwitzten Menschen, belegten Brötchen und klebrigem Kunststoff.
Dann – als Birgit schon dachte, der Zug würde in alle Ewigkeit durch die Nacht rattern – hielt er in einem trüb erleuchteten Provinzbahnhof und Birgits Mutter sprang alarmiert auf.
„Mach schnell, Biggi! Wir sind da!“
Sie hasteten, Koffer und Taschen nachschleifend, aus dem Zug. Und da war auch schon Tante Ella, die sie stürmisch begrüßte. Sie sah immer noch genau so aus wie bei ihrem letzten Besuch: Eine mollige, etwas unordentlich wirkende Frau mit hennarot gefärbtem Haar, deren Kleid wie ein buntes Campingzelt aussah. Patrick war glücklicherweise nirgends zu sehen. An seiner Stelle war ein kräftiger junger Mann in einer Lederjacke mitgekommen, dessen langes, blondes Haar im Nachtwind flatterte. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete die Begrüßungsszene von oben herab.
Birgit betrachtete ihn interessiert. Er war nicht gerade ein Schönling, aber er sah gut aus. Er hatte lebhafte blaue Augen, die er im Moment verächtlich zusammenkniff – anscheinend war ihm das Bussi-Bussi-liebste-Freundin-Theater ebenso peinlich wie Birgit. Sie sah ihn an und bemerkte zögernd: „Hallo. Wir kennen uns nicht, oder?“
Er schob die Unterlippe ein Stück vor. „Jedenfalls siehst du anders aus als das letzte Mal, als ich dich gesehen habe. Mann, warst du eine eklige kleine Ziege!“
Birgit hätte beinahe den Koffer fallen gelassen, dessen Griff sie vor lauter Verlegenheit immer noch mit beiden Händen umklammerte. „Du bist – du bist doch nicht etwa Patrick Stein?“
„Wer denn sonst?“, fragte er, schälte bedächtig einen Kaugummi aus dem Silberpapier und knickte ihn in zwei Hälften. Eine steckte er zwischen die Lippen, die andere bot er ihr an. „Magst du?“
Birgit stellte den Koffer ab und griff geistesabwesend nach dem Kaugummi. Das war doch nicht möglich! Sie fingerte verlegen an den Silbersteckern in ihrer Ohrmuschel, während sie Patrick von oben bis unten betrachtete. Unglaublich, aber wahr: Das quengelnde Schokoladenschwein hatte sich in einen gut aussehenden und offenbar ziemlich lässigen jungen Mann verwandelt. Seine Haut war goldbraun gebrannt, auf Kinn und Wangen zeichnete sich die Spur eines hellen Bartes ab.
„Siehst ja ziemlich punkig aus“, bemerkte er, den Mund voll Kaugummi, während sein Blick über ihre hautenge Hose und das kunstvoll durchlöcherte Leibchen mit dem Spinnennetz darauf glitt.
„Stört`s dich?“, fragte sie schnippisch.
Er reagierte gelassen. „Nein, sieht gut aus. Passt zu dir. Aber es ist nicht gerade der Stil von Blauenswede.“
Sie war geradezu erleichtert, als ihr weitere Gespräche mit Patrick fürs Erste erspart blieben. Tante Ella lotste sie alle zu ihrem Wagen. Koffer und Taschen wurden verstaut und dann brummte der etwas angerostete Mazda eine unbeleuchtete Landstraße entlang.
Sie fuhren größtenteils durch Wald, dessen Baumstämme unheimlich im Licht der Scheinwerfer aufleuchteten. Einmal musste Tante Ella scharf bremsen, weil etwas quer über die Fahrbahn sauste, das so dick und schwarz wie ein Bär zu sein schien, jedoch flink, wie ein Otter war. Es verschwand zwischen den Stämmen auf der anderen Seite, ehe sie einen zweiten Blick darauf werfen konnte.
„Was war denn das?“, rief Birgit. „Das sah ja aus wie ein Bär!“
„Unsinn!“, widersprach Ella. „Was glaubst du denn, wo wir hier sind? In Alaska? Ein Otter war das.“
Patrick bemerkte vom Rücksitz: „War aber der größte Otter, den ich je gesehen habe, Mutter.“
„Ach was – das sah nur im Scheinwerferlicht so aus.“
Birgit drehte sich um und warf durchs Rückfenster einen zweifelnden Blick auf den nächtlichen Wald. Sie hatte keine Ahnung, wie groß Otter werden konnten, aber das Geschöpf hatte wirklich einem Bären ähnlicher gesehen. Allerdings einem nassen, sie hatte deutlich gesehen, dass sein Fell oder seine Haut schlüpfrig glänzte. Ein Schauder überlief sie und sie hoffte, das Vieh, was immer es gewesen war, würde sich nicht mehr blicken lassen.
Nach einigen Minuten leuchteten wieder Lichter auf. Birgit, die inzwischen von der Augusthitze und der unbequemen Fahrt ziemlich müde war, nahm nur verschwommen die Häuser zu beiden Seiten der Straße wahr. Richtige Kleinstadthäuschen, die von üppigen Gärten umgeben waren. Da und dort eine Wirtschaft an der Straßenecke oder ein Supermarkt, durch dessen riesige Glasscheiben das trübe Licht der Nachtbeleuchtung flimmerte. Das blaue Schild einer Polizeistation. Ein Geschäft für Boots- und Segelzubehör. Dann stoppte der Wagen am Straßenrand.
Birgit kletterte aus dem Auto und blickte das Haus an, vor dem sie gehalten hatten. Es befand sich in einer Gasse, die so steil war, dass die Häuser wie auf Treppenstufen standen, eines immer ein Stück tiefer als das andere. Im Erdgeschoss schimmerte das einzige Schaufenster des winzigen Ladens. Birgit warf einen neugierigen Seitenblick hinein. Kristallkugeln. Pendel. Glasschalen voll Halbedelsteine. Esoterische Literatur.
Tante Ella und Birgits Mutter platzten beinahe vor Mitteilungsbedürfnis, so viel hatten sie einander zu erzählen. Sie konnten es nicht erwarten, sich zusammenzusetzen und bei einer späten Tasse Kaffee allen Klatsch und Tratsch loszuwerden, der sich in ihnen aufgestaut hatte. Also waren sie froh, dass Birgit sofort ins Bett wollte.
Tante Ella führte sie eine Treppe hinauf, die so steil wie eine Hühnerleiter war, und zeigte ihr ein Schlafzimmer im Dachgeschoss. Der Raum erinnerte mit seinen blauen Vorhängen und den Kirschholzmöbeln an eine Puppenstube. Die Tapete hatte ein Muster aus kleinen tanzenden Feen mit roten Zipfelmützen. Es gab noch ein zweites Zimmer unter der gegenüberliegenden Dachschräge, auf der anderen Seite des Flurs. Dort wohnte Patrick.
Birgit kroch ins Bett und überlegte, ob er ihr noch Gute Nacht sagen würde, aber er ließ sich nicht blicken.
Das hübsche, altmodische Bett, in dem Birgit schlief, war bequem. Dennoch wachte sie mitten in der Nacht auf ohne zu wissen warum. Erst war sie völlig verwirrt, als sie sich statt im üblichen bunten Großstadtglanz in einem dunklen und stillen Zimmer befand. Dann erinnerte sie sich. Natürlich – in Blauenswede war nachts nichts los, daher die Stille. Es gab auch kaum Neonreklamen, daher die Dunkelheit. Sie erinnerte sich verschwommen, dass sie den rauen Gesang eines Betrunkenen gehört hatte und einen heftigen Wortwechsel, als man den Mann irgendwo vor die Tür gesetzt hatte. Das war vermutlich das letzte Ereignis in dieser Nacht gewesen, ehe Blauenswede in Friedhofsruhe versank.
Birgit schlüpfte aus dem Bett und schlich zum Fenster. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Zu sehen gab es da draußen kaum etwas. Sie steckte den Kopf durch die kleine Öffnung und erblickte, was sie erwartet hatte. Eine still im Glanz der Neonlampen dämmernde Straße. Häuser, deren Fenster bis zur letzten Luke ohne Licht waren. Kein Schritt auf der Straße. Kein Laut. Dann, als sich ihre Augen an die nächtliche Szene gewöhnt hatten, entdeckte sie unten am Ende der Straße ein kleines Stück einer glänzenden, asphaltschwarzen Fläche.
Das musste der See sein.
Dieser unheimliche, unbewegliche See, in dem Dörfer und Wälder ertrunken waren.
Ein leiser Schauder des Unbehagens überlief ihren Rücken. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein mochte, wenn jemand in diesen See hinabtauchte – in die Nacht, in der nur die Fische atmen konnten. Sie stellte sich den Scheinwerferkegel einer Unterwasserlampe vor, der an toten Bäumen entlangschwebte, vom Wipfel bis zum Strunk. Lichtfahnen auf verwitternden Mauern. Leere Fensterlöcher. Was war da unten? Wege zwischen Zäunen, auf denen einmal Kinder mit Fahrrädern und junge Mütter mit Kinderwagen gefahren waren? Bildstöcke am Wegrand? Büsche und Bäume? Das alles befand sich jetzt in einer anderen Welt, einer kalten, toten, pechschwarzen Welt, die so fremd wie der Kosmos war. Da wie dort wusste niemand genau, was eigentlich alles in dieser schweigenden Leere lebte, welches Grauen in den Dimensionen hausen mochte, die für den Menschen unzugänglich waren.
Sie wandte sich abrupt ab und schlüpfte wieder ins Bett. Diesmal setzte sie die Kopfhörer auf die Ohren und drehte die Musik auf, ehe sie wieder einschlief.
4. August
Am Morgen wachte Birgit mit der Erinnerung an einen eigenartigen Traum auf. Sie hatte am Ufer des Sees gestanden, schenkeltief im trüben Wasser, und jemand hatte sie hineingelockt und sich an sie geklammert, sodass sie tief in die Flut hinabsank. Nach unten hin wurde die Schwärze immer undurchdringlicher; Birgit hatte Angst bekommen, als das Unbekannte sie hinabzog, aber gleichzeitig war so etwas wie Neugier in ihr erwacht, wie es sein mochte tief hinunterzutauchen in dieses intensive Dunkel, das unenträtselte Geheimnisse zu verbergen schien ...
Sie hatte die Person nicht erkennen können, die sie hinabzuziehen versuchte, aber ein Detail war ihr mit der kuriosen Klarheit, die Träumen manchmal zu eigen ist, in Erinnerung geblieben: An der schmalen, zierlichen Hand, die sich an ihren Unterarm klammerte, war der Ringfinger um ein Glied kürzer als die anderen Finger.
Der Morgen verging mit den üblichen Zeremonien dieser Tageszeit – aufstehen, Frühstück in Tante Ellas Küche, eine kurze, höfliche Besichtigung des Ladens mit seinem bunten Esoterik-Kram. Dann machte Patrick den Vorschlag Rad zu fahren. „Du kannst das Fahrrad meiner Mutter nehmen, sie benutzt es ohnehin kaum. Wir fahren herum und ich zeige dir das bisschen, was es hier zu sehen gibt. Aber mach dich drauf gefasst, dass das nicht gerade viel ist.“
So war es auch. Blauenswede war ein hübscher Ort, aber es fehlte völlig an Attraktionen. Die Stadt lag auf einem Berghang, an einer Seite des tiefen Tals, dessen Grund der See bedeckte. Auf der anderen Seite, jenseits des Wassers, erhoben sich die dunklen und sichtlich unbewohnten Kuppen dicht bewaldeter Hügel. Alle Straßen des Ortes waren sehr steil, so steil, dass die Fußgängerwege manchmal von Treppen unterbrochen wurden, um das Gehen zu erleichtern. Die Häuser sahen fast alle gleich aus. Zumeist waren sie aus braunen Ziegeln, mit bunten Fenster- und Türrahmen und spitzen Dachgiebeln. Dazwischen standen da und dort modernere, meist einstöckige Häuser, die an farbige Schuhschachteln erinnerten. Es gab eigentlich nur zwei Straßen, nämlich die Bergstraße, auf der sie am vergangenen Abend in den Ort gekommen waren und die oben am Hang entlangführte, und die Straße seitwärts der Seepromenade, die gleichzeitig die Hauptstraße des Ortes war.
Birgit hörte, dass es in Blauenswede eine Segelschule und einen Bootsverleih gab und unten an der Seepromenade einen Grillplatz, aber das waren, von den wenigen Cafés und der Diskothek abgesehen, auch schon die einzigen Vergnügungen, die die Kleinstadt zu bieten hatte. Außerdem war es ein sehr konservativer Ort, denn Birgit merkte immer wieder, wie tadelnde Blicke ihre klobigen Schnürstiefel und ihr krähenschwarzes Gewand streiften und sich die Leute umdrehten, um ihr nachzusehen.
„Komm, wir radeln die Seepromenade entlang“, schlug Patrick vor.
Birgit war überrascht, wie hübsch der See im hellen Vormittagslicht aussah. Blaugrün und glänzend erstreckte sich die Wasserfläche hinter den Pappeln der Seepromenade. Ein leichter Wind wehte, genug, dass sich einige Segler aufs Wasser hinausgewagt hatten. Von hier aus betrachtet, sah der See völlig natürlich aus. Keine schwarzen, glitschigen Staumauern, keine finstere Schlucht, keine Schächte, in denen gefangene Wassermassen brüllten. Dennoch fühlte sich Birgit beklommen. Das schmale Tal mit den düsteren Berghängen gab ihr das Gefühl eingezwängt zu sein, auf eine nicht erklärbare Weise in der Falle zu sitzen. Natürlich, sie war ein Großstadtkind und an freie Natur nicht gewöhnt ... aber sie wünschte, die Hänge wären weniger steil, der Mischwald an der anderen Talseite weniger finster.
Zwischen Wald und Wasser gefangen, schien das kleine Blauenswede mit seinen Puppenhäusern auf eine unbestimmte Art in Gefahr zu sein.
Die Promenade war um diese Vormittagszeit noch völlig verlassen, sodass Birgit und Patrick bequem auf dem Radweg nebeneinander herfahren konnten. Eine Reihe Pappeln und ein breiter Grasstreifen trennten die Promenade von der Fahrbahn. Der Wind raschelte in den silbrigen Blättern der Pappeln. Das Gras des Trennstreifens, das man kürzlich geschnitten hatte, war zu süß duftendem Heu vertrocknet. Die Sonne blinkte auf den mächtigen, vielkantigen Steinblöcken, mit denen das Seeufer eingefasst war. Birgit fand plötzlich, dass die vier Wochen Blauenswede doch nicht mit vier Wochen Gefängnisaufenthalt zu vergleichen waren.
Bei der Ortsmitte öffnete sich die Straße zu einem runden, leicht zum See hinunter geneigten Platz, dem Zentrum des Ortes. Dort stand das Rathaus, ein hübsches altes Gebäude mit Verzierungen aus Stuckatur und Malerei, und im Halbkreis zwischen See und Rathaus drängten sich hinter steinernen Arkaden die meisten Geschäfte, die Diskothek und zwei oder drei Cafés. Einige Linden warfen unregelmäßige Schatten.
Patrick rief ihr zu: „Wir könnten bis nach Neubach am See langfahren, dort gibt's einen McDonalds. Wenn du willst, trinken wir dort eine Cola und essen was. Dauert aber eine gute halbe Stunde.“
Birgit nickte und rief zurück: „Wie lang ist der See denn eigentlich?“
„Von oben bis zum Kraftwerk sicher vierzehn Kilometer. Warum? Ist dir die Fahrt zu anstrengend?“
Birgit schüttelte den Kopf. „Nein, war bloß eine Frage.“
Auf halber Strecke machten sie fünf Minuten Rast. Sie lehnten die Räder an einen Baum und gingen zum Wasser hinunter. Hier lagen keine Steinblöcke, das Ufer war flach und durch das klare Wasser konnte Birgit die runden Kiesel auf dem Grund sehen. Ein Schild am Ufer besagte: Badeplatz. Nichtschwimmer Vorsicht!
Birgit versuchte zu erkennen, wie weit das Wasser so seicht war. Wurde es dann langsam tiefer oder brach es urplötzlich ab, eine Klippe, die in der schweigenden Finsternis versank?
„Sollen wir die Füße abkühlen?“, schlug Patrick vor. Er war schon dabei seine Boots auszuziehen.
Birgit schüttelte den Kopf. Sie musste an ihren Traum denken. Die Erinnerung an diese verstümmelte Hand, die mit so grausamer Kraft ihren Arm gepackt hatte, war noch zu frisch. Selbst im hellen Morgensonnenlicht fühlte sie noch das Grauen des Albtraums. „Später.“ Sie setzte sich neben ihr Fahrrad und sah Patrick zu, der mit bloßen Füßen und hochgerollten Hosenbeinen im Wasser herumwatete.
„He“, rief sie ihm zu, „ist deine Freundin nicht sauer, wenn du den ganzen Tag mit mir Rad fährst?“
Er drehte sich um und sah sie erstaunt an. „Wieso? Ich hab gar keine. Ich bin nicht der Girlie-Typ“, fuhr er verächtlich fort. „Hab was Besseres zu tun, als andauernd nur Händchen zu halten und zu knutschen. Ich hab Wichtigeres im Kopf.“
„Was denn?“, fragte Birgit neugierig. Wahrscheinlich meinte er irgendein typisches Jungenhobby, wie Angeln oder Motorrad fahren.
Er sah sie eine Weile an, als läge es ihm auf der Zunge sie ihn etwas einzuweihen, aber dann schüttelte er den Kopf. „Erzähl ich dir ein andermal. Komm, fahren wir weiter!“
Neubach am See war tatsächlich neu: Der Ort sah aus, als sei er vom ersten bis zum letzten Haus erst am Vortag errichtet worden. Überall standen noch Rohbauten und auch den fertigen Häusern sah man an, dass sie vor Kurzem frisch gestrichen und getüncht worden waren. Das Tal war hier bereits breiter, die bewaldeten Hügel niedriger und die Hänge nicht so steil, und Birgit fand die Atmosphäre weniger beklemmend als in Blauenswede, jedoch der flaschengrüne See erschien ihr immer noch wie eine diffuse Bedrohung.
An der Hauptstraße des Ortes lag eine blitzblanke, brandneue McDonalds-Filiale und die beiden jungen Leute, die vom Radfahren kräftig Hunger bekommen hatten, zogen sich mit voll beladenen Tabletts in einen Winkel zurück.
„Wie lange gibt's den See hier eigentlich schon?“, fragte Birgit, während sie ihre Fischnuggets in das Soßentöpfchen tunkte.
„Genau zehn Jahre. Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen um das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis von Blauenswede mitzukriegen – die Jubiläumsfeier nächste Woche. Zehn Jahre Blauenswede am See. Warum? Hast du noch nie einen Stausee gesehen?“
„Nicht aus der Nähe“, gestand sie. „Und – na ja, der See ist das einzig Interessante hier.“
„Ja, genau genommen schon“, gab er zu. „Irgendwie ist es ja wirklich komisch ... hier oben sieht er aus wie ein gewöhnlicher See, aber wenn du runterfährst, an Unter-Blauenswede vorbei, dann kommt die Staumauer und die ist schon ziemlich eindrucksvoll.“
Birgit nickte und kaute stumm an ihren panierten Nuggets. Sie hatte nicht die geringste Lust sich die Staumauer anzusehen, ja auch nur an sie zu denken. In ihren Albträumen ragten solche himmelhohen, konkav geschwungenen Mauern über ihr auf, aus denen kleine Wasserbäche sprudelten, und immer hatten diese Mauern haarfeine, aber gefährliche Risse.
„Manchmal kommen Dinge an die Oberfläche“, fuhr Patrick fort. „Tannenäste. Oder Pflöcke. Oder Fensterrahmen. Irgendetwas, das sich da unten losgelöst hat und nach oben treibt. Ein Jahr, nachdem das Tal geflutet worden war, kam ein Polstersessel rauf. Den hatten sie unten in einem Haus vergessen. Und dann schwamm er eben irgendwann durch ein Fensterloch und drang an die Oberfläche. Arthur Glass hat mir davon erzählt.“
„Wer ist Arthur Glass?“, fragte Birgit, den Mund voll heißer Apfeltaschenfülle.
Patrick deutete mit seinem halb aufgegessenen Big Mac unbestimmt in die Richtung, in der Tante Ellas Haus lag. „Unser Nachbar. Ein total abgedrehter Typ ... kramt den ganzen Tag in seinem Schuppen herum und bastelt Radios und solches Zeug. Der reinste Daniel Düsentrieb. Er kann interessante Geschichten erzählen.“
„Klingt, als sollte ich ihn kennenlernen.“
Patrick zögerte. „Ich weiß nicht. Vielleicht lachst du dann über ihn.“
„Würde ich niemals“, protestierte Birgit. „Wofür hältst du mich? In der Stadt kenne ich eine Menge abgedrehte Leute und es würde mir nie einfallen über sie zu lachen.“
Patrick bemerkte düster: „Ich wäre stinksauer, wenn du über ihn lachst. Verstehst du, als ich sagte, er ist abgedreht, da meinte ich nicht, dass er Schrott im Hirn hat – wirklich nicht. Er ist ziemlich intelligent und technisch ist er fast ein Genie, es gibt kaum ein Gerät, das er nicht reparieren kann. Also, wenn ich dich mit ihm bekannt mache, dann ...“
„Verstanden“, unterbrach ihn Birgit ein wenig ärgerlich. Als ob sie noch nie einen schrägen Typen gesehen hätte! In der Großstadt kannte sie Leute, da wären Patrick die Augen aus dem Kopf gefallen!
Sie radelten gemächlich am See entlang zurück. Dann führte Patrick Birgit zu einem Haus am Steilhang, das dem seiner Mutter ähnlich sah, jedoch im Gegensatz zu Ellas blitzblankem Puppenhäuschen kläglich vernachlässigt wirkte. Die grünen Jalousien hingen schief in den Angeln und von der Tür und dem Vordach blätterte die ebenfalls türkisgrüne Farbe ab. Rund um das Haus erstreckte sich ein verwilderter Garten, in dem ein mit Teerpappe gedeckter gemauerter Schuppen stand. Ein rostiges Autowrack parkte im wuchernden Gras davor. Kaninchen hoppelten auf einem eingezäunten Stück Wiese herum und knabberten an frischen Möhren. Überall lag technisches Gerümpel herum. Es sah wirklich nach dem Haus eines Sonderlings aus.
Patrick sah den Blick, mit dem Birgit das spukhafte Haus musterte, und bemerkte: „Ich sagte dir ja, er ist ein bisschen eigen. Er lebt allein mit seinem Vater und weder er noch der Alte kümmern sich um das Haus. Sie waschen oft tagelang nicht einmal das Geschirr ab. Arthur sitzt den ganzen Tag an seiner Funkanlage ...“
„Funkanlage?“
„Ja, das ist sein Hobby. Er ist ein richtiger Funker – nicht bloß CB-Kram. Ziemlich eindrucksvoll.“ Patrick öffnete das unverschlossene Gartentor und trat auf das Grundstück, wobei er laut auf zwei Fingern pfiff. Offenbar ein ausgemachtes Erkennungszeichen, denn sofort wurde die Tür des Schuppens geöffnet und ein Mann trat heraus, der die Augen gegen den grellen Sonnenschein mit einer Hand abschirmte. Er war etwa Mitte zwanzig, mit langen, sehnigen Armen und Beinen und so schmalen Hüften, dass seine Jeans kaum noch Halt fanden. Das leuchtend rote T-Shirt, das er trug, war ihm eine Nummer zu klein und ließ zwischen Hosenbund und Saum einen Streifen Bauch frei. Sein mageres Gesicht war gebräunt, schlecht rasiert und auch ziemlich ungewaschen, wie es Birgit schien. Er hatte kinnlanges, ungepflegtes schwarzes Haar und auffallend leuchtende Augen von einer kuriosen Farbe – einem Goldbraun, das zuweilen zu einem Gelbgrün wechselte, wie in den Augen einer Katze. Seine Bewegungen wirkten linkisch. Als er sie anredete, spannte er Gesicht und Hals auf eine Weise an, als müsse er sich voll konzentrieren, um die einfachen Sätze über die Lippen zu bringen. Er hatte einen Sprachfehler, es klang, als versuche er, beständig krampfhaft ein Stottern zu vermeiden, was ihm nicht immer gelang.
„Hey Patrick, hey Mädchen. Heiß heute, was?“
„Hallo, Arthur. Das ist Birgit ... ihre Mutter ist bei meiner zu Besuch“, stellte Patrick sie vor.
„Hey“, sagte Arthur noch einmal. Der Blick seiner Katzenaugen glitt aufmerksam und nicht ohne männliches Interesse über Birgits magere Gestalt, die in dem düsteren Schwarz noch dürrer wirkte. Dann machte er eine unbeholfene Bewegung zum Schuppen hin und ging ihnen voraus in das dunkle, stark nach Teerpappe riechende Gebäude.
Birgit trat aus dem glühenden Sonnenschein in einen langen, knapp mannshohen Raum mit einem Vinylboden, in dem es aussah wie im Laboratorium eines verrückten Professors. An einer Längswand stand, von einer Neonröhre beleuchtet, das Pult einer Funkanlage mit verschiedenen Zusatzgeräten wie Laptops, Kopfhörern und Verstärkerboxen. Den Rest der drei Wände füllten Stahlregale voll ausrangierter Computer, Drucker, Fernsehgeräte und anderem technischem Krimskrams und die Tische, auf denen diese Geräte ausgeschrottet oder repariert wurden. Auf einem alten Schreibtisch stapelten sich die Überreste von mehreren Mahlzeiten: schmutzige Teller, die Tetra-Paks von Limonaden und die Styropor-Behälter eines Schnellimbisses. Die Schmeißfliegen, die auf diesen Überbleibseln herumkrabbelten, schienen den Technikfreak nicht zu stören und auch Patrick tat, als merke er nichts Besonderes. Er warf einen neugierigen Blick auf einen Notizblock neben der Funkanlage und fragte: „Und? Hast du wieder was gehört?“
Arthur schüttelte bedauernd den Kopf. „Heute noch nicht, nein. Der Empfang ist schlecht. Seit einer Woche habe ich ständig mit Störungen zu kämpfen. Vielleicht wird es in der Nacht besser.“ Er warf Birgit einen Blick zu und fügte erklärend hinzu: „Ich höre den See ab.“
Sie machte den Mund auf und dann wieder zu. „Ach ja?“ Er hörte den See ab. Das hatte Patrick wohl gemeint, als er gesagt hatte, der junge Mann gelte allgemein als komischer Kauz. „Ich ... ich wusste nicht, dass es in einem See etwas zu hören gibt.“
„Ja, das denken alle“, erwiderte Arthur etwas von oben herab. „Mit einem billigen Gerät ist da auch nichts zu machen, aber ich habe eine gute Anlage. Und als ich erst einmal die Frequenzen heraushatte, auf denen sie senden, musste ich nur noch aufpassen. Tagsüber sind sie schlecht zu hören, da ist zu viel Wirbel, nachts klappt es gut. Jedenfalls bislang. Ich weiß auch nicht, was da seit Kurzem dazwischenfunkt, seit einer Woche habe ich nichts als Störungen. Ich hab allmählich den Verdacht, sie haben gemerkt, dass sie abgehört werden.“
Birgit erinnerte sich unklar an eine Geschichte von U-Booten. „Ich dachte, im Wasser ist Funk nicht zu hören.“
Arthur nickte anerkennend. „Richtig gedacht. Das habe ich mir anfangs auch gesagt. Aber verstehst du, es sind nicht eigentlich Funksignale. Sie kommen nicht von einer Anlage. Es sind Einspielungen, ungefähr in der Art, wie manche Leute die Stimmen von Toten im Jenseits aufnehmen. Was diese Wesen angeht, so glaube ich, sie sind gar nicht im Wasser, sondern eher hinter dem Wasser – in einer anderen Dimension – und ihre Stimmen kommen aus dieser Dimension zu uns. Theoretisch etwas kompliziert, aber praktisch bedeutungslos. Mit ein bisschen Spielerei kriege ich sie mühelos rein.“ Er grinste stolz. „Ich habe schon eine Lade voll USB-Sticks mit Aufnahmen.“
Birgit warf Patrick einen verstohlenen Blick zu, der so viel bedeutete wie: Ist er harmlos?
Sie bekam ein beruhigendes Blinzeln zur Antwort. Also nickte sie nur und bemerkte vorsichtig: „Nun ja, das ist sicher sehr interessant.“
Arthurs Katzenaugen blitzten jählings auf. „Wenn wir ihren Angriff überleben wollen“, erwiderte er trocken, „dann ist es sehr interessant.“
„Arthur denkt“, unterstützte ihn Patrick, „dass sie ... die Wesen im See ... uns attackieren werden, und zwar schon ziemlich bald. Er versucht herauszufinden, was genau sie vorhaben, damit wir Gegenmaßnahmen treffen können. Er war schon beim Bürgermeister und auf der Polizei und ...“
Arthur grinste freudlos. „Ja“, ergänzte er, „und überall haben diese Idioten mir gesagt, ich hätte wohl einen Sonnenstich. Ich habe ihnen angeboten, sich die Sound-Dateien anzuhören, aber nicht einmal dazu waren sie zu bewegen. Eine richtige Verschwörung des Schweigens ist das! Es würde mich nicht wundern, wenn einige Blauensweder mit ihnen paktierten. Manchmal habe ich große Lust, dass ich hier abhaue und sie ihrem Schicksal überlasse.“
„Das würdest du doch nie tun“, sagte Patrick in einem Ton, als hätten sie dieses Gespräch schon oft geführt.
„Nein, wahrscheinlich nicht“, gab Arthur zu. „Aber ich komme mir allmählich vor wie diese Typen in den Katastrophenfilmen, die die Leute immerzu warnen und warnen, dass es einen Brand oder einen Vulkanausbruch geben wird oder der weiße Hai kommt ... und immer gibt es irgendwelche Idioten, die alle diese Warnungen in den Wind schlagen, genau wie unser Bürgermeister Lutz, weil sie Angst haben, dass es dem Tourismus schadet.“ Er zuckte verächtlich die Achseln. „Natürlich würde es dem Tourismus schaden, wenn die Leute damit rechnen müssen, dass sie hier mitten in einen Überfall geraten! Wenn sie nicht wissen, ob sie die Nacht ruhig schlafen können oder ob irgendetwas aus dem See gekrochen kommt und sie holt! Das weiß ich auch, dass das nicht grade eine Werbung für Blauenswede ist. Aber wir sind verantwortlich, wir alle, die Bescheid wissen, ich und Patrick und du, Brigitte ...“
„Birgit.“
„Okay, Birgit.“ Er hatte sich ihr zugewandt und funkelte sie mit den fanatischen Augen eines Professor van Helsing an.
Birgit fühlte sich irritiert von der Art, wie er immer wieder beim Sprechen das Kinn vorschob und die Nackenmuskeln anspannte, als tobe eine Leidenschaft in ihm, die er nur mühsam im Zaum halten konnte. Zweifellos war er verrückt, aber Patrick, der ihn ja wohl schon lange kannte, hielt ihn für harmlos, also musste sie sich nicht vor ihm fürchten. Dennoch hätte sie es beinahe getan, als er die langen, harten Finger in ihr Leibchen krallte und ihr mit tiefem Ernst ins Gesicht starrte. Als er sprach, war sein Stottern deutlich zu merken. „Birgit“, sagte er feierlich, „du s-solltest hier abhau-hauen, solange du noch ka-kannst.“
„Kann nicht. Meine Mutter besucht ihre Freundin hier und wir sind für den ganzen August eingeladen.“
„Ende August existiert B-Blauenswede vermutlich nicht mehr“, sagte Arthur knapp.
„Arthur denkt“, ergänzte Patrick, „dass sie uns zu der Zeit angreifen werden, wo die Jubiläumsfeier stattfindet.“
„Warum gerade dann?“
Der Funker riss wieder das Wort an sich. „Genau weiß ich es auch nicht, aber ich schätze, die Dinge ereignen sich immer in Zyklen. Eine Sache hat zehn oder zwölf Jahre Zeit oder vielleicht hundert oder tausend Jahre, aber dann kommt ihr Ende. Genauso wird es mit Blauenswede auch sein. Zehn Jahre lang haben wir als Blauenswede am See existiert, jetzt kommt unser Ende – genau am zwölften August.“ Er wischte eine Hand an der anderen ab, als wolle er damit das Schicksal der Stadt besiegeln. Dann fragte er freundlich: „Wollt ihr beide ein Glas Limo?“
Birgit dachte an die klebrigen Tetra-Paks auf dem Tisch und lehnte dankend ab. Sie sagte rasch: „Nett von Ihnen, Arthur, aber ...“
„Kannst du zu mir sagen“, bot er großmütig an.
„Okay – war nett von dir. Aber wir müssen uns jetzt wieder verabschieden. Vielleicht können wir ein andermal weiterreden.“
Arthurs mageres Gesicht verdunkelte sich vor Enttäuschung.