Der verschleierte Orden - Barbara Büchner - E-Book

Der verschleierte Orden E-Book

Barbara Büchner

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Beschreibung

Ein Kult um einen blutgierigen „Engel“ verbreitet seit Jahrzehnten Angst und Schrecken. Nach außen hin ein unscheinbares Fräulein, hat Miriam Hannay einen unheimlichen Job: Sie spürt für die „Agentur“ Dämonenanbeter und Nekromanten auf. Und gerät, als sie ihren Onkel im Bruchtal besucht, an ein Nest finsterer Gestalten, die einen blutgierigen Ghoul verehren. Alle drei Jahre fordert der „Rote Engel“ ein Menschenopfer, und niemand kann ihn bannen als allein der Henker vom Bruchtal. Doch einen solchen gibt es schon längst nicht mehr. Und Miriam erfährt, dass in diesem Jahr sie selbst das auserwählte Opfer sein soll! Ein weiteres düster-phantastisches Juwel der Bestsellerautorin Barbara Büchner.

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Table of Contents

Title Page

Impressum

Prolog

Epilog

DIE AUTORIN

 

Barbara Büchner

 

 

DER VERSCHLEIERTE ORDEN

 

 

Edition Barbara Büchner

Band 3

 

 

 

Ashera Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

In der EDITION BARBARA BÜCHNER sind erschienen:

Der schwarze See, Lovecraftscher Roman

Der Leichenräuber von Wien, Krimi

Der verschleierte Orden, düsterer Phantastikroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2020 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

[email protected]

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: AdobeStock, iStock

Szenentrenner: AdobeStock

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

Prolog

 

Es klickte entnervend, als Polizeioberkommissar Jasper Willebrands mit dem stumpfen Ende des Bleistifts auf das Holz seines Schreibtischs klopfte. Wenn er scharf nachdachte, musste immer der Bleistift herhalten. Entweder pochte er damit, oder er nagte daran herum, sodass er nur noch sehr unappetitliche Schreibwerkzeuge auf seinem Tisch liegen hatte.

Vor ihm befand sich ein Zeitungsartikel, frisch aus der Druckerpresse. Der Artikel war mit dem Pseudonym Kuckuck unterzeichnet. Willebrands wusste, wer sich dahinter verbarg – ein Journalist, ein renommierterGerichtsreporter, der zu skurrilen und bedeutsamen Fällen stets seinen Senf dazugab. Es waren Fälle, die das gesamte Spektrum der Kriminalität vom mehrfachen Mord bis hinunter zur üblen Nachrede oder nächtlichen Ruhestörung umfassten, denn was Kuckuck interessierte, waren nicht die Sensationen, sondern jenes oft schwer zu erfassende Etwas, das einen Kriminalfall zum Zeit- und Gesellschaftsdokument machte.

Sein neuester Beitrag trug den Titel: Der Satansjünger, oder: Heilig wahr, Euer Ehr'n

Willebrands begann zu lesen. „Im Odeon-Kino nahe des Alten Universitätsspitals läuft der Film Salem-Jungfrauen vom Satan besessen. Ein Splatterfilm – eine Anhäufung breit ausgemalter Folter-, Mord- und Verstümmelungsszenen. Blut fließt in Strömen. Strengstes Jugendverbot. Einige Bürschchen starren sich vor dem Aushang die Augen aus dem Kopf.

Vor dem Eingang des Universitätsspitals steigen im selben Augenblick fünf Männer aus einem grauen Kleinbus, der weithin als Polizeifahrzeug zu erkennen ist. Der weißhaarige Beamte an der Spitze des Trupps ist Herr Dumont, der Zweite Sekretär des Justizministers. Der Mann im anthrazitfarbenen Regenmantel, der an seiner Seite die Stufen zum Eingang hinaufeilt, ist der Gerichtsgutachter Urban. Beide sind gekommen, die Aussagen eines Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik zu hören und zu überprüfen.

Aussagen, in denen sich dieser Patient selbst und andere bezichtigt, Hexerei und Schwarze Magie zu treiben. Mit allem, was dazugehört. Auch Menschenopfern.

Der sogenannte Narrentrakt des alten Klinikums ist ein großes Gebäude mit abgeblätterter braungelber Fassade, von der staubdunkle Sandsteinfiguren, hinter ebenso staubigen Gittern gefangen, auf die Straße hinunterstarren. Dunkle Höfe und lichtlose Krankensäle legen Zeugnis ab von der Mentalität einer Zeit, die das Dunkel des Verstandes mit einer finsteren Umwelt bestraft. Ärzte und Personal haben einige schwache Versuche unternommen, die Räume freundlicher zu gestalten. Vor einem Fenster, durch dessen lange Jalousien trüb und dumpf das Sonnenlicht sickert, steht eine Zimmerpalme, an den Wänden des Korridors hängen da und dort von den Patienten gemalte bunte Bilder.

Dr. Albert Chemnitzer, der Oberarzt der Klinik, gilt als einer der engagiertesten Psychiater der Stadt – traurige Ironie, dass gerade ihm dieses düstere Gebäude zugefallen ist, an dem noch immer der Ruf des Narrenturms hängt. Traurige Ironie auch, dass sich gerade hier Szenen abgespielt haben, die aus dem Film im Odeon-Kino stammen könnten ... Szenen, in denen es um Blut, Mord und Satanismus geht, um lebendig von Guhlen gefressene Opfer, um zuckende Herzen in einem Suppentopf. Wie seinerzeit in Salem bezichtigen Hysteriker und Fanatiker unschuldige Menschen, den Satan anzubeten und ihn mit Blutopfern zu erfreuen.

Der Kommission ist, sichtlich unbehaglich zumute, als ein Pfleger den 19-jährigen Patienten Claudio Rainer in das kleine Sitzungszimmer führt, das in den nächsten Stunden zum Gerichtssaal werden soll. Claudio ist ein bildhübscher junger Mensch. Sogar unter dem formlosen Spitalspyjama sind die Konturen eines aufregend wohlgebildeten Körpers zu erahnen. Er ist sehr blass. Kinnlanges dunkles Haar fällt weich um ein dreieckiges Gesicht, aus dem ungewöhnliche Augen blicken: Augen wie aus Saphir geschnitten, groß, leuchtend blau und seltsam starr.

Er ist sichtlich verschüchtert, wischt ein ums andere Mal die Hände an dem grauen Anstaltspyjama ab, fährt sich aufgeregt mit den Fingern durchs Haar. Dr. Lindebner, der Vorsitzende der Kommission, versucht ihm freundlich klarzumachen, worum es gehe. Es dauert, bis er wenigstens einigermaßen versteht.

Es sei eine Farce, Claudio überhaupt zu befragen, fährt der Oberarzt Dr. Chemnitzer auf.

Aber es bleibt nichts anderes übrig, denn auf der Polizei liegt eine formelle Anzeige vor. Eine Anzeige, in der die Assistenzärztin Gerda Tittelbach zu Protokoll gibt, Claudio habe bei einer Anzahl satanistisch motivierter Morde mitgeholfen.

Es ist eine bizarre Geschichte, über die die Kommission da zu befinden hat.

Claudio ist nicht das erste Mal in der Klinik. Im Gegenteil. Er gehört, wie es ein Pfleger formuliert, 'sozusagen zum Inventar'. Im Schnitt alle zwei, drei Monate wird er eingeliefert. Manchmal kommt er von selbst.

Was man über sein Leben erfährt, ist Tristesse. Ein uneheliches Kind, die drogensüchtige Mutter verschwindet zwei Tage nach der Entbindung aus der Klinik und lässt das Neugeborene dort zurück. Der klangvolle Name Claudio ist das Einzige, was die Gesellschaft dem Jungen ins Leben mitgeben kann. Er kommt ins Kinderasyl, dann wieder ins Spital, ins Asyl, wieder ins Spital – ein ständig kränkelndes, retardiertes Kind, das mit drei Jahren noch nicht richtig laufen, mit vier Jahren kaum sprechen kann. Mit sieben Jahren kommt der Junge ins Rosenheim, die städtische Anstalt für verhaltensauffällige Kinder, aus dem er mehrfach entweicht. Als er zwölf Jahre alt ist, flüchtet er wieder einmal, und dieses Mal bringt ihn niemand zurück. Man hört erst fünf Jahre später wieder von ihm. Da treffen Beamte der Fürsorge in der Wohnung eines Herrn Mehring einen Siebzehnjährigen an, der sich seit Kurzem in der zweifelhaften Obhut des Privatgelehrten befindet.

Dieser Anatol Mehring spielt eine Hauptrolle im Leben des Claudio Rainer und in dem Fall, den die Kommission untersucht.

Der Meister, wie Claudio ihn nennt, ist kein sympathischer Mensch. Sechsunddreißig Jahre alt, ohne Beruf, ohne festes Einkommen, aus reicher Familie, aber verwahrlost, der Behörde seines Wohnbezirks als bösartiger Sonderling bekannt. Die Fürsorgerin, die ihr Bestes gibt, ihn in ein gutes Licht zu rücken, muss schließlich zugeben, dass 'der Herr Mehring vielleicht etwas schwierig sei, menschlich gesehen.' Ein boshafter Einsiedler, dem die Nachbarn aus dem Weg gehen und der mit niemand in Frieden leben kann. Ein Bluffer und Angeber, der den einfältigen Claudio (und andere Einfältige) mit seinem abstrus halbgebildeten Wissen verblüfft. Ein Versager, dem alles im Leben misslungen ist, der sein Einkommen aus dunklen Quellen bezieht. Und – so munkeln jedenfalls die Nachbarn – ein Hexenmeister, der sich mit dunkleren Dingen befasst als mit den ortsüblichen Pendeleien und der Wahrsagerei aus dem Kaffeesatz.

Bei diesem mehr als zwielichtigen Meister bleibt also Claudio, nachdem weitere Versuche, ihn in Heimen und Anstalten unterzubringen, gescheitert sind. „Wir mussten“, erklärt die Fürsorgerin, „ihn schließlich dort lassen, denn offenbar wollte er nirgends anders sein ... er hängt sehr an Herrn Mehring, nennt ihn Meister und läuft ihm auf Schritt und Tritt nach.“'

Läuft ihm nach – obwohl der Meister ihn so häufig schlägt, dass man den jungen Mann kaum jemals ohne frische Verletzungen sieht, ihn zuweilen sogar mit der Hundepeitsche misshandelt, ihn einerseits mit Schlägen und Vorwürfen für die kleinsten Vergehen überhäuft, andererseits keine Einwände erhebt, dass der Freund von der gewerblichen Prostitution lebt und sich mit achtzehn Jahren offiziell registrieren lässt. Es scheint ihn auch nicht zu stören, dass sich Claudio für Dinge hergibt, für die normalerweise selbst Prostituierte nicht zu haben sind. Und noch eine absonderliche Eigenheit hat Anatol Mehring, die für diese Geschichte wohl nicht unwichtig ist: Er – dem die Fürsorgerin eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt – findet ein niederträchtiges Vergnügen daran, den schwachen Verstand seines Partners noch weiter zu verwirren. Nicht genug damit, dass er ihn körperlich misshandelt und quält, ängstigt er ihn mit abstrusen Schauergeschichten ...

Der Anstaltspsychiater beschreibt den jungen Mann mit den seltsam blauen Augen als 'unterdurchschnittlich intelligent, schwer verhaltensgestört, entwicklungsmäßig retardiert, sozial völlig unangepasst und der Realität weitgehend entfremdet.'

Aber nicht unzurechnungsfähig.

Dr. Chemnitzer zeichnet in seiner Beschreibung vor der Kommission das Bild einer abnormen Persönlichkeit. 'Der Patient ist nicht nur intellektuell, sondern in seiner ganzen Entwicklung zurückgeblieben, ein Mensch, der nur mehr als Restperson existiert ... nicht einmal das grundlegendste menschliche Verhalten funktioniert bei ihm ungestört, er schläft in vierundzwanzig Stunden einmal zwei Stunden, einmal achtzehn Stunden; beim Essen scheint er kaum Geschmacksempfindungen zu besitzen, er weiß oft nicht einmal, ob etwas zu heiß oder zu kalt ist, wenn man nicht auf ihn achtet, verzehrt er Ungenießbares, sogar Ekelerregendes ... er hat kein Körpergefühl, einmal ist er zu warm angezogen, dann wieder zu leicht ...'

In der Klinik befindet er sich, weil er an Wahnvorstellungen leidet.

Wahnvorstellungen, die sich fast ausschließlich auf den Meister beziehen.

Der Arzt, der ihn die meiste Zeit betreut, beschreibt den Patienten als sanft und fügsam, als gutwillig und geduldig, 'im schlimmsten Fall ein wenig schnippisch'. Als einen, der sich auf beide Wangen schlagen lässt.

Und dann von Zeit zu Zeit in hysterische Trancen verfällt, in denen sich Hass und Wut, Angst und Schuldgefühl in rasenden Phantasien Luft machen.

Der Oberarzt erklärt: 'Claudio versucht, sich von seinem Partner zu lösen. Aber diese Versuche sind zu viel für ein so schwaches Ich. Den Meister zu verlassen, ganz gleich, wie schlecht er ihn behandelt hat, erfüllt ihn mit Angst und Schuldgefühlen in einem Ausmaß, dass irgendwo ein Ventil aufgehen muss – und dieses Ventil sind seine Anfälle. Man könnte sagen, die Psyche täuscht ihr Über-Ich, indem sie sich verrückt stellt. Sie tritt kurzfristig von der Verantwortung zurück. 'Irgendwann muss ich diese Dinge denken und fühlen, aber das wage ich niemals, solange ich zurechnungsfähig bin, also schnappe ich über.'

Die Kommission will wissen, wie sich diese Anfälle abspielen.

„Es fängt damit an, dass er sich unruhig und beklommen fühlt ... dann verliert er den Kontakt zur Umwelt; die Tür zu seiner Wahnwelt fällt gewissermaßen zu ... er alterniert dann zwischen heftigen Angstzuständen und ebenso heftigen Hassausbrüchen, ist überaus erregt und verstört, dabei zeigt er eine ausgeprägte Tendenz, sich selbst und den Meister gleichzeitig zu vernichten – seinem Hass freien Lauf zu lassen und ihn im selben Augenblick auch schon zu sühnen.“

Er legt in faszinierender Weise die Mechanismen einer zwischen Bindung und Aggression schwankenden Psyche dar, schildert beredt, wie Claudio, 'der in der Realität nicht wagt, dem Rabenaas auch nur eine Ohrfeige zu verpassen' in seinen Phantasien dem Meister die grausamsten Qualen zufügt, gleichzeitig aber angstvoll zurücktritt. Nicht er selbst, nein, eine unabhängige Instanz soll den Meister vernichten, eine höhere Gewalt soll zuschlagen. Und ihn selbst, den Sünder, mit demselben Strahl treffen.

So groß ist die Angst, dass er nicht einmal während seiner Anfälle offen auszusprechen wagt, was er auch sonst eisern ableugnet: Dass der Meister ihm allen Anlass zum Hass gibt, ihn, den Neunzehnjährigen, behandelt wie ein unmündiges Kind, ihn bei jeder Gelegenheit prügelt, ihn verhöhnt, ihn quält. An die Stelle dieser realen Verfehlungen setzt er Verbrechen, die ihm die Beschäftigung des Meisters mit abergläubischen Praktiken suggeriert. Aus dem sadistischen Partner wird ein teuflischer Nekromant, aus der qualvollen Beziehungsfalle wird in diesen Phantasien die Unterwerfung unter einen furchtbaren geheimen Orden.

Gewiss ist nicht alles Phantasie, was Claudio Rainer dem Psychiater erzählt hat. Der Meister habe ihn häufiger mit den Nägeln verletzt oder 'mit seinem kleinen Perlmuttmesser' in die Haut geschnitten und die blutigen Schrammen ausgeleckt ... es ist durchaus plausibel, dass in dieser an und für sich abwegigen Beziehung auch für solche Abwegigkeit Raum ist.

Anderes freilich entspringt einer vom Aberglauben verseuchten Phantasie. Der Meister habe ihm gutes Essen versprochen und ihn dann in ein finsteres Haus 'wie eine Kirche' gebracht, dort hätten sie 'Fisch und faules Zeug' gegessen, ein anderes Mal habe er einen Suppentopf mit einem Deckel auf den Tisch gebracht, darin seien 'Händlein und Füßlein' gewesen. Einmal habe er ein Glas mit eingewecktem Fleisch aufgemacht, das der Meister ihm gegeben habe, und dann nichts essen können, weil man 'die Herzlein noch ticken gehört habe'.

Der Arzt weist nachdrücklich darauf hin, dass Essen eine dominierende Rolle in der Gedankenwelt des Patienten spiele. Er sei chronisch mangelhaft und falsch ernährt und habe den typischen 'linken Gusto', wie man im Volksmund das für Mangelkrankheiten charakteristische unruhige Verlangen nach ungewöhnlichen Speisen und eigenartigen Zusammensetzungen nennt.

All das hätte auch die Assistenzärztin Gerda Tittelbach wissen müssen – und vielleicht weiß sie es auch. Aber für die hochgewachsene Frau mit den merkwürdig hölzernen, unbeweglichen Zügen steht etwas Anderes im Vordergrund. Sie ist, wie der Arzt es ausdrückt, 'behext von der Hexerei'. Als Angehörige einer Pfingstkirche glaubt sie felsenfest an den Teufel, an Hexen und Dämonen, und was der Patient in seinen Phantasien herausschreit, ist für sie lautere Wahrheit.

So unzweifelhaft lautere Wahrheit, dass sie bei der Polizei angibt, sie habe Kenntnis von monströsen Verbrechen erlangt.

Die Polizei muss dieser Anzeige nachgehen. Zwei Beamte vernehmen den Patienten und verfassen ein Protokoll. Sie überprüfen seine Angaben – und finden tatsächlich Indizien, die zumindest einige dieser Angaben zu bestätigen scheinen. Genug Indizien, ihrer Meinung nach, um den Fall vor Gericht zu bringen. Vonseiten der Staatsanwaltschaft allerdings lehnt man es ab, sofort Anklage zu erheben.

Eine weise Entscheidung, denn was Claudio Rainer vorgebracht hat, ist so unbeschreiblich, dass man nur auf das überzeugendste Beweismaterial hin Anklage erheben dürfte.

Es ist nicht mehr oder weniger als die Schilderung einer Serie von rituellen Morden.

Was er in seinem Gossenjargon und seiner höchst wirren Redeweise vorgebracht hat, haben die Beamten für das Protokoll geglättet, stilisiert, in grammatisch richtige Sätze gebracht – vielleicht auch inhaltlich ein wenig poliert.

So, wie es dort steht, hat es Claudio jedenfalls nicht gesagt.

„Wir fuhren mit der U-Bahn in die Samarkandstraße und sahen uns erst eine Weile auf dem Trödelmarkt um. Bei dieser Gelegenheit kaufte Mehring mir einen Ring mit einem großen achteckigen blauen Stein. Ich wollte dann ins Café Planetarium und dort Billard spielen, aber er sagte, er müsse sich mit jemand in einer wichtigen Angelegenheit im Café Radion treffen. Ich war darüber verärgert und wollte nach Hause fahren, aber er forderte mich sehr gereizt auf, zu bleiben, und erklärte, er würde mich noch brauchen. Da er sagte, es handle sich um eine sehr wichtige Sache, willigte ich ein zu bleiben.

Wir gingen in das Café Radion. Dort wies er auf eine Frau an einem Ecktisch und sagte, das sei die Person, die er sprechen müsse, ich solle mich still verhalten und nicht in das Gespräch einmischen. Da ich sehr verärgert war, beteiligte ich mich nicht an dem Gespräch, außerdem hatte ich Angst.

Er veranlasste die bereits alkoholisierte Frau, weiter Alkohol zu konsumieren. Sie trank sehr viel und wurde so betrunken, dass wir mit dem Taxi heimfuhren. In der Wohnung gab der Meister ihr weiter zu trinken, ich ging inzwischen in die Küche. Außer uns war niemand zu Hause. Die alte Frau, die saubermachte und manchmal kochte, hatte er weggeschickt.

Gegen elf Uhr nachts kam Mehring in die Küche und sagte zu mir, ich solle in den Salon kommen. So wird das große Zimmer genannt. Es war stark in Unordnung, auf dem Sofa lagen ein blutiges Tuch und eine Menge Papiertaschentücher, und auf dem Boden waren rote Blutschlieren. Die Frau war nicht mehr da, aber ihr Hut lag auf dem Sofa und ein Plastikbeutel, den sie bei sich gehabt hatte. Ich fragte den Meister: 'Was hast du mit ihr gemacht?' Er sagte: 'Neugierige Katzen sterben früh; mach hier sauber.' Er befahl mir auch, ich solle den Hut und den Plastikbeutel in einen Müllsack stecken. Dann ging er in die Küche, und ich machte sauber.

Später folgte ich ihm und sah, dass er am Herd stand und in einem Topf kochte, obwohl es mitten in der Nacht war. In dem Topf waren große weiße Stücke Fleisch und Fett. Er befahl mir, die Suppe aufzuessen. Ich wollte nicht, aber ich musste. Er ließ mich jeden Knochen sauber abnagen und sammelte sie alle auf. Ich weiß nicht, was er damit gemacht hat. Als mir schlecht wurde, gab er mir ein Glas von etwas Bitterem zu trinken, von dem es besser wurde, aber dann musste ich alles essen, was in der Schüssel war. Er selbst aß nichts davon. Er trank immer nur das Blut, von dem Fleisch nahm er nichts. Danach schickte er mich schlafen.“

Dr. Chemnitzer beeilt sich zu erklären: „Anatol Mehring ist abwegig veranlagt – er macht es immer wieder, dass er Claudio, oder einen Anderen, der es sich gefallen lässt, blutig kratzt oder beißt oder schneidet und dann das Blut leckt. Deshalb hängt er im Roten Engel im Bruchtal herum, einem üblen Lokal, in dem Punks, Junkies und Perverse verkehren ... wegen der Splatterfilme, die dort von früh bis spät laufen, und auch, weil sie dort für eine Spritze oder ein paar Tabletten alles mit sich machen lassen. Manchmal, wenn er dort niemanden findet, reißt er auf dem Flohmarkt jemand auf – macht sie betrunken und verletzt sie. Ich nehme an, diese Dicke war nicht so sinnlos betrunken, wie er sie gerne gehabt hätte, und ist beim ersten Schmerz zu sich gekommen und davongerannt. In seiner Wut und Frustration hat er dann Claudio fertiggemacht – er kennt ihn ja genau und auch seinen Tick mit dem Essen, seine verrückte Angst, er könne etwas Lebendes oder gar Menschliches essen. Er braucht nur zu sagen, 'das lebt ja noch', und Claudio wird totenübel. Ich hab es zufällig einmal erlebt, wie er ihm sagte, Austern lebten noch, wenn man sie isst, und kröchen dann im Magen herum. Claudio kotzte sich die Seele aus dem Leib, und das böse Stück stand dabei und grinste wie ein Wasserspeier.“

Als die Kommission den Patienten befragt, reagiert er völlig verschreckt. Nicht aus schlechtem Gewissen, wie sich herausstellt, sondern weil er sich nicht mehr erinnern kann, was er damals gesagt hat. Dafür entschuldigt er sich wortreich, offensichtlich bemüht, den Fragestellern nach dem Mund zu reden. Sobald er glaubt, verstanden zu haben, was er sagen soll, stimmt er übereifrig zu: Ja, ja, so war es.

Nach einigen Zwischenfragen hat Dr. Urban herausgefunden, dass die Assistenzärztin Tittelbach dem Patienten lange und eindringlich ins Gewissen geredet hat.

Und das ist nicht alles.

Als der Vorsitzende der Kommission weiterfragt, kommt eine recht unorthodoxe Therapie zur Sprache. Dr. Gerda Tittelbach hat es für ihre ärztliche Pflicht gehalten, den Patienten für ihre Kirche zu rekrutieren.

Sie nimmt ihn – der kaum aus dem Dämmerland seiner letzten Wahnperiode aufgetaucht ist – mit zum Gottesdienst eines Erweckungspredigers und Wunderheilers. Claudio Rainer findet sich plötzlich in einem Saal voll schreiender, stampfender, vom Gebrüll eines geistlichen Einpeitschers zu höchster Erregung aufgestachelter Menschen, die ihn von allen Seiten umtoben, ihn bedrängen, seine Sünden öffentlich zu bekennen, Gott um Gnade anzuflehen. Erst bekommt er Angst, will heim, will zu Anatol. Dann dreht er durch. Es kommt zu einer scheußlichen Szene. Selbst der an Exzesse gewohnte Prediger erschrickt, als der junge Mann in seiner übersteigerten Erregung weint, flucht, die Psalmen mitbrüllt, die alle anderen brüllen – plötzlich heftig erbricht, sich selbst und den Geistlichen, der ihn festzuhalten versucht, widerwärtig besudelt, die von Erbrochenem triefenden Hände zum Himmel erhebt und schreit ... schreit ... bis er ohnmächtig zusammenbricht.

Sie waschen ihn, reinigen seine Kleider, lassen ihn ausschlafen. Als er aufwacht, sitzt die Assistenzärztin Tittelbach an seinem Bett, neben ihr der Prediger.

„Wir müssen mit dir über Jesus reden“, sagen sie.

Und das tun sie. Sie reden mit ihm über Jesus, fast eine Woche lang, Tag und Nacht. Am darauffolgenden Sonntag führen sie ihn im Triumph der Gemeinde vor: erschöpft, zermürbt, geläutert, bekehrt.

Und lassen ihn heimgehen – in das einzige Heim, das er kennt. Zum Meister Anatol Mehring.

Am Montag taucht Claudio in der Ambulanz des nächstgelegenen Krankenhauses auf. Blutergüsse unter den Augen. Eine zerbissene Lippe. Peitschenstriemen auf dem Rücken und beiden Beinen. Ein verstauchtes Handgelenk. Und das übliche Sprüchlein: Ein Fremder hat es getan, er weiß nicht wo, er weiß nicht wann, er weiß nicht wie.

Am Dienstag kehrt er freiwillig in die Psychiatrie zurück. Und gibt dem Arzt wieder, was man ihm in der Kirche eingehämmert hat: Anatol Mehring sei mit dem Teufel im Bund, ganz gewiss. Er bete einen Guhl an, einen Blut saufenden und leichenfressenden Dämon, und bringe diesem Menschenopfer dar.

„Meinst du wirklich, dass das wahr ist?“, fragt Dr. Urban.

Er nickt traurig, aber entschieden. „Heilig wahr, Euer Ehr'n.“

Wahrscheinlich hätte der blauäugige Claudio auch ohne geistlichen Zuspruch die unwahrscheinlichsten Dinge zugegeben, so groß ist die Angst (die er wiederholt äußert) es könnten 'die Herrn vielleicht streng werden', wenn er keine gefälligen Aussagen mache; er fragt in aller Unschuld, was er 'denn nun bezeug'n solle' und wartet mit seinem kindlichen Lächeln darauf, dass man ihm seine Aussage Wort für Wort vorsagt. Auf die Frage des Vorsitzenden der Kommission, ob er seine protokollierten Aussagen aufrechterhalte, antwortet er eifrig: „Wenn ich nu ja sag, is' Ihn' recht?“

An die Beamten kann er sich erinnern, an das Verhör nur undeutlich. Er ist nicht daran interessiert, was er sagt. Ihn kümmert nur eines: Die Kommission bei guter Laune zu halten, so wie er es auch beim Personal und dem Psychiater tut, der 'alle Mühe hat, dem Patienten seine Fragen so zu stellen, dass er ihm nicht die Antwort suggeriert, sonst sagt er immer nur das, was man seiner Meinung nach hören will.'

Als die Rede auf Anatol Mehring kommt, bricht der schöne junge Mann im Anstaltspyjama plötzlich in Tränen aus. Was ihn überwältigt, ist nicht Abscheu vor dem Mann, dem er eine Serie von Ritualmorden vorgeworfen hat, auch nicht Furcht vor dem prügelnden Sadisten, dem er ausgeliefert ist. Es ist Sehnsucht. Anatol soll kommen und ihn abholen, soll ihn mit sich heimnehmen, bittet er mit flehentlich aufgehobenen Händen, die Augen glänzend von Tränen ...

„Armes Geschöpf“, fasst Dr. Urban das Ergebnis der Befragung zusammen ...

Anatol Mehring bleibt ungeschoren.

Dr. Gerda Tittelbach ebenfalls.

Was aus Claudio Rainer werden soll, weiß nach wie vor niemand.

Eines jedoch fällt dem aufmerksamen Beobachter auf.

---ENDE DER LESEPROBE---